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August 2018
Zeitungsente 2.0

Der überwachte Körper

Lernen bei Bedarf

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Welt von morgen. Bleiben Sie am
Ball und verpassen Sie keine Aus-
gabe des f/21 Quarterly – per Mail
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Ausgabe. Registrieren Sie sich hier:
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Zeitungsente 2.0
Vor mehr als einem Jahrzehnt hat
Harvard-Professor Yochai Benkler in
seinem Buch „The Wealth of Networks“
eine Revolution durch das Internet vo-
rausgesagt, weil durch das Netz der Zu-
gang zu Macht demokratisiert würde: Die
Informationsökonomie sei ursprünglich,
so Benkler, rund um teure Produktions-
mittel wie Radiosender, Druckmaschi-
nen, Fernsehstudios aufgebaut. Com-
puter und Internet erlauben Menschen
diese Machtzentren der Vergangenheit
zu umschiffen und eröffnen zugleich die
Möglichkeit für neue Machtmodelle.
Seit dem Erschei-
nen von Benklers
mittlerweile zum
Klassiker avancier-
ten Buch ist viel
passiert und die
damals bahnbrechende Einsicht ist heu-
te kaum mehr als eine Binsenweisheit.
Längst ist „always on“ keine Vision mehr,
immerzu und überall sind wir Teil eines
weltumspannenden Informationsnetzes,
in dem tatsächlich, wie Benkler es voraus-
gesagt hat, die traditionellen Gatekeeper
entmachtet sind.
Vielfach üben die Macht heute die neuen
DatensammelgigantenwieGoogleundFa-
cebook aus, die keinen Winkel des Privat-
lebens ihrer Nutzer unausgeleuchtet las-
Falschinformationen gab es immer schon. Doch Fake
News bedeuten mehr als die Zeitungsente des analo-
gen Zeitalters. Muss die digitale Gesellschaft mit der
Meinungsmanipulation im Netz leben?
sen und durch dieses Wissen neue Macht
anhäufen. Denn die Netzgiganten haben
es in der Hand, wer was wann zu Gesicht
bekommt. Neu ist an dieser veränderten
Machtkonstellation, dass diese Zugänge
zur Macht gekauft werden können, wie
die vergangene US-Präsidentschaftswahl
vorgeführt hat. In diesem Zuge wurde
auch der Begriff „Fake News“ geboren,
da die neuen Gatekeeper des Internet-
zeitalters zu Wahlkampfzwecken als
Quellen von Falschinformation miss-
braucht wurden. Aller Welt wurde vor
Augen geführt, wie die neue Machtstruk-
tur im Internetzeit-
alter diejenigen mit
ausreichend tech-
nischem, sozialem
und politischem
Know-How dazu
befähigt, beliebige – auch noch so absur-
de – Inhalte zu verbreiten. Zusätzlich ist
es auch dem herrschenden Dogma un-
bedingter Transparenz geschuldet, dass
die Prozeduren des Gatekeepings weit-
gehend abgeschafft sind, um Informatio-
nen frei fließen zu lassen. Anstelle eines
fairen Spiels freier Informationen tobt
jedoch eine Schlacht, in der Information
zur Manipulation und Täuschung heran-
gezogen wird, um die jeweiligen Interes-
sen und Motive zu stützen und 
Der einstige Internettraum
freier Information weicht einer
Schlacht, in der Information der
Manipulation dient.
Quarterly
f/21 Quarterly	 Q3 | 2018
 Zeitungsente 2.0 (Forts.)
durchzusetzen.
Falsche Informationen gab es natürlich
immer schon. Doch sind Fake News mehr
als bloße „Zeitungsenten“, denn die ab-
sichtlich falschen Nachrichten werden
eigens zum Zweck der viralen Verbrei-
tung über soziale Netzwerke produziert.
Einmal in der Welt können sie durch die
schnelle Streuung im Netz nicht mehr
korrigiert, geschweige denn zurückge-
holt werden. Heute sind Fake News zu ei-
nem globalen Phänomen geworden, das
die Macht hat, die öffentliche Meinung
zu manipulieren, Wahlen zu beeinflussen
und damit gesamte Demokratien zu ge-
fährden.
Weil es sich bei Fake News um ein junges
Phänomen handelt, steht die Forschung
noch ganz am Anfang. Die exakten Fol-
gen für Individuen, Institutionen und
die Gesellschaft als Ganzes lassen sich
nur erahnen. Wie wird die Manipulati-
onsmöglichkeit von Information unser
Zusammenleben verändern? Werden de-
mokratisch verfasste, offene Gesellschaf-
ten dies aushalten (müssen)? Braucht es
neue, zeitgemäße Sicherungsmaßnah-
men? Und wenn ja, wie könnten diese
beschaffen sein? Es war erneut, Yochai
Benkler, der sich Anfang 2018 mit einer
Reihe von Mitautoren in einem Artikel1
über die Frage Gedanken machte, wie
gegen Fake News vorzugehen sei und
was im Internetzeitalter an die Stelle alt-
bewährter institutioneller Bollwerke ge-
gen Falschinformation treten könne. Als
effektive Maßnahmen gegen Fake News
schlagen die Autoren zweierlei vor: Zum
einen muss es darum gehen, Individuen
zu ermächtigen, Falschnachrichten leich-
ter als solche zu erkennen. Dabei kann
ein umfassendes
Fact Checking hel-
fen, also die Nach-
verfolgung, Prü-
fung und Korrektur
von Inhalten. Die ersten solchen Dienste
wurde Anfang des neuen Jahrtausends in
den USA gegründet: Die 2003 gegründe-
te Webseite FactCheck.org ist noch heu-
te aktiv. In Deutschland arbeitet an der
Aufklärung über und Korrektur von Fake
News etwa die vom gemeinnützigen Re-
cherchezentrum Correctiv.org betriebe-
ne Webseite „Echtjetzt“.
Laut Benkler und seinen Mitautoren hat
Fact Checking jedoch seine Tücken – und
damit auch Grenzen im Erfolg. Dies hat
viel damit zu tun, wie Menschen ticken:
So neigen Nachrichtenempfänger etwa
f/21 Büro für Zukunftsfragen  www.f-21.de 	 2
Die traditionellen Bollwerke gegen Falschinformation stellen sich
aus heutiger Sicht als gar nicht so schlecht heraus. Was kann im
Internetzeitalter an deren Stelle treten?
dazu, die Glaubwürdigkeit von Informa-
tionen nicht in Frage zu stellen, solange
diese nicht der vorgefassten Meinung
entgegenstehen oder sich ein sonstiger
Anreiz für das Hinterfragen aufdrängt.
Ansonsten wird Information meist un-
kritisch hingenommen, wobei Menschen
dazu tendieren, sich den Werten und
Anschauungen ihrer Gemeinschaft an-
zuschließen. Menschen sind alles andere
als objektive Informationssuchende: Zu-
meist sind wir offen für solche Informati-
onen, die die eigene Meinung verstärken,
wir finden Informationen überzeugen-
der, die mit unserer eigenen bereits vor-
handenen Meinung konsistent ist, als
nicht übereinstimmende Informationen
und eher akzeptieren wir Informationen,
die uns gefallen und in unser Weltbild
passen. All dies macht es Fact Checking
schwer, weil Meinungen nicht unbedingt
geändert werden, wenn falsche Informa-
tionen korrigiert werden. Die Korrektur
unrichtiger Information kann sich sogar
als Bumerang erweisen: Jede Wiederho-
lung der falschen Information, sogar im
Kontext der Anfechtung, kann sich nach-
teilig auswirken, denn je öfter Menschen
Informationen wahrnehmen, desto be-
kannter und folglich glaubwürdiger er-
scheinen diese. Professionelles Fact Che-
cking hat also einen schweren Stand und
ist nur mäßig erfolgreich im Vorgehen
gegen Fake News, zumal es viel Zeit und
sonstige Ressourcen in Anspruch nimmt.
Weil demgegenüber falsche Nachrichten
schnell und einfach in die Welt gesetzt
sind, kann Fact Checking ohnehin nie mit
dem permanenten Strom an Falschinfor-
mationSchritthalten.GegendasProblem
der Masse haben Forscher der Yale Uni-
versity Crowdsourcing als alternativen,
vielversprechenden Ansatz im Kampf ge-
gen Fake News vorgeschlagen. Hierbei
würden Inhalte von der Netzgemeinde
bewertet und die Vertrauenswürdigkeit
von Nachrichten-
quellen durch eine
Ratingskala ausge-
drückt.2
Neben Fact Che-
cking schlagen Benkler und Mitauto-
ren als weiteren Weg gegen Fake News
strukturelle Änderungen vor, die verhin-
dern sollen, dass Nutzer den falschen
Nachrichten überhaupt ausgesetzt wer-
den. Hält man sich vor Augen, dass das
Internet nicht nur die Publikation von
Falschinformationen erlaubt, sondern
insbesondere mit den sozialen Medien
Werkzeuge zur aktiven Verbreitung be-
reitstellt, dann liegt auf der Hand, dass
ein effektiver Kampf gegen Fake News
bei den sozialen Medien ansetzen muss.
Ein Anfang könnte sein, Nutzer über 
weitere Informationen:
www.f-21.de/zukunftsmonitor
Auftragsstudien
Zukunftsszenarien für Ihre Organisation:
Wir forschen für Sie!
Welche Entwicklungen verändern Ihr Organisa-
tionsumfeld? Welche Wege der Erneuerung und
Innovation stehen Ihnen offen?
Mit einer f/21 Auftragsstudie geben wir Antwor-
ten auf Ihre Zukunftsfragen, entwerfen Szenarien
und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf.
Gerne unterbreiten wir konkrete Vorschläge, wie
wir mit einer Auftragsstudie Ihre Fragestellungen
bearbeiten und Impulse für Veränderungsprozes-
se in Ihrer Organisation geben können.
Kontaktieren Sie uns für ein unverbindliches
Gespräch!
f/21 Quarterly	 Q3 | 2018
f/21 Büro für Zukunftsfragen  www.f-21.de 	 3
Der überwachte Körper
Technik ändert den Blick auf den Menschen: Was be-
deutet Gesundheit in Zeiten der Totalvermessung?
Für Anhänger der Quantified-Self-Be-
wegung führt der Weg zu einem opti-
mierten Leben über die genaue Kenntnis
ihrer Körperfunktionen. Schlafrhythmen,
Herzfrequenzen, Bewegungsmuster und
Ernährungsgewohnheiten: Mit Hilfe von
am Körper getragenen Sensoren und
Smartphone-Apps wird penibel Buch ge-
führt über diverse Vitaldaten. Aber es ist
nicht mehr nur das elektronische Arm-
band, das ein waches Auge auf unseren
körperlichen Zustand hat. Das Daten-
schürfen im Dienste von Fitness und Ge-
sundheit geht viel
weiter. Denn auch
die Medizin ist im-
mer stärker an per-
sonenbezogenen
Datensammlungen
interessiert, um schneller und gezielter
Diagnosen zu stellen und Therapien für
jeden einzelnen Patienten maßzuschnei-
dern.
Dazu wird der Körper angezapft: Die
Messung von Vitaldaten am Armgelenk
weitet sich vom Fitnessbereich immer
weiter in den Medizinbereich hinein aus.
Aber nicht nur das – die Vermessung
könnte bald buchstäblich unter die Haut
gehen. Mit Hilfe eines synthetischen
Gennetzwerks wollen Wissenschaftler
der ETH Zürich Krebs in einem sehr frü-
hen Stadium erkennen. Ein implantiertes
Gennetzwerk überwacht kontinuierlich
den Kalziumpegel im Blut und stößt bei
erhöhten Werten – ein Indiz für Tumor-
wachstum – die Produktion von Melanin
an: Ein Leberfleck entsteht als Frühindi-
kator.1
Forscher der Universität Stutt-
gart entwickelten eine winzig kleine Na-
nokamera, die mittels Spritze injiziert in
Körperteile vordringen kann, die bislang
für Kameras nicht zugänglich waren. So
soll der menschliche Körper akribisch er-
forscht werden können. Wird es nur eine
Frage der Zeit sein, bis Implantate die
verschiedensten Körperdaten einsam-
meln und an das Smartphone oder direkt
zum Arzt schicken
und frühzeitig
Alarm zu schlagen,
sobaldsichgesund-
heitliche Proble-
me ankündigen?
Gleichzeitig natürlich dient all diese im-
plantierte Technik demselben Zweck, wie
man ihn aus der Quantified-Self-Bewe-
gung kennt: das Verhalten des Vermesse-
nen soll durch die Informationsbeschaf-
fung, Herbeiführung von Transparenz
und nicht zuletzt Aufbau sozialen Drucks
beeinflusst werden.
In einem derart technisierten Umfeld
könnte sich die Aufgabe der Ärzteschaft
drastisch wandeln: Ging es bislang dar-
um, Krankheiten zu behandeln, so brin-
gen all die Sensoren die Möglichkeit mit
sich – zumindest vorgeblich –, noch be-
vor sich die Krankheit bemerkbar macht,
zu erkennen, dass etwas im Körper 
Die Totalvermessung des Kör-
pers zwecks verbesserter Diag-
nose und Therapie wird buch-
stäblich unter die Haut gehen.
Stets prägten Technisierungsprozesse die Rahmenbedingungen des
Arbeitens. Dennoch ist ein frischer Blick auf das Konzept von Arbeit
angeraten. Dabei fällt auf, dass in einer von Technik durchzogenen
und durch Technik konstituierten Arbeitswelt Technik hochgradig
ambivalent in Erscheinung tritt. Als Kehrseite der technikeuphorisch
in Aussicht gestellten Chancen und Freiheiten des Einzelnen zeigt
sich eine Vielzahl neuer Widersprüche. Paradigmatisch steht homo
laborans digitalis für das moderne „Arbeitstier“, das ortlos und ver-
einzelt im „Global Village“, gesichtslos als Teil einer amorphen Inter-
netcrowd, ohne Anfang und Ende, sich verhaltend statt handelnd
seiner Tätigkeit nachgeht.
Neu erschienen:
Homo Laborans Digitalis
Reflexionen über neue digitale Arbeitswelten
Die Graue Edition | ISBN: 978-3-906336-72-5 | 324 Seiten
 Zeitungsente 2.0 (Forts.)
die Vertrauenswürdigkeit der Quellen zu
informieren; ebenso könnte die Vertrau-
enswürdigkeit einer Quelle in die algo-
rithmischen Rankings integriert werden.
Die Autoren schlagen außerdem vor, die
Personalsierung politischer Informatio-
nen relativ zu anderen Informationsarten
zu reduzieren, um den Effekt der Filter-
blase abzuschwächen. Generell geht es
darum, die Quellen von Falschinformati-
on zu identifizieren und die Verbreitung
der von diesen ausgehenden Informati-
onen möglichst zu unterbinden. Da ein
Großteil der Falschinformationen von
Bots gestreut wird, sollte deren Tätigkeit
schärfer in den Blick genommen werden,
um durch Bots gestreute Information
zu erkennen und deren automatische
Verbreitung einzudämmen sowie Algo-
rithmen dazu zu bringen, solcherlei au-
tomatisch verbreitete Inhalte zu ignorie-
ren. Als problematisch wird sich hierbei
allerdings erweisen, dass die Entdeckung
von Bots allzu häufig einem Katz-und-
Maus-Spiel gleicht: Jede Enttarnung und
Unschädlichmachung wird umgehend
beantwortet mit Gegenmaßnahmen von
Bot-Entwicklern. Daher kann man davon
ausgehen, dass eine riesige, unbekannte
Menge von menschenähnlich agierenden
Bots unentdeckt bleibt.
Im Kampf gegen Fake News wird künftig
die Identifizierung von Bots ein wichtiges
Forschungsfeld sein. Neben solcherart
technischen Fragen wird es aber künftig
vor allem auchdarauf ankommen,das ge-
samte System der Informationsverbrei-
tung fit zu machen für das digitale Zeital-
ter. Daher wird im Zentrum der Aufgabe
der wirkungsvollen Verhinderung von
Fake News die Frage stehen, wie sozia-
le Informationssysteme beschaffen sein
müssen, damit sie eine Kultur ausbilden,
in der vertrauenswürdige Informationen
geschätzt und verbreitet werden. Diese
Herausforderung macht nicht weniger
als interdisziplinäre Forschung und ein
globales Vorgehen vonnöten. 
1
David M. J. Lazer, Matthew A. Baum, Yochai Ben-
kler, Adam J. Berinsky, Kelly M. Greenhill, Filippo
Menczer, Miriam J. Metzger, Brendan Nyhan, Gor-
don Pennycook, David Rothschild, Michael Schud-
son, Steven A. Sloman, Cass R. Sunstein, Emily A.
Thorson, Duncan J. Watts, Jonathan L. Zittrain
(2018): The science of fake news, in: Science, 359
(6380), S. 1094-1096.
2
Gordon Pennycook, David G. Rand (2018): Crowd-
sourcing Judgments of News Source Quality, Wor-
king Paper, URL: https://ssrn.com/abstract=3118471
(Stand: 25.08.2018).
f/21 Quarterly	 Q3 | 2018
f/21 Büro für Zukunftsfragen  www.f-21.de 	 4
Impressum
f/21 Büro für Zukunftsfragen
Nora S. Stampfl, MBA
 Rosenheimer Straße 35
D-10781 Berlin
 +49.30.69 59 82 58
 zukunft@f-21.de
 www.f-21.de
Fotos: giftgruen, photocase.com (S. 1);
jala, photocase.com (S. 2)
Lernen bei Bedarf
Längst sind wir es gewohnt, augenblicklich jeden Informationsbedarf erfüllt zu
bekommen. Auch Lernen wird immer mehr „just in time“ erfolgen.
Mit der Grenzverschiebung zwischen gesund und krank werden
sich auch Ziele und Aufgaben der Medizin wandeln.
 Der überwachte Körper (Forts.)
nicht rund läuft. Von dieser Möglichkeit
ist es nur ein kleiner Schritt dazu, das ärzt-
liche Aufgabenspektrum nochmals zu
erweitern: hin zu einer paternalistischen
Sorge um den Patienten, erst gar nicht
krank zu werden. Dieses Resultat wird es
jedenfalls sein, was das Verständnis me-
dizinischer Versor-
gung angesichts
der technischen
Trackingmöglich-
keiten bestimmen wird und an dem sich
Ärzte in einem solchen Szenario werden
messen lassen müssen.
Immer schon hat sich der Mensch Werk-
zeuge geschaffen, um den verschiedens-
ten Zwecken nachzugehen; doch immer
augenscheinlicher wird die Untrennbar-
keit des Menschen von seinen techni-
schen Artefakten. Wir stehen an einem
Punkt, an dem die Synthese von medi-
zinischem und technologischem Wissen
unseren bisherigen Blick auf den mensch-
lichen Körper und dessen Gesundheit
gehörig beuteln könnte. Wo verläuft die
Grenze zwischen Natürlichem und Künst-
lichem? Was bedeutet „normal“ und
wann ist die Grenze zum Pathologischen
überschritten? Mit der Frage von Nor-
men und des Normalen hat sich bereits
in den 1940er Jahren der französische
Arzt und Philosoph Georges Canguilhem
in seiner Dissertation „Das Normale und
das Pathologische“ befasst und sieht da-
rin keinen Gegensatz: „Gesund sein heißt
nicht bloß, in einer gegebenen Situation
normal, sondern auch – in dieser oder in
anderen möglichen Situationen – norma-
tiv zu sein. Was die Gesundheit ausmacht,
ist die Möglichkeit, die das augenblicklich
Normale definierende Norm zu über-
schreiten; die Möglichkeit, Verstöße ge-
gen die gewohnheitsmäßige Norm hinzu-
nehmen und in neuen Situationen neue
Normen in Kraft zu setzen.“ Ohne Zwei-
fel wird das technisch erweiterte Leben
Grenzverschiebungen hervorbringen,
veränderte Normen werden sich etablie-
ren. Oder wie Canguilhem sagen würde:
„In einer gegebenen Umwelt und für
einen bestimmten Komplex von Anfor-
derungen ist man
auch mit nur einer
Niere normal.“ Al-
les eine Frage der
Definition also? Müssen wir die mensch-
liche Evolution künftig zusammen mit
der Technikentwicklung denken? Umso
wichtiger wird ein Nachdenken über das
Machbare und Wünschenswerte in der
Medizin werden. 
1
Aizhan Tastanova, Marc Folcher, Marius Müller,
Gieri Camenisch, Aaron Ponti, Thomas Horn, Maria
S. Tikhomirova, Martin Fussenegger (2018): Syn-
thetic biology-based cellular biomedical tattoo for
detection of hypercalcemia associated with cancer,
in: Science Translational Medicine, 10 (437).
Dass Warten eine Kunst und Geduld
eine Tugend ist, kann kaum noch für
das Internetzeitalter gelten. Im Hier und
Jetzt will jeder Konsumwunsch, jedes In-
formationsbedürfnis erfüllt sein. Dieser
Wandel von Erwartungen hat viel mit
Technologie zu tun: Denn Apps, Internet-
suchmaschinen, digitale Sprachassisten-
ten und Online Shoppingportale sorgen
für unverzügliche, situationsgerechte
Erfahrungen.
Diese Erwartungshaltung setzt sich im
Bereich der Arbeit und der betrieblichen
Weiterbildung fort. Bei Bedarf Informa-
tionslücken zu füllen, wenn diese sich
gerade auftun, ist natürlich keine neue
Idee. Dass der einwöchige Präsenzkurs
nicht für jede Lernherausforderung das
effektivste Instrument ist, weiß man
schon lange. Gleichzeitig fiel es schwer,
„just in time“-Lernen so umzusetzen,
dass es seinen Namen auch verdient.
Heute allerdings stehen mit Künstlicher
Intelligenz, Augmented Reality sowie na-
türlichsprachigen Interfaces Technologi-
en zur Verfügung, die es leichter möglich
machen, Antworten „on demand“ zu ge-
ben. Ebenso selbstverständlich, wie wir
Siri nach dem Wetter fragen und umge-
hend Auskunft erhalten, sollen Lernplatt-
formen auf Zuruf Hilfestellung geben,
wenn es im Arbeitsprozess hakt. Damit
dies möglichst reibungslos geschieht,
bietet sich die Kommunikation zwischen
Mensch und Maschine mittels natürlicher
Sprache an, weil die Interaktion so einfa-
cher, schneller, natürlicher und mit freien
Händen – was gerade im Arbeitskontext
ein bedeutender Vorteil ist – vonstatten
geht. Mit Augmented Reality besteht die
Möglichkeit, relevante digitale Informa-
tionen in die „echte“ Arbeitssituation
einzublenden und auf diese Weise kon-
textspezifisch Hilfe, beispielsweise An-
leitungen zum Bedienen komplizierter
Maschinen, anzuzeigen.
Betriebliches Lernen dermaßen auszu-
gestalten – beiläufig, situationsgerecht
und unterbrechungsfrei – bedeutet
nicht nur einen drastischen Umbruch in
der Natur des Lernens, sondern bringt
ebenso vollkommen neue Aufgaben und
Herausforderungen für die Bildungsver-
antwortlichen in Unternehmen mit sich.
Denn Weiterbildung bedeutet dann nicht
länger nur die Organisation eines Schu-
lungsprogramms – obgleich es auch die-
ses weiterhin brauchen wird. Vielmehr
wird es um die Gestaltung von dynami-
schen und flexiblen Lernumgebungen
gehen, die Lernende exakt dort abholen,
wo Lernbedarf besteht. Lernen muss im
Unternehmen grenzenlos werden, darf
nicht an festgeschriebene Lernphasen
gekoppelt, sondern muss kontinuierlich
bei Bedarf abrufbar sein. Dieser Wandel
bringt nicht zuletzt mit sich, dass der Er-
folg von Weiterbildung anders gemessen
werden muss als bisher. Während heute
die in Kursen verbrachte Zeit als Maßgrö-
ße des Lernens gilt, wird der Fakt, dass
Lernen immer und überall, ohne den Ar-
beitsprozess zu unterbrechen, gesche-
hen kann, ein solches Maß kaum noch
angemessen erscheinen lassen – wenn
es das denn jemals war. 

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f/21 Quarterly Q3|2018

  • 1. Foresight  Trends  Strategie Q3 | 2018 August 2018 Zeitungsente 2.0  Der überwachte Körper  Lernen bei Bedarf  Abonnieren Sie f/21 Quarterly! Wir informieren Sie regelmäßig über die neuesten Ausblicke in die Welt von morgen. Bleiben Sie am Ball und verpassen Sie keine Aus- gabe des f/21 Quarterly – per Mail erhalten Sie jeweils direkt nach Erscheinen kostenlos die neueste Ausgabe. Registrieren Sie sich hier: www.f-21.de/quarterly Zeitungsente 2.0 Vor mehr als einem Jahrzehnt hat Harvard-Professor Yochai Benkler in seinem Buch „The Wealth of Networks“ eine Revolution durch das Internet vo- rausgesagt, weil durch das Netz der Zu- gang zu Macht demokratisiert würde: Die Informationsökonomie sei ursprünglich, so Benkler, rund um teure Produktions- mittel wie Radiosender, Druckmaschi- nen, Fernsehstudios aufgebaut. Com- puter und Internet erlauben Menschen diese Machtzentren der Vergangenheit zu umschiffen und eröffnen zugleich die Möglichkeit für neue Machtmodelle. Seit dem Erschei- nen von Benklers mittlerweile zum Klassiker avancier- ten Buch ist viel passiert und die damals bahnbrechende Einsicht ist heu- te kaum mehr als eine Binsenweisheit. Längst ist „always on“ keine Vision mehr, immerzu und überall sind wir Teil eines weltumspannenden Informationsnetzes, in dem tatsächlich, wie Benkler es voraus- gesagt hat, die traditionellen Gatekeeper entmachtet sind. Vielfach üben die Macht heute die neuen DatensammelgigantenwieGoogleundFa- cebook aus, die keinen Winkel des Privat- lebens ihrer Nutzer unausgeleuchtet las- Falschinformationen gab es immer schon. Doch Fake News bedeuten mehr als die Zeitungsente des analo- gen Zeitalters. Muss die digitale Gesellschaft mit der Meinungsmanipulation im Netz leben? sen und durch dieses Wissen neue Macht anhäufen. Denn die Netzgiganten haben es in der Hand, wer was wann zu Gesicht bekommt. Neu ist an dieser veränderten Machtkonstellation, dass diese Zugänge zur Macht gekauft werden können, wie die vergangene US-Präsidentschaftswahl vorgeführt hat. In diesem Zuge wurde auch der Begriff „Fake News“ geboren, da die neuen Gatekeeper des Internet- zeitalters zu Wahlkampfzwecken als Quellen von Falschinformation miss- braucht wurden. Aller Welt wurde vor Augen geführt, wie die neue Machtstruk- tur im Internetzeit- alter diejenigen mit ausreichend tech- nischem, sozialem und politischem Know-How dazu befähigt, beliebige – auch noch so absur- de – Inhalte zu verbreiten. Zusätzlich ist es auch dem herrschenden Dogma un- bedingter Transparenz geschuldet, dass die Prozeduren des Gatekeepings weit- gehend abgeschafft sind, um Informatio- nen frei fließen zu lassen. Anstelle eines fairen Spiels freier Informationen tobt jedoch eine Schlacht, in der Information zur Manipulation und Täuschung heran- gezogen wird, um die jeweiligen Interes- sen und Motive zu stützen und  Der einstige Internettraum freier Information weicht einer Schlacht, in der Information der Manipulation dient. Quarterly
  • 2. f/21 Quarterly Q3 | 2018  Zeitungsente 2.0 (Forts.) durchzusetzen. Falsche Informationen gab es natürlich immer schon. Doch sind Fake News mehr als bloße „Zeitungsenten“, denn die ab- sichtlich falschen Nachrichten werden eigens zum Zweck der viralen Verbrei- tung über soziale Netzwerke produziert. Einmal in der Welt können sie durch die schnelle Streuung im Netz nicht mehr korrigiert, geschweige denn zurückge- holt werden. Heute sind Fake News zu ei- nem globalen Phänomen geworden, das die Macht hat, die öffentliche Meinung zu manipulieren, Wahlen zu beeinflussen und damit gesamte Demokratien zu ge- fährden. Weil es sich bei Fake News um ein junges Phänomen handelt, steht die Forschung noch ganz am Anfang. Die exakten Fol- gen für Individuen, Institutionen und die Gesellschaft als Ganzes lassen sich nur erahnen. Wie wird die Manipulati- onsmöglichkeit von Information unser Zusammenleben verändern? Werden de- mokratisch verfasste, offene Gesellschaf- ten dies aushalten (müssen)? Braucht es neue, zeitgemäße Sicherungsmaßnah- men? Und wenn ja, wie könnten diese beschaffen sein? Es war erneut, Yochai Benkler, der sich Anfang 2018 mit einer Reihe von Mitautoren in einem Artikel1 über die Frage Gedanken machte, wie gegen Fake News vorzugehen sei und was im Internetzeitalter an die Stelle alt- bewährter institutioneller Bollwerke ge- gen Falschinformation treten könne. Als effektive Maßnahmen gegen Fake News schlagen die Autoren zweierlei vor: Zum einen muss es darum gehen, Individuen zu ermächtigen, Falschnachrichten leich- ter als solche zu erkennen. Dabei kann ein umfassendes Fact Checking hel- fen, also die Nach- verfolgung, Prü- fung und Korrektur von Inhalten. Die ersten solchen Dienste wurde Anfang des neuen Jahrtausends in den USA gegründet: Die 2003 gegründe- te Webseite FactCheck.org ist noch heu- te aktiv. In Deutschland arbeitet an der Aufklärung über und Korrektur von Fake News etwa die vom gemeinnützigen Re- cherchezentrum Correctiv.org betriebe- ne Webseite „Echtjetzt“. Laut Benkler und seinen Mitautoren hat Fact Checking jedoch seine Tücken – und damit auch Grenzen im Erfolg. Dies hat viel damit zu tun, wie Menschen ticken: So neigen Nachrichtenempfänger etwa f/21 Büro für Zukunftsfragen  www.f-21.de 2 Die traditionellen Bollwerke gegen Falschinformation stellen sich aus heutiger Sicht als gar nicht so schlecht heraus. Was kann im Internetzeitalter an deren Stelle treten? dazu, die Glaubwürdigkeit von Informa- tionen nicht in Frage zu stellen, solange diese nicht der vorgefassten Meinung entgegenstehen oder sich ein sonstiger Anreiz für das Hinterfragen aufdrängt. Ansonsten wird Information meist un- kritisch hingenommen, wobei Menschen dazu tendieren, sich den Werten und Anschauungen ihrer Gemeinschaft an- zuschließen. Menschen sind alles andere als objektive Informationssuchende: Zu- meist sind wir offen für solche Informati- onen, die die eigene Meinung verstärken, wir finden Informationen überzeugen- der, die mit unserer eigenen bereits vor- handenen Meinung konsistent ist, als nicht übereinstimmende Informationen und eher akzeptieren wir Informationen, die uns gefallen und in unser Weltbild passen. All dies macht es Fact Checking schwer, weil Meinungen nicht unbedingt geändert werden, wenn falsche Informa- tionen korrigiert werden. Die Korrektur unrichtiger Information kann sich sogar als Bumerang erweisen: Jede Wiederho- lung der falschen Information, sogar im Kontext der Anfechtung, kann sich nach- teilig auswirken, denn je öfter Menschen Informationen wahrnehmen, desto be- kannter und folglich glaubwürdiger er- scheinen diese. Professionelles Fact Che- cking hat also einen schweren Stand und ist nur mäßig erfolgreich im Vorgehen gegen Fake News, zumal es viel Zeit und sonstige Ressourcen in Anspruch nimmt. Weil demgegenüber falsche Nachrichten schnell und einfach in die Welt gesetzt sind, kann Fact Checking ohnehin nie mit dem permanenten Strom an Falschinfor- mationSchritthalten.GegendasProblem der Masse haben Forscher der Yale Uni- versity Crowdsourcing als alternativen, vielversprechenden Ansatz im Kampf ge- gen Fake News vorgeschlagen. Hierbei würden Inhalte von der Netzgemeinde bewertet und die Vertrauenswürdigkeit von Nachrichten- quellen durch eine Ratingskala ausge- drückt.2 Neben Fact Che- cking schlagen Benkler und Mitauto- ren als weiteren Weg gegen Fake News strukturelle Änderungen vor, die verhin- dern sollen, dass Nutzer den falschen Nachrichten überhaupt ausgesetzt wer- den. Hält man sich vor Augen, dass das Internet nicht nur die Publikation von Falschinformationen erlaubt, sondern insbesondere mit den sozialen Medien Werkzeuge zur aktiven Verbreitung be- reitstellt, dann liegt auf der Hand, dass ein effektiver Kampf gegen Fake News bei den sozialen Medien ansetzen muss. Ein Anfang könnte sein, Nutzer über  weitere Informationen: www.f-21.de/zukunftsmonitor Auftragsstudien Zukunftsszenarien für Ihre Organisation: Wir forschen für Sie! Welche Entwicklungen verändern Ihr Organisa- tionsumfeld? Welche Wege der Erneuerung und Innovation stehen Ihnen offen? Mit einer f/21 Auftragsstudie geben wir Antwor- ten auf Ihre Zukunftsfragen, entwerfen Szenarien und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf. Gerne unterbreiten wir konkrete Vorschläge, wie wir mit einer Auftragsstudie Ihre Fragestellungen bearbeiten und Impulse für Veränderungsprozes- se in Ihrer Organisation geben können. Kontaktieren Sie uns für ein unverbindliches Gespräch!
  • 3. f/21 Quarterly Q3 | 2018 f/21 Büro für Zukunftsfragen  www.f-21.de 3 Der überwachte Körper Technik ändert den Blick auf den Menschen: Was be- deutet Gesundheit in Zeiten der Totalvermessung? Für Anhänger der Quantified-Self-Be- wegung führt der Weg zu einem opti- mierten Leben über die genaue Kenntnis ihrer Körperfunktionen. Schlafrhythmen, Herzfrequenzen, Bewegungsmuster und Ernährungsgewohnheiten: Mit Hilfe von am Körper getragenen Sensoren und Smartphone-Apps wird penibel Buch ge- führt über diverse Vitaldaten. Aber es ist nicht mehr nur das elektronische Arm- band, das ein waches Auge auf unseren körperlichen Zustand hat. Das Daten- schürfen im Dienste von Fitness und Ge- sundheit geht viel weiter. Denn auch die Medizin ist im- mer stärker an per- sonenbezogenen Datensammlungen interessiert, um schneller und gezielter Diagnosen zu stellen und Therapien für jeden einzelnen Patienten maßzuschnei- dern. Dazu wird der Körper angezapft: Die Messung von Vitaldaten am Armgelenk weitet sich vom Fitnessbereich immer weiter in den Medizinbereich hinein aus. Aber nicht nur das – die Vermessung könnte bald buchstäblich unter die Haut gehen. Mit Hilfe eines synthetischen Gennetzwerks wollen Wissenschaftler der ETH Zürich Krebs in einem sehr frü- hen Stadium erkennen. Ein implantiertes Gennetzwerk überwacht kontinuierlich den Kalziumpegel im Blut und stößt bei erhöhten Werten – ein Indiz für Tumor- wachstum – die Produktion von Melanin an: Ein Leberfleck entsteht als Frühindi- kator.1 Forscher der Universität Stutt- gart entwickelten eine winzig kleine Na- nokamera, die mittels Spritze injiziert in Körperteile vordringen kann, die bislang für Kameras nicht zugänglich waren. So soll der menschliche Körper akribisch er- forscht werden können. Wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis Implantate die verschiedensten Körperdaten einsam- meln und an das Smartphone oder direkt zum Arzt schicken und frühzeitig Alarm zu schlagen, sobaldsichgesund- heitliche Proble- me ankündigen? Gleichzeitig natürlich dient all diese im- plantierte Technik demselben Zweck, wie man ihn aus der Quantified-Self-Bewe- gung kennt: das Verhalten des Vermesse- nen soll durch die Informationsbeschaf- fung, Herbeiführung von Transparenz und nicht zuletzt Aufbau sozialen Drucks beeinflusst werden. In einem derart technisierten Umfeld könnte sich die Aufgabe der Ärzteschaft drastisch wandeln: Ging es bislang dar- um, Krankheiten zu behandeln, so brin- gen all die Sensoren die Möglichkeit mit sich – zumindest vorgeblich –, noch be- vor sich die Krankheit bemerkbar macht, zu erkennen, dass etwas im Körper  Die Totalvermessung des Kör- pers zwecks verbesserter Diag- nose und Therapie wird buch- stäblich unter die Haut gehen. Stets prägten Technisierungsprozesse die Rahmenbedingungen des Arbeitens. Dennoch ist ein frischer Blick auf das Konzept von Arbeit angeraten. Dabei fällt auf, dass in einer von Technik durchzogenen und durch Technik konstituierten Arbeitswelt Technik hochgradig ambivalent in Erscheinung tritt. Als Kehrseite der technikeuphorisch in Aussicht gestellten Chancen und Freiheiten des Einzelnen zeigt sich eine Vielzahl neuer Widersprüche. Paradigmatisch steht homo laborans digitalis für das moderne „Arbeitstier“, das ortlos und ver- einzelt im „Global Village“, gesichtslos als Teil einer amorphen Inter- netcrowd, ohne Anfang und Ende, sich verhaltend statt handelnd seiner Tätigkeit nachgeht. Neu erschienen: Homo Laborans Digitalis Reflexionen über neue digitale Arbeitswelten Die Graue Edition | ISBN: 978-3-906336-72-5 | 324 Seiten  Zeitungsente 2.0 (Forts.) die Vertrauenswürdigkeit der Quellen zu informieren; ebenso könnte die Vertrau- enswürdigkeit einer Quelle in die algo- rithmischen Rankings integriert werden. Die Autoren schlagen außerdem vor, die Personalsierung politischer Informatio- nen relativ zu anderen Informationsarten zu reduzieren, um den Effekt der Filter- blase abzuschwächen. Generell geht es darum, die Quellen von Falschinformati- on zu identifizieren und die Verbreitung der von diesen ausgehenden Informati- onen möglichst zu unterbinden. Da ein Großteil der Falschinformationen von Bots gestreut wird, sollte deren Tätigkeit schärfer in den Blick genommen werden, um durch Bots gestreute Information zu erkennen und deren automatische Verbreitung einzudämmen sowie Algo- rithmen dazu zu bringen, solcherlei au- tomatisch verbreitete Inhalte zu ignorie- ren. Als problematisch wird sich hierbei allerdings erweisen, dass die Entdeckung von Bots allzu häufig einem Katz-und- Maus-Spiel gleicht: Jede Enttarnung und Unschädlichmachung wird umgehend beantwortet mit Gegenmaßnahmen von Bot-Entwicklern. Daher kann man davon ausgehen, dass eine riesige, unbekannte Menge von menschenähnlich agierenden Bots unentdeckt bleibt. Im Kampf gegen Fake News wird künftig die Identifizierung von Bots ein wichtiges Forschungsfeld sein. Neben solcherart technischen Fragen wird es aber künftig vor allem auchdarauf ankommen,das ge- samte System der Informationsverbrei- tung fit zu machen für das digitale Zeital- ter. Daher wird im Zentrum der Aufgabe der wirkungsvollen Verhinderung von Fake News die Frage stehen, wie sozia- le Informationssysteme beschaffen sein müssen, damit sie eine Kultur ausbilden, in der vertrauenswürdige Informationen geschätzt und verbreitet werden. Diese Herausforderung macht nicht weniger als interdisziplinäre Forschung und ein globales Vorgehen vonnöten.  1 David M. J. Lazer, Matthew A. Baum, Yochai Ben- kler, Adam J. Berinsky, Kelly M. Greenhill, Filippo Menczer, Miriam J. Metzger, Brendan Nyhan, Gor- don Pennycook, David Rothschild, Michael Schud- son, Steven A. Sloman, Cass R. Sunstein, Emily A. Thorson, Duncan J. Watts, Jonathan L. Zittrain (2018): The science of fake news, in: Science, 359 (6380), S. 1094-1096. 2 Gordon Pennycook, David G. Rand (2018): Crowd- sourcing Judgments of News Source Quality, Wor- king Paper, URL: https://ssrn.com/abstract=3118471 (Stand: 25.08.2018).
  • 4. f/21 Quarterly Q3 | 2018 f/21 Büro für Zukunftsfragen  www.f-21.de 4 Impressum f/21 Büro für Zukunftsfragen Nora S. Stampfl, MBA  Rosenheimer Straße 35 D-10781 Berlin  +49.30.69 59 82 58  zukunft@f-21.de  www.f-21.de Fotos: giftgruen, photocase.com (S. 1); jala, photocase.com (S. 2) Lernen bei Bedarf Längst sind wir es gewohnt, augenblicklich jeden Informationsbedarf erfüllt zu bekommen. Auch Lernen wird immer mehr „just in time“ erfolgen. Mit der Grenzverschiebung zwischen gesund und krank werden sich auch Ziele und Aufgaben der Medizin wandeln.  Der überwachte Körper (Forts.) nicht rund läuft. Von dieser Möglichkeit ist es nur ein kleiner Schritt dazu, das ärzt- liche Aufgabenspektrum nochmals zu erweitern: hin zu einer paternalistischen Sorge um den Patienten, erst gar nicht krank zu werden. Dieses Resultat wird es jedenfalls sein, was das Verständnis me- dizinischer Versor- gung angesichts der technischen Trackingmöglich- keiten bestimmen wird und an dem sich Ärzte in einem solchen Szenario werden messen lassen müssen. Immer schon hat sich der Mensch Werk- zeuge geschaffen, um den verschiedens- ten Zwecken nachzugehen; doch immer augenscheinlicher wird die Untrennbar- keit des Menschen von seinen techni- schen Artefakten. Wir stehen an einem Punkt, an dem die Synthese von medi- zinischem und technologischem Wissen unseren bisherigen Blick auf den mensch- lichen Körper und dessen Gesundheit gehörig beuteln könnte. Wo verläuft die Grenze zwischen Natürlichem und Künst- lichem? Was bedeutet „normal“ und wann ist die Grenze zum Pathologischen überschritten? Mit der Frage von Nor- men und des Normalen hat sich bereits in den 1940er Jahren der französische Arzt und Philosoph Georges Canguilhem in seiner Dissertation „Das Normale und das Pathologische“ befasst und sieht da- rin keinen Gegensatz: „Gesund sein heißt nicht bloß, in einer gegebenen Situation normal, sondern auch – in dieser oder in anderen möglichen Situationen – norma- tiv zu sein. Was die Gesundheit ausmacht, ist die Möglichkeit, die das augenblicklich Normale definierende Norm zu über- schreiten; die Möglichkeit, Verstöße ge- gen die gewohnheitsmäßige Norm hinzu- nehmen und in neuen Situationen neue Normen in Kraft zu setzen.“ Ohne Zwei- fel wird das technisch erweiterte Leben Grenzverschiebungen hervorbringen, veränderte Normen werden sich etablie- ren. Oder wie Canguilhem sagen würde: „In einer gegebenen Umwelt und für einen bestimmten Komplex von Anfor- derungen ist man auch mit nur einer Niere normal.“ Al- les eine Frage der Definition also? Müssen wir die mensch- liche Evolution künftig zusammen mit der Technikentwicklung denken? Umso wichtiger wird ein Nachdenken über das Machbare und Wünschenswerte in der Medizin werden.  1 Aizhan Tastanova, Marc Folcher, Marius Müller, Gieri Camenisch, Aaron Ponti, Thomas Horn, Maria S. Tikhomirova, Martin Fussenegger (2018): Syn- thetic biology-based cellular biomedical tattoo for detection of hypercalcemia associated with cancer, in: Science Translational Medicine, 10 (437). Dass Warten eine Kunst und Geduld eine Tugend ist, kann kaum noch für das Internetzeitalter gelten. Im Hier und Jetzt will jeder Konsumwunsch, jedes In- formationsbedürfnis erfüllt sein. Dieser Wandel von Erwartungen hat viel mit Technologie zu tun: Denn Apps, Internet- suchmaschinen, digitale Sprachassisten- ten und Online Shoppingportale sorgen für unverzügliche, situationsgerechte Erfahrungen. Diese Erwartungshaltung setzt sich im Bereich der Arbeit und der betrieblichen Weiterbildung fort. Bei Bedarf Informa- tionslücken zu füllen, wenn diese sich gerade auftun, ist natürlich keine neue Idee. Dass der einwöchige Präsenzkurs nicht für jede Lernherausforderung das effektivste Instrument ist, weiß man schon lange. Gleichzeitig fiel es schwer, „just in time“-Lernen so umzusetzen, dass es seinen Namen auch verdient. Heute allerdings stehen mit Künstlicher Intelligenz, Augmented Reality sowie na- türlichsprachigen Interfaces Technologi- en zur Verfügung, die es leichter möglich machen, Antworten „on demand“ zu ge- ben. Ebenso selbstverständlich, wie wir Siri nach dem Wetter fragen und umge- hend Auskunft erhalten, sollen Lernplatt- formen auf Zuruf Hilfestellung geben, wenn es im Arbeitsprozess hakt. Damit dies möglichst reibungslos geschieht, bietet sich die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine mittels natürlicher Sprache an, weil die Interaktion so einfa- cher, schneller, natürlicher und mit freien Händen – was gerade im Arbeitskontext ein bedeutender Vorteil ist – vonstatten geht. Mit Augmented Reality besteht die Möglichkeit, relevante digitale Informa- tionen in die „echte“ Arbeitssituation einzublenden und auf diese Weise kon- textspezifisch Hilfe, beispielsweise An- leitungen zum Bedienen komplizierter Maschinen, anzuzeigen. Betriebliches Lernen dermaßen auszu- gestalten – beiläufig, situationsgerecht und unterbrechungsfrei – bedeutet nicht nur einen drastischen Umbruch in der Natur des Lernens, sondern bringt ebenso vollkommen neue Aufgaben und Herausforderungen für die Bildungsver- antwortlichen in Unternehmen mit sich. Denn Weiterbildung bedeutet dann nicht länger nur die Organisation eines Schu- lungsprogramms – obgleich es auch die- ses weiterhin brauchen wird. Vielmehr wird es um die Gestaltung von dynami- schen und flexiblen Lernumgebungen gehen, die Lernende exakt dort abholen, wo Lernbedarf besteht. Lernen muss im Unternehmen grenzenlos werden, darf nicht an festgeschriebene Lernphasen gekoppelt, sondern muss kontinuierlich bei Bedarf abrufbar sein. Dieser Wandel bringt nicht zuletzt mit sich, dass der Er- folg von Weiterbildung anders gemessen werden muss als bisher. Während heute die in Kursen verbrachte Zeit als Maßgrö- ße des Lernens gilt, wird der Fakt, dass Lernen immer und überall, ohne den Ar- beitsprozess zu unterbrechen, gesche- hen kann, ein solches Maß kaum noch angemessen erscheinen lassen – wenn es das denn jemals war. 