Impulsvortrag für den Workshop "Anything goes? Ethische Perspektiven und Herausforderungen onlinebasierter Forschung" am 7. November 2013 im Rahmen der Tagung "Digital Methods" in Wien
Betriebswirtschaftslehre (B.Sc.) an der Universität Duisburg Essen
Ethik der Onlineforschung - State of the Art und zukünftige Problemfelder
1. »Ethik der Onlineforschung«
State of the Art – und zukünftige Problemfelder
Nele Heise | Hans-Bredow-Institut Hamburg
Workshop, Uni Wien, 7. November 2013
3. Was ist Forschungsethik?
Suche nach Kriterien zur Beurteilung »richtigen Handelns«
»Ethics are guidelines and principles that help us to up-hold our values – to
decide which goals of research are most important and to reconcile values and
goals that are in conflict. Ethical guides are not simply prohibitions; they also
support our positive responsibilities.«
(DIENER/CRANDALL 1978: 3)
Zentrale Elemente von Forschungsethik
Wertbasis, Verantwortung, ethische Entscheidungsfindung
Lese-Empfehlungen
Diener & Crandall 1978; Williams, Rice & Rogers 1988; Strohm Kitchener/Kitchener 2009; Fenner 2010
Heise | Forschungsethik
3
4. »Hybridität« der Kontexte von Onlineforschung
ForscherKontexte
Hybride Kontexte
Nutzer-Kontexte
• forschungsethische Standards
• technische, methodologische Anforderungen
• Forschungspraxis/-erfahrung/-schwerpunkte
•
•
•
•
•
technische & soziale Rahmungen der Medienpraktiken
Eigenschaften der Onlinekommunikation
AGBs, Rechte auf Anbieterseite
individuelle ethische Argumentationsparadigmen
Vertrauen & Verantwortung
• Ethische Prinzipien der Online-Kommunikation
• (in-)formelle »Spielregeln« (z. B. Netiquetten)
• Mediennutzungskompetenzen
Heise | Forschungsethik
4
5. Ethisch relevante Dimensionen der Onlineforschung
Umfassende Protokollierung und Speicherung, zugängliches Archiv von
Kommunikations- und Interaktionsvollzügen (Netz als »science laboratory«)
o Einblick in zuvor nicht zugängliche Bereiche, Lebenswelten, Aktivitäten (z. B.
Abbildung von Netzwerken); Ambivalenz bestimmter Methoden, wie Ähnlichkeit
zwischen Logfile-Analysen und verdeckter teilnehmender Beobachtung
Einschränkungen: Entkörperlichung, Virtualisierung (Textualität); Grad sozialer
Präsenz, Anonymität (Verifizierung, Authentifizierung)
o gezielte Herstellung von Präsenz und Sichtbarkeit, Offenlegung (z. B. »Fake
Profile«), passiv-teilnehmende Beobachtung
(räumliche und zeitliche) De-Kontextualisierung; globale Reichweite von
Forschung und Daten
Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit (Daten, »Räume«)
Heise | Forschungsethik
5
6. Zentrale ethische Richtlinien und Standards
Einhaltung allgemein anerkannter ethischer Grundsätze gegenüber
Teilnehmern, Mitarbeitern, scientific community, ggf. Auftraggebern und der
Gesellschaft
Freiwilligkeit und Prinzip der informierten Einwilligung (»informed consent«)
Schutz der Teilnehmer: Anonymität, Privatheit, Persönlichkeitsrechte,
Datenschutz, Nicht-Schädigung (Vermeidung möglicher Risiken)
Erfüllung wissenschaftlicher Qualitätskriterien sowie Angemessenheit und
Verhältnismäßigkeit der methodischen Umsetzung
Abgrenzung von forschungsfremden Tätigkeiten (Auftrags-/Marktforschung)
Heise | Forschungsethik
6
7. Ethische Fragen im Forschungsverlauf
»Ethische Reflexionen sollten nicht nachträglich stattfinden
und sich nur auf die technologische Anwendung beschränken,
sondern die Forschungsprozesse von Beginn an begleiten.«
(FENNER 2010: 196)
Heise | Forschungsethik
7
8. Ethische Fragen im Forschungsverlauf
Rekrutierung
Datenerhebung
Auswertung
Publikation
Zugang zu Räumen
Anonymisierungsstrategien
Sichtbarkeitsstrategien
Datenschutz / -verwahrung
Freiwilligkeit / informed consent
Nicht-Schädigung
Zugang zu
Personen
Handlungen vs.
Artefakte
???
Anonymität vs.
Autorschaft
Transparenz | Offenlegung | Reziprozität
Heise | Forschungsethik
8
10. Rechtlicher Kontext
Datenschutz (Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Daten): In
Deutschland v. a. 2009 novelliertes Bundesdatenschutzgesetz,
Landesdatenschutzgesetze, z. T. Telemediengesetz
§ 40 (BDSG): Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten durch Forschungseinrichtungen
(1) Für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung erhobene oder gespeicherte personenbezogene Daten
dürfen nur für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung verarbeitet oder genutzt werden.
(2) Die personenbezogenen Daten sind zu anonymisieren, sobald dies nach dem Forschungszweck möglich
ist. Bis dahin sind die Merkmale gesondert zu speichern, mit denen Einzelangaben über persönliche
oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren Person zugeordnet werden können.
Sie dürfen mit den Einzelangaben nur zusammengeführt werden, soweit der Forschungszweck dies
erfordert.
(3) Die wissenschaftliche Forschung betreibenden Stellen dürfen personenbezogene Daten nur
veröffentlichen, wenn
1.
2.
der Betroffene eingewilligt hat oder
dies für die Darstellung von Forschungsergebnissen über Ereignisse der Zeitgeschichte unerlässlich ist.
Quelle: http://www.gesetze-im-internet.de/bdsg_1990/__40.html (3.11.2013)
Heise | Forschungsethik
10
11. Rechtlicher Kontext
Datenschutz (Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Daten): In
Deutschland v. a. 2009 novelliertes
Bundesdatenschutzgesetz, Landesdatenschutzgesetze, z. T.
Telemediengesetz
Datenverwahrung: Datensicherung und Archivierung
Recht auf Informationelle Selbstbestimmung – zugleich normatives
Konzept, ausgeübte Praxis, notwendige Kompetenz (Schmidt 2012)
Persönlichkeitsrechte, insbesondere auch Rechte von Dritten
AGBs von Betreibern (globale Reichweite)
Heise | Forschungsethik
11
12. Zwei zentrale forschungsethische Fragen
1. Wann im Forschungsprozess – und von wem – ist eine
Einwilligung notwendig?
2. Welcher Grad an Anonymisierung der Daten ist bei der
Veröffentlichung notwendig?
Heise | Forschungsethik
12
13. Notwendigkeit der Einwilligung
1.
Welcher Grad an Öffentlichkeit/Privatheit kann unterstellt werden?
»imagined audience« (Publikumsvorstellungen)
»kontextuelle Integrität« (Nissenbaum 2004)
explizit geäußerte Erwartungen und Selbstverständnisse
Abschätzen der Beurteilungs- und Medienkompetenz der Nutzer
Hilfskriterien: Zugänglichkeit, Sensibilität (Daten/Informationen)
Priorisierung der Nutzerperspektive
2.
Liegt Erkenntnisinteresse auf Handlungsakten oder Artefakten?
3.
Sind Betreiber (welcher Art) involviert?
Zugang zu Kommunikationsräumen (Nutzungsbedingungen,
Zugangsbeschränkungen)
Automatisiertes Erfassen von Plattform-Daten
Heise | Forschungsethik
13
14. Informed Consent
Visuelle Heuristik zur Notwendigkeit des informed consent nach McKee/Porter 2009, in: Heise/Schmidt (2013)
Heise | Forschungsethik
14
15. Veröffentlichung von Ergebnissen
Anspruch: Nicht-Schädigung und Privatsphärenschutz (in allen
Veröffentlichungsformen, z. B. Vorträgen)
Herausforderungen u. a. angebots- oder plattformübergreifende
Durchsuchbarkeit und Verknüpfbarkeit von Informationen;
Persistenz von Daten; Datenformen
Differenzierung: Urheber/Inhaber/Autoren vs. »normale«
Teilnehmer; aggregierte Daten vs. Einzeldaten
Mögliche Lösungsansätze: »Data Fabrication« (Markham 2012),
visuelle Paraphrasen (W. Reißmann), Wortwolken etc.
Heise | Forschungsethik
15
17. Nicht zuletzt eine Frage der Verantwortung …
»The social scientist today … finds himself in a situation that has
many parallels to that of the nuclear physicist. The knowledge
about the control and manipulation of human behavior that he is
producing or applying is beset with enormous ethical ambiguities,
and he must accept responsibility for its social consequences.«
(KELMAN, zit. nach: DIENER/CRANDALL 1978: 195)
Alte Fragen
(Richtigkeit, Verantwortung u. Missbrauch von Forschung)
– neue Relevanz
Heise | Forschungsethik
17
18. Statt eines Fazits …
»There cannot be a blanket, whole cloth approach to Internet Research ethics.
Contextual details matter, including: What, exactly, is the object of analysis of the
study – texts, aggregated bits of information, or the persons themselves? What are
the use expectations of the online site and of the online participants? What is the
sensitivity of the information collected? What are the ages, geo-cultural-political
affiliations, and/or technological expertise of the online participants? In what form
are the researchers collecting data, and in what forms are they re-distributing it? Is
the researcher using real names or real user/avatar names, quoting passages, taking
screenshots, etc.? And where will this material appear and to whom will it be
accessible?«
(MCKEE/PORTER 2009: 7f.)
Orientierungspunkte
ESOMAR-Guidelines (esomar.org), Standesregeln der DGOF, Richtlinien der
AoIR, Qualitätskriterien des Arbeitskreises deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e. V.
Heise | Forschungsethik
18
19. Ausblick
Bei Onlineforschung unterliegen ethische Entscheidungsprozesse z. T.
erschwerten Bedingungen: Entkontextualisierung, globale Reichweite,
Datenvernetzung und -persistenz, Rechtsunsicherheit, ….
Zukünftige Herausforderungen:
o Forschung zu mobilen Geräten/Geo-Daten; »Big Data«
o Schaffung forschungsspezifischer »Onlineräume«, App-basierte
Forschung, API-Nutzung, Gestaltung von Instrumenten (opt-out/opt-in)
o Kombination verschiedener Datensätze, »frictionless sharing«
o …
Frage nach Problembewusstsein (Studie zu Onlineforschungsethik)
Heise | Forschungsethik
19
21. Literatur (1/2)
ADM ARBEITSKREIS DEUTSCHER MARKT- UND SOZIALFORSCHUNGSINSTITUTE E.V. (2011): Positionspapier des ADM zu Kriterien zur Bewertung von Methoden der
Markt- und Sozialforschung. http://www.adm-ev.de/fileadmin/user_upload/PDFS/Positionspapier-ADM_Feb-2011.pdf (03.11.2013).
BORGATTI, STEPHEN P.; MOLINA, JOSÉ LUIS (2002): Ethical and Strategic Issues in Organizational Social Network Analysis. In: The Journal of Applied Behavioral
Science, 39(3), S. 337-349. Online unter: http://www.analytictech.com/borgatti/papers/ethics.pdf (03.11.2013).
BURGESS, JEAN; BRUNS, AXEL (2012): Twitter Archives and the Challenges of ›Big Social Data‹ for Media and Communication Research. In: M/C Journal, 15 (5).
http://journal.media-culture.org.au/index.php/mcjournal/article/viewArticle/561 (3.11.2013).
CAPURRO, RAFAEL (2003): Ethik im Netz. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag.
CAPURRO, RAFAEL; PINGEL, CHRISTOPH: (2002): Ethical issues of online communication research. In: Ethics and Information Technology, Nr. 4(2002). S. 189-194.
DIENER, EDWARD; CRANDALL, RICK (1978): Ethics in Social and Behavioral Research. Chicago/London: University of Chicago Press.
DÖRING, NICOLA (1999): Sozialpsychologie des Internet: die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen.
Göttingen u.a.: Hogrefe.
DZEYK, WALDEMAR (2001): Ethische Dimensionen der Online-Forschung. In: Kölner Psychologische Studien 6(1), S. 1-30. http://kups.ub.unikoeln.de/2424/1/ethdimon.pdf (03.11.2013).
EBERSBACH, ANJA; GLASER, MARKUS; HEIGL, RICHARD (2008): Social Web. Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft.
ESS, CHARLES (2007): Internet research ethics. In: Joinson, A.; Mckenna, K.; Postmes, T.; Reips, U. (Hrsg.): The Oxford handbook of Internet psychology. Oxford:
Oxford University Press. S. 487-502.
EYNON, REBECCA; SCHROEDER, RALPH; FRY, JENNY (2009): New Techniques in Online Research. Challenges for Research Ethics. In: 21st Century Society 4 (2), S. 187199.
FENNER, DAGMAR (2010): Einführung in die Angewandte Ethik. Tübingen: Francke.
FRAAS, CLAUDIA; MEIER, STEFAN; PENTZOLD, CHRISTIAN (2012): Online-Kommunikation. Grundlagen, Praxisfelder und Methoden. Wien: Oldenbourg Verlag.
MARKHAM, ANNETTE; BAYM, NANCY (Hrsg.) (2009): Internet Inquiry. Conversations about Method. Los Angeles u.a.: Sage Publications.
HAMILTON, REBEKAH J.; BOWERS, BARBARA J. (2006): Internet Recruitment and E-Mail Interviews in Qualitative Studies. In: Qualitative Health Research, 16 (6), S.
821-835.
HEISE, NELE (2011): Ethik der Internetforschung – Diskurs und Praxis. Eine qualitativ-heuristische Befragung deutscher Kommunikationsforscher. Unveröffentlichte
Magisterarbeit. Universität Erfurt.
HEISE, NELE (2013): »Doing it for real«. Authentizität als kommunikationsethische Voraussetzung onlinebasierter Forschung. In: Emmer, Martin; Filipovic, Alexander;
Schmidt, Jan-hinrik; Stapf, Ingrid (Hrsg.): Authentizität in der computervermittelten Kommunikation. Weinheim: Juventa, S. 88-109.
Heise | Forschungsethik
21
22. Literatur (2/2)
HEISE, NELE; SCHMIDT, JAN-HINRIK (im Erscheinen): Ethik der Onlineforschung. In: M. Welker, M. Taddicken, J.-H. Schmidt, N. Jackob (Hrsg.): Handbuch OnlineForschung. Herbert von Halem Verlag (= Neue Schriften zur Online-Forschung; Bd. 12).
KÖHLER, BENEDIKT, BLUMTRITT, JÖRG (2010): Zehn Thesen zur Zukunft der Marktforschung. In: inbrief. Organ des Berufsverbandes Deutscher Markt- und
Sozialforscher e.V. (August 2010). http://bvm.org/fileadmin/pdf/inbrief/BVM_inbrief_2-2010_final.pdf (05.11.2013).
MCKEE, HEIDI; PORTER, JAMES (2009): The Ethics of Internet Research. A Rhetorical, Case-Based Process. New York u.a.: Peter Lang.
MARKHAM, ANNETTE (2012): Fabrication as ethical practice: Qualitative inquiry in ambiguous internet contexts In: Information, Communication & Society, 15 (3),
S. 334-353.
MARKHAM, ANNETTE; BUCHANAN, ELIZABETH (2013): Ethical Decision-Making and Internet Research: Recommendations from the AoIR Ethics Working Committee
(version 2.0). http://aoir.org/reports/ethics2.pdf (03.11.2013).
NISSENBAUM, HELEN (2004): Privacy as contextual integrity. In: Washington Law Review, Vol. 79, Nr. 1, S. 119-157.
ROBARD, BRADY (2013): Friending Participants: Managing the Researcher–Participant Relationship on Social Network Sites. In: Young, 21(3), S. 217–235.
SCHMIDT, JAN-HINRIK (2009): Braucht das Web 2.0 eine eigene Forschungsethik? In: Zeitschrift für Kommunikationsökologie und Medienethik 11 (2), S. 38-42.
SCHMIDT, JAN-HINRIK (2012): Persönliche Öffentlichkeiten und informationelle Selbstbestimmung im Social Web. In: Ders.; Weichert, Thilo (Hrsg.): Datenschutz.
Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. S. 215-225.
STROHM KITCHENER, KAREN / KITCHENER, RICHARD F. (2009): Social Research Ethics. Historical and Philosophical Issues. In: Mertens, Donna M.; Ginsberg, Pauline
E. (Hrsg.): The handbook of social research ethics. Thousand Oaks: SAGE Publications. S. 5-22.
TADDICKEN, MONIKA (2009): Die Bedeutung von Methodeneffekten der Online-Befragung: Zusammenhänge zwischen computervermittelter Kommunikation und
Datengüte. In: Jackob, N.; Schoen, H., Zerback, T. (Hrsg.): Sozialforschung im Internet: Methodologie und Praxis der Online-Befragung. Wiesbaden: VS-Verlag, S.
91–107.
TADDICKEN, MONIKA (2012): Privacy, surveillance, and self-disclosure in the social web: Exploring the user's perspective via focus groups. In: Fuchs, Christian;
Boersma, Kees; Albrechtslund, Anders; Sandoval, MarisoL (Hrsg.): Internet and surveillance: The challenges of web 2.0 and social media. New York: Routledge. S.
255-272.
WILLIAMS, FREDERICK / RICE, RONALD E. / ROGERS, EVERETT M. (1988): Research methods and the new media. New York u.a.: Free Press.
WOLFF, OLIVER JAN (2007): Kommunikationsethik des Internets: eine anthropologisch-theologische Grundlegung. Hamburg: Verlag Dr. Kovač.
ZIEGAUS, SEBASTIAN (2009): Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien. Grundlagen einer kommunikativen Sozialforschung. Bielefeld: transcript.
ZIMMER, MICHAEL (2010): »But the data is already public«: on the ethics of research on Facebook. In: Ethics and Information Technology, 12 (4), S. 313-326.
Heise | Forschungsethik
22