Zum Tag der Provenienzforschung am 13. April 2022 zeigt die Stabi Hamburg eine von Anneke de Rudder erarbeitete Online-Präsentation der Arbeitsstelle Provenienzforschung - NS-Raubgut zu den Briefen aus der Sammlung Heinrich Spiero. Sie zeigt wie Teile der bedeutenden Autographensammlung des Germanisten und Biografen Heinrich Spiero in die Sondersammlungen der Bibliothek gelangten. https://www.sub.uni-hamburg.de/sammlungen/ns-raubgut/die-arbeitsstelle-provenienzforschung.html
1. Arbeitsstelle
Provenienzforschung –
NS-Raubgut
der SUB Hamburg
Aus dem Projekt
„NS-Raubgut in den Sondersammlungen
der Staats- und Universitätsbibliothek
Hamburg Carl von Ossietzky“
„Eine äußerst
willkommene
Abrundung“:
Briefe aus der
Sammlung
Heinrich Spiero
Präsentation
zum 3. Tag der
Provenienzforschung
am 13. April 2022
2. „Eine äußerst willkommene Abrundung“:
Briefe aus der Sammlung Heinrich Spiero
13. April 2022 Tag der Provenienzforschung – Anneke de Rudder: „Eine äußerst willkommene Abrundung“
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3. „…bedeutsame Erweiterungen“ von 1937
13. April 2022 Tag der Provenienzforschung – Anneke de Rudder: „Eine äußerst willkommene Abrundung“
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Im Juli 1937 hatte Bibliotheksdirektor Dr. Wahl der Hamburger Kulturbehörde sehr
Erfreuliches zu berichten: „Der Handschriftenbestand der Bibliothek erfuhr mehrfach
bedeutsame Erweiterungen. Aus dem Besitz des Liliencron-Biographen Dr. Spiero
wurden die Korrespondenzen dieses Mannes mit Liliencron selbst, mit Dehmel und mit
Falke erworben. Dadurch erhielten die reichen handschriftlichen Materialien aus der mit
Hamburg für immer verbundenen Blütezeit der deutschen Lyrik um die
Jahrhundertwende eine äußerst willkommene Abrundung.“
Beschriftung der 1937
angekauften
Liliencron-Briefe (SUB,
Nachlass Liliencron,
LN 148)
4. Briefe unter Freunden
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Insgesamt ging es bei
dem Ankauf um 288
Einzelstücke:
Autographen,
Zeitungsartikel,
Zeichnungen und
Drucke. Den
Hauptteil bildeten
handgeschriebene
Briefe und Postkarten
der Hamburger
Schriftsteller Detlev
von Liliencron und
Gustav Falke an ihren
Freund und Kollegen
Heinrich Spiero. Porträt Detlev
von Liliencrons
(SUB, Nachlass
Liliencron, LN 148)
SUB, Zugangsbuch 1937
5. Aus der Sammlung Heinrich Spiero
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Notiz von Detlev von Liliencron; Brief seiner
Witwe; Gedicht zum Tode des Dichters 1909
(SUB, Nachlass Liliencron, LN 148)
Korrespondenz mit Gustav Falke; Eintrittskarte von
1913 (SUB, Nachlass Falke, Z 8-11)
Zum Ankauf von 1937
gehörten neben
Briefen auch Notizen,
Gedichte, Porträts und
Eintrittskarten, vor
allem aus den Jahren
1900 bis 1914.
6. Ankauf bei J. A. Stargardt in Berlin
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Die Bibliothek der Hansestadt Hamburg –
heute SUB – kaufte diese Handschriften der
Hamburger Dichter im Juli 1937 beim Berliner
Antiquariat und Auktionshaus J. A. Stargardt.
Dort waren sie bereits im Oktober 1936 zur
Versteigerung angeboten, aber zunächst nicht
verkauft worden.
7. Spurensuche im Auktionskatalog
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Bei Erwerbungen aus einem Auktionshaus
liefert der Auktionskatalog oft wichtige
Hinweise zur Herkunft, „Provenienz“,
einzelner Zugänge. Der Stargardt-Katalog
von 1936 z.B. weist jedem Eintrag eine Zahl
zu, die für einen Einlieferer steht. Ein
Verzeichnis schlüsselt dann die Zahlen auf
und ordnet sie einem Besitzer zu – allerdings
meist nur in Kürzeln, die heute oft nicht
mehr aufzulösen sind.
Auch das Kürzel „Sp., R.“ warf zuerst Fragen
auf. Da alle eingelieferten Autographen
Briefe an Heinrich Spiero waren, wurde die
Identität des Einlieferers aber schnell geklärt.
Was das „R.“ bedeutet, bleibt indes ein
Rätsel: Spiero lebte damals in Berlin.
8. Antiquariat J. A. Stargardt, Berlin
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Das heute noch bestehende Traditionshaus spezialisierte sich
schon früh auf den Autographenhandel. In den 1930er und
1940er Jahren fanden regelmäßig große Auktionen statt. Wie
viele andere Antiquariate und Auktionshäuser war Stargardt
in der NS-Zeit Anlaufstelle für Sammler, die als Juden verfolgt
wurden und sich in existenzieller Not von wertvollen
Beständen trennen mussten.
Auktionshaus J.A.
Stargardt, Standort
1932-1944:
Derfflingerstr. 4,
Berlin (Foto: 175
Jahre J.A. Stargardt,
Berlin 2005)
Ab 1938
veröffentlichte
Stargardt
regelmäßig reine
Autographen-
Kataloge (SUB)
Die Bibliothek kaufte dort mehrfach Autographen und Bücher,
die auf solche Notverkäufe zurückgingen und deshalb heute als
NS-Raubgut eingestuft werden. Den größten dieser Ankäufe
bildete das hier beschriebene große Konvolut von Heinrich Spiero.
9. Wer war Heinrich Spiero?
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Heinrich Spiero, 1920er Jahre (Foto: Metropol Verlag)
Der Jurist und Germanist Dr. Heinrich Spiero,
geboren 1876 in Königsberg, arbeitete seit der
Jahrhundertwende erfolgreich als Schriftsteller,
Literaturhistoriker und Publizist. Bereits als Student
hatte er sich taufen lassen und war aktiver
Protestant. Er hielt Vorträge im In- und Ausland, war
Hochschuldozent und gehörte zum Vorstand des
PEN-Clubs und anderer literarischer Vereinigungen.
Heinrich und
Olga Spiero geb.
Jolowicz, Berlin,
ca. 1928/29
(Foto: privat)
10. 13. April 2022 Tag der Provenienzforschung – Anneke de Rudder: „Eine äußerst willkommene Abrundung“
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Spieros Hamburger Zeit
60. Geburtstag
Liliencrons, Alt-
Rahlstedt, 3.6.1904.
Sitzend von links Gustav
Falke, Detlev von
Liliencron, Anna Falke,
Jakob Loewenberg,
Otto Ernst, Léon
Goldschmidt, Maximilian
Fuhrmann, Heinrich
Spiero, Adolph Tormin
(aus Heinrich Spiero:
Detlev von Liliencron,
Berlin u. Leipzig 1913)
Postkarten von Gustav Falke an Dr. Heinrich
Spiero (SUB, Nachlass Gustav Falke, Z 12)
Zwischen 1900 und 1914 wohnte Heinrich Spiero mit
seiner Frau Olga und seiner wachsenden Familie in
Hamburg. Er gehörte zu einem literarischen
Freundeskreis, dessen Mitglieder rege
korrespondierten, ihre neuesten Werke diskutierten
und zusammen Feste feierten. Die Dichter Liliencron
und Falke wurden für Spiero rasch enge Vertraute.
11. Biograf der Dichter
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Neben Romanen und
literaturhistorischen
Studien verfasste Heinrich
Spiero eine große Anzahl
von populären
literarischen Biografien,
die über die Jahrzehnte
immer wieder
veröffentlicht wurden.
Zum Teil sind sie heute
noch in Neuauflagen
erhältlich. Die persönlich
gehaltene Biografie
Liliencrons schrieb Spiero
schon 1913, wenige Jahre
nach dem Tod des von ihm
verehrten Dichters.
12. NS-Verfolgung
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In der NS-Zeit wurde Heinrich Spiero als „Volljude“ verfolgt. Die Nationalsozialisten
schlossen ihn aus der Reichskulturkammer aus, belegten ihn mit Berufsverbot,
ließen Spieros Bücher ächten und verbrennen. Der Schriftsteller überlebte nur
durch das starke Engagement seiner Frau Olga und seiner Kinder. Das Ehepaar
musste zwischen 1936 und 1942 vier Mal in immer kleinere Wohnungen in Berlin
umziehen, zuletzt lebten sie in einer Einzimmerwohnung. Nach einem
Bombenschaden 1943 lebte Heinrich Spiero quasi illegal und überstand so die
letzten Kriegsjahre.
Schreiben von
Olga Spiero an
das
Entschädigungs
amt Berlin,
13.10.1952
(LABO Berlin,
Nr. 24.217)
13. Hilfe für andere Verfolgte
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1935 übernahm Spiero die Leitung des „Reichsverbandes der nichtarischen
Christen“, der 1936 in „Paulusbund“ umbenannt wurde. Der Verein vertrat
die Interessen von Christen jüdischer Abstammung.
Formular des „Reichsverbandes der
nichtarischen Christen“ (Leo Baeck Institute)
Als 1937 alle „volljüdischen“ Mitglieder den Bund verlassen mussten,
gründete Spiero seine eigene Hilfsstelle für diese Ausgeschlossenen, das
Büro Heinrich Spiero. Es unterstützte als Juden verfolgte Christen wie den
Dresdner Romanisten Victor Klemperer bei ihren oft verzweifelten
Bemühungen um Emigration. Spiero selbst wollte als Dozent in die USA
gehen, konnte aber Deutschland nach Kriegsbeginn 1939 nicht mehr
verlassen.
14. Verkauf der Autographen unter Druck
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Schon als Schüler in den 1890ern hatte
Heinrich Spiero angefangen, Autographen zu
sammeln. Über Jahrzehnte baute er mit viel
Liebe und Sorgfalt eine damals berühmte
Sammlung von rund 8.000 Briefen auf, u.a.
von Luther, Friedrich II., Paul Gerhardt, den
Dichtern der Weimarer Klassik und zahllosen
berühmten Zeitgenossen.
1935/36 war Spiero durch die seit 1933
bestehenden NS-Berufsverbote finanziell
derartig unter Druck, dass er schweren
Herzens nach und nach seine geliebten
Autographen verkaufte. Er lieferte sie beim
Auktionshaus Stargardt ein, in der Hoffnung,
vom Erlös wenigstens eine Weile leben zu
können.
Schreiben von Heinrich Spieros Tochter an das
Entschädigungsamt Berlin zum Notverkauf seiner Autographen in
der NS-Zeit, 25.06.1957 (LABO Berlin, Nr. 24.217)
15. Nachkriegszeit
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Heinrich Spiero, der nach 1933
unter dem Druck der NS-
Verfolgung schwer krank
geworden war, überlebte die Zeit
des Nationalsozialismus nur
knapp. 1947 starb er stark
geschwächt in Berlin. Seine
Witwe und seine Töchter
bemühten sich jahrelang um
Entschädigungszahlungen für
gesundheitliche und materielle
Schäden. Die schließlich
geleisteten Zahlungen standen in
keinem Vergleich zu dem, was
zerstört worden war. Ehrengrab des Landes Berlin für Heinrich Spiero
(Foto: www. friedhof-ansichten.de, Winfried Hartwig)
16. NS-verfolgungsbedingter Entzug
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Auch wenn hier keine direkte Beschlagnahmung
vorliegt, wird deutlich: Heinrich Spiero hätte seine
Autographen niemals verkauft, wenn es die
Herrschaft des Nationalsozialismus nicht gegeben
hätte. Damit handelt es sich um einen NS-
verfolgungsbedingten Entzug. Die SUB hat den Erben
Spieros im Jahr 2021 eine Restitution angeboten.
Gemeinsam wird eine faire und gerechte Lösung im
Sinne der Washingtoner Prinzipien angestrebt.
Bei der Frage, ob Zugänge in öffentliche Institutionen
nach 1933 NS-Raubgut darstellen, orientieren sich
Provenienzforschende an den Washingtoner Prinzipien
von 1998 und zugehörigen Handreichungen. Darin ist
festgelegt, dass für jedes Rechtsgeschäft mit NS-
Verfolgten zwischen 1933-1945 grundsätzlich die
Vermutung eines verfolgungsbedingten Entzuges gilt.
WEITERE INFORMATIONEN HIER:
Washingtoner Prinzipien 1998
Gemeinsame Erklärung 1999 -
Erklärung der Bundesregierung, der
Länder und der kommunalen
Spitzenverbände zur Auffindung und
zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt
entzogenen Kulturgutes,
insbesondere aus jüdischem Besitz
17. Weitere Informationen
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Detaillierte Informationen zur Arbeitsstelle Provenienzforschung auf unserer
Website: https://www.sub.uni-hamburg.de/sammlungen/ns-raubgut/die-
arbeitsstelle-provenienzforschung.html
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13. April 2022 Tag der Provenienzforschung – Anneke de Rudder: „Eine äußerst willkommene Abrundung“
English version: https://www.sub.uni-hamburg.de/en/sammlungen/nazi-looted-
assets/provenance-research-department.html