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EIN RETTUNGSVERSUCH IN 100 TAGEN
VON TJOVE DETLEFSEN
Ein Beitrag zum 69. Europäischen Wettbewerb
Mit dem Thema „Nächster Halt: Nachhaltigkeit“
P
Im Modul 4-2 „Mach mal minimal“
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
1
MINIMAL EU – EIN RETTUNGSVERSUCH IN 100 TAGEN
PROLOG
Mitternacht. Ich schalte das Radio ein. Gähnende Leere. Dort, wo mich einst jeden Tag die Klänge von
„Freude schöner Götterfunken“ mit frohem Mut in einen neuen 24-Stunden-Durchlauf haben starten
lassen, läuft jetzt Deutschrap. Ausgerechnet.
ich reiße gelbe sterne von blauer fahne, ohne reue,
raue nächte, zieh‘ durch meine stadt,
deutsches blut in meinen adern,
bin der einzig wahre deutsche adler
So ein Stuss. Viel künstlerische Muße finde ich nicht in den Worten des hundertsten Möchtegernbushidos,
dessen musikalisch verarbeitetes nationalistisches Gedankenwirrwarr ich mir hier anstelle von Beethovens
Neunter zu Gute führen muss. Ich habe genug gehört; das Radio bleibt erstmal aus. Ich summe leise vor
mich hin. Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium... Wenn jemand meine nächtlichen
Musikeskapaden - meine letzte Verbindung zu einer besseren Zeit - mitbekommen würde, wäre ich dran.
Mein Name ist Lou, ich lebe im Jahr 2037 und die EU wird bald der Vergangenheit angehören.
T -3 TAGE
Das Surren meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Blind taste ich neben meinem Bett nach der Brille,
die ich brauche, um all das Scheusal um mich herum wahrzunehmen. Ich setze erst sie und dann mich auf,
nehme mein Handy in die Hand und beginne, zu lesen.
01/26/2037 – BRUSSELS The impending end of the European Union has been announced. In an
unprecedented press conference just moments ago, Maeve Williams, chief spokesperson of the European
Commission, stated:
“The EU is an organization which stands upon the shoulders of its member states. If these members no
longer wish to uphold the Union, they are allowed to vote on its dissolution. Due to the loss of support for
the European Government and the wish of emancipation from said legislative body gaining momentum in
over half of the EU member states during recent weeks, a vote by the European Parliament concerning the
dissolution of the European Union is necessary. This vote will take place on January 28th at noon in Brussels.
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
2
Members of Parliament will be allowed to submit possible framework for the vote until the morning of the
event.”
Williams’ statement should not come as a surprise to any politically interested individual: Ever since Brexit
in 2020, France’s exit from the EU, aptly titled “La Frortie”, in 2033 and Denmark’s withdrawal from the
union just three months ago, voices calling for a dissolution of the EU have been getting louder. With
nationalism on the rise in all 24 EU countries, the will of European citizens seems evident. If members of
parliament will follow this will and vote in favor of dissolving the European Union remains to be decided
in two days.
@femmefrancaise Finalement! L’UE est passé- liberté pour tous
@bayernboy_01 ja man, junge. endlich nicht mehr diese sche*ß-regeln. DEUTSCHLAND FÜR IMMER!!!
@saveeurope How did it get to this? I cannot believe what we have done. Why can’t people see all the
good the EU has brought? I am just gonna go cry real quick
Dem letzten Kommentar haben anonyme Internetgestalten bereits 438 Dislikes verpasst. Bald wird er von
der Website verschwinden. Cancel-Culture in Aktion. Dabei stelle ich mir genau dieselben Fragen: Wie
konnte es bloß hierzu kommen? Wann haben die Werte der EU – Gemeinschaft, Einheit in Vielfalt,
interkultureller Austausch, Frieden, Fortschritt und Wohlstand für alle ihre Mitglieder – ihre Relevanz
verloren? Wieso ist so vielen Menschen die Entscheidungsfreiheit ihres eigenen Landes wichtiger als der
europäische Zusammenhalt? Ich werde es wohl nie verstehen...
T – 1 TAG
Ich schaue aus dem Fenster meines Klassenzimmers. Ein grauer Wintertag, 14 Uhr, Doppelstunde Politik in
vollem Schwung. Thema: Geschichte der Europäischen Union. Mein Lehrer versucht wohl mal wieder, das
politische Tagesgeschehen in unseren Lehrplan einzuschleusen. Generell eine gute Idee, ungünstig nur,
dass seine Quellen aus einer einzigen antieuropäischen Filterblase stammen. „Da das Europäische
Parlament die einzelnen europäischen Staaten mehr einschränkt, als dass es ihnen neue Chancen bietet,
finde ich es gut, dass morgen darüber abgestimmt wird, ob die EU aufgelöst werden soll. Wie seht ihr das?
Lou, haben Sie eine Meinung dazu?“
War ja klar, dass er mich aussucht. Immer schön die auswählen, die andere Ansichten haben als man selbst,
um sie dann allein durch die Autorität als Lehrperson zur Schnecke zu machen. Das lasse ich mir nicht
gefallen. „Natürlich habe ich eine Meinung zu der Thematik. Ich fühle mich als Europäerin und sehe daher
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
3
meine Existenz in mitten lauter Nationalisten- ja, das seid ihr alle- bedroht. Seht ihr denn nicht die Vorteile
der EU? Ohne sie wärt ihr nicht dort, wo ihr jetzt seid!“ Mein Lehrer schaut mich vorwurfsvoll an. Ich sehe
meine Politikzensur zerbröckeln. Meinungsfreiheit hin oder her, bei politischen Fragen gewinnt im
Unterricht das subjektive Empfinden meines Lehrers. Ich stehe auf und stürme unter lauten Buh-Rufen aus
dem Klassenraum. Hier halte ich es nicht mehr aus.
TAG DER ABSTIMMUNG
Da ist er nun. Der Tag, an dem Jahrzehnte europäischen Fortschritts mit nur einer Abstimmung ihr Ende
finden werden. Ich habe meine Füße noch nicht dazu bringen können, mich aus dem Bett zu tragen. Zu
groß ist das Gefühl der Schwere, das auf mir liegt. 11:59 Uhr. Tick, Tick, Tick – Die letzten Sekunden der
Europäischen Union fließen dahin. Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium... Ein Requiem auf
den europäischen Traum. 12 Uhr. Das war’s. Eine einzelne Träne schleicht sich in filmreifer
Hollywoodmanier aus meinem Auge und tropft auf das Kopfkissen.
Mein Handy surrt schon wieder. Als ich mich bereit fühle, meiner neuen europalosen Lebensrealität in die
Augen zu sehen, nehme ich es in die Hand. Zwischen Benachrichtigungen über Fußball und das neueste
Promi-Breakup finde ich die Schlagzeile, die mich interessiert.
01/28/2037 – BRUSSELS Surprise! The vote concerning the dissolution of the European Union has been
postponed by 100 days after a group of members of the European Parliament argued that “over 80 years
of European cooperation should not be thrown away on a whim”. The group, led by Greek democrat Ella
Lykaios, proposed an experimental voting procedure titled “MINIMAL EU” which was accepted by the EU
Parliament with a small majority of 51.8%. MINIMAL EU will take place over the next one-hundred days
and end in a referendum on May 9th when all EU-citizens over the age of sixteen will be allowed to vote
for or against a dissolution of the European Union. Being asked about the exact proceedings of MINIMAL
EU, Lykaios said:
“MINIMAL EU is inspired by minimalism. The minimalist movement has become the standard of living for
many Europeans in the last fifteen years. Its principle of having less items in one’s possession to become
happier and not contribute to overconsumption can also be applied to politics. The current political
landscape in Europe is overflowing with adversity for the European Union, which explains the need for a
complete restart. MINIMAL EU offers this new beginning without completely dissolving the EU. During the
100 days of MINIMAL EU, which will commence tomorrow, all EU institutions, laws, common currencies,
trade agreements and services will be put on hold. This includes the actions of the European Parliament,
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
4
the European Commission and the European Central Bank. This state of affairs will remain in place for fifty
days, to show EU citizens what a life without the European Union could look like. On day 50, EU citizens
over the age of 16 will be allowed to vote for the reinstatement of one EU institution per week via the
MINIMAL EU- app, which can be downloaded from all known app stores, if they choose to do so. On day
100 of MINIMAL EU, a referendum will take place across all 24 member states of the European Union. This
referendum will decide if the European people want to abolish the European Union once and for all. I
encourage every European citizen to truly think about the world they want to live in during the next one-
hundred days. MINIMAL EU is your chance to uphold this beautiful union generations of Europeans worked
so hard to build. Save the EU!”
It appears that the next one-hundred days will be some of the most significant ones in all of European
history. Only time will tell how MINIMAL EU is going to play out…
@saveeurope Wow! I am exhilarated. There is still hope for the EU after all. Ella Lykaios, you’re my hero!
@femmefrancaise Qu’est-ce que c’est ? 100 jours de plus de cette horreur- c’est un cauchemar !
@bayernboy_01 hä, versteh ich nicht. wieso hinauszögern, wenn die entscheidung in 100 tagen doch eh
gleich sein wird? richtig dumm.
Politischer Minimalismus als Rettungsprojekt? Ich kann nicht glauben, was ich gerade gelesen habe. Aber
so abwegig ist die Idee nicht: Seit den 2020er Jahren ist Minimalismus zu einem der Grundzüge des
europäischen Lebensstils geworden. Auch ich besitze nicht mehr, als das, was ich wirklich brauche und
habe so gelernt, die Dinge wertzuschätzen, die ich mein Eigen nennen kann. Wieso also nicht Minimalismus
politisch machen und so die Europäische Union, deren Ende ich vorhin noch nachgeweint habe, retten?
Nur wenn man den Menschen in Europa vor Augen führt, was für ein Leben sie ohne die EU führen müssten,
gibt es die Möglichkeit, dass sie ihre Privilegien als EU- Bürger nicht mehr als selbstverständlich ansehen.
Vielleicht können die nächsten 100 Tage etwas in den Köpfen der ganzen Europaskeptiker in meiner
Umgebung verändern. Nichts wünsche ich mir mehr. Ich öffne den App-Store und lade die MINIMAL EU-
App herunter. Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt... Wie von allein ertönt ein leises
Summen, während in mir ein kleiner Funken Hoffnung aufkeimt.
TAG 1
Chaos. Mit diesem simplen Wort lässt sich der erste Tag von MINIMAL EU wohl am besten beschreiben.
Bereits als ich am Frühstückstisch sitze, kommt meine Mutter lautstark telefonierend in die Küche: „Wie,
Sie können die Ware nicht liefern? Ich habe die Bestellung doch bereits vor mehreren Wochen aufgegeben
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
5
und Sie meinten letzten Freitag noch, dass alles nach Plan läuft! Meine Werbung ist schon gedruckt und
die Schaufenster sind fertiggemacht – soll ich meine Kundinnen und Kunden heute vor leeren Regalen
stehen lassen oder wie haben Sie sich das vorgestellt?“ Meine Mutter ist Besitzerin eines Unverpacktladens
und hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem möglichst wenig Müll zu produzieren. Um dieses Ziel zu
erreichen, kauft sie ihre Ware entweder regional oder in ökologisch verpackten Großportionen ein, die oft
nicht in Deutschland, aber in Belgien zu erwerben sind, das nicht zu weit von unserem Wohnort entfernt
ist. Es scheint Probleme mit ihrem Handelspartner in Brüssel zu geben: „Auf unbestimmte Zeit
verschoben?! Ich glaube, Sie machen Scherze! Wie soll ich meinen Laden denn ohne Ware öffnen?“ Nach
einigen hitzigen Minuten der Diskussion legt sie mit einem lauten Seufzer den Hörer auf. „Was ist denn los,
Ma?“, frage ich. Meine Mutter läuft zu mir herüber, setzt sich neben mich und fährt mir mit ihrer Hand
durchs Haar. „Ach Lou, so einen schlechten Start in den Tag hatten wir schon lange nicht mehr, oder? Was
du dir da gerade anhören durftest, war mein Lieferant aus Brüssel, der mir erklärt hat, dass er auf
unbestimmte Zeit keine Ware mehr nach Deutschland bringen kann, da die Steuern und Zölle, die durch
den Wegfall des europäischen Freihandelsraumes anfallen, zu hoch sind, um eine gewinnbringende
Lieferung zu ermöglichen. Jetzt muss ich mir entweder schnell einen anderen Lieferanten hier in der
Umgebung suchen, was ein Wunder wäre, oder den Laden erst einmal schließen.“ Ich umarme Ma und
sage ihr, dass sie bestimmt eine Lösung finden wird, obgleich ich dies im Geheimen als unrealistisch ansehe.
Plastikfreie 30-Kilo-Packungen mit biologisch abbaubaren Zahnputztabs – der Bestseller im Laden meiner
Mutter – fallen nun einmal für gewöhnlich nicht vom Himmel. Wenn dann noch strenge
Handelsbestimmungen in einer EU-losen Welt, wie sie ab heute besteht, die Suche erschweren, sieht es
für Kleinbetriebe wie Mas Unverpacktladen, der auf die Handelsfreiheit im europäischen Binnenmarkt
angewiesen ist, schlecht aus...
Später am gleichen Tag öffne ich das erste Mal die MINIMAL EU- App, während mich ein autonom
fahrender Bus von meiner Schule zu dem Jugendzentrum transportiert, wo ich den Großteil meiner Freizeit
verbringe. Neben einigen Informationen über das MINIMAL EU- Projekt entdecke ich auf meinem
Handydisplay ein Diskussionsforum, in dem Interessierte ihre Erfahrungen mit MINIMAL EU posten können.
Ich beginne, die bereits vorhandenen Einträge zu lesen, komme aber nicht weit, da mir auf einmal Worte
wie rautatiesema oder angajat begegnen. Selbst die vier Pflichtsprachen, die alle Europäer seit 2030 in der
Schule erlernen müssen, helfen mir nicht weiter. Ich vermisse den Übersetzungsservice, welcher es mir
normalerweise ermöglicht, Informationen auf offiziellen Websites und Apps der EU in allen 24
Amtssprachen der Union abzurufen. Die nächsten 50 Tage werde ich wohl oder übel sprachlos verbringen.
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
6
Im Jugendzentrum angekommen, mache ich mich auf die Suche nach meiner Freundin. Ich finde Elya
zusammengekauert in einer Hängematte, Buch in der Hand, Musik auf den Ohren. Ich schleiche mich von
hinten an sie ran und klaue ihr einen der Kopfhörer. Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum-
wir haben denselben Musikgeschmack. „Hey!“, schreit sie empört auf, bevor sie mich erkennt und mit einer
Umarmung begrüßt, „Wo kommst du denn her?“ Ich setze mich neben sie auf die Hängematte, die unter
unserem Gewicht gefährlich zu schwanken beginnt. „Schule.“, erwidere ich, „Langweilig wie immer. Alles
nur Idioten da.“ „Kenn ich gut“, sagt Elya, „aber bald haben wir es geschafft.“ Im Sommer werden Elya und
ich volljährig und haben somit unsere Grundbildung abgeschlossen. Ob der Europäische Freiwilligendienst,
den wir eigentlich nach unserem Abschluss gemeinsam absolvieren wollten, noch möglich sein wird, hängt
davon ab, wie das Resultat der Volksabstimmung am Ende von MINIMAL EU ausfällt. Ein weiterer Grund,
wieso das Experiment funktionieren muss. Mein Jahr mit Elya umgeben vom europäischen Geist möchte
ich nicht verlieren. Ich lehne mich in der Hängematte zurück, beobachte meine Freundin bei ihrer Lektüre
und mache mir Gedanken über die Ungewissheit unserer Zukunft in einer möglicherweise EU-losen Welt.
TAG 3
Heute ist der Euro zusammengebrochen. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, aber es ist doch komisch,
in den Nachrichten zu sehen, wie antieuropäisch eingestellte Menschen violette, grüne und blaue Scheine
als Lagerfeuerfutter verwenden. Die neue deutsche Währung heißt „eMark“ und ist ausschließlich digital
abrufbar. Vorbei sind die Zeiten, in denen man mit einem mit den europäischen Sternen bedruckten
Groschen in den achtzehn verbleibenden Ländern der Eurozone einkaufen konnte, ohne sich Gedanken
über die tagesaktuellen Wechselkurse machen zu müssen. Ab jetzt muss ich bei jedem Besuch in einem
Land, das keinen Bundesadler auf schwarz-rot-goldener Flagge trägt, Kopfrechnen und digitale „eMark“ in
reale „Belgulden“, „Italonis“ oder „Portugaleonen“ umtauschen. Komplizierter geht es nun wirklich nicht...
TAG 7
Bereits eine Woche läuft MINIMAL EU mittlerweile. Viel hat sich noch nicht zum Guten verändert-
europakritische Menschen sind noch kritischer geworden, EU-Anhänger weinen besseren Zeiten nach und
müssen sich mit der neuen Realität abfinden. Langsam zweifle ich an der Effektivität des Projektes. Was,
wenn ich mir unnötig die Hoffnung auf ein positives Ergebnis am Ende der 100 Tage aufrechterhalte? Was,
wenn MINIMAL EU die schon stark gespaltene europäische Gemeinschaft noch weiter auseinandertreibt?
Was, wenn das Projekt eine sowieso bereits in Stein gemeißelte Entscheidung nur weiter hinauszögert?
Daran will ich nicht denken.
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
7
TAG 14
Ich sitze abermals in meinem Klassenzimmer. Ein nicht mehr ganz so grauer Wintertag, 14 Uhr,
Doppelstunde Politik in vollem Schwung. Thema: Schengen-Abkommen. Mein Lehrer hat einen ganz
besonderen Sinn für Humor. In einer Welt mit Europäischer Union würde meine Klasse nämlich genau jetzt
durch die antiken Straßen Athens schlendern, der Akropolis einen Besuch abstatten und sich mit der Wiege
Europas vertraut machen. Unsere Studienfahrt, die einzige Sache, auf die ich mich in diesem Schuljahr
gefreut hatte, mussten wir nun allerdings absagen. Ohne die Reisefreiheit, die die Schengener Abkommen
Europäerinnen und Europäern seit mehr als 30 Jahren bieten, dauert es zu lange, Visa für die ganze Klasse
zu beantragen. Selbst wenn alle meine Klassenkameraden und Kameradinnen rechtzeitig ein Visum
bekommen hätten, hätten wir bei der Einreise eine rigorose Grenzkontrolle über uns ergehen lassen
müssen.
In den letzten zwei Wochen seit Beginn von MINIMAL EU haben alle europäischen Staaten solche dem
Schutz vor unerlaubter Einreise dienenden Grenzkontrollen eingeführt. Am meisten Probleme bereiten
diese den Menschen, die täglich die Grenze überqueren müssen. Mein Vater gehört zu ihnen. Er arbeitet
als Chirurg in einem belgischen Krankenhaus und muss nun zweimal täglich mehrere Stunden an der
deutsch-belgischen Grenze warten.
Gestern beim Abendessen habe ich ihn das erste Mal in meinem Leben weinen sehen. Als wir um 21 Uhr
endlich gemeinsam essen konnten, nachdem er von einer weiteren dreistündigen Grenzodyssee
heimgekommen war, brach es aus ihm heraus. Er fühle sich schuldig, dass er weniger Patienten helfen
könne, da er so viel Zeit mit sinnlosen Grenzkontrollen verbringen müsse, meinte er. Zudem vermisse er
es, Dinge mit Ma und mir zu unternehmen. Ma und ich haben versucht, ihn zu beruhigen. In einer Welt mit
der Europäischen Union wäre mein Vater glücklicher.
TAG 30
Der dreißigste Tag des Experiments. Einen Monat leben 447 Millionen Menschen nun schon
getrenntgemeinsam auf einem Kontinent. Ein Monat ohne Völkerverständigung, ohne Verbesserung, ohne
Vielfalt. Ein Monat ohne einfach mal so ins Nachbarland fahren, ohne Europahymne, ohne politische
Neuigkeiten aus Brüssel und Straßburg. Ein Monat ohne die Europäische Union.
Es haben sich zwei Lager gebildet: Sowohl auf den Straßen der realen Welt, als auch im Diskussionsforum
der MINIMAL EU- App versuchen Pro- und Antiunionisten, mit Petitionen, Kampagnen und
Demonstrationen Anhänger für ihre Seite zu anzuwerben. Wenn ich mich aus Versehen in das falsche
Unterforum verirre oder durch eine antieuropäische Demo laufe, fühle ich mich wie eine Montague unter
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
8
lauter Capulets. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Geschichte von MINIMAL EU ein besseres Ende
als Shakespeares berühmtestes Liebespaar nehmen wird.
TAG 50
Halbzeit. Nach 50 Tagen ohne ein einziges Erscheinen des europäischen Geistes, besteht heute die
Möglichkeit, ihn in Form einer europäischen Institution, eines Vertrages oder einer Währung wieder zum
Leben zu erwecken. Ich bin seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen und aktualisiere in immer
kleiner werdenden Intervallen die MINIMAL EU- App. Um 16 Uhr wird das Ergebnis verkündet. Ich selbst
habe meinem Vater zuliebe die Schengener Abkommen als die Errungenschaft der EU angegeben, die ich
am dringendsten wiederbekommen möchte.
Um Punkt 16 Uhr surrt mein Handy.
03/19/2037 – BRUSSELS It has just been announced that the Euro is the first EU innovation to be
reinstated as part of the MINIMAL EU voting procedure. According to Ella Lykaios, iniator and manager of
MINIMAL EU, 30.9% of participating European citizens voted for the return of the Euro, with the Schengen
Agreements and the European Parliament coming in second and third respectively. From tomorrow on,
all countries who previously used the Euro and still have large enough quantities of the currency in stock,
will be instructed to once again accept it as payment.
The reintroduction of the common European currency will make financial transactions across borders
easier once more and resolve the difficulties caused by varying exchange rates between the national
currencies currently in use.
@saveeurope This is great! Now people will appreciate the Euro because they know what life is like
without it…
@bayernboy_01 okay, gut, vielleicht ist der euro doch ganz praktisch. kopfrechnen ist wirklich nicht
meine stärke.
In Ordnung. Ich hatte mir zwar etwas Anderes von der heutigen Abstimmung erhofft, aber die Kommentare
unter dem Artikel stimmen mich fröhlich. Wo vor 50 Tagen noch Hass und Missgunst gegenüber jeglichen
EU-positiven Anmerkungen anzufinden waren, steht nun leise Zustimmung. Vielleicht bewegt MINIMAL EU
und der mit dem Projekt verbundene Verzicht die Gegner der Europäischen Union ja wirklich zur
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
9
Wertschätzung der Dinge, die die EU ihnen bedingungslos bietet. Ich bin gespannt, wie es mit MINIMAL EU
weitergeht...
TAG 64
Nach der Rückkehr des Euros vor zwei Wochen und der Wiedereinsetzung der Schengener Abkommen in
der letzten Wahl, bringt der heutige Tag die Wiederkehr des Europäischen Parlaments. Ich sehe im
Infobereich der MINIMAL EU- App, wie sich Abgeordnete aus allen 24 EU-Staaten im Plenarsaal in Brüssel
in die Arme fallen. Wenn es nach mir geht, werden alle Bürger und Bürgerinnen der EU dies nach der
Abstimmung am 100. Tag von MINIMAL EU genauso tun. Alle Menschen werden Brüder – mein Summen
wird von Tag zu Tag kräftiger.
TAG 92
Noch acht Tage. Mit jeder weiteren Woche kommen mehr Institutionen, Privilegien und Gesetze der
Europäischen Union zurück: Die Europäische Zentralbank, die Generaldirektion Übersetzung, die
Steuerfreiheit des Handels im europäischen Binnenmarkt – immer mehr Menschen erkennen, wie wichtig
die Europäische Union für ihr Leben ist. Die antieuropäischen Demonstrationen werden weniger, die Foren
mit proeuropäischen Themen immer aktiver. Hoffentlich ist das genug...
TAG 100
Heute kommt es drauf an. Die größte Volksabstimmung in der Geschichte Europas wird darüber
entscheiden, ob die Europäische Union als gescheitertes Projekt in die Annalen eingehen oder weiterhin
lebendig sein wird.
Angespannt sitze ich mit Elya, meiner Ma und meinem Vater auf unserem Sofa. Die Wahlbüros sind
geschlossen. In wenigen Minuten werde ich wissen, wie meine Zukunft aussieht. Ich werde wissen, ob
politischer Minimalismus ein effektives Mittel zur Vereinigung ist. Ich werde wissen, ob Einheit in Vielfalt
das ist, was Europäer und Europäerinnen sich in den nächsten Jahren wünschen.
Mein Handy surrt. Mit zittrigen Fingern nehme ich es in die Hand und lese die Schlagzeile.
05/09/2037 – BRUSSELS The EU is staying for good, fellow Europeans! The final referendum of the
MINIMAL EU initiative has shown that 68.9% of all European citizens value the benefits of the EU and
would like to keep living as members of the Union. This is a great victory for all supporters of the European
Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H)
10
Union whose numbers have grown exponentially over the duration of MINIMAL EU. Looks like there is a
bright future ahead of us, as we continue to work on this Union we call home.
But for now, let us celebrate!
@europehasbeensaved yaaaaaaay! A great day for all Europeans!
@bayernboy_01 mittlerweile bin ich auch eu-fan. einfach zu viel gutes zeug, um nein zu sagen :)
@femmefrancaise Vive l’UE ! @présidentdelarépublique – On peut la rejoindre ?
Ich kann es nicht glauben- MINIMAL EU hat die Europäische Union wirklich gerettet! Elya fällt mir in die
Arme. Ich hebe sie hoch und drehe sie vor Freude im Kreis. Ma und mein Vater applaudieren.
Ich bin glücklich. Glückliche Europäerin.
EPILOG
Mitternacht. Ich schalte das Radio ein. Es knistert. Ich befürchte schon Funkstille, doch dann ertönen die
Klänge, die ich so lange vermisst habe. Ein Lächeln überfällt mein Gesicht, ich drehe den Lautstärkeregler
des Radios bis zum Anschlag auf und singe aus voller Kehle mit.
Freude schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
was der Mode Schwert geteilt.
Alle Menschen werden Brüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.
ENDE

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  • 1. EIN RETTUNGSVERSUCH IN 100 TAGEN VON TJOVE DETLEFSEN Ein Beitrag zum 69. Europäischen Wettbewerb Mit dem Thema „Nächster Halt: Nachhaltigkeit“ P Im Modul 4-2 „Mach mal minimal“
  • 2. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 1 MINIMAL EU – EIN RETTUNGSVERSUCH IN 100 TAGEN PROLOG Mitternacht. Ich schalte das Radio ein. Gähnende Leere. Dort, wo mich einst jeden Tag die Klänge von „Freude schöner Götterfunken“ mit frohem Mut in einen neuen 24-Stunden-Durchlauf haben starten lassen, läuft jetzt Deutschrap. Ausgerechnet. ich reiße gelbe sterne von blauer fahne, ohne reue, raue nächte, zieh‘ durch meine stadt, deutsches blut in meinen adern, bin der einzig wahre deutsche adler So ein Stuss. Viel künstlerische Muße finde ich nicht in den Worten des hundertsten Möchtegernbushidos, dessen musikalisch verarbeitetes nationalistisches Gedankenwirrwarr ich mir hier anstelle von Beethovens Neunter zu Gute führen muss. Ich habe genug gehört; das Radio bleibt erstmal aus. Ich summe leise vor mich hin. Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium... Wenn jemand meine nächtlichen Musikeskapaden - meine letzte Verbindung zu einer besseren Zeit - mitbekommen würde, wäre ich dran. Mein Name ist Lou, ich lebe im Jahr 2037 und die EU wird bald der Vergangenheit angehören. T -3 TAGE Das Surren meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Blind taste ich neben meinem Bett nach der Brille, die ich brauche, um all das Scheusal um mich herum wahrzunehmen. Ich setze erst sie und dann mich auf, nehme mein Handy in die Hand und beginne, zu lesen. 01/26/2037 – BRUSSELS The impending end of the European Union has been announced. In an unprecedented press conference just moments ago, Maeve Williams, chief spokesperson of the European Commission, stated: “The EU is an organization which stands upon the shoulders of its member states. If these members no longer wish to uphold the Union, they are allowed to vote on its dissolution. Due to the loss of support for the European Government and the wish of emancipation from said legislative body gaining momentum in over half of the EU member states during recent weeks, a vote by the European Parliament concerning the dissolution of the European Union is necessary. This vote will take place on January 28th at noon in Brussels.
  • 3. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 2 Members of Parliament will be allowed to submit possible framework for the vote until the morning of the event.” Williams’ statement should not come as a surprise to any politically interested individual: Ever since Brexit in 2020, France’s exit from the EU, aptly titled “La Frortie”, in 2033 and Denmark’s withdrawal from the union just three months ago, voices calling for a dissolution of the EU have been getting louder. With nationalism on the rise in all 24 EU countries, the will of European citizens seems evident. If members of parliament will follow this will and vote in favor of dissolving the European Union remains to be decided in two days. @femmefrancaise Finalement! L’UE est passé- liberté pour tous @bayernboy_01 ja man, junge. endlich nicht mehr diese sche*ß-regeln. DEUTSCHLAND FÜR IMMER!!! @saveeurope How did it get to this? I cannot believe what we have done. Why can’t people see all the good the EU has brought? I am just gonna go cry real quick Dem letzten Kommentar haben anonyme Internetgestalten bereits 438 Dislikes verpasst. Bald wird er von der Website verschwinden. Cancel-Culture in Aktion. Dabei stelle ich mir genau dieselben Fragen: Wie konnte es bloß hierzu kommen? Wann haben die Werte der EU – Gemeinschaft, Einheit in Vielfalt, interkultureller Austausch, Frieden, Fortschritt und Wohlstand für alle ihre Mitglieder – ihre Relevanz verloren? Wieso ist so vielen Menschen die Entscheidungsfreiheit ihres eigenen Landes wichtiger als der europäische Zusammenhalt? Ich werde es wohl nie verstehen... T – 1 TAG Ich schaue aus dem Fenster meines Klassenzimmers. Ein grauer Wintertag, 14 Uhr, Doppelstunde Politik in vollem Schwung. Thema: Geschichte der Europäischen Union. Mein Lehrer versucht wohl mal wieder, das politische Tagesgeschehen in unseren Lehrplan einzuschleusen. Generell eine gute Idee, ungünstig nur, dass seine Quellen aus einer einzigen antieuropäischen Filterblase stammen. „Da das Europäische Parlament die einzelnen europäischen Staaten mehr einschränkt, als dass es ihnen neue Chancen bietet, finde ich es gut, dass morgen darüber abgestimmt wird, ob die EU aufgelöst werden soll. Wie seht ihr das? Lou, haben Sie eine Meinung dazu?“ War ja klar, dass er mich aussucht. Immer schön die auswählen, die andere Ansichten haben als man selbst, um sie dann allein durch die Autorität als Lehrperson zur Schnecke zu machen. Das lasse ich mir nicht gefallen. „Natürlich habe ich eine Meinung zu der Thematik. Ich fühle mich als Europäerin und sehe daher
  • 4. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 3 meine Existenz in mitten lauter Nationalisten- ja, das seid ihr alle- bedroht. Seht ihr denn nicht die Vorteile der EU? Ohne sie wärt ihr nicht dort, wo ihr jetzt seid!“ Mein Lehrer schaut mich vorwurfsvoll an. Ich sehe meine Politikzensur zerbröckeln. Meinungsfreiheit hin oder her, bei politischen Fragen gewinnt im Unterricht das subjektive Empfinden meines Lehrers. Ich stehe auf und stürme unter lauten Buh-Rufen aus dem Klassenraum. Hier halte ich es nicht mehr aus. TAG DER ABSTIMMUNG Da ist er nun. Der Tag, an dem Jahrzehnte europäischen Fortschritts mit nur einer Abstimmung ihr Ende finden werden. Ich habe meine Füße noch nicht dazu bringen können, mich aus dem Bett zu tragen. Zu groß ist das Gefühl der Schwere, das auf mir liegt. 11:59 Uhr. Tick, Tick, Tick – Die letzten Sekunden der Europäischen Union fließen dahin. Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium... Ein Requiem auf den europäischen Traum. 12 Uhr. Das war’s. Eine einzelne Träne schleicht sich in filmreifer Hollywoodmanier aus meinem Auge und tropft auf das Kopfkissen. Mein Handy surrt schon wieder. Als ich mich bereit fühle, meiner neuen europalosen Lebensrealität in die Augen zu sehen, nehme ich es in die Hand. Zwischen Benachrichtigungen über Fußball und das neueste Promi-Breakup finde ich die Schlagzeile, die mich interessiert. 01/28/2037 – BRUSSELS Surprise! The vote concerning the dissolution of the European Union has been postponed by 100 days after a group of members of the European Parliament argued that “over 80 years of European cooperation should not be thrown away on a whim”. The group, led by Greek democrat Ella Lykaios, proposed an experimental voting procedure titled “MINIMAL EU” which was accepted by the EU Parliament with a small majority of 51.8%. MINIMAL EU will take place over the next one-hundred days and end in a referendum on May 9th when all EU-citizens over the age of sixteen will be allowed to vote for or against a dissolution of the European Union. Being asked about the exact proceedings of MINIMAL EU, Lykaios said: “MINIMAL EU is inspired by minimalism. The minimalist movement has become the standard of living for many Europeans in the last fifteen years. Its principle of having less items in one’s possession to become happier and not contribute to overconsumption can also be applied to politics. The current political landscape in Europe is overflowing with adversity for the European Union, which explains the need for a complete restart. MINIMAL EU offers this new beginning without completely dissolving the EU. During the 100 days of MINIMAL EU, which will commence tomorrow, all EU institutions, laws, common currencies, trade agreements and services will be put on hold. This includes the actions of the European Parliament,
  • 5. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 4 the European Commission and the European Central Bank. This state of affairs will remain in place for fifty days, to show EU citizens what a life without the European Union could look like. On day 50, EU citizens over the age of 16 will be allowed to vote for the reinstatement of one EU institution per week via the MINIMAL EU- app, which can be downloaded from all known app stores, if they choose to do so. On day 100 of MINIMAL EU, a referendum will take place across all 24 member states of the European Union. This referendum will decide if the European people want to abolish the European Union once and for all. I encourage every European citizen to truly think about the world they want to live in during the next one- hundred days. MINIMAL EU is your chance to uphold this beautiful union generations of Europeans worked so hard to build. Save the EU!” It appears that the next one-hundred days will be some of the most significant ones in all of European history. Only time will tell how MINIMAL EU is going to play out… @saveeurope Wow! I am exhilarated. There is still hope for the EU after all. Ella Lykaios, you’re my hero! @femmefrancaise Qu’est-ce que c’est ? 100 jours de plus de cette horreur- c’est un cauchemar ! @bayernboy_01 hä, versteh ich nicht. wieso hinauszögern, wenn die entscheidung in 100 tagen doch eh gleich sein wird? richtig dumm. Politischer Minimalismus als Rettungsprojekt? Ich kann nicht glauben, was ich gerade gelesen habe. Aber so abwegig ist die Idee nicht: Seit den 2020er Jahren ist Minimalismus zu einem der Grundzüge des europäischen Lebensstils geworden. Auch ich besitze nicht mehr, als das, was ich wirklich brauche und habe so gelernt, die Dinge wertzuschätzen, die ich mein Eigen nennen kann. Wieso also nicht Minimalismus politisch machen und so die Europäische Union, deren Ende ich vorhin noch nachgeweint habe, retten? Nur wenn man den Menschen in Europa vor Augen führt, was für ein Leben sie ohne die EU führen müssten, gibt es die Möglichkeit, dass sie ihre Privilegien als EU- Bürger nicht mehr als selbstverständlich ansehen. Vielleicht können die nächsten 100 Tage etwas in den Köpfen der ganzen Europaskeptiker in meiner Umgebung verändern. Nichts wünsche ich mir mehr. Ich öffne den App-Store und lade die MINIMAL EU- App herunter. Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt... Wie von allein ertönt ein leises Summen, während in mir ein kleiner Funken Hoffnung aufkeimt. TAG 1 Chaos. Mit diesem simplen Wort lässt sich der erste Tag von MINIMAL EU wohl am besten beschreiben. Bereits als ich am Frühstückstisch sitze, kommt meine Mutter lautstark telefonierend in die Küche: „Wie, Sie können die Ware nicht liefern? Ich habe die Bestellung doch bereits vor mehreren Wochen aufgegeben
  • 6. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 5 und Sie meinten letzten Freitag noch, dass alles nach Plan läuft! Meine Werbung ist schon gedruckt und die Schaufenster sind fertiggemacht – soll ich meine Kundinnen und Kunden heute vor leeren Regalen stehen lassen oder wie haben Sie sich das vorgestellt?“ Meine Mutter ist Besitzerin eines Unverpacktladens und hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem möglichst wenig Müll zu produzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, kauft sie ihre Ware entweder regional oder in ökologisch verpackten Großportionen ein, die oft nicht in Deutschland, aber in Belgien zu erwerben sind, das nicht zu weit von unserem Wohnort entfernt ist. Es scheint Probleme mit ihrem Handelspartner in Brüssel zu geben: „Auf unbestimmte Zeit verschoben?! Ich glaube, Sie machen Scherze! Wie soll ich meinen Laden denn ohne Ware öffnen?“ Nach einigen hitzigen Minuten der Diskussion legt sie mit einem lauten Seufzer den Hörer auf. „Was ist denn los, Ma?“, frage ich. Meine Mutter läuft zu mir herüber, setzt sich neben mich und fährt mir mit ihrer Hand durchs Haar. „Ach Lou, so einen schlechten Start in den Tag hatten wir schon lange nicht mehr, oder? Was du dir da gerade anhören durftest, war mein Lieferant aus Brüssel, der mir erklärt hat, dass er auf unbestimmte Zeit keine Ware mehr nach Deutschland bringen kann, da die Steuern und Zölle, die durch den Wegfall des europäischen Freihandelsraumes anfallen, zu hoch sind, um eine gewinnbringende Lieferung zu ermöglichen. Jetzt muss ich mir entweder schnell einen anderen Lieferanten hier in der Umgebung suchen, was ein Wunder wäre, oder den Laden erst einmal schließen.“ Ich umarme Ma und sage ihr, dass sie bestimmt eine Lösung finden wird, obgleich ich dies im Geheimen als unrealistisch ansehe. Plastikfreie 30-Kilo-Packungen mit biologisch abbaubaren Zahnputztabs – der Bestseller im Laden meiner Mutter – fallen nun einmal für gewöhnlich nicht vom Himmel. Wenn dann noch strenge Handelsbestimmungen in einer EU-losen Welt, wie sie ab heute besteht, die Suche erschweren, sieht es für Kleinbetriebe wie Mas Unverpacktladen, der auf die Handelsfreiheit im europäischen Binnenmarkt angewiesen ist, schlecht aus... Später am gleichen Tag öffne ich das erste Mal die MINIMAL EU- App, während mich ein autonom fahrender Bus von meiner Schule zu dem Jugendzentrum transportiert, wo ich den Großteil meiner Freizeit verbringe. Neben einigen Informationen über das MINIMAL EU- Projekt entdecke ich auf meinem Handydisplay ein Diskussionsforum, in dem Interessierte ihre Erfahrungen mit MINIMAL EU posten können. Ich beginne, die bereits vorhandenen Einträge zu lesen, komme aber nicht weit, da mir auf einmal Worte wie rautatiesema oder angajat begegnen. Selbst die vier Pflichtsprachen, die alle Europäer seit 2030 in der Schule erlernen müssen, helfen mir nicht weiter. Ich vermisse den Übersetzungsservice, welcher es mir normalerweise ermöglicht, Informationen auf offiziellen Websites und Apps der EU in allen 24 Amtssprachen der Union abzurufen. Die nächsten 50 Tage werde ich wohl oder übel sprachlos verbringen.
  • 7. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 6 Im Jugendzentrum angekommen, mache ich mich auf die Suche nach meiner Freundin. Ich finde Elya zusammengekauert in einer Hängematte, Buch in der Hand, Musik auf den Ohren. Ich schleiche mich von hinten an sie ran und klaue ihr einen der Kopfhörer. Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum- wir haben denselben Musikgeschmack. „Hey!“, schreit sie empört auf, bevor sie mich erkennt und mit einer Umarmung begrüßt, „Wo kommst du denn her?“ Ich setze mich neben sie auf die Hängematte, die unter unserem Gewicht gefährlich zu schwanken beginnt. „Schule.“, erwidere ich, „Langweilig wie immer. Alles nur Idioten da.“ „Kenn ich gut“, sagt Elya, „aber bald haben wir es geschafft.“ Im Sommer werden Elya und ich volljährig und haben somit unsere Grundbildung abgeschlossen. Ob der Europäische Freiwilligendienst, den wir eigentlich nach unserem Abschluss gemeinsam absolvieren wollten, noch möglich sein wird, hängt davon ab, wie das Resultat der Volksabstimmung am Ende von MINIMAL EU ausfällt. Ein weiterer Grund, wieso das Experiment funktionieren muss. Mein Jahr mit Elya umgeben vom europäischen Geist möchte ich nicht verlieren. Ich lehne mich in der Hängematte zurück, beobachte meine Freundin bei ihrer Lektüre und mache mir Gedanken über die Ungewissheit unserer Zukunft in einer möglicherweise EU-losen Welt. TAG 3 Heute ist der Euro zusammengebrochen. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, aber es ist doch komisch, in den Nachrichten zu sehen, wie antieuropäisch eingestellte Menschen violette, grüne und blaue Scheine als Lagerfeuerfutter verwenden. Die neue deutsche Währung heißt „eMark“ und ist ausschließlich digital abrufbar. Vorbei sind die Zeiten, in denen man mit einem mit den europäischen Sternen bedruckten Groschen in den achtzehn verbleibenden Ländern der Eurozone einkaufen konnte, ohne sich Gedanken über die tagesaktuellen Wechselkurse machen zu müssen. Ab jetzt muss ich bei jedem Besuch in einem Land, das keinen Bundesadler auf schwarz-rot-goldener Flagge trägt, Kopfrechnen und digitale „eMark“ in reale „Belgulden“, „Italonis“ oder „Portugaleonen“ umtauschen. Komplizierter geht es nun wirklich nicht... TAG 7 Bereits eine Woche läuft MINIMAL EU mittlerweile. Viel hat sich noch nicht zum Guten verändert- europakritische Menschen sind noch kritischer geworden, EU-Anhänger weinen besseren Zeiten nach und müssen sich mit der neuen Realität abfinden. Langsam zweifle ich an der Effektivität des Projektes. Was, wenn ich mir unnötig die Hoffnung auf ein positives Ergebnis am Ende der 100 Tage aufrechterhalte? Was, wenn MINIMAL EU die schon stark gespaltene europäische Gemeinschaft noch weiter auseinandertreibt? Was, wenn das Projekt eine sowieso bereits in Stein gemeißelte Entscheidung nur weiter hinauszögert? Daran will ich nicht denken.
  • 8. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 7 TAG 14 Ich sitze abermals in meinem Klassenzimmer. Ein nicht mehr ganz so grauer Wintertag, 14 Uhr, Doppelstunde Politik in vollem Schwung. Thema: Schengen-Abkommen. Mein Lehrer hat einen ganz besonderen Sinn für Humor. In einer Welt mit Europäischer Union würde meine Klasse nämlich genau jetzt durch die antiken Straßen Athens schlendern, der Akropolis einen Besuch abstatten und sich mit der Wiege Europas vertraut machen. Unsere Studienfahrt, die einzige Sache, auf die ich mich in diesem Schuljahr gefreut hatte, mussten wir nun allerdings absagen. Ohne die Reisefreiheit, die die Schengener Abkommen Europäerinnen und Europäern seit mehr als 30 Jahren bieten, dauert es zu lange, Visa für die ganze Klasse zu beantragen. Selbst wenn alle meine Klassenkameraden und Kameradinnen rechtzeitig ein Visum bekommen hätten, hätten wir bei der Einreise eine rigorose Grenzkontrolle über uns ergehen lassen müssen. In den letzten zwei Wochen seit Beginn von MINIMAL EU haben alle europäischen Staaten solche dem Schutz vor unerlaubter Einreise dienenden Grenzkontrollen eingeführt. Am meisten Probleme bereiten diese den Menschen, die täglich die Grenze überqueren müssen. Mein Vater gehört zu ihnen. Er arbeitet als Chirurg in einem belgischen Krankenhaus und muss nun zweimal täglich mehrere Stunden an der deutsch-belgischen Grenze warten. Gestern beim Abendessen habe ich ihn das erste Mal in meinem Leben weinen sehen. Als wir um 21 Uhr endlich gemeinsam essen konnten, nachdem er von einer weiteren dreistündigen Grenzodyssee heimgekommen war, brach es aus ihm heraus. Er fühle sich schuldig, dass er weniger Patienten helfen könne, da er so viel Zeit mit sinnlosen Grenzkontrollen verbringen müsse, meinte er. Zudem vermisse er es, Dinge mit Ma und mir zu unternehmen. Ma und ich haben versucht, ihn zu beruhigen. In einer Welt mit der Europäischen Union wäre mein Vater glücklicher. TAG 30 Der dreißigste Tag des Experiments. Einen Monat leben 447 Millionen Menschen nun schon getrenntgemeinsam auf einem Kontinent. Ein Monat ohne Völkerverständigung, ohne Verbesserung, ohne Vielfalt. Ein Monat ohne einfach mal so ins Nachbarland fahren, ohne Europahymne, ohne politische Neuigkeiten aus Brüssel und Straßburg. Ein Monat ohne die Europäische Union. Es haben sich zwei Lager gebildet: Sowohl auf den Straßen der realen Welt, als auch im Diskussionsforum der MINIMAL EU- App versuchen Pro- und Antiunionisten, mit Petitionen, Kampagnen und Demonstrationen Anhänger für ihre Seite zu anzuwerben. Wenn ich mich aus Versehen in das falsche Unterforum verirre oder durch eine antieuropäische Demo laufe, fühle ich mich wie eine Montague unter
  • 9. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 8 lauter Capulets. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Geschichte von MINIMAL EU ein besseres Ende als Shakespeares berühmtestes Liebespaar nehmen wird. TAG 50 Halbzeit. Nach 50 Tagen ohne ein einziges Erscheinen des europäischen Geistes, besteht heute die Möglichkeit, ihn in Form einer europäischen Institution, eines Vertrages oder einer Währung wieder zum Leben zu erwecken. Ich bin seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen und aktualisiere in immer kleiner werdenden Intervallen die MINIMAL EU- App. Um 16 Uhr wird das Ergebnis verkündet. Ich selbst habe meinem Vater zuliebe die Schengener Abkommen als die Errungenschaft der EU angegeben, die ich am dringendsten wiederbekommen möchte. Um Punkt 16 Uhr surrt mein Handy. 03/19/2037 – BRUSSELS It has just been announced that the Euro is the first EU innovation to be reinstated as part of the MINIMAL EU voting procedure. According to Ella Lykaios, iniator and manager of MINIMAL EU, 30.9% of participating European citizens voted for the return of the Euro, with the Schengen Agreements and the European Parliament coming in second and third respectively. From tomorrow on, all countries who previously used the Euro and still have large enough quantities of the currency in stock, will be instructed to once again accept it as payment. The reintroduction of the common European currency will make financial transactions across borders easier once more and resolve the difficulties caused by varying exchange rates between the national currencies currently in use. @saveeurope This is great! Now people will appreciate the Euro because they know what life is like without it… @bayernboy_01 okay, gut, vielleicht ist der euro doch ganz praktisch. kopfrechnen ist wirklich nicht meine stärke. In Ordnung. Ich hatte mir zwar etwas Anderes von der heutigen Abstimmung erhofft, aber die Kommentare unter dem Artikel stimmen mich fröhlich. Wo vor 50 Tagen noch Hass und Missgunst gegenüber jeglichen EU-positiven Anmerkungen anzufinden waren, steht nun leise Zustimmung. Vielleicht bewegt MINIMAL EU und der mit dem Projekt verbundene Verzicht die Gegner der Europäischen Union ja wirklich zur
  • 10. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 9 Wertschätzung der Dinge, die die EU ihnen bedingungslos bietet. Ich bin gespannt, wie es mit MINIMAL EU weitergeht... TAG 64 Nach der Rückkehr des Euros vor zwei Wochen und der Wiedereinsetzung der Schengener Abkommen in der letzten Wahl, bringt der heutige Tag die Wiederkehr des Europäischen Parlaments. Ich sehe im Infobereich der MINIMAL EU- App, wie sich Abgeordnete aus allen 24 EU-Staaten im Plenarsaal in Brüssel in die Arme fallen. Wenn es nach mir geht, werden alle Bürger und Bürgerinnen der EU dies nach der Abstimmung am 100. Tag von MINIMAL EU genauso tun. Alle Menschen werden Brüder – mein Summen wird von Tag zu Tag kräftiger. TAG 92 Noch acht Tage. Mit jeder weiteren Woche kommen mehr Institutionen, Privilegien und Gesetze der Europäischen Union zurück: Die Europäische Zentralbank, die Generaldirektion Übersetzung, die Steuerfreiheit des Handels im europäischen Binnenmarkt – immer mehr Menschen erkennen, wie wichtig die Europäische Union für ihr Leben ist. Die antieuropäischen Demonstrationen werden weniger, die Foren mit proeuropäischen Themen immer aktiver. Hoffentlich ist das genug... TAG 100 Heute kommt es drauf an. Die größte Volksabstimmung in der Geschichte Europas wird darüber entscheiden, ob die Europäische Union als gescheitertes Projekt in die Annalen eingehen oder weiterhin lebendig sein wird. Angespannt sitze ich mit Elya, meiner Ma und meinem Vater auf unserem Sofa. Die Wahlbüros sind geschlossen. In wenigen Minuten werde ich wissen, wie meine Zukunft aussieht. Ich werde wissen, ob politischer Minimalismus ein effektives Mittel zur Vereinigung ist. Ich werde wissen, ob Einheit in Vielfalt das ist, was Europäer und Europäerinnen sich in den nächsten Jahren wünschen. Mein Handy surrt. Mit zittrigen Fingern nehme ich es in die Hand und lese die Schlagzeile. 05/09/2037 – BRUSSELS The EU is staying for good, fellow Europeans! The final referendum of the MINIMAL EU initiative has shown that 68.9% of all European citizens value the benefits of the EU and would like to keep living as members of the Union. This is a great victory for all supporters of the European
  • 11. Tjove Detlefsen Friedrich-Paulsen-Schule, Niebüll (S-H) 10 Union whose numbers have grown exponentially over the duration of MINIMAL EU. Looks like there is a bright future ahead of us, as we continue to work on this Union we call home. But for now, let us celebrate! @europehasbeensaved yaaaaaaay! A great day for all Europeans! @bayernboy_01 mittlerweile bin ich auch eu-fan. einfach zu viel gutes zeug, um nein zu sagen :) @femmefrancaise Vive l’UE ! @présidentdelarépublique – On peut la rejoindre ? Ich kann es nicht glauben- MINIMAL EU hat die Europäische Union wirklich gerettet! Elya fällt mir in die Arme. Ich hebe sie hoch und drehe sie vor Freude im Kreis. Ma und mein Vater applaudieren. Ich bin glücklich. Glückliche Europäerin. EPILOG Mitternacht. Ich schalte das Radio ein. Es knistert. Ich befürchte schon Funkstille, doch dann ertönen die Klänge, die ich so lange vermisst habe. Ein Lächeln überfällt mein Gesicht, ich drehe den Lautstärkeregler des Radios bis zum Anschlag auf und singe aus voller Kehle mit. Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, was der Mode Schwert geteilt. Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. ENDE