1. Europäische Union
Zeitenwende
von Harry U. Elhardt
Sechzehn Millionen britische Wähler votierten am 23. Juni
2016 für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der
Europäischen Union. Fünfzehn Millionen wollten das nicht.
Die meisten von denen jung, gebildet, aus London oder
Schottland. Darin mögen die Europäer unter den Briten
Trost finden, ändern tut sich nichts. Die Würfel sind gefallen
- auch für den Rest Europas.
Was das britische Votum für die zurückgewiesene
Europäische Union bedeutet, wird sich im Lauf der Zeit erst
erweisen. Für das Vereinigte Königreich traten erste
Kollateralschäden sofort zutage: Rücktritt der Regierung
Cameron, das Pfund unter Druck, Turbulenzen auf den
Finanzmärkten und Warnungen aller Art und allenthalben,
von Washington bis Beijing. Und was die City Flash Boys
wohl am meisten stören dürfte: Herabstufungen durch die
Ratingagenturen.
In Paris und Brüssel war die Verstörung fast greifbar; in
Berlin hingegen bemühte sich die Kanzlerin, Ruhe zu
bewahren, was im Lichte der epochalen Entscheidung der
Briten seltsam anmutete. Immerhin ist klar, dass nicht nur
ein Land, das Vereinigte Königreich, die Konsequenzen zu
schultern hat, sondern auch die 27 anderen, die in der
Europäischen Union verblieben sind - die zur Zeit noch
verblieben sind, ist man versucht hinzuzufügen.
*
Britische Wähler haben die in der ‚Verfassung‘ der EU ver-
ankerte offene Gesellschaft mit ihren Grundwerten wie
Asylrecht und Freizügigkeit just in Zeiten globaler
Unsicherheit und nationalistisch-völkischer Bewegungen mit
der ‚knappen‘ Mehrheit von einer Million Stimmen
entscheidend abgelehnt. Die Masse der ablehnenden
Stimmen formierte sich dabei in England - das multi-
kulturelle und polyglotte London ausgenommen - wobei in
diesem England im ersten Monat nach dem Referendum die
Anzahl der ‚Hassverbrechen‘ an EU-Ausländern um das
2. Vierfache zunahm, wie die zuständigen Polizeibezirke
Englands auf Anfrage des Guardian mitteilten.
Vor diesem Hintergrund nimmt einem der Kommentar von
Berthold Kohler, dem Herausgeber der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, regelrecht den Atem: „Europa wird
nur das sein können, was es nach dem Willen seiner Völker
sein soll.“
Denn, nach vorne schauend, wird sogleich deutlich: Dieses
England ist nicht allein und das künftige Europa könnte
„nach dem Willen seiner Völker“ ein häβlich-abstoβendes
Aussehen annehmen.
*
Gegen Europa wg Eigennutz
Bereits zwei Monate vor dem Referendum der Briten
‚scharrten die Dänen mit den Hufen,‘ als Kristian Thulesen
Dahl, der Führer der Dansk Folkeparti (Dänische
Volkspartei), der zweitgröβten Partei Dänemarks, kräftig die
Trommel rührte, um ein dänisches Exit-Referendum
einzufordern. Dabei stünden die Chancen ein solches
Referendum zu bekommen gar nicht schlecht.
Dänemark wurde im selben Jahr Mitglied Europas wie das
Vereinigte Königreich, im Jahr 1973, mit demselben
gebremsten Enthusiasmus, der sich auf nie mehr als
Sparflamme erwärmte - wie bei den Briten.
Ebenso wie die Briten lehnen die Dänen eine Mitgliedschaft
im Euro vehement ab; und ähnlich den Briten profitieren die
Dänen von einer langen Liste von opt-outs, die sie analog zu
den Briten eigentlich zu einem eher “virtuellen” EU-Mitglied
machten.
Und im gleichen Schritt und Tritt mit Briten wollen auch
Dänen raus aus Europa und dennoch am gröβten ent-
wickelten Wirtschaftsraum der Welt teilhaben. Zwar sagt
man im Englischen zu einer solchen Forderung: „You can’t
have your cake and eat it“ - auf deutsch: „man kann seinen
Kuchen nicht behalten wollen und gleichzeitig verspeisen“ -
aber Briten und Dänen wollen genau das.
Und das will man auch am Südufer des Armelkanals.
*
3. Marine Le Pen, die Chefin der französischen Rechtspartei,
Front National (FN), war sofort zur Stelle mit der Forderung
nach einem baldigen “Frexit.“
Aus Den Haag kam wie erwartet das Echo von Geert Wilder
von der Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit), der
nun ebenfalls mit einem “Nexit” dieses von ihm so gehasste
Europa verlassen will.
Und aus Stockholm berichtet das schwedische Meinungs-
forschungsinstitut Sipo Research International von der
zunehmenden Zahl von Schweden, die durch einen „Swexit“
in eine glorreiche ‚schwedische‘ Zukunft aufbrechen wollen.
Für den Moment kann sich Europa damit trösten, dass
keiner der drei an der Macht ist.
Aber schon im Mai nächsten Jahres könnte nicht nur
Frankreich selbst, sondern auch die deutsch-französische
Partnerschaft und mit ihr ganz Europa komplett neu
definitert werden, sollte Marine Le Pen die Präsident-
schaftswahlen gewinnen. Dass sie Frankreich aus der
Europäischen Union führen würde, daran lässt sie keine
Zweifel aufkommen; gleiches gilt für NATO. Allerdings: Zur
deutsch-französischen Vertragspartnerschaft kam von ihr bis
jetzt kein Komentar. Kein gutes Zeichen,
Dass ein Sieg Le Pens nicht auszuschlieβen wäre, zeigt allein
schon der Blick auf das Ergebnis der Regionalwahlen vom
vergangenen Herbst, als Marine Le Pens FN sieben von 13
Regionen Frankreichs gewonnen hat. Zweifellos eine solide
Basis für ein gutes, nationales Wahlergebnis.
Die schwächelnden Umfragewerte von François Hollande
und Nicolas Sarkozy sind dabei nicht berücksichtigt.
*
Die tour d’horizon der Champions nationalen Eigennutzes
im westlichen Europa könnte schon im Herbst dieses Jahres
auch auf Österreich ausgedehnt werden, dessen Absturz ins
Völkische durchaus passieren mag, sollte der
Präsidentschaftskandidat der Freiheitlichen, Norbert Hofer,
die vom Obersten Gericht in Wien angeordnete
Wiederholung der Wahl vom April dieses Jahres gewinnen.
Zwar hätte das Land trotz alledem noch eine
sozialdemokratisch geführte Regierung, doch der ohnehin
stärker gewordene Einfluss der Freiheitlichen würde durch
einen Sieg Hofers keinesfalls schwächer.
4. Im Gegenteil: Die Diplomatie der Erben des KuK-Imperiums
sucht schon seit geraumer Zeit nach einem eigenen Weg
Österreichs.
Auf seiner Suche nach ‚nationaler Identität‘ dockt das Land
vorsichtig aber zielstrebig von Europa ab und drifted auf die
Nachbarn in Budapest, Bratislava und Prag zu. Die Wiener
nähern sich damit Dreien aus dem Viererbund von Visegrad
an, der unter der polnischen Präsidentschaft der
Europäischen Union den Kampf angesagt hat.
An dieser Stelle drängt sich ein unerhörter Gedanke auf,
wonach ein historischer Gesinnungsgenosse der Hoferschen
Freiheitlichen hier von ‚Vorsehung‘ sprechen würde
*
Feinde im Innern
Gedankengut des ‚Ahnen aus Österreich‘ feiert in Warschau
fröhliche Urständ. Das ist nicht mehr neu.
Es ist hinlänglich bekannt, dass Kaczyński den Rechtsstaat in
Polen auβer Kraft gesetzt hat, indem er nicht nur die Partei
selbst (PiS) im Warschauer Parlament kommandiert,
sondern auch die Premierministerin, Beata Maria Szydło,
sowie den Staatspräsidenten, Andrzej Duda. Selbstredend
gehören alle handelnden Personen der PiS an.
Die Gesetzgebung kann somit nicht beeinflusst werden.
Sollte jedoch das Verfassungsgericht, dem man ebenfalls
eine gesetzliche Zwangsjacke verpasste, trotz alledem die
vom PiS-Staatspräsidenten unterzeichneten Gesetze für
unwirksam erklären, lacht man die Obersten Richter des
Landes aus und erklärt sich an den Richterspruch nicht
gebunden. Wie erst jüngst geschehen.
Kurzum: Das Polen Kaczyńskis hat faktisch und juristisch
wesentliche Grundvoraussetzungen einer Mitgliedschaft in
der EU auβer Kraft gesetzt.
Und die Folgen?
So gut wie keine. Im Europäischen Rat, dem letztendlichen
Entscheidungsgremium Europas, schachern nationale
Regierungen - man kann es nicht oft genug sagen: nationale
Regierungen und nicht eine anonyme „EU“ - um Politiken
und Gesetze, darunter auch das Flüchtlingsabkommen, das
5. selbst nach den von den nationalen Regierungen gnadenlos
erzwungenen Verwässerungen den Polen immer noch zu
‚groβzügig‘ erscheint, so dass es von der polnischen
Regierung schlechterdings ignoriert wird.
Und trotz dieser Sachlage meint Autor und Soziologe Jean
Ziegler er müsse „die EU“ anklagen indem er von der
europäischen Flüchtlingspolitik als einem „Verbrechen
gegen die Menschlichkeit“ spricht. Da springt wohl einer auf
den ‚band wagon,‘ auf dem man ungehemmt wider die EU
posaunt. Es scheint so, als müsse er der wohlfeilen
europaweiten Kakophonie halt auch sein Tönchen
hinzublasen.
Zur Erinnerung: Es ist die Flüchtlingspolitik, die den Briten
als bester Vorwand zum Exodus aus Europa diente; es ist die
Flüchtlingspolitik, die sich Polen, Ungarn et al zunutze
machen, um gegen Europa zu kämpfen. Und die tun das
nicht, weil Europa etwa zu wenig Flüchtlinge aufnimmt.
*
Zurück zum Rat: Unter den 28 nationalen Regierungen unter
dem Vorsitz des Polen Donald Tusk gab es bisher keine
erkennbaren Kritiken an den eklatanten Rechtsbrüchen
Polens. Au contraire: Tusk hatte bereits vor Monaten vor
jeder juristischen Initiative gegen Polen gewarnt.
Und in der Tat hat sich auf europäischer Ebene nur einer zur
Wehr gesetzt: Jean-Claude Juncker, der Chef der
Kommission. Juncker ordnete eine Untersuchung nach dem
in Artikel 7 festgelegten Vertragsverletzungsverfahren an -
vergleichbar mit einem Normenkontrollverfahren – das zu
einem Entzug der Stimmrechte Polens im Rat führen könnte.
Von der Warschauer Führungsriege war wie nicht anders zu
erwarten Häme und Gelächter in Richtung Brüssel zu
vernehmen und dazu noch die Forderung des polnischen
Auβenministers, Witold Waszczykowski, Jean-Claude
Juncker solle unverzüglich seinen Stuhl räumen.
Und die Polen legten nach, indem sie mit ihren Visegrad-
Bündnispartnern nun im Gleichschritt gegen „die EU“ zu
Felde ziehen. Das erklärte Ziel der Visegrad-Verbündeten:
Die Kommission als letzte Instanz, die über die Einhaltung
der Verträge - sprich: der europäischen Verfassung - wacht,
soll „zurückgebaut“ werden. Nach den Vorstellungen der vier
Regierungschefs - der Polin Szydło, des Ungarn Orban, des
6. Tschechen Sobotka und des Slowaken Fico - soll es künftig
nur noch den Rat als einziges Entscheidungsgremium geben.
Damit wären dann auch die Grundwerte Europas Makulatur,
weil nach diesem erklärten Politikziel nur die nationalen
Regierungen die Interpretationshoheit hätten. Wie in
Warschau schon jetzt, würde man auch sonstwo in Zukunft
nur das gemeinsam tun, was dem nationalen Interess dient.
Es ist wahrlich kein Zufall, dass dieses mit grenzenloser
Frechheit beschlossene und auch so veröffentlichte
Politikziel der Vier mit dem Brexit in perfider Synchronität
daherkommt.
Wie sagte der FAZ-Herausgeber? „Europa wird nur das sein
können, was es nach dem Willen seiner Völker sein soll.“
Man stelle sich vor, Berthold Kohler hat recht, dann werden
die Völkischen in wenigen Jahren in Europa die Macht
haben. Und absehbar ist dann auch, dass sich die re-
nationalisierten Politiken früher oder später gegeneinander
richten werden.
Um solche Eventualitäten einzugrenzen, gibt es die
parlamentarische und nicht die plebiszitäre Demokratie.
Aber so wie einst die Nazis die parlamentarische Demokratie
abtrieben, so tun es Kaczinskis Polen jetzt wieder, deren
antidemokratische Rhetorik längst in antidemokratischer
Gesetzgebung manifestiert ist. Die antieuropäische Rhetorik
ist gerade im Begriff, manifest zu werden. Soll man nun
zuwarten, bis die antideutsche und antisemitische Rhetorik
in Aggression umschlägt?
Ob mit oder ohne Unterstützung oder gar Steuerung durch
Vladimir Putin: Es kann per se nicht ausgeschlossen werden,
dass in Europa wieder die Lichter ausgehen.
*
Nur wenige Monate ist es her, dass Papst Franciscus vor
einem solchen Rückfall in die schlimmste Tragödie der
Menschheitsgeschichte eindringlich gewarnt hatte.
Mit sicherem Gespür für die Gefahr, die der Europäischen
Union in diesen Tagen durch nationalistischen Fanatismus
droht, beschwor der Papst die europäische Tradition von
Aufklärung und Humanismus, die Kreativität, die Toleranz
und den Geist, der Kraft und Mut verleiht, “...aus den
eigenen Grenzen hinauszugehen, sich in freier Entscheidung
7. für das Gemeinwohl zusammen zu schlieβen und dabei für
immer darauf zu verzichten, sich gegeneinander zu wenden.”
Polen, Briten, Dänen und einige mehr machten bereits
deutlich, dass sie nicht bereit sind, sich „für das Gemein-
wohl zusammen zu schlieβen.“ Auch will man nicht darauf
„verzichten, sich gegeneinander zu wenden,“ wie man vor
allem an der politischen Zielsetzung der Visegrad-Vier
ablesen kann.
Zu dem vom Papst beschworenen Europa der Aufklärung
und Toleranz gehörten Wenige. Frankreich, Deutschland,
Italien, die BeNeLux-Staaten, damals wie heute. Es sind dies
die „Erben der Aufklärung,“ die Jean-Claude Juncker wohl
im Sinn hatte, als er im Palast des Papstes seine
Grundsatzrede hielt anläβlich der Verleihung des
International Karlspreises an den Pontifex am 6. Mai 2016.
Polen gehörte nicht dazu. Zu keiner Zeit. Niemals.
*
Ende einer Epoche
Ein neues, ein anderes Europa muss gebaut werden, und die
Zeit drängt. Die Europäische Union ist inzwischen auf
Nationalstaaten angewiesen, die im Grunde genommen die
Europäische Union beenden wollen.
Ganz so neu und überraschend ist das nun nicht gerade. Seit
mehreren Jahren schon begleitet die GAZETTE die
Entwicklungen in Europa, die zu diesem Zustand geführt
haben. In Brüssel ist das längst angekommen. An dieser
Stelle sei an Jean-Claude Junckers Fazit seines ersten Jahres
als Kommissionspräsident erinnert, das er in seiner State of
the Union-Rede von 2015 knapp so formulierte: „Zu wenig
Europa, zu wenig Union.“
Was wird wohl der Kernsatz seiner zweiten sein? Vielleicht
mit Blick auf die Viererbande von Visegrad eine Anleihe bei
Abraham Lincoln: „A house divided against itself cannot
stand“ (ein Haus durch das ein Riss geht, kann nicht
bestehen).
*
In den 28 Nationalstaaten ist hochgerechnet rund ein
Fünftel der Gesamtbevölkerung oder etwa 100 Millionen
8. Menschen den Nationalisten oder Völkischen zuzurechnen.
Die weisen das Europa, auf das sich der Papst bezog, schroff
zurück.
Besser wird das kaum, eher schlimmer, wie die von den
nationalen Regierungen im Rat beschlossenen, zynischen
Kompromisse hinreichend dokumentieren. Und denkt man
an die nächsten Wahlen zum Europaparlament 2019, so
sollte es niemanden überraschen, sollte sich dort eine groβe
Zahl völkischer Rüpel zusammenrotten.
Es wird immer deutlicher, dass mit der gegenwärtigen
Besetzung weder im Rat noch im Parlament an der Union
weiter gearbeitet werden kann. Und die Kommission allein
kann aufgrund der verfassungsrechtlich verankerten
Kompetenzen nichts bewegen.
Ein klassisches ‚gridlock‘, wie man in Washington sagen
würde (auf deutsch: Patt). Nichts geht mehr.
*
Parallelen zu Abraham Lincoln vor seinem ersten Antritt als
Präsident sind wohl so abwegig nicht. Auch damals war man
am Ende einer Epoche angelangt und eine neue musste erst
erstritten werden. Damals wie heute sind Grundwerte der
Streitpunkt.
Ein neues, ein ganz anderes Europa muss gebaut werden,
und die Zeit drängt. Und weil das so ist, kitzelt Angela
Merkels „Ruhe bewahren“ eher das Gegenteil heraus,
nämlich Nervosität.
Warum zögert die Kanzlerin?
Vielleicht, und das mag man ihr zugute halten, will sie die
Gefühle der Polen nicht verletzen. Nur: Der Präsident von
Frankreich braucht sie; der Präsident muss die Wahl im
nächsten Mai gewinnen; die Chancen des Präsidenten diese
Wahl zu gewinnen steigen, wenn den Franzosen gezeigt
werden kann, dass die bestimmende Gröβe in Europa an der
Seite dieses Präsidenten steht. Ohne deutsch-französische
Partnerschaft gibt es kein Europa. Polen ist in dieser
Konstellation wahrlich nicht erste Wahl.
Und als nicht gänzlich marginal: Im Zusammenhang mit
Polen und Europa sollte man sich nicht von salbadernden
Gutmenschen Polen betreffend beirren lassen. Die nationale
Selbstsucht ist in Warschau so virulent, dass Vladimir Putin
dies auszunützen versuchte indem er, wie der ehemalige
9. polnische Auβenminister und derzeitige MdEP, Radek
Sikorski, bestätigte, Polen das Angebot unterbreitete, das in
Potsdam 1945 von Churchill an Stalin übergebene Ostpolen
- heute ein nicht unerheblicher Teil der Ukraine mit der
Hauptstadt Lviv, dem früheren Lemberg - an Polen
zurückzugeben. Im Gegenzug sollte sich Polen an der
Aufteilung der Ukraine beteiligen und aus der NATO
austreten. Der Empfänger der Putin’schen Offerte von 2014
war Donald Tusk. Dieser habe geschwiegen, sagte Sikorski.
Mittlerweile aber positionierte Kaczinsky Polen innerhalb
der NATO als Speerspitze mit aggressiver Rhetorik gegen
Russland.
So oder so: Das polnische Lavieren ist keine Beruhigung
weder für Europa noch für die NATO. Nur gut, dass der
deutsche und der französische Auβenminister an einem
Strang ziehen und die Beziehungen zu Russland zu einer
deutsch-französichen Prärogative machten.
*
Und just eine solche von Deutschland und Frankreich zur
Top-Priorität erhobene Initiative braucht das neue Europa.
Ruhe bewahren, Zögern und Zaudern pflastern den Weg in
die Katastrophe. „Periculum in mora“ (Gefahr durch
Zaudern) wusste auch schon der römische Historiker Titus
Livius vor 200o Jahren.
Franzosen und Deutsche haben ja schon zumindest
gedanklich Dinge angestoβen. In Deutschland ist es die
Glienicker Gruppe, die in ihrem von der ZEIT schon 2013
veröffentlichten Manifest eine neue Europäische Union
skizzierte, was dann wiederum von der Eiffel Group in Paris
im August 2014 aufgegriffen wurde.
Beide Initiativen plädierten für ein Europa, das nur aus den
Euro-Staaten entstehen sollte. Damit in jedem Falle ohne
das Vereinigte Königreich, ohne Polen, Dänemark, Ungarn
und den Rest des Balkans.
Am präzisesten unter allen Vorschläge gilt nach wie vor das
von Thomas Piketty in mehreren Schriften seit 2014
vorgestellte und erläuterte Projekt eines Europa mit
bicameralem System, das sowohl die jeweilige
Bevölkerungsgröβe der Mitgliedsländer wiedergibt, als auch
die für das Fuktionieren einer parlamentarischen
Demokratie unverzichtbare Nähe zum Bürger gewährleistet.
10. Bemerkenswert dabei: Die künftigen MdEPs sollen sich aus
gewählten Mitgliedern der nationalen Parlamente kon-
stituieren und „nur“ zu den transnationalen oder pan-
europäischen Gesetzgebungsmaβnahmen sowie der Aus-
übung der parlamentarischen Kontrolle über die europä-
ische Administration versammeln. Darüber hinaus wird kein
Dritter - das heisst, ein Land, das nicht der Eurozone
angehört - die legislative und kontrollierende Arbeit des
Eurozonen-Parlaments behindern oder auf irgendeine Weise
beeinflussen können.
Ein weiterer Eckpunkt in Pikettys Konstrukt bildet dabei die
Konzentration der Steuer- und Finanzpolitik in einem
europäischen Finanzministerium als Teil einer europäischen
Administration. Dieses Element soll wie ein Schutzschild
gegen Spekulanten wirken, die bislang die 19 vorhandenen
unterschiedlichen Steuersätze ausbeuten und dabei die
Länder gegeneinander ausspielen. Dass in diesem
Finanzszenario des neuen Europa die Finanztransaktions-
steuer (Tobin) festgeschrieben wird versteht sich fast schon
von selbst.
Am 14. Juli 2015 schlieβlich griff François Hollande die
Vorschläge von Thomas Piketty auf und trat damit an die
Öffentlichkeit. Beinahe en detail forderte er das, was Piketty
in seinem „New Deal for Europe“ und „Capital in the 21st
Century“ als unumgänglich für ein neues Europa dargelegt
hatte und kündigte an, dass er unter Führung Frankreichs
eine Avantgarde aus Ländern der Eurozone schaffen werde,
die ein neues, gestärktes und einiges Europa formen werde
mit eigener Satzung, eigenem Parlament, ausgestattet mit
allen klassischen, parlamentarischen Rechten, und das sich
aus seiner Mitte eine Eurozonen-Regierung wählt.
In einem Punkt schob Hollande eine Präzisierung nach:
Keiner der gegen Europa arbeitet, der Europa verlassen oder
am europäischen Haus nicht mitbauen will, kann daran
teilhaben. Der muss, so wörtlich, „au dehors“ - raus!
*
Heute, im August 2016 wartet man immer noch darauf,
wenigstens ein unterstützendes oder solidarisches Signal aus
Berlin zu bekommen. Aber es ist nichts auf dem Radar.
Stefan Seidendorf, Direktor des EU-Referats am Deutsch-
Französischen Institut in Ludwigsburg, verwies schon vor
einem Jahr auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen
deutsch-französischen Voranschreitens und hoffte auf eine
11. baldige Umsetzung des präsidialen Plans aus dem Palais
d’Elysée in Paris. Seidendorf war klar, dass ein solch
grundlegendes Reformvorhaben “verfassunggebenden Rang”
haben wird und, um eine Anleihe bei Charles de Gaulle zu
machen, es wird “Großes” bewirken.
*
Frankreich, das “Europa der Willigen” warten auf die
Kanzlerin. Frankreich und dieses Europa brauchen die
Gewissheit, dass Deutschlands Partnerschaft mit Frankreich
nicht verhandelbar ist. Um diese Gewissheit zu geben, muss
die Kanzlerin einen “Beweis des Lebens” der deutsch-
französichen Verbundenheit erbringen, am besten, indem sie
sich demonstrativ an die Seite des Präsidenten von
Frankreich und dessen europäischer Reform stellt.
Sollte sich die deutsch-französische Achse als nicht mehr
tragfähig erweisen, hätte dies nicht nur volkswirtschaflich
katastrophale Folgen - der groβe Markt Europas würde wohl
über kurz oder lang in sich zusammenbrechen –sondern
auch der Friede in Europa wäre nicht mehr gesichert.
Die Zeitenwende ist da. Die Menschen in Europa brauchen
eine Antwort: quo vadimus, Angela?
*