2. Inhaltsverzeichnis:
1 Einleitung........................................................................................................................................1
2 Ökonomische Weltbilder...............................................................................................................2
2.1 Das mechanistische Weltbild ......................................................................................................2
2.2 Die traditionelle Ökonomie ..........................................................................................................3
3 Zum Paradigma der Selbstorganisation......................................................................................5
3.1 Synergetik....................................................................................................................................6
3.2 Dissipative Strukturen..................................................................................................................9
3.3 Deterministisches Chaos...........................................................................................................11
3.4 Nichtlineare Modellbildung ........................................................................................................14
4 Die Übertragung auf sozioökonomische Systeme...................................................................16
4.1 Warum Übertragung? ................................................................................................................16
4.1.1 Analogie sozialer Systeme zu autopoietischen Strukturen? ............................................17
4.1.2 Analogie sozialer Systeme zu dissipativen Strukturen?...................................................19
4.2 Das Modell einer Party ..............................................................................................................23
4.2.1 Normen und Institutionen als gesellschaftliche Ordner ....................................................27
4.3 Die Darstellung sozioökonomischer Systeme mit der Master-Gleichung .................................32
4.3.1 4.4.1.Migrationsmodelle....................................................................................................37
4.3.2 Wahlmodelle .....................................................................................................................40
4.3.3 Siedlungsstrukturmodelle .................................................................................................43
5 Ökonomie und Selbstorganisation ............................................................................................47
5.1 Normen und Märkte...................................................................................................................47
5.1.1 Ökonomische Selbstorganisation auf verschiedenen Zeitskalen .....................................................47
5.1.2 Selbstorganisation und Prozessinnovationen...................................................................52
5.2 Diffusion von Innovationen ........................................................................................................55
5.2.1 Die Modellierung von Diffusionsprozessen mit der Master-Gleichung.............................62
5.2.2 Selbstorganisation in sozialen Netzwerken durch kritische Massen und Schwellenwerte
69
5.3 Individualismus, Holismus und Synergetik ................................................................................79
6 Spontane Ordnung in sozioökonomischen Systemen = Selbstorganisation = Evolution? .....81
7 Schlussbemerkung.....................................................................Fehler! Textmarke nicht definiert.
Seite 2
3. Abb.1:D as Fei
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Abb.23:Lock-n dar
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.......................
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Abb.29:Konvergenz aufsi dynam i ver
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takt en ...................91
Seite 1
4. 1. Einleitung
"..If orthodox economics is at fault, the error is to be found not in the superstructure,
which has been erected with great care for logical consistency,
but in lack of clearness and of generality in the premises"
J.M.Keynes (1936)1
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit Strukturbildungen in ökonomischen und
gesellschaftlichen Systemen, die -wohl ohne Vorbehalt- als komplexe Systeme
bezeichnet werden können, in denen sehr viele Einzelteile in komplexer Weise
zusammenwirken.
Komplexe Systeme lassen sich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: So
kann man zum einen die Funktionsweise der einzelnen Teile untersuchen, indem
man wie in einem Spiel von Regeln ausgeht, welche die Einzelschritte der Teile
bestimmen und damit schließlich ein Muster ergeben2. Zum anderen kann man
den Blick mehr aufs Ganze richten und nach den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten
für den Strukturbildungsprozess fragen3. Letzteres wird sowohl in der Synergetik
als auch in der Theorie der dissipativen Strukturen getan.
Beide beschäftigen sich damit, wie Strukturen von allein entstehen, wie sie sich
selbst organisieren.
Wäre die Bildung jeder einzelnen der unendlichen Vielfalt von Strukturen einem
speziellen Gesetz unterworfen, könnte man sie nie in ihrer Gesamtheit verstehen.
Um ein Kaleidoskop von Phänomenen aus einer einheitlichen Wurzel heraus zu
verstehen und somit ein einheitliches Weltbild zu erlangen, sucht man nach Fun-
damentalgesetzen4.
Solche Fundamentalgesetze stellen die von Newton (1642-1727) entdeckten Be-
wegungsgesetze und das Gesetz der Schwerkraft dar. Sie bilden die Grundlage
für ein mechanistisches Weltbild, welches bis in die heutige Zeit die wissenschaft-
liche Methodik und den denktheoretischen Ansatz der modernen Wissenschaft
entscheidend bestimmte5.
1
Zitiert in Zhang (1991, S.V)
2
Hierauf gehen Eigen/ Winkler (1975) in Das Spiel' ausführlich ein.
3
Haken (1984, S.10) zieht hier den Vergleich zum Schachspiel, bei dem man entweder die Bewegungen der einzelnen Figuren in
immer neuen Spielen betrachten kann, oder aber nur Aussagen über den Endzustand jedes einzelnen Spiels trifft (Weiß oder
Schwarz gewinnt bzw. Remi).
4
Vgl. Haken (1984, S.15)
5
Laut Prigogine (1988, S.39) begann die moderne Wissenschaft erst mit der Formulierung der Dynamik durch Galilei und New-
ton.
Seite 1
5. 2. Ökonomische Weltbilder
2.1 Das mechanistische Weltbild
Die Mechanik untersucht, wie sich einzelne Körper aufgrund der zwischen ihnen
herrschenden Kräfte bewegen. Die klassische oder Newtonsche Dynamik6 macht
ihre Aussagen in Begriffen der Mechanik wie Position und Geschwindigkeit von
Teilchen. Die Welt wird auf Raum-Zeitlinien (Trajektorien) einzelner materieller
Punkte reduziert, wobei die Bewegung des Teilchens von A nach B völlig um-
kehrbar ist. Man macht einen grundlegenden Unterschied zwischen den (beliebi-
gen) Anfangsbedingungen und den Bewegungsgleichungen, aus denen sich der
dynamische Zustand des Systems ergibt. Die Zeit tritt ohne ausgezeichnete Rich-
tung auf (Zeitreversibilität), der Impuls der Bewegung kommt von außen, die Teil-
chen treten in keinerlei Beziehung zueinander. Damit wird die klassische Dynamik
in einer Wirklichkeit, die aus Zusammenstößen, Begegnungen, Zwängen und
Austauschwirkungen besteht, zu einem reinen Denkmodell7. Das auf diesem ba-
sierende Wissenschaftsparadigma des 18ten und 19ten Jahrhunderts bestimmt
immer noch die dominante Richtung der Nationalökonomie. Laut Lorenz8 kann es
auch als deterministisches Weltbild beschrieben werden. Für ihn sind zwei Eigen-
schaften wesentlich:
Die Welt unterliegt deterministischen Gesetzen. Jedes Teilchen wie auch je-
des Lebewesen verhält sich entsprechend eines eindeutig beschreibbaren
Bewegungsgesetzes. Zufallskomponenten existieren nicht; stochastische
Elemente weisen nur auf eine Nichtberücksichtigung von irrelevant erschei-
nenden Einflussgrößen hin. Würde man alle (sich gegenseitig beeinflussen-
den) Elemente eines Gesamtsystems erfassen können und die einzelnen
Entwicklungsgesetze kennen, so wäre die zeitliche Entwicklung aller Kompo-
nenten präzise zu bestimmen9.
Ein Gesamtsystem setzt sich aus Subsystemen zusammen, die isoliert von-
einander untersucht werden können. Die Interaktion zwischen den Subsyste-
men ist durch eine Überlagerung von Einzelprozessen und deren lineare, in
der Regel additive Zusammenhängigkeit gekennzeichnet (superposition prin-
ciple). Das Gesamtsystem verhält sich wie die Summe seiner Teile.10
In den Wissenschaften und dem ihnen zugrunde liegenden Rationalismus11 spielt
6
Sie stellt kein abgeschlossenes Gebiet dar. Über die Zeit haben Wissenschaftler wie Lagrange, Hamilton, Poincaré entscheiden-
de Beiträge geleistet, und bis in die heutige Zeit kommen immer neue Erkenntnisse dazu. Siehe dazu Prigogine(1988, S.39ff)
7
Vgl. Jantsch(1984, S.56f)
8
Vgl. Lorenz (1990)
9
Formal-mathematisch äußert sich eine deterministische Theorie in der Verwendung von deterministischen (also kein stochasti-
sches Element aufweisenden) Bewegungsgleichungen. Wenn die Startwerte im mathematischen Sinne genau bestimmt werden
können, so können auch die zukünftigen Variablenwerte eindeutig bestimmt werden. In der klassischen Mechanik sind die
Begriffe des deterministischen Weltbildes, der deterministischen Theorie und des deterministischen mathematischen Systems
Synonyme.; Vgl. Lorenz (1990, S.182)
10
Vgl. Lorenz ( 1990, S.182f)
11
So wird in Frankreich auch von 'rationaler' Mechanik gesprochen, womit die Übereinstimmung der Gesetze der klassischen
Seite 2
6. hierdurch eine reduktionistische Vorgehensweise eine große Rolle: Ein Gegens-
tand oder ein Prozess wird in klar erfassbare, voneinander getrennte Elemente
zerlegt; es werden Gesetze für die Kombination und die Veränderung derselben
eingeführt, und der Prozess wird aus diesen Bestandteilen aufgebaut12.
2.2 Die traditionelle Ökonomie
"Jedermann weiß, dass Leben ein Vorgang ist, ein Prozess.
Aber nicht jedermann bedenkt, dass ein Prozess aufhört,
ein Prozess zu sein, wenn er in ein statisches Gleichgewicht gerät."
M. Feldenkrais13
Von diesem deterministischen Weltbild wurden die Klassik und die Neoklassik
entscheidend beeinflusst. Fast das gesamte Theoriengebäude basiert auf dem
homo oeconomicus14, der durch folgende Eigenschaften beschrieben werden
kann: Er ist von seiner Umwelt isoliert und betrachtet lediglich ökonomische Moti-
ve. Um eine analytische Lösung des Entscheidungsprozesses zu ermöglichen,
wird volle Rationalität, vollständige Information15 und eine individuelle Präferenz-
ordnung16 unterstellt. Das Postulat der Nutzenmaximierung erlaubt dann eine ein-
deutige Bestimmung des Konsumplans17. Durch den Preismechanismus werden
Nachfrager und Anbieter miteinander verknüpft, und es ergibt sich für alle Güter
ein markträumender Gleichgewichtspreis, und zwar in dem Sinne, dass auf allen
Märkten das Angebot der Nachfrage entspricht (totales Gleichgewicht). Wenn
freie Potentiale, also Ungleichgewichte, in den Märkten auftreten (Angebot un-
gleich Nachfrage), so verschwinden diese durch "the mechanics of utility and self-
interest"18, und ein neues Gleichgewicht entsteht.19 Bisher galt die Konzentration
allein den Gleichgewichtszuständen und ihren Eigenschaften. Anstatt sich damit
Mechanik mit denen der Vernunft gemeint ist. Vgl. Prigogine (1988, S.39)
12
Vgl. Feyerabend in Jantsch (1984, S.14)
13
Zitiert in Lehmann (1992, S.93)
14
Da die Volkswirtschaft sich mit menschlichen Entscheidungsprozessen und Interaktionen beschäftigt, kann sie auch im weiteren
Sinne als Sozialwissenschaft verstanden werden. Weil wirtschaftliche Aktivitäten komplexe Rückkopplungsprozesse zwischen
Individuum, Gesellschaft und Umwelt auslösen, als auch erratischen Mustern folgen können, ist es fast unmöglich diese Akti-
vitäten durch formal-mathematische Gesetze zu beschreiben. Dadurch war die volkswirtschaftliche Theorie gezwungen, das
real existierende Individuum durch das Artefakt des homo oeconomicus' zu ersetzen. Vgl. Lorenz ( 1990, S.184)
15
Da die, den Entscheidungsprozessen zugrunde liegende, Information nicht immer vollständig sind , und auch die Existenz ech-
ter (objektiver) Unsicherheiten schlichtweg eine Tatsache ist, wurden in der neoklassischen Volkswirtschaftslehre zwei Mög-
lichkeiten der analytischen Behandlung in die Modelle miteinbezogen: 1. Man geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeits-
verteilungen stochastischer Größen bekannt sind, und die Verteilungen eine Form aufweisen, die bei einer Maximierung der
Erwartungswerte dazu führt, dass eindeutige Werte für die Aktivitäten erzeugt werden können. 2. Exogene Schocks werden als
stochastische Terme, die den deterministischen Gleichungen hinzugefügt werden, simuliert. (Lorenz, 1990, S.185)
16
Erst die Existenz einer individuellen Präferenzenordnung eröffnet die Möglichkeit, verschiedene Güterkombinationen logisch
konsistent miteinander zu vergleichen. (Lorenz 1990, S.184)
17
Zum daraus folgenden Determinismus vermerkte Farmer (1991, S.105): "Rather they are 'atoms' who are assumed to act in
predictable ways to given Stimuli. Their preferences, reflected in a Utility function the Contents of which are deemed outside
the scope of economic explanation, or even, according to one now quite widely accepted if extreme version, given and immu-
table..., determine their actions in a mechanical way. And whilst real actors may differ from each other in their preferences,
the use of the concept of the 'representative actor' provides a convenient route to the development of economic modes which
can generate predictions analogously to those of classical mechanics."
18
Witt (1985, S.573)
19
Dieser Prozess ist mit einer Waage zu vergleichen, bei der auf der einen Seite ein Gewicht hinzugefügt wird. Sofort startet ein
Anpassungsprozess, in dem das freie Potential (im Sinne nicht erfüllter, individueller Pläne, welche durch eine korrespondie-
rende Überschussnachfrage reflektiert werden) verschwindet und ein neues Gleichgewicht erreicht wird. Vgl. Witt (1985,
S.573)
Seite 3
7. zu befassen, wie die freien Potentiale eliminiert werden, also statt der komplizier-
ten Dynamik der Marktinteraktion, welche (wenn überhaupt) die Koordination der
Wirtschafteinheiten erbringt, wird nur der behauptete Endzustand mit Hilfe einer
statischen Analyse betrachtet. Hinzu kommt, dass das Entstehen von freien Po-
tentialen ausschließlich durch exogene Schocks20 erklärt wird. Individuelle Anpas-
sungsprozesse finden so statt, dass ein neues Gleichgewicht mit perfekter Koor-
dination entsteht, genau wie dies analog in der klassischen Mechanik stattfindet21.
Diese Analogie macht in der Ökonomie nur dann Sinn, wenn das individuelle Ver-
halten sich rein reaktiv exogen verursachten Ereignissen anpasst.22
Die klassische Mechanik und der mit ihr aufgekommene Reduktionismus zeichne-
ten sich durch den Glauben an die Einfachheit indem Mikroskopischen und eine
statische Betrachtungsweise aus, die vor allem an räumlichen Strukturen interes-
siert war. Dies spiegelte sich, wie oben ausgeführt, in den Wirtschaftswissen-
schaften wider. Die Struktur einer Gesellschaft wurde als statisch ruhend, sich im
Gleichgewicht befindend angesehen23. Makroskopische Eigenschaften sind auf
die Eigenschaften der Komponenten und ihrer Konfiguration zurückführbar. In
einem echten System ergeben sich die Komponenteneigenschaften jedoch oft
nicht aus statischen Strukturen, sondern aus dynamischen Wechselwirkungen,
die innerhalb des Systems, ebenso wie zwischen System und Umwelt stattfin-
den24.
20
Hierdurch wird natürlich auch die Annahme einer in der Zeit invarianten Präferenzstruktur impliziert. Eine Änderung dersel-
ben entspräche ja einem endogenen Erklärungsansatz.
21
Somit beschreiben Prozesse in der Neoklassik die Zerstörung eines alten und die Etablierung eines neuen Gleichgewichtszu-
standes, wobei die das Gleichgewicht zerstörenden Kräfte von außen kommen, und die auf ein Gleichgewicht hinführenden
Kräfte als systemimmanent angenommen werden. Z.B. kann eine relative Ressourcenverknappung der Auslöser für einen sol-
chen sein. Die Neoklassik erklärt vor allem Prozesse auf ein Gleichgewicht hin, Prozesse von einem Gleichgewicht weg finden
kaum theoretische Betrachtung. Außerdem findet bei ihr eine Systembeschreibung in erster Linie als Systemzustandsbeschrei-
bung statt; die Prozesse, die auf ein Gleichgewicht hin (oder von ihm weg) führen sind von sekundärer Bedeutung. Es handelt
sich also vor allem um eine komparativ-statische Betrachtungsweise. Bei der Beschreibung von evolutorischen Prozessen, die
eine Aussage über Erklärungsvariablen machen muss, die sonst konstant gehalten werden (technologischer Fortschritt, struk-
turelle Aspekte, Bevölkerung, usw.) stößt sie an ihre Grenzen. Solche Prozesse haben in der neoklassischen Wachstumstheorie
und in der Kapitaltheorie folgende Charakteristika: 1. Der Prozess ist als relative Bewegungsänderung zwischen Ressourcen
definiert. 2. Die Ursachen für die Änderungen in den Ressourcenbewegungen sind exogen. 3. Die Anfangsbedingungen sind
beliebig. 4. Die ökonomische Dynamik ist durch ein deterministisches Trajektorgesetz definiert. 5. Die dynamischen Prozesse
sind (per Annahme) gleichgewichtig, bzw. die durch die exogenen Störungen herbeigeführten Ungleichgewichte konvergieren
über die Zeit auf einen Gleichgewichtszustand hin. Vgl. Dopfer (1990, S.26ff)
22
Der Tatsache, dass Ärger oder Unzufriedenheit nach all den Anpassungsprozessen zurückbleibt und das Individuum dazu
bringt, nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten, dass es also zu einer endogenen Störung des Gleichgewichts kommt,
wenn das Individuum nur innovativ genug ist, wird in der neoklassischen Theorie nicht Rechnung getragen. Bei einer reinen
Maximierung der Zielfunktion unter gegebenen Zwängen gibt es keinen Platz für Ärger oder Unzufriedenheit als Motivations-
quelle. Vgl. Witt (1985, S.574)
23
Vgl. Haken(1984, S.24)
24
Vgl. Jantsch(1984, S.55)
Seite 4
8. 3. Zum Paradigma der Selbstorganisation
Die Allgemeingültigkeit des gerade ausgeführten Paradigmas der klassischen
Mechanik wurde in dem gleichen Wissenschaftszweig, in dem es entstanden war,
nämlich der Physik, durch neue nicht mit ihm zu vereinbarende Entdeckungen in
Frage gestellt. Durch die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation - die Erkennt-
nis der Unmöglichkeit, sowohl Ort wie Geschwindigkeit eines beobachteten Teil-
chens gleichzeitig mit hoher Präzision zu bestimmen- kamen die ersten Zweifel
über die absolute Determiniertheit aller Prozesse25,26.
Im 19.Jahrhundert entstand mit der Thermodynamik eine makroskopische Be-
trachtungsweise, die sich mit ganzen Populationen von Teilchen beschäftigte. Die
dynamischen Aussagen wurden in Mittelwerten (Druck, Temperatur) von Bewe-
gungen einer großen Anzahl von Molekülen zusammengefasst. Die Ordnung des
Wandels (bzw. die Evolution des Systems) wird im 2ten Hauptsatz der Thermo-
dynamik (1850)beschrieben27: Die Entropie eines isolierten Systems kann nur
zunehmen, bis das System sein thermodynamisches Gleichgewicht erreicht. Ent-
ropie kann man dabei als Maß für die Qualität der im System befindlichen Ener-
gie bezeichnen bzw. als jenen Teil der Gesamtenergie, der nicht frei verfügbar ist
und nicht in einen gerichteten Energiefluss umzusetzen ist28,29. In einem isolierten
System nimmt die Entropie immer mehr zu (bzw. nimmt nicht ab), wobei eine Um-
kehrung dieser Zustandsänderung nicht möglich ist. Alle irreversiblen Prozesse
erzeugen Entropie30; ein isoliertes System bewegt sich auf einen Zustand maxi-
maler Unordnung hin31. Der Gewinn dieser Entdeckung war, dass mit der Er-
kenntnis der Irreversibilität von Prozessen die Begriffe Prozess und Geschichte
auftraten. Die Zeit erhält eine Richtung (die Zeitsymmetrie wird gebrochen), wobei
25
Die makroskopische Betrachtung der Dynamik kohärenter Systeme (Systeme deren Struktur nicht starr bleibt, sondern sich in
zusammenhängender Weise entwickeln) gewann für die Sozialwissenschaften immer mehr an Bedeutung. Dem stand die re-
duktionistische Ausrichtung der Physik entgegen, die alle Phänomene auf eine Erklärungsebene reduzieren wollte und sie im
Mikroskopischen, in der Grundstruktur der Materie zu finden hoffte. Wie Jantsch vermerkte, ist es "nicht ohne Ironie, dass die
Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation zuerst im subatomaren mikroskopischen Bereich formuliert wurde"; Jantsch (1984,
S.54)
26
Eine ausführlichere Darstellung derselben findet sich in Prigogine (1988; S.69f, S.90f)
27
Der erste Hauptsatz der Thermodynamik sagt aus, dass in einem abgeschlossenen System, in dem alle möglichen physikochemi-
kalischen Umwandlungen ablaufen können, die Gesamtenergie erhalten bleibt. (Haken, 1986, S.38)
28
Haken veranschaulicht den Begriff der Entropie anhand von zwei miteinander verbundenen Kästen und vier Molekülen: Es gibt
nur eine Möglichkeit, diese vier verschiedenfarbigen Moleküle in einen bestimmten Kasten zu tun; dagegen gibt es sechs Mög-
lichkeiten, sie in unterschiedlicher Zusammensetzung gleichmäßig auf beide Kästen zu verteilen. Das Boltzmannsche Prinzip
sagt nun aus, dass die Natur den Zustand anstrebt, bei dem die Zahl der Möglichkeiten, die Entropie, am größten ist. Wenn
die Moleküle in Bewegung sind, so werden sie den Zustand der Gleichverteilung anstreben. Die Wahrscheinlichkeiten, ein be-
stimmtes Molekül in einem der beiden Kästen anzutreffen, sind identisch; die Unsicherheit in diesem Zustand maximaler Un-
ordnung' ein bestimmtes Molekül in einem der beiden Kästen anzutreffen ist maximal, nämlich gleichwahrscheinlich; insofern
ist die Entropie ein Maß der Ordnung. Ein anderes Beispiel ist die Abbremsung eines Autos, bei der die vorher gerichtete Be-
wegungsenergie in Wärme umgewandelt wird; die Energie eines Freiheitsgrades wird auf sehr viele Freiheitsgrade verteilt.
Dieser Vorgang ist nicht umkehrbar. Die erzeugte niederwertige Energie kann nicht wieder völlig in höherwertige Energie
umgewandelt werden, mit der Folge, dass die Entropie im Gesamtsystem zunimmt. Vgl. Haken (1984, S.27ff).
29
Für eine ausführlichere Darstellung des Entropiebegriffs siehe Prigogine (1988; S.29ff, S.91ff, S.212ff)
30
Zur Fragestellung inwiefern ökonomische Systeme als Entropieerzeugende Systeme angesehen werden können siehe Spreng
(1984) sowie Swaney (1985)
31
Diese Erkenntnis der Entropiezunahme ließ die Vision vom unentrinnbaren Wärmetod' der Erde entstehen;
Vgl. Jantsch(1984, S.57)
Seite 5
9. der Prozess als eine Abfolge von ganzheitlichen Systemzuständen durch die Ver-
änderung eines einzigen mikroskopischen Systemparameters, der Entropie, dar-
gestellt werden kann. Jedoch handelt es sich, genau wie in der klassischen Me-
chanik, um ein Gleichgewichtssystem. Ein System ohne Umwelt wird eine beson-
dere Art der Selbstorganisation haben: Es evolviert auf seinen Gleichgewichtszu-
stand hin32. In der Thermodynamik führt die Irreversibilität zur Zerstörung von
Strukturen.
Die zweite Grundklasse physikalischer Systeme stellt ein relativ neues Erkennt-
nisobjekt der Naturwissenschaften dar: Es handelt sich um Ungleichgewichtssys-
teme einer bestimmten Art, nämlich um offene Systeme, die Energie und Materie
mit der Umwelt austauschen, und in denen sich spontan Strukturen bilden. Mit
solchen befasst sich die Theorie der selbstorganisierenden Strukturen, ein neuer
Forschungszweig, der seine dominantesten Ausprägungen in der Synergetik und
in der Theorie der dissipativen Strukturen hat.
3.1 Synergetik
Die Synergetik33 -ein von Haken formuliertes Kunstwort- befasst sich hauptsäch-
lich mit den Ablaufmechanismen in selbstorganisierenden Systemen.
Das Paradebeispiel der Synergetik ist der Laser34. Anschaulich lässt sich das
Phänomen des Laserlichts folgendermaßen erklären35: Zwei Spiegel, von denen
der eine teilweise lichtdurchlässig ist, schließen eine Neonröhre, die mit Edelgas-
atomen gefüllt ist, ab. Es handelt sich beim Laser um ein offenes System, da ein
ständiger Stromfluss aufrechterhalten wird36. Der elektrische Strom wird von frei
herumschwirrenden Elektronen getragen, die mit den Gasatomen zusammensto-
ßen. Dabei kann das 'Leuchtelektron' eines Gasatoms auf eine energiereichere
Bahn hinauf gestoßen werden. Von dieser kann es spontan, das heißt plötzlich,
ohne vorhersehbaren Zeitpunkt auf seine ursprüngliche Bahn zurückspringen. Die
dabei frei werdende Energie gibt es als Lichtwelle ab. Dies passiert bei unzähli-
gen Atomen gleichzeitig, es entsteht ein Knäuel von Wellenzügen. Bei Erhöhen
der Energiezufuhr, so müsste man annehmen, würde das Knäuel immer dichter37.
Durch die Spiegel jedoch werden die Lichtwellen dazu gezwungen, relativ lange
im Laser zu verbleiben. Eine schon vorhandene Lichtwelle kann andere angereg-
32
Während ein Pendel oder eine Waage, die von außen angestoßen bzw. beschwert werden, gute Beispiele für mechanische An-
passungsvorgänge ans Gleichgewicht sind, ist ein solches für die Thermodynamik ein mit Gas gefülltes Gefäß, welches durch
eine Trennwand mit einem leeren Gefäß verbunden ist. Zieht man die Trennwand heraus, so verteilt sich das Gas gleichmäßig
auf beide Gefäße. Vgl. Haken (1984, S.28f)
33
In Hakenscher Übersetzung : Die Lehre vom Zusammenwirken'
34
Die Lasertheorie gab auch den eigentlichen Anstoß zur Begründung der Synergetik, da es für ihn keine befriedigende theoreti-
sche Erklärung zu geben schien; Vgl. Haken (1986, S.35)
35
Vgl. Haken ( 1984, S.63ff)
36
Die zugeführte Energie besitzt hierbei keine besondere Struktur oder Qualität, so dass dem System kein geordneter Zustand
aufoktroyiert wird (inkohärente Energiezufuhr); Vgl. Haken ( 1986, S.44)
37
Ohne die Spiegel, also z.B. bei einer Neonröhre, würden alle Atome unregelmäßig und unabhängig voneinander Lichtblitze
emittieren, die sofort aus der Röhre austräten. Hierdurch entsteht auch der Eindruck des diffusen Lichts.
Seite 6
10. te Leuchtelektronen dazu zwingen, in ihrem Takt mitzuschwingen. Sie (ihr Wel-
lenberg) wird dadurch verstärkt. Die verstärkte Welle wiederum kann mehr und
mehr Leuchtelektronen in ihren Bann ziehen und diese zwingen, die Wellenberge
höher und höher schlagen zu lassen; es findet eine positive Rückkopplung statt:
Die Wirkung koppelt auf die Ursache zurück. Hier tauchen nun die Begriffe des
Ordners und der Versklavung auf, durch welche in der Synergetik die Gesetzmä-
ßigkeit beschrieben wird, die sich wie ein roter Faden durch alle Phänomen der
Selbstorganisation zieht.
Der entstehende Ordner in Form einer bestimmten Lichtwelle, die immer mehr
verstärkt wird, übt mehr und mehr Anziehungskraft auf noch in einem anderen
'Takt' schwingende Lichtwellen aus und versklavt38 sie dazu, im gleichen 'Takt'
mitzuschwingen. Umgekehrt aber bringen die Elektronen durch ihr gleichmäßiges
Schwingen erst die Lichtwelle, d.h. den Ordner hervor.
Am Anfang jeder Laserausstrahlung jedoch gibt es verschiedene Wellen, die mit-
einander in Konkurrenz treten, von den angeregten Elektronen Verstärkung zu
erhalten. Die Wellen erhalten diese nicht gleichmäßig, sondern es wird diejenige
Welle bevorzugt, die dem inneren Rhythmus der Elektronen am nächsten kommt.
Diese wird durch eine minimale Bevorzugung lawinenartig verstärkt und zieht
mehr und mehr auch die konkurrierenden Wellen in ihren Bann; dieser Prozess
endet damit, dass die gesamte Energie der Leuchtelektronen nur noch in eine
völlig gleichmäßig schwingende Welle geht: das Laserlicht.
Aus anfänglich spontan und zufällig erzeugten Wellen wird eine im Wettbewerb
selektiert39. Die Amplitude dieser Schwingung wird als Ordnungsparameter des
Systems bezeichnet, der die laseraktiven Atome versklavt, gemäß seinen Vorga-
ben zu schwingen. Sie genügt im Falle des Lasers einer nichtlinearen Differential-
gleichung40.
Der Übergang von anfänglich zufällig, ohne Bevorzugung für eine bestimmte Wel-
le, ausstrahlenden Elektronen (mit vielen Freiheitsgraden) zur Bevorzugung einer
bestimmten Welle (ein Freiheitsgrad) wird auch als Phasenübergang bezeichnet.
Dieser ist in zweifacher Hinsicht symmetriebrechend: Einmal, da die Symmetrie
aller Wellen (bezüglich der Bevorzugung durch die angeregten Elektronen) zu-
gunsten einer bestimmten Welle gebrochen wird. Zum anderen gibt es mindes-
tens zwei gleichberechtigte optimale Wellen, die dem inneren Rhythmus der
Elektronen entsprechen. Welche von diesen sich schlussendlich durchsetzt hängt
von den anfänglichen Fluktuationen ab, davon, welche optimale Welle zuerst ver-
38
Versklavung soll hier als bestimmte Folgebeziehung und nicht als Versklavung im ethischen Sinne verstanden werden; Vgl.
Haken ( 1984, S.20)
39
Hierin wird das für die Synergetik typische Wechselspiel von Zufall (zufällige anfängliche Wellen) und Notwendigkeit (Selektion
aus diesen) deutlich.
40
Hier ist es so, dass ein Ordnungsparameter überlebt. Sie können aber auch kooperieren und immer komplexere Strukturen
bilden; Vgl. Haken (1986, S.60)
Seite 7
11. stärkt wird und dann die Oberhand gewinnt.
Bei bestimmten Lasertypen kann bei weiterer Erhöhung der Energiezufuhr der geordnete
Zustand der normalen Lasertätigkeit ebenfalls instabil werden. Den dann entste-
henden Zustand kann man als eine noch höher geordnete Form der Atome be-
trachten: Der Laser sendet in regelmäßiger Folge gleichartige Lichtpulse aus. Es
findet kein Phasenübergang von Unordnung zu Ordnung statt, sondern von Ord-
nung zu Ordnung. Diese Phasenübergänge sind durch charakteristische Ände-
rungen in den Ordnungsparametern oder durch die Wechselwirkung mehrerer
Ordnungsparameter beschreibbar. Die oben erwähnte Einfachheit im Mikroskopi-
schen wird durch eine Einfachheit im Makroskopischen ersetzt.
Der synergetische Prozess ist hierbei zum einen von einer quantitativen Größe
abhängig: Erst wenn der Stromzufluss eine kritische Stromstärke überschritten
hat, setzt schlagartig der Phasenübergang von ungeordnetem Licht zu Laserlicht
ein. Außerdem spielt eine systemabhängige qualitative Größe eine Rolle: Erst
wenn die Anzahl der Laseratome im System eine bestimmte kritische Anzahl
überschreiten, ist die Möglichkeit gegeben, den selbstorganisatorischen Prozess
der Laserbildung in Gang zu setzen.
Ebenso hat die Umwelt des Systems einen entscheidenden Einfluss: Zwischen
die beiden Spiegel passen nur bestimmte Wellen. Wenn die Vorzugswelle der
Atome nicht passt, so wird eine gewählt, die dieser am nächsten kommt. Verän-
dert man den Abstand allmählich, so beginnen einige Elektronen spontan -in einer
Art Fluktuation- auf der nun möglichen Lieblingswelle ihre Energie zu entsenden.
Diese neue Welle erhält nun lawinenartig Verstärkung, die alte wird vollständig
fallengelassen41.
Für synergetische Prozesse in der Art des gerade dargestellten lassen sich zahl-
reiche Beispiele42 finden. Allgemein lässt sich die Synergetik als "die Wissen-
schaft mikroskopischer Raum-Zeit-Strukturen von Vielkomponentensystemen, die
sich aus miteinander Wechselwirkenden Einheiten zusammensetzen"43 bezeich-
nen. Die interdisziplinäre Universalität der Synergetik hat ihren Ursprung in den
vereinheitlichenden Konzepten der Modellbildung und Analyse dieser Phänome-
ne. Häufig wird das makroskopische Raum-Zeit-Verhalten durch die Dynamik we-
niger Ordnungsparameter beschrieben, worauf im späteren eingegangen wird.
Die generelle Ursache dieser Selbstorganisation liegt in dem Versklavungseffekt.
41
Bezüglich des Paradebeispiels' Laser vgl. Haken (1984, S.61ff;1986, S.35fi)
42
An solchen reich ist Hakens populärwissenschaftliche Darstellung synergetischer Phänomene (Haken, 1984). Dort werden
zahlreiche Phänomene in Biologie, Chemie, Physik, Gesellschaft und Wirtschaft aufgeführt, die analog zu den gerade darge-
stellten Ablaufmechanismen erklärt werden. Haken unterstreicht damit den interdisziplinären Anspruch der Synergetik.
43
Weidlich(1991, S.483)
Seite 8
12. 3.2 Dissipative Strukturen
Der Laser stellt ein System dar, dem ein Energiedurchsatz von außen aufge-
zwungen wird. Interessanter sind physikalisch-chemische Reaktionssysteme, die
den Energie- und Massedurchsatz im Austausch mit ihrer Umgebung ständig
selbst in Gang halten und global stabile Strukturen bilden. Dies sind die dissipati-
ven Strukturen im engeren Sinne des Wortes44.
Das Paradebeispiel für eine dissipative Struktur ist die Belousov-Zhabotinsky-
Reaktion45. Über viele Stunden lassen sich bei diesen so genannten chemischen
Uhren - die bei einer bestimmten Zusammensetzung eines chemischen Gemi-
sches entstehen- konzentrische oder spiralförmige Wellen beobachten, die äu-
ßerst regelmäßig auftreten. Die nötigen Bedingungen für eine solche spontane
Bildung von Strukturen sind: Offenheit gegenüber dem Austausch von Energie
und Materie mit der Umgebung, ein Zustand fern vom Gleichgewicht und auto-
bzw. krosskatalytische Prozesse. Letztere sind für positive Rückkopplungen und
damit für ein Verhalten verantwortlich, welches man in der Mathematik nichtlinear
nennt46. Freie Energie und Reaktionsteilnehmer werden importiert, während Re-
aktionsprodukte und Entropie exportiert werden47: Es liegt ein Stoffwechsel eines
Systems in einfachster Form vor; das System scheint nur an seiner Selbsterneue-
rung und an seiner eigenen Integrität interessiert. Indem es sein inneres Un-
gleichgewicht mit Hilfe eines Energie- Materieaustausches mit der Umwelt auf-
rechterhält (äußeres Ungleichgewicht), erneuert es sich ständig selber und hält so
ein spezifisches dynamisches Regime -eine global stabile Raum-Zeit-Struktur-
aufrecht.
Es ist bezüglich seiner Umweltbeziehungen48 offen, aber operational geschlos-
sen. Letzteres bedeutet, dass das System eine geschlossene Prozessorganisati-
on aufweist49'50. Dadurch gewinnt es eine gewisse Autonomie gegenüber der
44
Man spricht bei solchen Systemen von dissipativer Selbstorganisation, im Gegensatz zu konservativer Selbstorganisation, bei
der nur die anziehenden und abstoßenden Kräfte im System selbst eine Rolle spielen; Vgl. Jantsch (1984, S.61); siehe auch
Zhang (1991, S.31ff)
45
Vgl. Jantsch( 1984, S.61ff), Haken(1984, S.70ff; 1986, S.38ff)
46
Die Bevölkerungsexplosion in der Welt ist ein Beispiel für eine solche autokatalytische Nichtlinearität; Vgl. Jantsch (1984,
S.62)
47
Die Entropieänderung dS des Systems kann in eine innere Komponente djS (Entropieproduktion infolge irreversibler Prozesse)
und in eine äußere Komponente deS (Entropiefluss infolge Austausches mit der Umwelt) aufgespulten werden, mit dS=
djS+deS. Während d^S immer größer oder gleich null ist, kann deS beide Vorzeichen annehmen, womit die Gesamtentropie im
System auch abnehmen oder gleich bleiben kann; Vgl. Jantsch (1984, S.58)
48
Hierbei bezieht sich die Offenheit nicht nur auf den Austausch von Energie und Materie, sondern auch auf den Austausch von
Information und die Offenheit gegenüber Neuem. Dieser Austausch kann nur bei der Existenz eines inneren Ungleichgewichts
aufrechterhalten werden; im Gleichgewicht kommen die Prozesse zum Stillstand; Vgl. Jantsch (1984, S.64)
49
Im Gegensatz zur "klassischen' Beschreibung, bei der das System als komplexe Reaktionsmaschine für Umweltreize konzipiert
wurde, spielen in der neuen Systemtheorie rekursive Funktionen eine entscheidende Rolle: die Reaktion wird zum neuen Reiz,
die Wirkung zur Ursache"; Krohn( 1990, S.446f )
50
Viele dissipative Systeme weisen eine zyklische (kreisförmig geschlossene) Prozessorganisation, die durch den von Eigen so
benannten Hyperzyklus' dargestellt werden kann. So lässt sich auch die beispielhaft dargestellte Belousov-Zhabotinsky-
Reaktion als Hyperzyklus darstellen. "Ein Hyperzyklus ist ein geschlossener Kreis von Umwandlungs- oder katalytischen Pro-
zessen, in dem ein oder mehrere Teilnehmer zusätzlich autokatalytisch (selbstvermehrend) wirken....Der 'innere' Prozesskreis
erneuert sich ständig selbst und wirkt als Ganzes wie ein Katalysator, der Anfangs- in Endprodukte verwandelt ";Jantsch
Seite 9
13. Umwelt (es erhält seine ihm eigene Form und Größe unabhängig von der nähren-
den Umwelt)51. Die Reaktionen im System werden nicht mehr durch Informationen
aus der Umwelt hervorgerufen, sondern es sind beliebige Störungen, die zu ei-
nem Eigenverhalten des Systems führen. Das System erzeugt sein Verhalten
selbst52. Für diese Art selbstreferentiellen Systemverhaltens hat Maturana die Be-
zeichnung Autopoiese eingeführt53. Die gleichen Charakteristika, die die von Ma-
turana betrachteten Systeme aufwiesen, können in den dissipativen Strukturen
erkannt werden54. Ein autopoietisches System ist selbstorganisierend, selbster-
haltend und selbstreferentiell55.
(1984, S.64) wo auf den Hyperzyklus ausführlicher eingegangen wird.
51
Vgl. Jantsch (1990, S.164f)
52
Vgl. Krohn(1990, S.447)
53
"Maturana betrachtete biologische Zellen, also lebende Systeme, die sich ständig im Wechselspiel von anabolischen (aufbauen-
den) und katabolischen (abbauenden) Reaktionsketten erneuern und nicht über längere Zeit aus den gleichen Molekülen be-
stehen (Vgl. Jantsch, 1984, S.66). Ein autopoietisches System ist nach dieser 'Theorie der Autopoiese' ein System“, das zirku-
lär die Komponenten produziert, aus denen es besteht, das sich also über die Herstellung seiner Bestandteile selbst herstellt
und erhält. "(Roth, 1990, S.258) Es ist autonom gegenüber seiner Umwelt, d.h., obwohl energetisch und materiell offen, de-
terminiert es selbst seine Zustandsfolgen aufgrund seiner spezifischen internen Struktur. Solche 'strukturdeterminierten' Sys-
teme können zwar von außen angeregt, 'perturbiert', werden, durch diese Einwirkungen werden aber nicht die Zustandsfolgen
im System determiniert. Strukturdeterminiertheit und damit operationale Geschlossenheit kennzeichnen autopoietische Syste-
me und nach der Theorie Maturana’s völlig analog dazu auch die funktionale Organisation des Nervensystems. Dieses bzw.
das Gehirn sind sein zentrales Untersuchungsobjekt und Grundlage einer Kognitionstheorie, des "Radikalen Konstruktivis-
mus' [Schmidt (1990); siehe dort insbesondere: von Foerster (1990)].Das Gehirn kann über die Rezeptorenoberfläche der
Sinnesorgane nur 'erregt' werden, die Folgen dieser Erregung erfährt es nur als eine sich selbst organisierende relative Ver-
änderung neuronaler Zustände, denen es 'selbstreferentiell' verschiedene Bedeutungen zu schreibt. Vgl. Roth (1990, S.257ff;
1987, S.25ff), Maturana, (1990a), und Varela (1990) Letzterer geht ausführlich auf das Problem der organisationellen Ge-
schlossenheit ein.
54
Vgl. Jantsch (1990, S.164)
55
Zum abschließenden Verständnis die Definitionen nach Hejl (1990, S.306f): Selbstorganisierend sind Systeme, die aufgrund
bestimmter Anfangs- und Randbedingungen spontan als spezifische Zustände oder Folgen von Zuständen entstehen. Solche
Zustände oder Folge von Zuständen (Grenzzyklen) können in der formalen Theorie als Attraktoren verstanden werden. Es
muss nicht gleichzeitig selbsterhaltend sein, da seine Komponenten während des Prozesses zerfallen und nicht wieder neu ge-
bildet werden können. Selbsterhaltende Systeme sind Systeme, die sich gegenseitig und damit den ganzen Zyklus aufrechter-
halten. Sie erzeugen sich selbst in operational geschlossener Weise(A>B>C>A). Sie sind nicht an die Lebensdauer einzelner
Komponenten gebunden, und damit auch in dieser Hinsicht mehr als die Summe ihrer Teile. Selbstreferentielle Systeme sind
Systeme, welche die Zustände ihrer Komponenten in operational geschlossener Weise verändern. Hieraus folgert Heijl dass
selbsterhaltende Systeme notwendigerweise selbstreferentiell sind, der Umkehrschluss aber nicht gilt (z.B. das Gehirn).
Seite 10
14. 3.3 Deterministisches Chaos
"Irreversibility and unpredictability are not plausibly explained-only described. To the extent that a non-linear model
gives a better depiction of the actual surface of economic phenomena, it is indeed a superior description- but not a supe-
rior explanation, since it is no explanation at all."
Kurt Dopfer56
Nichtlinearitäten spielen bei selbstorganisierenden Systemen eine entscheidende
Rolle. Bei der Implementierung derselben in nichtlinearen Gleichungssystemen
zeigte sich, dass schon relativ einfache Gleichungssysteme ein sehr komplexes
und oft unvorhersehbares Verhalten hervorrufen können. Letzteres wurde auch
als Deterministisches Chaos bezeichnet und begründete ein neues Paradigma,
dass "dabei ist, den Charakter einer fächerübergreifenden Wissenschaft zu erlan-
gen"57,58 Die einfachste Chaosform kann durch eine Differenzenglaichung, die so
genannte Logistische Gleichung dargestellt werden.
Sie hat die Form: Xt+1 = Xt +k *(1-Xt)59. Bei kleinen k (k<2) wird jeder Anfangswert
auf einen von k abhängigen, eindeutigen Fixpunkt konvergieren. Dieser kann als
Gleichgewichtszustand60 bzw. in der formalen Theorie als Attraktor des Systems
verstanden werden61. Überschreitet der Parameter jedoch einen kritischen
Wert(k=2), so konvergiert das System von beliebigen Anfangswerten aus plötzlich
auf eine Oszillation zwischen zwei sich in Unendliche wiederholende Werte zu.
Diese Zweiteilung des ursprünglichen Fixpunktes wird Bifurkation genannt und
stellt die einfachste Form eines Grenzzyklus dar. Bei weiter steigendem k wird
auch dieser instabil und eine erneute Zweiteilung (Periodenverdopplung) tritt auf.
Der Bifurkationsprozess setzt sich fort -ader Attraktor wird immer komplexer- bis
schließlich der Übergang zum Chaos eintritt (k=2.57). Diese Zusammenhänge
lassen sich in einer spezifischen Grafik, dem Feigenbaum-Diagram darstellen 62.
56
Dopfer(1991, S.49)
57
Vgl. Schnabl (1991, S.559
58
Eine ausführliche Beschreibung des Deterministischen Chaos' findet sich in Gleick (1987), und Stewart (1989)
59
Die logistische Gleichung im engeren Sinne enthält nur den Veränderungsterm: X*k*(l-X).Sie ist hier leicht abgewandelt und
stellt die so genannte 'Verhulst-Gleichung' dar. Durch sie werden Wachstumsvorgänge, die an Kapazitätsgrenzen stoßen, all-
gemein beschrieben. Solche Vorgänge spielen auch in der Wirtschaft eine Rolle und sind explizit in den verschiedensten Be-
reichen der ökonomischen Modellbildung zu finden, worauf später, insbesondere bezüglich Diffusionsprozessen, noch einge-
gangen wird; Vgl. Schnabl (1991, S.561)
60
Typische Gleichgewichtsmodelle haben z.B. einen Fixpunktattraktor; Vgl. Schnabl (1991, S.560)
61
Es wird die für Wachstumsvorgänge typisch sigmoide Kurve simuliert; Vgl. Schnabl (1991, S.561)
62
Vgl.Gleick ( 1987, S.59ff) .Stewart ( 1989, S.155ff)
Seite 11
15. Abb. 1: Das Feigenbaum-Diagramm
Chaos bedeutet hier, dass man (für k>2.57) in den Iterationsfolgen, die durch die logistische
Gleichung erzeugt werden, keine Regelmäßigkeiten -sprich: keine Struktur- mehr erkennen
kann. Der deterministische Prozess kann unendlich viele Punkte anspringen, es wird ständig
neue Information produziert.
Nur wenn man um den Anfangswert bis unendlich viele Stellen hinter dem Komma wüsste,
ließe sich die Zustandsfolge erfolgreich prognostizieren: Der Prozess ist hochgradig anfangs-
wertsensibel(Abb.2). .
Abb.2: Anfangswertsensitivitat des Chaosprozesses, k=2.8
Seite 12
16. Jedoch konnte auch für diese deterministisches Chaos produzierenden Gleichungen eine
komplexe Struktur nachgewiesen werden, ein so genannter „strange attractor"63
Abb. 3: Die Entstehung eines Strange Attraktors
Obwohl die Suche nach deterministischem Chaos mittlerweile fast einen eigenen For-
schungszweig in der Ökonomie herausgebildet hat, der sich hauptsächlich mit der Irregulari-
tät von empirischen Zeitreihen beschäftigt64, sei hier nur die Eigenschaft der Anfangswert-
sensibilität herausgestellt. Ähnliche Ursachen haben nicht ähnliche Wirkungen zur Folge,
63
Dieser stellt einen mehrdimensionalen Attraktionsbereich dar, den das 'scheinbar' chaotische System nicht verlässt. Bei Differentialgleichungen
muss er mindestens dreidimensional sein, da sich in dem Fall, dass ein identischer Zustand ein zweites Mal erreicht wird, eine Zeitschleife
bilden würde: Das heißt, es wäre kein 'strange attractor', sondern ein Zyklus, der immer wieder durchlaufen würde. Man kann sich den
'strange attractor' wie ein Wollknäuel im dreidimensionalen Raum vorstellen, in welchem die Trajektorien unendlich nah beieinander liegen,
aber nie eine identische Position im Raum einnehmen; Vgl. Stewart(]989;S.137fr, S.172ff), Gleick (1987, S.l 19ff> Ein solcher Attraktor kann
z.B. durch das von Lorenz entwickelte Klimamodell erzeugt werden. Es besteht aus drei gekoppelten nichtlinearen Differentialgleichungen
erster Ordnung: dX= -s (X-Y) ; dY= -Y-XZ+ rZ; dZ= -bZ+XY. Für bestimmte Parameterwerte entsteht der so genannte Lorenz-Attraktor, der
die Form eines abstrahierten Schmetterlings aufweist; Vgl. Mitschke(1991, S.97f); Gleick (1987, S.28). Ein von Goodwin (1990) auf Basis ei-
nes Räuber- Beute- Modells entwickeltes ökonomisches Wachstumsmodell fuhrt zum sog. Rösler- Attraktor; Vgl. ebenda, siehe auch Radzicki
(1990, S.69fT).
64
"Da oftmals nur eindimensionale Zeitreihen vorliegen, kann man diese verdreifachen und zueinander versetzen. Mit dem Vektor(X t_2>X t.i, X
t) kann so ein dreidimensionale Zeitserie betrachtet werden; Vgl. Stewart (1989, S.184ff). Die Frage nach der Relevanz des Chaosparadigmas
richtet sich nach der Beweisbarkeit seiner Existenz, z.B. in ökonomischen Zeitreihen, wobei deren Irregularität sowohl als stochastisches als
auch als chaotisches Phänomen interpretiert wird. Der Nachweis von echtem Chaos setzt einen Fraktalcharakter (gebrochene Dimension) des
seltsamen Attraktors oder eine exponentielle Distanzentwicklung von Punkten des Attraktors voraus. Ersteres entspricht einem geknüllten Pa-
pier, das den dreidimensionalen Raum nicht dicht füllen kann, aber offensichtlich eine dritte Dimension mit heranzieht. Letzteres läuft auf ein
Verfahren zur Berechnung des Lyaponov-Exponenten hinaus[ Vgl. Schnabl (1991, S.564f). Insbesondere Aktienkursindexe, die in der Regel
täglich vorliegen, bieten ein beliebtes Untersuchungsobjekt; siehe z.B. Drepper (1989). Aber auch in die ökonomische Modellbildung fand das
'deterministische Chaos' Einlass; Vgl. Kelsey (1988), Day(1982), Gabisch(1989); allgemeinen Betrachtungen zur ökonomischen Chaosfor-
schung finden sich in Lorenz( 1990 und insbesondere 1992), zu einer Kritik des Ansatzes siehe Dopfer(1991).
Seite 13
17. zwei nah aneinander liegende Anfangswerte können völlig unterschiedliche Entwicklungs-
pfade produzieren65. Diese Erkenntnis misst der späteren Betrachtung von Fluktuationen
bzw. des Nichtdurchschnittsverhaltens in komplexeren nichtlinearen Systemen eine neue
Bedeutung zu.
3.4 Nichtlineare Modellbildung
Die Untersuchung dieser neuen und vielfältigen Phänomene, die durch solche Systeme er-
zeugt werden, ist wegen der entscheidenden Rolle der Nichtlinearitäten nur in aufwendiger
Weise mit Computern möglich, da man erst sehr viele Fälle im Einzelnen durchrechnen
muss, bevor sich ein Gesamtbild des nichtlinearen Verhaltens zeigt. Der von der Brüsseler
Schule anhand einer krosskatalytischen chemischen Reaktion modellierte Brusselator stellt
"den einfachsten Fall dar, um zu kooperativem Verhalten im Sinne dissipativer Strukturen zu
gelangen"66. Hier sind A, B, D und E die Ausgangs- und Endprodukte, deren Konzentratio-
nen konstant gehalten werden, während sich die Konzentrationen der Zwischenverbindun-
gen X und Y zeitlich ändern können67 :
Abb.4: Grenzzyklus-Verhalten des Brusselators'
Dieselbe periodische Trajektorie wird für verschiedene Anfangsbedingen erhalten. (S bezeichnet einen instabilen stationären Zustand.)
65
Lorenz, der sich mit dem Wetter befasste und dies auch durch ein nichtlineares Gleichungssystem zu simulieren suchte nannte dies metapho-
risch den Butterfly-Effekt'; VgI. Gleick (1987,S.10ff). Er bezog sich damit auf die Vorstellung, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in
Mexiko einen Hurrikan in Japan auslösen kann Die Nichterfassung dieses Flügelschlags' (also einer unendlich kleinen Perturbation in dem
Anfangswert eines Modells) führt zu langfristig völlig falschen Prognosen. Dies trifft nach Kelsey auch für die Betrachtung der ökonomischen
Realität zu: Economics and weather forecasting have a lot in common...both are trying to predict the outcomes of very large Systems, the
components of vvhich mutually interact in complex ways. The Output of both Systems has a seemingly random appearance, even though there
are certain other regularities (e.g., weather is hotter in summer than Winter, also there is higher employment )"; Kelsey (1988, S.I). "Chaos
und sensitive Abhängigkeit in ökonomischen Prozessen" war auch Thema eben des gleichnamigen Artikels von Stahlecker (1991)
66
Jantsch(1984, S.68)
67
Es ist hier übrigens die dritte Gleichung, welche die (autokatalytische) Nichtlinearität repräsentiert Vgl zum Folgenden Pngogine (1988,
S.l!2ff), Jantsch (1984, S.68IT). Zu Einzelheiten siehe Nicolis und Prigogine (1977).
Seite 14
18. Das System kann einen homogenen stationären Zustand annehmen (mit A=X und Y=B/A).
Überschreitet jedoch z.B. B einen kritischen Wert (B>l+A^), so führt dieses zu einem Grenz-
zyklus, d.h. jeder beliebige Anfangspunkt im X-Y-Raum nähert sich derselben periodischen
Bahnkurve (Abb.4).
Wenn man nun zwei Behälter betrachtet und einen Austausch von Materie zwischen ihnen
zulässt (der durch zwei Diffusionskoeffizienten Dx und Dv bestimmt wird68) , so zeigt sich,
dass unter geeigneten Bedingungen der thermodynamische Zustand einer identischen Kon-
zentration von X und Y instabil wird, und eine Symmetriebrechende dissipative Struktur ent-
steht (Abb.5)69
Abb. 5: Eine zufällige Schwankung führt zu verschiedenen Endzuständen
Eine Störung der Konzentration von Y im Behälter 2 (Y2) «in den homogenen Zustand erhöht die Produktionsrate von X in demselben
Behälter (X2) entsprechend der Autokatalyse. Dieser Effekt verstärkt sich so lange, bis ein neuer Zustand erreicht wird, der die räumliche
Symmetrie (gleiche Konzentrationen Xj und X2, Yj und Y2) bricht.
Eine Fluktuation um den Gleichgewichtszustand löst diesen symmetriebrechenden Prozess
68
Man erhält dann vier Gleichungen: dX,/dt= A + X(2Y, - BX]-X,+DX (X2-X,) dY,/dt=BXI-X12Y1+Dy(Y2-Yi)dX2/dt=A+X22 Y2-BX2-X2+DX(X j
-X2)dY2/dt=BX2-X22Y2+Dy(Y1-Y2)
69
Wenn ein stationärer Zustand Xj>X2 möglich ist, so ist der symmetrische Zustand X2>Xj ebenfalls möglich; die makroskopischen Gleichungen
zeigen nicht an, welcher Zustand gewählt worden ist. Da beide Zustände gleichwahrscheinlich sind, spricht man von einer Bifurkation ' (Auf-
gabelung) in (hier zwei) mögliche Entwicklungspfade; welcher der beiden eingenommen wird, wird durch die (hier per Definition) zufälligen
Schwankungen um den Gleichgewichtszustand entschieden. Ähnlich dem 'Bifurkationsbaum' (Abb. 1) "the structures of dissipative Systems
merely define the 'possibilities and limits' or the 'bundle of paths' that may be taken after a bifurcation, but not the particular paths that will be
taken. The theory of self-organizing Systems, however, can also explain the way in which Systems become unstable and pass through bifurca-
tion points"; (Radzicki, 1990, S.83f)
Seite 15
19. aus, wobei die Systeme mit gebrochener Symmetrie, wenn sie erst einmal hergestellt sind,
gegenüber geringfügigen Schwankungen in ihren Konfigurationen stabil sind. Durch dieses
Beispiel wird zum einen das selbstorganisatorische Prinzip der Ordnung durch Fluktuation
(Schwankungen) verdeutlicht70 ,also die Interaktion von deterministischen und stochasti-
schen Elementen71; zum anderen wird die klassische Entsprechung von Fixpunkt, Stabilität
und Gleichgewicht in der Theorie der Selbstorganisation durch das formale Konzept des At-
traktors und Stabilitätskontrolle desselben durch Fluktuationen und Fließgleichgewichte er-
setzt.
4. Die Übertragung auf sozioökonomische Systeme
"We felt it before in sense; but now we know it by science"
E. Misselden72
4.1 Warum Übertragung?
Die naturwissenschaftliche Theorie der Selbstorganisierenden Strukturen wurde hier deswe-
gen so ausführlich geschildert, weil die spontane Ordnung ja auch in den Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften ein zentrales Thema ist. Wie entsteht ein geordnetes Ganzes - ohne
dass es in seiner spezifischen Form von irgendjemanden bewusst gewollt oder herbeigeführt
wurde- aus einer Vielzahl von individuellen Entscheidungsprozessen und welche spezifische
Form hat es73? Hieraus erwächst die Frage nach der Beziehung zwischen individuellem Ver-
halten und kollektiven Phänomenen, mit der sich von Smith's „invisible hand“74 über Menger,
Hayek75, Sudgen76 und Schelling77 die verschiedensten Autoren auseinandergesetzt haben.
Was jedoch fehlte, war einerseits ein modelltheoretisches Fundament78, andererseits die
70
Die Fluktuationen testen gewissermaßen die Stabilität eines stationären Ordnungszustandes (z.B. den Punkt S in Abb.2) und treiben (bei Insta-
bilität) das System in Richtung eines Neuen (von mehreren möglichen), diesen Fluktuationen gegenüber stabilen, Ordnungszustands ( Zu-
standsfolge). Jedoch ist auch dieser nicht aus sich heraus stabil. Hier wurden nur Fluktuationen um X und Y betrachtet, also Schwankungen
um die Durchschnittskonzentration X und Y. Es kann auch zu Fluktuationen in den Mechanismen kommen, die zu einer Modifikation des kine-
tischen Verhaltens (Reaktions-, Diffusionsraten) fuhren. Diese können intern durch positive Rückkopplung herausgebildet werden oder das
System von außen treffen, z. B. durch Beifügen eines neuen Reaktionsteilnehmers. Dies entspricht dann einer qualitativen Änderung in der dy-
namischen Existenz des Systems; Vgl.Jantsch (1979, S.77ff)
71
According to the theory of self-organisation, most real-life open Systems fluctuate around their steady-states, because of the non average or
random behaviour of some of their microscopic elements, or because they exist in nonhomogenous environments"; Radzicki (1990, S.82)
72
Zitiert in Grübler (1991, S.1)
73
Oder wie Hayek es ausdrückte:" the problems which they (Wirtschafts- und Sozialwissenschaften) try to answer arise in so far as the conscious
action of many men produce undesigned results, in so far as regularities are observed which are not the result of anybody's design. If social
phenomena showed no order except in so far as they were consciously designed, there would be no room for theoretical sciences of society...It
is only in so far as some sort of order arises as a result of individual action but without being designed by any individual that a problem is
raised which demands theoretical explanation"; Hayek (1942, S.288)
74
Es ist die unsichtbare Hand, durch die' man is led to promote an end which was no part of his intention'; Smith zitiert in Hayek (1967b, S.99).
Oder wie Witt es praktischer formulierte, ist ein " core problem in economics, the question of how, and to what extent, individual economic in-
teractions in the markets are self-coordinating or -to use the classical metaphor- are guided by an 'invisible hand'. This old economic problem
can ...be seen as an example of'self-organisation'" ;Witt ( 1985, S.570);Siehe auch Silverberg (1988, S.532):"Thus the theory of self-
organisation also addresses the fundamental question raised by Adam Smith in economics: how do coherent market Solutions emerge from the
uncoordinated pursuit of self-interest of individual agents?"
75
Vgl. Hayek(1967a,1967b, 1972)
76
Vgl. Sudgen (1989
77
Vgl. Schelling (1978)
78
"Eine ernsthafte Systemtheorie muss erklären können, wie ein System, das aus bestimmten Komponenten und aus bestimmten Eigenschaften
aufgebaut ist, als System Eigenschaften entwickeln kann, die sich von den Eigenschaften der Komponenten zum Teil grundsätzlich unterschei-
Seite 16
20. Möglichkeit, komplexe, teilweise indeterminierte Strukturen, die aus unzähligen, sich gegen-
seitig beeinflussenden Prozessen entstanden, auch praktisch (und damit widerlegbar) in ein
solches einzubinden. Während ersteres nun durch Theorie der Selbstorganisierenden Struk-
turen entwickelt worden war, spielte für letzteres der Eintritt ins Computerzeitalter eine ent-
scheidende Rolle. Es stellt sich nur die Frage, ob bzw. inwieweit die in Physik (Synergetik),
Chemie (dissipative Strukturen) und Biologie (Autopoiese; lebende Systeme) gewonnenen
Erkenntnisse bezüglich Selbstorganisierender Strukturen auf soziale Systeme übertragbar
sind.
4.1.1 Analogie sozialer Systeme zu autopoietischen Strukturen?79
Die weitestgehende Analogie ist wohl die, soziale Systeme selbst als autopoietische Syste-
me anzusehen.80 Zur Verdeutlichung der Problematik gebe ich hier eine kritische Auseinan-
dersetzung Hejl's mit dem Übertragungsversuch autopoietischer auf soziale Systeme wie-
der81 (in den Fußnoten findet sich eine Kritik dieser Kritik durch Troitzsch).
Hejl's Ansatzpunkt ist die Frage, ob die Begriffe der Selbstorganisation, Selbsterhaltung und
Selbstreferentialität im gleichen Sinne, in dem durch sie Prozesse in lebenden Systemen
bezeichnet wurden82, auch soziale Systeme kennzeichnen:
1. Sind sie selbstorganisierend?
Selbst wenn man den riesigen Komplexitätsunterschied zwischen physikalisch-
chemischen und sozialen Systemen nicht berücksichtigte, gäbe es bei ersteren nichts,
was bei der spontanen Bildung neuer Sozialsysteme dem Rückgriff der Teilnehmer auf
ihre jeweiligen Erfahrungswelten (auf die sozial definierten Realitäten) entspräche.
Außerdem seien die Menschen als Komponenten sozialer Systeme aufgrund ihrer Histo-
rizität und Komplexität nicht so einheitlich wie die Komponenten physikalischer oder
chemischer selbstorganisierender Systeme. Damit könnte die Entstehung eines spezifi-
schen sozialen Systems nicht wiederholt werden.83
den"; Roth ( 1987, S.25)
79
Einleitend zu folgendem Kapitel siehe auch Maturana (1990b). Im Folgenden wird der begriffliche Unterschied zwischen autopoietischen Sys-
temen und autopoietischen Strukturen vernachlässigt, obwohl ihm nach Laszlo (1987, S.128ff) insbesondere bei der Betrachtung der Evoluti-
on der Gesellschaft eine entscheidende Bedeutung bezüglich der Anwendbarkeit des Begriffs der Autopoiese auf die Gesellschaft zukommt.
Dies wird im letzten Kapitel dieser Arbeit (Selbstorganisation=Evolution) noch einmal in einer Fußnote aufgegriffen.
80
In 'das' soziale System ist das Wirtschaftssystem natürlich eingebettet. Der Begriff des sozialen Systems ist hier und im folgenden ein Synonym
für sozioökonomisches System. Luhmann hat die oben skizzierte Theorie autopoietischer Systeme auf soziale Systeme übertragen, wobei er das
entscheidende Merkmal, nämlich dass sie ihre eigenen Elemente durch die selbstorganisierende Interaktion ihrer Elemente autonom produ-
zieren und reproduzieren können, als gegeben ansieht. Für ihn ist das Grundelement Kommunikation, und demzufolge die Gesellschaft ein
sich selbst produzierendes und zirkulär reproduzierendes Kommunikationssystem; Vgl. Luhmann (1984); Zu einer Kritik, siehe Buteweg
(1988, S.38ff)
81
Vgl. Hejl (1990, S.321ff;1987, S.63ff )
82
Zu den Definitionen siehe obige Fußnote.
83
Dem zweiten Argument entgegnet Troitzsch, dass auch in Physik und Chemie (außer bei streng kontrollierten Experimenten im Laboratorium)
unterscheidbare Individuen' der gleichen Art miteinander interagieren: So würde jedes Tiefdruckgebiet, wie auch verschiedene Laufe des
gleichen Simulationsmodells, verschieden von seinem jeweiligen Vorgänger oder Nachbarn sein. Soziale Systeme und ihr Komponenten wür-
den sich lediglich in einer größeren Anzahl von Merkmalen unterscheiden^ Vgl. Troitzsch,1991, S.524)
Seite 17
21. 2. Sind sie selbsterhaltend?
Soziale Systeme erzeugten nicht die lebenden Systeme, welche die sozialen Systeme
konstituieren (jedenfalls nicht im physischen Sinne)84. Eine Fußballmannschaft z.B. er-
zeuge nicht ihre Mitglieder85.
3. Sind sie selbstreferentiell?
Der Zustand eines Neurons oder eine Gruppe von Neuronen wird ausschließlich von
dem selbstreferentiellen System Gehirn - dessen Teil es ist- beeinflusst, während Kom-
ponenten eines sozialen Systems von anderen sozialen Systemen beeinflusst werden,
deren Teile sie gleichzeitig sind. Der entscheidende Unterschied liege also darin, dass
die Komponenten eines sozialen Systems gleichzeitig auch Komponenten anderer sozia-
len Systeme sein könnten (Abb.6)86:
Abb. 6: Schema der Verknüpfung sozialer Systeme
Weil die menschliche Gesellschaft so komplex ist, erscheint es für Hejl sinnvoll, einen Unter-
schied zwischen Selbstreferentialität und Synreferentialität zu machen: Erstere findet man in
einer Welt von undifferenzierten Systemen, die keine Subsysteme gleicher Art wie sie selbst
haben, während die zweite eine Welt von Systemen repräsentiert, die aus vielen verschiede-
nen und einander überlappenden Subsystemen auf verschiedenen Ebenen besteht. Das
84
Dieser Schwierigkeit kann man auch dann nicht entgehen, wenn man Handlungen oder Kommunikation als Komponenten sozialer Systeme
wählt. Dieses tut z.B. Luhmann, demzufolge die Gesellschaft ein sich selbst produzierendes und zirkulär reproduzierendes Kommunikations-
system ist; Vgl. Luhmann (1984). Doch selbst, wenn man von einer Systemkonzeption ausgeht, in der Handlungen Handlungen erzeugen, so ist
doch zumindest ein kognitives System notwendig für das diese Handlung etwas bedeutet, und deshalb eine auf sie bezogene Handlung er-
zeugt(Das gleiche gilt für Kommunikation); Vgl. HejI (1990,S324)
85
Dem setzt Troitzsch entgegen, dass auch lebende Systeme als Ganze nicht ihre Zellen erzeugen, dies geschieht vielmehr durch Zellteilung; Vgl.
Troitzsch (1991, S.524f)
86
Vgl. Hejl(1990, S.325)
Seite 18
22. Merkmal, das ein soziales System am stärksten von anderen Systemen unterscheidet, ist die
notwendige Ausbildung von parallelisierten Zuständen in den interagierenden lebenden Sys-
temen, welche die Basis sozial erzeugter gemeinsamer Realität bilden. Diese parallelisierten
Zustände sind Resultate sozialer Interaktionen und die Bedingungen für weitere Interaktio-
nen der gleichen Art. Eine Entsprechung dieser Zustände ist weder durch eine Betrachtung
der isolierten Individuen (Individualismus) noch durch eine Nichtberücksichtigung derselben
(Holismus) zu rekonstruieren. Der zentralen Rolle dieser sozial ausgebildeten Zustände we-
gen schlägt Hejl vor, soziale Systeme als synreferentiell zu bezeichnen87.
Abschließend vermerkt er, dass die Phänomenologie sozialer Systeme nach der Schaffung
einer eigenen Modellklasse verlangt88. Seiner Sichtweise zufolge entstehen soziale Systeme
durch die Interaktion autopoietischer Systeme, sind selber aber nicht autopoietisch. Die Ge-
sellschaft selber kann als Netzwerk sozialer Systeme verstanden werden89.Da zum einen die
Konsequenzen eines solchen Verständnisses sozialer Systeme Hejl selbst nicht klar sind,
und zum anderen vor allem die Unterschiede zwischen sozialen und dissipativen, bzw. le-
benden Systemen durch diese Sichtweise betont werden, möchte ich im folgenden auf die
verschiedenen (trotz aller Schwierigkeiten) unternommenen Versuche eingehen, die in den
Naturwissenschaften entwickelten Konzepte auf wirtschafts- und sozialwissenschaftliche
Probleme zu übertragen:
4.1.2 Analogie sozialer Systeme zu dissipativen Strukturen?
In beiden Fällen besteht das Untersuchungsobjekt aus einer Vielzahl beteiligter individueller
Einheiten, die ihr Verhalten nicht völlig autonom und losgelöst nach eigenem Gutdünken
festlegen, sondern von anderen Einheiten dieses Systems beeinflusst sind und mit ihnen in
wechselseitigem Zusammenhang stehen. Ebenso sind beide als offene Systeme zu betrach-
ten, die in eine Umwelt eingebettet sind und von dort Einwirkungen erfahren, die ihre weitere
Entwicklung beeinflussen90; und last but not least geht es in beiden Fällen um sich ausbil-
dende Strukturmuster91.
Vieles scheint - wie im folgenden anhand von selbstorganisierenden, sozioökonomischen
Modellen gezeigt wird- darauf hinzudeuten, dass die fundamentalen naturwissenschaftlichen
Gesetzmäßigkeiten der Selbstorganisation ihre Entsprechung in sozioökonomischen Syste-
87
Damit lässt sich der Unterschied nur zwischen 'Selbst-" und 'Syn-', und nicht zwischen 'referentiell' und 'nicht-referentiell' zu machen; Troitzsch
(1990, S.525)
88
In dieser müssten folgende Eigenschaften sozialer Systeme zusammengefasst bzw. berücksichtigt sein: 1. Die Komponenten, die selbst lebende
Systeme sind, sind frei an der Konstitution eines spezifischen Systems teilzunehmen. Tun sie es, so verlieren sie trotzdem nicht den Charakter
als Individuen. Sie konstituieren stets eine Mehrzahl von sozialen Systemen zur gleichen Zeit. Dadurch organisieren im Unterschied zu selbst-
referentiellen Systemen soziale Systeme nicht alle Zustände ihrer Komponenten und legen damit nicht die jeweilige systemrelative Realität
fest, die den Komponenten zugänglich ist. Soziale Systeme erzeugen ihre Komponenten in physischer Hinsicht nicht selber. Im Gegensatz zu
den Komponenten biologischer Systeme haben alle Komponenten sozialer Systeme direkt Zugang zur Umwelt des jeweiligen sozialen Systems;
Vgl. Hejl (1990, S.326f)
89
Vgl. Buteweg (1988, S.40)
90
Wie Silverberg (1988, S.532) es ausdrückte: " the economic System in a biophysical sense is certainly open, dependent on inputs of energy and
information to maintain the processes of circular flow traditionally analysed by economic theory."
91
Vgl. Erdmann (1989, S.241f).
Seite 19
23. men haben. Dieses setzt jedoch keine oberflächliche Analogie voraus, "asserting a one-to-
one correspondence between biological/physical phenomena and economic ones. Rather it
implicates similar causal patterns of, for example, competition, Cooperation, and the gene-
ration of variety operating in the 'deep structures' of both systems"92.
Während im vorangehenden Kapitel vor allem deutliche Unterschiede bezüglich der Charak-
teristika der Systeme in ihrer Gesamtheit (also aus holistischer Sicht) aufgezeigt worden
sind, tritt nun der aus individualistischer Sicht wesentliche Unterschied in den Vordergrund:
In physikalischen Systemen liegt ein detailliertes theoretisches Verständnis des Verhaltens
der elementaren Einheiten und der Art der Interaktion vor93. Außerdem werden homogene
Mengen betrachtet, d.h. die betrachteten Teilchen unterscheiden sich nicht voneinander94:
Dahingegen sind die individuellen Elemente sozialer Systeme ungleich komplexer und vor
allem heterogener95. Abgesehen davon, dass man sowohl über die präzisen Zustände96 die-
ser als auch über die Dynamik des individuellen Verhaltens und die Interaktionen selbiger
viel weniger weiß als über die der physikalischen oder chemischen Elemente, kommt ein
noch fundamentalerer Unterschied hinzu: Im Gegensatz zu den mikroskopischen Einheiten
in physikalisch/chemischen Systemen können die individuellen Einheiten in sozialen Syste-
men neben unbewussten auch bewusste zielorientierte strategische Entscheidungen tref-
fen97.
Dieser Unterschied ist aus systemtheoretischer Sicht jedoch dann nicht mehr relevant, wenn
unterstellt wird, dass auch das Individualverhalten sozioökonomischer Systeme wesentlich
auf übergeordneten Gesetzmäßigkeiten (Invarianten) beruht. Ohne eine solche paradigmati-
sche Unterstellung wäre eine systematische - also über die reine Deskription hinausgehen-
de- wissenschaftliche Erforschung kollektiver Phänomene kaum möglich, womit der Erkennt-
nisfortschritt recht beschränkt bliebe98.
92
Silverberg(1988, S.532). Vor einer oberflächlichen Analogiefindung warnt auch Witt, der sich mit Marktprozessen beschäftigte: "Trying to
transfer specific concepts and formalisms of the phenomena of self-organisation in the natural sciences to the problem of economic coordina-
tion would therefore run the risk of stretching the analogy too far. ...economists should be sceptical with respect to such analogies. Many of
the fictions and shortcomings in the present understanding of the market process seem to be the result of another analogy suggested by the
neoclassical writers in economics...: the analogy between their equilibrium approach to the economic coordination problem and classical me-
chanics; “Witt (1985, S.572). Diese Vorsicht sollte man natürlich nicht nur hinsichtlich des Problems der Marktkoordination walten lassen.
93
Zwar fehlt das präzise Wissen um den genauen Ort eines bestimmten Teilchens zu einem bestimmten Zeitpunkt (quantentheoretische Unbe-
stimmtheit, s.o.), es können aber relativ genaue statistische Beschreibungen der Zustände angegeben werden (Wahrscheinlichkeit, ein be-
stimmtes Teilchen an einem bestimmten Ort zu vorzufinden); Vgl. Witt (1985, S.571)
94
Das dies nur für sehr einfache physikalische oder chemische Komponenten selbstorganisierender Systeme zutrifft, ebenso wie die Annahme,
dass Experimente unter exakt den gleichen Bedingungen wiederholbar sind, wurde schon oben vermerkt; Vgl. Troitzsch (1990, S.525). Ob des
großen Komplexitäts- und Heterogenitätsunterschieds -der hier herausgestellt werden soll- kann die Annahme der Homogenität aber als Ver-
einfachung aufrechterhalten werden.
95
Abgesehen von den vererbten Unterschieden zwischen Menschen kommt ja eine noch vielschichtigere Differenzierung durch die jeweiligen
prägenden und spezifischen Erfahrungswelten hinzu.
96
Zustände sind hier im Sinne von gewählten Handlungen zu verstehen.
97
Ebenso können sie ihr Verhalten als eine Konsequenz von systematischem Lernen ändern als auch 'innovieren', d.h. neue Verhaltensmoden
kreieren; Vgl. Witt (1985, S.572). Während ersteres (wie später anhand von Diffusionsmodellen' gezeigt wird) als Informationszugewinn
(Konvergenz auf vollständige Information) in selbstorganisatorischen Modellen antizipiert werden kann, stellt letzteres eine besondere Prob-
lematik dar, da durch Innovationen' evolutorische Prozesse in Gang gesetzt werden.
98
Hierdurch werden die individuellen Verhaltensmuster für hinreichend stabil erklärt, um auf der Makroebene einer quantitativen bzw. qualitati-
ven Analyse zugänglich zu werden; Vgl. Erdmann (1989, S.242)
Seite 20
24. Die Betrachtung sozialer Interaktionsmuster, die in der neoklassischen Theorie zugunsten
des homo oeconomicus vernachlässigt worden war (s.o.), rückt nun in den Mittelpunkt der
Betrachtung. Für interdependentes Handeln gibt es viele Gründe. Hier seien stellvertretend
nur zwei genannt99: Zum einen ziehen soziale Interaktionen wechselseitige Handlungsrestriktio-
100
nen nach sich, bzw. bestimmen die Handlungsspielräume der jeweils anderen . Zum anderen
scheinen nicht nur die Handlungsspielräume, sondern auch die subjektiven Präferenzen
durch den sozialen Kontext entscheidend beeinflusst zu werden, was anhand der Informati-
onsproblematik besonders deutlich wird: Die Informationsbeschaffung, die als Voraussetzung
rationaler Entscheidungen gilt, ist mit (oftmals hohen) Kosten verbunden. Daher wird sich die
Nachfrage nach Informationen nicht am Maximum des Möglichen, sondern am Optimum ori-
entieren: die Entscheidungen werden trotz Informationslücken getroffen101. In solchen Situa-
tionen besteht eine nachweisliche Präferenz dafür, die individuelle (durch die Informationsde-
fizite subjektive) Entscheidung auf Urteile solcher Menschen und Institutionen zu stützen, die
einerseits für kompetent angesehen werden, und bei denen man andererseits eine ähnliche
individuelle Präferenzstruktur vermutet wird102. Indem man sich an deren Ratschlägen und
Empfehlungen orientiert, bleibt es einem erspart, selbst die gesamte Informationsflut verar-
beiten zu müssen103;104.
Sozioökonomische Systeme werden demzufolge vor allem dann Analogien zu dissipativen
Strukturen aufweisen, wenn das soziale Umfeld eine entscheidende Rolle bezüglich des in-
dividuellen Entscheidungsverhalten und damit auch des Systemverhaltens spielt. Dies gilt
99
Vgl. zum folgenden Erdmann (1989, S.242ff)
100
Dies lässt sich direkt aus dem Postulat der Knappheit ableiten, durch welches ja erst ein wie auch immer geartetes ökonomisches System not-
wendig wird, um die Allokation bzw. die Verteilung der knappen' Ressourcen zu regeln. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ich einen Apfel kaufe
und esse, so kann dieser von keinem anderen mehr gekauft und gegessen werden. Oder man stelle sich ein Aquarium mit begrenztem Raum
und begrenztem Futterzustrom vor: Die Restriktionen des Systems werden direkt auf den Wachstum des Fischbestandes rückkoppeln (was
wiederum durch eine einfache nichtlineare Gleichung, nämlich die 'logistische Gleichung beschrieben werden kann). Das durch technischen
Fortschritt und Kapitalakkumulation ermöglichte Wachstum hat die Knappheit nicht durchgreifend verringern können, da sich durch das Hin-
zutreten neuer Güter und Dienstleistungen auch die Bedürfnisse entsprechend vermehrt haben. Um so paradoxer erscheint es, dass derartige
Restriktionen, die sich beim Menschen - aufgrund der nur begrenzten Gehirnkapazität und der begrenzten Anzahl von Erfahrungswelten' - in
beschränkter Rationalität (bezüglich der internen Präferenzen) und beschränkter Information (bezüglich der extern vorgegebenen Hand-
lungsmöglichkeiten) äußern müssten, lange zugunsten einer 'vollständigen' Informations- und Rationalitätsannahme negiert wurden.
101
Über Entscheidungen trotz Informationsdefizite sagt die traditionelle Theorie nichts aus, wohingegen in der Theorie der rationalen Erwartun-
gen ein Optimierungskonzept für den Informationsaufwand entworfen wurde; (Vgl. Erdmann, 1987, S.243). Je weiter die Erwartungen in die
Zukunft reichen und je präziser sie sein sollen, desto kostspieliger und zeitaufwendiger ist die Erwartungsbildung. Der abnehmende Grenznut-
zen zunehmend präziser Erwartungen ist dann gegen die zunehmenden Grenzkosten einer aufwendigen Informationsverarbeitung abzuwägen;
Vgl. Dichtl (1987,Bd.2, S.530)
102
Mit der Eingebettetheit' der individuellen (ökonomischen) Handlungen in die soziale Struktur beschäftigten sich eine Reihe von Sozialwissen-
schaftlern; Vgl. Coleman (1984), Granovetter (1985), Opp (1985). So war auch die oben getroffene Aussage Ergebnis sozialwissenschaftli-
cher Untersuchungen; Vgl. Raub (1982)
103
"Ganze Dienstleistungsbereiche leben von der Rationalität eines derartigen Verhaltens"; Erdmann (1989, S.243).
104
Sollte jeder den anderen für besser informiert halten, so kann sich ein von der Mehrheit weder erwartetes noch gewolltes Ergebnis herausbil-
den. Dies ist ein für selbstorganisatorische Prozesse charakteristisches Paradoxon, da durch es besonders krass die mögliche Diskrepanz zwi-
schen individuellem Verhalten und kollektiven Phänomenen aufzeigt wird. Ein 'Schneeballeffekt', der durch interdependentes Verhalten ent-
stehen kann, lässt sich auch in einem Fußballstadion, welches nur Sitzplätze hat (Italien), beobachten: Wenn anfangs alle sitzen, dann aber
einer in den vorderen Reihen aufsteht, so werden alle hinteren Reihen, ob der versperrten Sicht, ihm gleichtun; wenn dann alle stehen, was
gewiss ungemütlicher ist, als zu sitzen, lässt sich der Prozess nicht mehr umkehren, obwohl die Mehrheit schlächtergestellt ist als vorher. Die-
ser Vergleich hinkt natürlich, da man hier gezwungen ist, sich an den anderen zu orientieren. Passender ist das Beispiel, dass bei einem Rad-
rennen der erste Fahrer an einer Abzweigung den falschen Weg wählt und alle ihm folgen. Oder indirekter: Hält man als Aktionär den Markt
für besser informiert als sich selber, so wird man eine Untergrenze angeben, ab der die Bank die Aktien verkaufen soll. So kann es passieren,
dass durch eine 'zufällige' Schwankung im Markt die Untergrenze eines Aktionärs unterschritten wird, worauf die Bank seine Aktien verkauft:
Hierdurch sinkt der Kurs, die Untergrenze des Nächsten wird unterschritten, usw.
Seite 21
25. insbesondere für:
Marktprozesse, in denen Erwartungen eine wesentliche Rolle spielen (Kapitalmarkt, Bör-
se, Rohstoffpreise, Konjunkturzyklen, Diffusion von Innovationen)
Situationen, in denen andere Gründe vorliegen, dass die individuellen Entscheidungen
nicht losgelöst vom sozialen Umfeld fallen (Regionale Mobilität, Markt für Parteienpräfe-
renzen, Technikakzeptanz)105
Schon die sehr schwammige Formulierung des letzteren weist darauf hin, dass die Trennli-
nie, ab der sich sowohl das individuelle Entscheidungsverhalten als auch das Systemverhal-
ten losgelöst vom sozialen Kontext herausbilden, nur sehr schwer - wenn überhaupt- zu zie-
hen ist106. Dies wird schon dadurch deutlich, dass das Konsumentenverhalten selbst bezüg-
lich relativ unbedeutender Produkte in starkem Maße von sozial erzeugten Faktoren, nämlich
Moden bzw. Marken abhängen kann107.
Wie schon oben vermerkt sind diese Erkenntnisse weder für Wirtschafts- noch für Sozialwis-
senschaftler grundlegend neu. Der originäre Beitrag, der mittels der Analogie zu dissipativen
Strukturen geleistet wird, ist der, dass das anhand dieser entwickelte mathematische Instru-
mentarium nunmehr auf sozioökonomische Systeme angewendet werden kann; die in der
mathematischen Theorie gewonnenen Erkenntnisse können für die Analyse derselben ge-
nutzt werden, wodurch sozioökonomische Tatbestände und Strukturen einer quantitativen
Modellierung zugänglich werden, welche die Formulierung stringenter und widerlegbarer Aus-
sagen erzwingt108.
Insbesondere die mathematische Formalisierung der Synergetik bietet eine fruchtbare An-
satzmöglichkeit, die in den Naturwissenschaften beobachteten Mechanismen interdependen-
ten Verhaltens und den durch sie gemachten Erkenntnisfortschritt auf wirtschaftliche und
soziale Phänomene zu übertragen. Um die obige Fragestellung, wie groß die gegenseitigen
Verflechtungen von individuellem ökonomischem Handeln und sozialem Kontext in einem
spezifischen sozioökonomischen System sind, fürs erste zu umgehen, soll an einem per De-
finition sozialem Modell gezeigt werden, dass zur Erklärung komplexer sozialer Strukturen
nicht notwendigerweise ein hochkomplexes Modell mit vielen Variablen und Variablenbezie-
hungen erforderlich ist:
105
Vgl. Erdmann (1989 S.243f)
106
"So kann - wie es im späteren in dieser Arbeit getan wird- ja sogar die Marktkoordination als interdependenter, Selbstorganisierender Prozess
gedeutet werden.
107
Diese Aussage wird durch den Beitrag, den die Werbung zur Schaffung von Moden und Marken geleistet hat, noch unterstrichen. Während
früher, wenn auch verzerrt, die Information über das Produkt im Vordergrund stand ("Wäscht 240m Wäsche."), hat in den letzten Jahren ein
schlagartiger Wandel zur Erlebniswerbung' stattgefunden ("Hey Good Looking). Das heißt die Produkte üben erst durch die Einbettung in ei-
nen sozialen Kontext eine starke Reizassoziation aus.
108
Mit quantitativen Modellbildungen beschäftige sich Weidlich/Haag (1983) ausführlich; zu den Problemen, die Modellbildungen aufwerfen,
siehe Schnabl (1985)
Seite 22
26. 4.2 Das Modell einer Party109
"Description of man: Dependence, desire for independence, preferences."
B. Pascal110
Das Modell von Weise (1990) basiert auf zwei durch eine Tür miteinander verbundenen
Räumen, die auch zwei, sich gegenseitig ausschließende Handlungszustände repräsentie-
ren können (Zlf Z2). Zwischen diesen, für einen gewissen Zeitraum (z.B. sechs Stunden) von
der Außenwelt abgeschlossenen Räumen bewegen sich zwanzig Gäste (N=20), die einander
unbekannt sind:
Abb. 7: Die Party' und die Übergänge zwischen den "Räumen'
Durch die Einführung von Kräften, die zwischen den Personen und/oder zwischen Personen
und Räumen herrschen, lassen sich verschiedenste Raum-Zeit-Strukturen erzeugen, welche
man auf gewisse Eigenschaften hin untersuchen kann.
Befänden sich anfangs alle Personen in Z1 (Begrüßung des Gastgebers), würden danach
aber weder einen Raum bevorzugen noch ihr Verhalten in irgendeiner Weise an dem der
anderen ausrichten, so wäre die individuelle Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Person in
einem bestimmten Raum vorzufinden, 1/2. Nach den sechs Stunden war jede Person auf die
Dauer und im Durchschnitt je die Hälfte der Zeit in Z1 und Z2 und war auf die Dauer und im
Durchschnitt die Hälfte der Personen in Z1 und Z2.
Der wahrscheinlichste Makrozustand, der von einem außenstehenden Betrachter zu beo-
bachten sein würde, ist hier die Gleichverteilung auf beide Zimmer (die Konfiguration
{10,10})111. Ausgehend von der Situation (20; 0) wird nach kurzer Zeit der Gleichgewichtszu-
109
Dieses Modell wurde von Weise (1990) entworfen, um die Art und Weise der Übertragung synergetischer Konzepte auf soziale Systeme zu
beschreiben, sowie um Begriffe wie Individualität, Kollektiv, Wechselwirkung, Selbstorganisation, Handeln in der Zeit, Phasenübergänge,
Nichtlinearitäten u.a. in ein einheitliches Modell einzubinden und ihre sozialen Implikationen zu verdeutlichen.
110
Zitiert in Brandes (1990, S.173)
111
Bei 2N Möglichkeiten, wie sich die N Partygäste auf die 2 Zimmer verteilen können, gibt es insgesamt (N+1) verschiedene Zustände, wenn man
die Personen nur zahlenmäßig in den Zimmern berücksichtigt; da die Wahrscheinlichkeit annahmegemäß für alle Aufteilungsmöglichkeiten
gleich ist, also p=l/2N ist, ergibt sich für die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen einer bestimmten Konfiguration : p(Nl)=(N über
Nl)*l/2^mitNl als der Anzahl der Personen in ZI. Hierbei vereint die Konfiguration (10;10) die meisten der 220 (ca. 1.000.000) Aufteilungs-
möglichkeiten auf sich, nämlich ca. 185.000, was einer Wahrscheinlichkeit von ungefähr 17% entspricht. Die Wahrscheinlichkeit unter Tole-
rierung einer kleinen Gleichgewichtsschwankung 8<N1<12 beträgt sogar ungefähr 75%.
Seite 23
27. stand erreicht und mit kleinen Schwankungen beibehalten. Dieser stellt, da er der Zustand
der größten Unordnung112 ist, ein Referenzgleichgewicht für später betrachtete Zustände
dar, welches jedoch nicht mit einem Zustand der Bewegungslosigkeit zu verwechseln ist. Es
ist vielmehr so, dass sich nach einer Zeit die absoluten Übergänge von Z1 nach Z2 den abso-
luten Übergängen von Z2 nach Z± Z1 angleichen, und so ein makroskopisch stabiler Zustand
erreicht wird113: Man spricht auch von einem Fließgleichgewicht.
Dieses und damit die ganze Party kann durch ein einziges Konzept beschrieben werden:
Man misst die Häufigkeit mit der die Gäste die Zimmer wechseln (z.B. alle 15 Min.) und leitet
daraus eine Übergangsfrequenz (hier 1/15 pro Minute) ab, die, da alle Personen und Zimmer
per Annahme gleich sind, für jeden gilt. Sie entspricht hier der Übergangsrate, welche die
Anzahl der Übergänge pro Zeiteinheit von Z1 nach Z2 bzw. umgekehrt angibt (q12 bzw. q21).
Mit p1 als der Wahrscheinlichkeit, eine Person in Z1 anzutreffen, kann man dann die N unab-
hängigen Wanderungsprozesse und damit auch die Veränderung des Erwartungswertes
(Np1), eine Anzahl von Personen in Z1 vorzufinden, folgendermaßen beschreiben:
Im Gleichgewicht verändert sich der Erwartungswert nicht mehr, die Zugänge in ein Zimmer
sind gleich den Abgängen aus einem:
Durch die Übergänge (Fluktuationen) entwickelt sich das Partyverhalten von ungleichen Kon-
figurationen -da dNp^^O- zur Gleichgewichtskonfiguration (Attraktor), die mit kleinen
Schwankungen beibehalten wird114; letztere entstehen durch die statistische Unabhängigkeit
112
Im Zustand der Gleichverteilung, der hier ja der wahrscheinlichste ist, ist das Antreffen einer bestimmten Person in einem bestimmten Zimmer
a priori maximal unsicher, nämlich genauso groß, wie ihn im anderen Zimmer anzutreffen. Die Konfiguration (20,0) bzw. (0,20) stellt dahin-
gegen den Zustand größter Ordnung dar, die Wahrscheinlichkeit ihn, mit einem a-priori Wissen um diese Konfiguration, direkt zu finden, liegt
dann bei 1.
113
Das heißt auf die Dauer und im Durchschnitt war der Übergang von Zj nach Z2 genauso häufig wie der von Z2 nach Z]
114
Anschaulich: Im genannten Beispiel ist der Erwartungswert Npj für tj per Annahme gleich 20 ( alle begrüßen den Gastgeber in Zj); da die
Übergangsraten, die die absolute Anzahl der in einem der Zimmer befindlichen Personen in absolute Übergänge transformieren, jedoch
Seite 24
28. der Individuen voneinander und können in obigen Gleichungen nicht formal erfasst wer-
den115.
Wenn nun in Z2 die Biertheke eröffnet wird, kann man den Personen eine gewisse Präferenz
für dieses Zimmer unterstellen, womit sich das Verhältnis der Übergangsraten zueinander
(z.B. auf <32l/(3l2=-'-/^) damit auch die Erwartungswerte ändern: Die Wahrscheinlichkeit eine Per-
son in Z^ zu treffen sinkt auf 1/4, und die nun wahrscheinlichste Konfiguration (5;15) wird zu
dem Attraktor, der das Partyverhalten anzieht. Dieser Zustand größerer Ordnung116 wird al-
lein durch die relative Bevorzugung eines Raumes erzeugt, wobei die Übergangsraten kon-
stant bleiben.
Interessant wird es, wenn man nun soziales Handeln, also eine Abhängigkeit des Verhaltens
des einzelnen vom Verhalten der anderen, berücksichtigt (der eigentliche Sinn einer Party ist
ja die Interaktion mit den anderen Gästen). Da die Homogenitätsannahme beibehalten wird,
lassen sie sich nur als Abhängigkeit der Übergangsraten von der Anzahl der Personen in
beiden Zimmern beschreiben (q12=f(N2); q2i=f(N1), wobei f eine monoton steigende Funktion
ist). Wenn die Übergangsraten proportional zu der Anzahl der Personen sind
(qi2=N2/N'<l21=Nl/N)> so werden alle Konfigurationen gleichwahrscheinlich117. Verändern sie
sich unterproportional, so wird die Gleichgewichtskonfiguration die wahrscheinlichste sein,
alle anderen Konfigurationen sind aber fast genauso wahrscheinlich. Die Kraft, die das Party-
Verhalten zum Attraktor (10; 10) treibt (Rückstell- bzw. Fluktuationskraft), ist schwächer als
bei Konstanz der Übergangsraten.
Verändern sich die Übergangsraten überproportional, so übersteigt die Konformitätskraft -
die zu einer positiven Korrelation der Übergangsraten (gi2 bzw. q2i) mit der Anzahl der Per-
sonen in einem Zimmer (N2 bzw. t^) führt- die Fluktuationskraft. Eine kleine Fluktuation um
die Gleichgewichtskonfiguration reicht aus, um Wanderungsprozesse in eines der beiden
Zimmer in Gang zu setzen: Die Konfigurationen (20,0) bzw. (0,20) werden zum Attraktor,
ohne dass vorausgesagt werden kann, welche von ihnen erreicht wird, da die Fluktuationen
um das instabile Gleichgewicht (10,10) stochastischen Ursprungs sind.
Führt man zusätzlich eine Antikonformitätskraft ein, um Randgleichgewichte zu vermei-
gleich groß, positiv und konstant sind, wird jedes Ungleichgewicht zugunsten eines Zimmers (hier Zj mit N>10) allmählich gemäß der ersten
Gleichung dadurch abgetragen, dass die Abgänge aus diesem Zimmer die Zugänge aus dem anderen übertreffen (dNpj/dt=—
20*1/2*1/15+0*1/2*1/15< 0) : Der Erwartungswert konvergiert auf die Gleichgewichtskonfiguration (10;10) zu. Bei Erreichen derselben
verändert er sich nicht mehr, da die erwarteten Zugänge ( 10*(1-1/2)*1/15) pro Zeiteinheit den erwarteten Abgängen (10* (1/2)*1/15) ent-
sprechen.
115
Anschaulich unter Annahme einer Gleichgewichtskonfiguration: Es ist so, als würden jeder Gast in jeder Zeiteinheit würfeln und sagen: "Grö-
ßer als 3 und ich Wechsel' das Zimmer!". Durch diese statistische Unabhängigkeit voneinander können Schwankungen in den absoluten
Übergängen entstehen, die sich aber bei ausreichend vielen Übergängen immer einander angleichen (Der Erwartungswert ändert sich hier-
durch nicht, da die konstanten Übergangsraten eine negative Rückkopplung in Richtung Gleichverteilung bewirken): Die Gleichgewichtskon-
figuration ist stabil. Dies muss aber, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht immer so sein, und dann sind eben diese Schwankungen für den
weiteren Verlauf der Systementwicklung entscheidend. Das heißt, sind die Personen nicht genau zu identifizieren und schwankt die Zeitdauer,
die eine Person in einem Zimmer verbringt, müssten die Übergangsraten von einem externen Standpunkt aus entsprechend normiert und als
Übergangswahrscheinlichkeiten interpretiert werden; Vgl. Weise (1990, S.18)
116
Er weicht stark von der Gleich Verteilung ab, die Sicherheit, eine bestimmte Person in Z2 zu finden, ist angestiegen.
117
Das heißt jede Konfiguration bildet sich selbst als Erwartungswert der nächsten Konfiguration heraus.
Seite 25