Der Bildungserfolg von Kindern hängt in Deutschland deutlich stärker von der sozialen Schicht der Herkunftsfamilie ab als beispielsweise in den skandinavischen Ländern. Hier gelingt es deutlich besser, Kindern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, gleiche Bildungschancen zu eröffnen. Um den Ursachen für dieses deutsche Defizit auf den Grund zu gehen, hat BILD der FRAU eine ländervergleichende Studie mit dem Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführt.
3. 3
Vorwort
Vor einiger Zeit hat BILD der FRAU für eine Reportage die Berliner „Arche“ besucht, eine großartige
Einrichtung für Kinder aus sozial schwachen Familien. Dort trafen wir zum Beispiel Marvin (10), der auf die
Frage nach seinem Berufswunsch antwortete: „Wieso? Wenn ich groß bin, werde ich Hartz IV, wie Papa.“
Und die kleine Jamina (9) erzählte uns: „Ich möchte eigentlich Lehrerin werden.Aber meine Mama sagt,das
schaffe ich sowieso nicht.“
Schrecklich traurige Kindersätze. Wie viel Wahrheit steckt in ihnen?
Klar ist: Chancengleichheit ist das Zukunftsthema in Deutschland.Und um Chancengleichheit beziehungs-
weise den Mangel daran geht es auch in unserer aktuellen Studie aus der Reihe BILD der FRAU-Frauenbilder.
Einmal im Jahr gehen wir als Deutschlands größte Frauenzeitschrift einem Thema wissenschaftlich auf den
Grund. Einem Thema, das nicht nur unsere sechs Millionen Leserinnen und Leser bewegt – sondern die
ganze Gesellschaft.
Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einkommensschwachen und bildungsfernen Familien auf.
Jungen wie Marvin, Mädchen wie Jamina. Haben sie wirklich die Chance, es später mal besser zu haben als
ihre Eltern? 36 Prozent der Deutschen sagen Nein – die vielleicht schockierendste Zahl aus unserer neuen
Studie. Bei den unter 30-Jährigen aus einfachen Schichten meinen sogar 81 Prozent: Leistung lohnt
sich nicht.
Wenn es überforderten Eltern nicht gelingt, bei ihren Kindern Träume zu wecken und Talente zu fördern
– dann sind wir dran. Staat und Gesellschaft. Aber welche Fördermaßnahmen, welche Einrichtungen sind
die richtigen? Wie und von wem wird ein Kleinkind am besten betreut? Und was sind eigentlich unsere Bil-
dungsideale: Die Verankerung humanitärer Werte oder die Vermittlung von möglichst viel Lernstoff? Und
nicht zuletzt: Warum gelingt es skandinavischen Ländern, vorneweg Schweden, offensichtlich so viel besser,
Chancengleichheit zu erzielen? Was können wir von den Nordeuropäern lernen?
Die ländervergleichende Repräsentativ-Studie, die wir beim renommierten Institut für Demoskopie in
Allensbach in Auftrag gegeben haben und die Sie hier in Händen halten, liefert konkrete Antworten. Und
viele Hinweise darauf, wie wir es schaffen können. Wie wir Kinder wie Marvin und Jamina auf den richtigen
Weg bringen – weg vom Rand der Gesellschaft.
SANDRA IMMOOR BIANCA POHLMANN
BILD der FRAU-Chefredakteurin BILD der FRAU-Verlagsleiterin
4. Faire Chancen von Anfang an
Immer wieder haben Studien in den vergangenen Jahren den engen Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland gezeigt. Die Ergebnisse sind alarmierend, und beunruhigend
sind auch die Folgen: Wo heute faire Bildungschancen für Kinder aus sozial schwachen Familien fehlen,
müssen wir morgen viel Geld in die Hand nehmen, um Menschen ohne Perspektiven dauerhaft zu alimen-
tieren. Klar ist auch, dass Kinderarmut ihre Ursache fast immer in den mangelnden Chancen und Perspek-
tiven der Eltern hat. Sie betrifft vor allem die bildungsfernen Schichten unserer Gesellschaft. Wo Eltern
mangels ausreichender Bildung und Qualifikation keine Chancen und Perspektiven haben, geraten auch
ihre Kinder ins Hintertreffen.Wie können wir diesen Teufelskreis aus Armut,geringen Bildungschancen und
infolgedessen schlechten Berufs- und Teilhabechancen durchbrechen?
Um die Teilhabechancen von Kindern aus sozial schwachen Familien zu verbessern, hat sich das Bundes-
familienministerium im Rahmen der Anpassung der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder erfolgreich dafür einge-
setzt, dass auch Kinder von Geringverdienerinnen und Geringverdienern von Leistungen für Schulausflüge,
Mittagsverpflegung und Bildungsangeboten profitieren. Rückwirkend zum 1. Januar 2011 wurden so neue
Leistungen für Bildung und Teilhabe eingeführt. Zudem unterstützt der Kinderzuschlag in Höhe von bis zu
140 Euro für jedes Kind gezielt Familien mit niedrigem Erwerbseinkommen und hilft ihnen, unabhängig
von Leistungen des Arbeitslosengeldes II zu bleiben. Solche monetären Leistungen sind aber kein Allheil-
mittel. Die eigentliche sozialpolitische Herausforderung liegt darin, Kindern und Jugendlichen unabhängig
von ihrer sozialen Herkunft faire Chancen zu eröffnen. In jedem Kind und in jedem Jugendlichen stecken
Talente,und jedes Talent ist wertvoll.Jedes Kind und jeder Jugendliche verdient,dass seine Talente entdeckt
und gefördert werden.
Erster und wichtigster Bildungsort ist die Familie. Hier erwerben Kinder im täglichen Miteinander grund-
legende sprachliche, kognitive und soziale Kompetenzen. Wie Familienmitglieder miteinander umgehen,
was Eltern ihren Kindern vorleben, welche Strukturen und Rituale das Familienleben prägen – all das ent-
scheidet in erheblichem Maße über Entwicklungsperspektiven von Kindern. Was Eltern ihren Kindern fürs
Leben mitgeben,lässt sich niemals delegieren oder gar ersetzen.Entscheidend ist es deshalb,Bildung stärker
in den Familienalltag zu integrieren und die Erziehungskompetenz der Eltern zu stärken. Das Bundes-
familienministerium unterstützt dieses Ziel mit dem Programm „Elternchance ist Kinderchance“. Bis Ende
2014 werden 4.000 haupt- und nebenamtliche Fachkräfte,die bereits in der Familienbildung tätig sind,über
die bundesweit tätigen Träger der Familienbildung zu so genannten „Elternbegleitern“ weiterqualifiziert,
die Eltern mit fachkundigem Rat zur Entwicklung ihrer Kinder unterstützen.
4
5. 5
Kinder brauchen jedoch nicht nur im „Bildungsort Familie“ Unterstützung,sondern natürlich auch dann,
wenn sie zeitweise am Tag außerfamiliär betreut werden – etwa in einer Kindertagesstätte. Darum
unterstützt der Bund Länder und Kommunen mit 4,6 Milliarden Euro beim quantitativen und qualitativen
Ausbau der Kinderbetreuung und beteiligt sich ab 2014 mit rund 845 Millionen Euro pro Jahr an den Kosten
für den laufenden Betrieb. Im Rahmen unserer Offensive „Frühe Chancen“ investieren wir darüber hinaus
rund 400 Millionen Euro in bis zu 4.000 Schwerpunkt-Kitas zur Sprach- und Integrationsförderung.
Die vorliegende Untersuchung zeigt,dass eine Politik,die auf die Stärkung der Elternkompetenz einerseits
und den Ausbau familienunterstützender Infrastruktur andererseits setzt, der richtige Weg ist, um mehr
Chancengerechtigkeit zu erreichen und die Durchlässigkeit sozialer Schichten zu erhöhen.Eltern wünschen
sich für ihre Kinder soziales Fortkommen – und zwar gerade auch diejenigen Eltern aus den so genannten
einfachen Sozialschichten – und sie fühlen sich in Deutschland in hohem Maße auch in der Pflicht, ihre
Kinder umfassend zu fördern.Gleichzeitig wächst auch die Akzeptanz des Ausbaus der Betreuungsangebote
für Kleinkinder unter drei Jahren.Drei Viertel der Gesamtbevölkerung begrüßen das Vorhaben.Zustimmungs-
raten in dieser Höhe erreichen nur wenige politische Maßnahmen.
In Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen zu investieren, ist ein Gebot sozialer Verantwortung,
aber auch ein Gebot ökonomischer Vernunft, gerade im Hinblick auf den demografischen Wandel. Denn
Investitionen in frühkindliche Bildung zahlen sich aus – durch bessere Bildungschancen und damit später
auch bessere Beschäftigungs- und Teilhabechancen. Ich bin überzeugt: Grundlage des gesellschaftlichen
Zusammenhalts gerade in einer alternden Gesellschaft ist,dass alle Menschen faire Verwirklichungschancen
haben: die Möglichkeit, ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Dazu bedarf es fairer Chancen von
Anfang an! Das gilt für Deutschland nicht anders als für Schweden.
DR. KRISTINA SCHRÖDER
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
6.
7. Inhalt
Vorwort..............................................................................................................................................................3
Vorwort Familienministerium...........................................................................................................................4
Vorbemerkung...................................................................................................................................................9
Soziale Durchlässigkeit und Chancengerechtigkeit –
aus Sicht der Bevölkerung in Schweden größer als in Deutschland .............................................................10
Ursachen schichtabhängiger Bildungserfolge:
Deutsche Eltern sehen sich stärker in der Verantwortung
für Bildung und Leistungsorientierung als schwedische................................................................................21
Bildungs- und Aufstiegswünsche von Eltern für ihre Kinder..........................................................................29
Die Förderung und Betreuung kleiner Kinder................................................................................................35
Urteile über die vorhandenen Kinderbetreuungseinrichtungen...................................................................47
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf .......................................................................................................57
Einstellungen zu Kindern und Familie ...........................................................................................................63
Besondere Perspektiven und Einstellungen
türkischstämmiger Eltern in Deutschland......................................................................................................69
ANHANG
Anhangschaubilder .........................................................................................................................................78
Anhangtabellen...............................................................................................................................................81
Untersuchungsdaten der deutschen sowie der schwedischen Umfrage.......................................................85
7
8.
9. 9
1
"Zwischen Ehrgeiz und Überforderung. Bildungsambitionen und Erziehungsziele von Eltern in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach
im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland", Vodafone Stiftung Deutschland gemeinnützige GmbH, Düsseldorf 2011, Seite 10.
Vorbemerkung
Der Zusammenhang zwischen dem Bildungsweg bzw. dem schulischen Erfolg von Kindern und dem
Bildungshintergrund des Elternhauses ist in Deutschland ungewöhnlich eng. Eine aktuelle Untersuchung
zeigt, dass 77 Prozent der Kinder von Eltern aus den höheren Bildungsschichten ein Gymnasium besuchen,
aber nur 29 Prozent der Kinder von Eltern mit einfacher Schulbildung.1
Die Chancen von Kindern in Deutsch-
land stehen und fallen weitgehend mit der sozialen Schicht,in die sie hineingeboren werden.Dies ist unbe-
friedigend und birgt zudem die Gefahr einer sich verfestigenden Unterschicht ohne große
Aufstiegsperspektiven.
International vergleichende Untersuchungen belegen darüber hinaus,dass der enge Zusammenhang zwi-
schen den Chancen der Kinder und dem Bildungshintergrund der Eltern ein typisch deutsches Phänomen
ist. So gelingt es beispielsweise in den skandinavischen Ländern weitaus besser, Startnachteile von Kindern
aus den schwächeren sozialen Schichten zu kompensieren, die Korrelation zwischen dem Bildungshinter-
grund der Elternhäuser und der Schulkarriere der Kinder ist in Skandinavien weitaus geringer als in Deutsch-
land.
Um die Ursachen und Hintergründe dieses Befundes aufzuklären, haben BILD DER FRAU und das
BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND das INSTITUT FÜR DEMOS-
KOPIE ALLENSBACH mit einer ländervergleichenden Studie beauftragt. In repräsentativen Befragungen in
Deutschland und – exemplarisch für Skandinavien – Schweden wurden dabei die Haltungen und Urteile
der Bevölkerung zur Betreuung, Förderung und Erziehung von Kindern sowie zum Thema Chancengerech-
tigkeit ermittelt.Um Besonderheiten in den Urteilen und Einstellungen von Eltern mit Migrationshintergrund
herausarbeiten zu können, wurde in Deutschland zusätzlich ein repräsentativer Querschnitt türkisch-
stämmiger Eltern unter-12-jähriger Kinder befragt.
In der Analyse werden fallweise Trenddaten aus dem Allensbacher Archiv hinzugezogen, um Veränderun-
gen z.B.in den Einstellungen der deutschen Bevölkerung nachzeichnen zu können.Wo es möglich und sinn-
voll ist, werden die aktuellen Befunde zudem mit Ergebnissen einer 2007 vom Allensbacher Institut
durchgeführten deutsch-französischen Studie verglichen.Durch einen solchen Dreiländervergleich gewinnen
die Befunde der vorliegenden Untersuchung zusätzlich Profil.
Allensbach am Bodensee, im Juli 2012 INSTITUT FÜR DEMOSKOPIE ALLENSBACH
25. Bemerkenswert sind die schichtspezifischen Unterschiede dieser Einschätzungen,die sich in vielen Punk-
ten in Deutschland viel ausgeprägter zeigen als in Schweden. Man gewinnt leicht den Eindruck, dass Eltern
aus höheren sozialen Schichten in Deutschland die Verantwortung für die schlechteren Chancen von Kindern
aus einfachen Schichten dabei vor allem bei deren Eltern sehen – schlechte Vorbilder,Mangel an Motivation,
schlechte Ausbildung der Eltern – sowie in Begabungsunterschieden der Kinder.Eltern aus einfachen Schich-
ten verweisen in Deutschland dagegen deutlich überdurchschnittlich häufig auf die äußeren Umstände,d.h.
zu wenig staatliche Unterstützung,Benachteiligung durch Lehrer und ungleiche finanzielle Voraussetzungen.
Diese möglichen Ursachen werden allerdings auch von schwedischen Eltern aus einfachen Sozialschichten
überdurchschnittlich häufig angeführt (Tabelle 1).
Dass die Ursache für ungleiche Chancen von Kindern von der deutschen Bevölkerung viel häufiger als in
Schweden in den ungleichen persönlichen Voraussetzungen von Eltern verortet wird, ist aber nicht (nur)
Folge unterschiedlicher "Ideologien",sondern hat einen realen Grund.Das zeigt eine Analyse der elterlichen
Erziehungsziele in beiden Ländern.
Schwedische Eltern möchten ihren Kindern vor allem soziale Grundtugenden wie Ehrlichkeit, Höflichkeit
und Hilfsbereitschaft mit auf den Lebensweg geben sowie Verantwortungsbewusstsein und Selbständigkeit.
Jeweils über 70 Prozent der Eltern unter-12-jähriger Kinder in Schweden nennen dies als Ziel ihrer Erziehung.
In diesen Punkten unterscheiden sich deutsche und schwedische Eltern auch nur wenig.Auch Neugier steht
in beiden Ländern ähnlich häufig, nämlich bei jeweils gut der Hälfte der Eltern auf der Liste der eigenen
25
Ursachen für Chancenungleichheit aus Elternsicht – schichtspezifische Wahrnehmungen
Tabelle 1
Bundesrepublik Deutschland, Schweden
Eltern von Kindern unter 12 Jahren
Frage: "Was glauben Sie, woran liegt es vor allem, dass manche Kinder in Deutschland/Schweden schlechtere Chancen haben, sich gut zu
entwickeln und es im Leben zu etwas zu bringen?" (Listenvorlage, Mehrfachnennungen möglich)
ELTERN UNTER-12-JÄHRIGER KINDER
Deutschland Schweden Deutschland Schweden
--------------------------------------------------- ---------------------------------------------------
Dass manche Kinder schlechtere soziale Schichten soziale Schichten
Chancen haben, sich gut zu entwickeln, ------------------------------------------------ ------------------------------------------------
liegt vor allem daran, dass – höhere mittlere einfache höhere mittlere einfache *
% % % % % % % %
manche Eltern ihren Kindern kein gutes
Vorbild sind....................................................... 79 ..................58 84..............79 .............72 61 ............. 58..............49
manche Kinder von ihren Eltern nicht
richtig erzogen werden, z.B. nicht lernen,
Arbeiten gründlich zu erledigen oder zu
Ende zu führen ................................................. 73 ..................44 79..............71 .............70 47 ............. 44..............39
die finanziellen Voraussetzungen im
Elternhaus sehr unterschiedlich sind..................73 ..................66 70..............70 .............87 59 ............. 67..............76
manche Eltern kein oder nur wenig
Interesse daran haben, sich mit ihren
Kindern zu beschäftigen.....................................71 ..................67 78..............74 .............51 68 ............. 67..............62
manche Eltern, die selbst keine gute
Bildung bzw. Ausbildung haben, ihre
Kinder nicht gut fördern................................... 67 ..................30 77..............68 .............42 36 ............. 25..............34
viele Eltern gar nicht wissen, wie sie
ihre Kinder am besten fördern können ............ 60 ..................47 58..............64 .............55 52 ............. 45..............42
manche Eltern nicht viel Zeit mit ihren
Kindern verbringen können................................53 ..................59 52..............54 .............50 62 ............. 58..............52
.../
26. Erziehungsziele, die Fähigkeit, das Leben zu genießen in Schweden etwas häufiger als in Deutschland
(54 Prozent gegenüber 44 Prozent).
Bemerkenswert ist dagegen, dass viele andere Dimensionen schwedischen Eltern als Ziele der eigenen
Erziehung deutlich weniger wichtig sind als deutschen: Sowohl eine gute,vielseitige Bildung als auch Tugen-
den wie Durchhaltevermögen, Leistungsbereitschaft und Sorgfalt sind nur jeweils weniger als einem Drittel
der schwedischen Eltern Ziel der Erziehung im Elternhaus, dagegen jeweils einer deutlichen Mehrheit der
Eltern in Deutschland (Schaubild 15, Seite 27).6
Während schwedische Eltern sich in ihren Erziehungszielen also stark auf die oben genannten sozialen
Grundtugenden sowie Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein fokussieren, sehen sich Eltern in
Deutschland in großen Teilen wesentlich mit in der Verantwortung, für eine gute Allgemeinbildung ihrer
Kinder und das Erlernen von Tugenden wie Durchhaltevermögen,Leistungsbereitschaft und Sorgfalt zu sor-
gen.Wenn der Umfang des elterlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags in beiden Ländern so unterschied-
lich interpretiert wird, erstaunt kaum, dass sich die in den Elternhäusern unterschiedlichen intellektuellen
und auch materiellen Voraussetzungen in Deutschland stärker auf die Entwicklungschancen von Kindern
auswirken als in Schweden. So hat etwa eine im vergangenen Jahr vom Allensbacher Institut durchgeführte
Studie gezeigt, wie viel leichter es Eltern mit höherer Schulbildung fällt, ihre Kinder bei den Hausaufgaben
zu unterstützen als weniger gut gebildeten Eltern.7
26
Ursachen für Chancenungleichheit aus Elternsicht – schichtspezifische Wahrnehmungen
Tabelle 1
Bundesrepublik Deutschland, Schweden
Eltern von Kindern unter 12 Jahren
/... ELTERN UNTER-12-JÄHRIGER KINDER
Deutschland Schweden Deutschland Schweden
--------------------------------------------------- ---------------------------------------------------
Dass manche Kinder schlechtere soziale Schichten soziale Schichten
Chancen haben, sich gut zu entwickeln, ------------------------------------------------ ------------------------------------------------
liegt vor allem daran, dass – höhere mittlere einfache höhere mittlere einfache *
% % % % % % % %
die Kinder unterschiedlich begabt
sind ................................................................... 48 ..................26 53..............47 .............42 19 ............. 29..............28
die Qualität der Betreuung in den
Betreuungseinrichtungen wie Kinder-
garten oder Kita sehr unterschiedlich
ist........................................................................33 ..................28 27..............34 .............46 27 ............. 26..............39
der Staat nicht genug dafür tut, um
benachteiligte Kinder zu unterstützen ...............31 ..................26 16..............32 .............59 25 ............. 23............ 38
manche Kinder in der Schule von den
Erziehern bzw. Lehrern benachteiligt
werden ................................................................28 ..................14 11..............33 .............49 12 ............. 11............ 34
manche Kinder unter drei Jahren zu-
hause betreut werden und andere
eine Kinderbetreuungseinrichtung
besuchen.............................................................11 ................... 8 11..............11 .............14 5 .............. 9..............11
manche Kinder in die Kita gehen,
während andere Tagesmütter haben.................. – ................... 4 –.............. – ............. – 2 .............. 5............... 5
Nichts davon........................................................ x ................... 1 x............... x .............. x 1 .............. 1............... 3
Alle Kinder haben gleiche Chancen..................... 1 ................... 5 x............... 2 .............. 2 3 .............. 6............... 6
"–" = Wert wurde in Deutschland nicht erhoben * Fallzahl n = 43, Befund kann daher nur als Näherungswert interpretiert werden
QUELLE: ALLENSBACHER ARCHIV, IFD-UMFRAGE 6241
6
Es sollte daraus nicht geschlossen werden, dass diese Ziele für Eltern in Schweden per se unwichtig sind – sie stehen nur nicht im
Zentrum der Erziehung im Elternhaus. Die Vermittlung von Bildungsinhalten und Sekundärtugenden
wird offenbar stärker als in Deutschland als Aufgabe der staatlichen Bildungseinrichtungen gesehen.
7
"Zwischen Ehrgeiz und Überforderung. Bildungsambitionen und Erziehungsziele von Eltern in Deutschland. Eine Studie des Instituts für
Demoskopie Allensbach im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland", Vodafone Stiftung Deutschland gemeinnützige GmbH, Düsseldorf 2011, Seite 11.
35. Die Förderung und Betreuung kleiner Kinder
Die Vorstellungen davon, mit welchen konkreten Maßnahmen kleine Kinder bis ungefähr 6 Jahre am
besten gefördert werden können, unterscheiden sich zwischen deutschen und schwedischen Eltern nur
punktuell. So sind sich deutsche und schwedische Eltern weitgehend einig darin, dass es besonders wichtig
ist,viel mit dem Kind zu sprechen,dem Kind vorzulesen bzw.mit ihm zusammen Bücher anzuschauen sowie
darauf zu achten, dass das Kind neue Erfahrungen sammelt, viel ausprobieren kann.
Mit dem Kind Spiele zu spielen und für viel Bewegung zu sorgen,halten deutsche Eltern dagegen für deut-
lich wichtiger als schwedische.Umgekehrt halten es fast zwei Drittel der schwedischen Eltern,aber nur knapp
die Hälfte der deutschen für besonders wichtig, das Kind in den Alltag einzubinden indem es sich z.B. an
der Hausarbeit beteiligt (Schaubild 21, Seite 36).
Auch zwischen den sozialen Schichten in Deutschland gehen die Auffassungen darüber,wie kleine Kinder
am besten gefördert werden können, nur in wenigen Punkten deutlich auseinander. So halten es Eltern aus
einfachen sozialen Schichten in überdurchschnittlichen Anteilen für wichtig,das Kind zum Malen oder Bas-
teln zu ermutigen. Und Eltern aus der Oberschicht halten es nur in unterdurchschnittlichen Anteilen für
besonders förderlich,den Nachwuchs bestimmte Fernsehsendungen schauen zu lassen oder die Kinder ge-
nerell selbst entscheiden zu lassen,ob sie z.B.ein Instrument lernen oder eine bestimmte Sportart betreiben
möchten (Anhangtabelle 2).
Noch am auffälligsten sind die Schichtunterschiede in Deutschland – auch im Vergleich zu Schweden –
wenn es um die Rolle von Musik für die Förderung von Kindern geht.Während es in Deutschland 61 Prozent
der Eltern aus höheren Sozialschichten im Hinblick auf die Entwicklung eines Kindes für besonders wichtig
halten, es an die Musik heranzuführen, ihm z.B. ein Instrument näherzubringen, teilen nur 40 Prozent der
Eltern aus einfachen Schichten diese Auffassung. In Schweden zeigt sich eine solche Abhängigkeit dagegen
nicht (Schaubild 22, Seite 37). Insgesamt scheinen die Unterschiede in den Förderkonzepten verschiedener
sozialer Schichten aber keine zentrale Ursache für die in Deutschland gegenüber Schweden deutlich größere
Schichtabhängigkeit des Bildungserfolgs von Kindern.
35
39. In Deutschland halten es Eltern aus einfachen sozialen Schichten für überdurchschnittlich wichtig, dass
Eltern im Bedarfsfall Beratung und Unterstützung in Erziehungsfragen erhalten können,in Schweden dage-
gen,dass die Erzieher in Betreuungseinrichtungen eine besonders gute,z.B.akademische Ausbildung haben.
In beiden Ländern halten es vor allem Eltern aus einfachen Sozialschichten für wichtig,dass die Betreuungs-
einrichtungen kostenlos sind (Anhangtabelle 3).
Was die tatsächlich genutzten Förderangebote angeht, zeigt sich allerdings, dass Kinder aus der Unter-
schicht in Deutschland deutlich zurückbleiben. So nutzen Eltern aus einfachen sozialen Schichten deutlich
unterdurchschnittlich häufig Angebote wie Mutter-Kind-Turnen oder Babyschwimmen – für viel Bewegung
zu sorgen spielt im Förderkonzept für kleine Kinder in Deutschland eine vergleichsweise große Rolle (vgl.
Seite 36, Schaubild 21) – und schicken ihre unter-10-jährigen Kinder seltener als Eltern aus höheren Sozial-
schichten in Sport- oder Musikvereine bzw. zur musikalischen Früherziehung. Von einer Liste mit 13
möglichen Förderangeboten für unter-10-jährige Kinder geben Eltern aus einfachen Schichten im Durch-
schnitt 2,5 genutzte Angebote zu Protokoll, Eltern aus der Oberschicht dagegen 3,9.
Dieser Befund zeigt, wie der von Eltern in Deutschland sehr umfassend interpretierte Erziehungsauftrag
in Verbindung mit ungleichen materiellen Voraussetzungen in den Elternhäusern schichtspezifische
Chancenungleichheit produziert.
Die Nutzung von Förderangeboten insbesondere für Kleinkinder hat in den letzten Jahrzehnten stark zu-
genommen. So haben von den Eltern, deren Kinder heute 40 Jahre und älter sind, nur 5 Prozent Krabbel-
gruppen besucht, 6 Prozent Babyschwimmen und 10 Prozent ein Mutter-Kind-Turnen. Die Anteile liegen
heute jeweils zwischen 40 und 50 Prozent. Auch der Anteil derjenigen, die Musikschulen oder die musikali-
sche Früherziehung besuchen oder logopädische Förderung in Anspruch nehmen,ist offensichtlich deutlich
gewachsen (Tabelle 2, Seite 40).
39
40. 40
Frage:"Wenn Sie einmal an Angebote denken, die es für Kinder bis ungefähr 10 Jahre gibt. Welche
dieser Angebote nutzen Sie bzw. haben Sie früher einmal für Ihr
Kind/Ihre Kinder in diesem Alter genutzt?" (Listenvorlage)
ELTERN UNTER-12-JÄHRIGER KINDER Eltern von
-------------------------------------------------------- erwachsenen
ins- soziale Schichten Kindern im
gesamt ---------------------------------------- Alter von mind.
höhere mittlere einfache 40 Jahren
% % % % %
Sportvereine........................................61 68 ........... 61......... 42 63
Krabbelgruppen ..................................46 56 ........... 40........... 41 5
Mutter-Kind-Turnen bzw. Kinder-
turnen .................................................45 54 ........... 43......... 28 10
Babyschwimmen.................................41 58 ........... 34......... 28 6
Vorschulangebote im Kinder-
garten, Vorschulunterricht..................31 22 ........... 39........... 25 21
Musikunterricht ..................................28 36 ........... 29......... 11 23
Musikalische Früherziehung ...............28 35 ........... 27......... 14 12
Logopädische Förderung, Hilfe
bei Sprechproblemen..........................17 16 ........... 20........... 11 4
PEKiP ..................................................11 19 ............ 8............ 6 x
Fremdsprachenunterricht für
Kindergartenkinder.............................10 13 ........... 10............ 6 x
Nachhilfe ............................................. 8 8 ............ 6........... 17 11
Förderunterricht, z.B. bei Schreib-
und Leseschwäche ............................... 8 2 ........... 12............ 7 2
Sprachförderung in Deutsch................ 4 x ............ 4............ 8 1
Anderes................................................ 1 1 ............ x............ 2 1
Durchschnittlich genutzte Zahl
der Angebote .................................... 3,4 3,9 ......... 3,3......... 2,5 1,6
Nichts davon.......................................10 8 ............ 8........... 16 22
Keine Angabe....................................... 1 2 ............ 2............ x 5
-UMFRAGE 6241
Genutzte Förderangebote für junge Kinder –
schichtspezifische Unterschiede und
Generationenunterschiede
Tabelle 2
Bundesrepublik Deutschland
Eltern von Kindern unter 12 Jahren
x = weniger als 0,5 Prozent
QUELLE: ALLENSBACHER ARCHIV, IFD
50. 50
Während in Deutschland nur 14 Prozent der Mütter unter-12-jähriger Kinder einer Vollzeitbeschäftigung
nachgehen,sind es in Schweden 53 Prozent.Auf der anderen Seite sind 40 Prozent der Mütter junger Kinder
in Deutschland gar nicht berufstätig, in Schweden ein mit 19 Prozent nicht einmal halb so großer Anteil.
Von den Elternpaaren 3- bis 11-jähriger Kinder – einem Alter der Kinder, in dem auch in Deutschland
flächendeckend Betreuungsmöglichkeiten angeboten werden – sind in Deutschland nur in 15 Prozent der
Fälle beide Partner vollzeitberufstätig, in Schweden dagegen 51 Prozent. Die in Deutschland mit 57 Prozent
häufigste Erwerbskonstellation bei Elternpaaren mit Kindern im genannten Alter ist die Kombination von
Vollzeit- und Teilzeiterwerbstätigkeit, bei weiteren 22 Prozent ist ein Partner vollzeitberufstätig, der andere
gar nicht. In Schweden liegt dieser Anteil bei gerade einmal 7 Prozent (Schaubild 33, Seite 51).
Trotz dieser Unterschiede haben Eltern 3- bis 11-jähriger Kinder in Schweden wie in Deutschland in prak-
tisch gleich hohen Anteilen das Gefühl,genügend Zeit zu haben,um sich mit ihren Kindern zu beschäftigen:
Jeweils gut zwei Drittel geben das zu Protokoll (Schaubild 34, Seite 51). Neben der tatsächlich gemeinsam
verbrachten Zeit spielen für dieses Urteil natürlich die landesspezifischen Einschätzungen eine Rolle, wie
viel Zeit man einem Kind widmen sollte.
Mütter unter 12-jähriger Kinder in
DEUTSCHLAND
%
SCHWEDEN
%
Vollzeitberufstätig
(35 und mehr Stunden pro Woche)
14 53
Teilzeitberufstätig
(15 bis 34 Stunden)
37 24
Stundenweise berufstätig
(weniger als 15 Stunden)
9 4
Nichtberufstätig 40 19
TEXTTABELLE 1
54. Dabei ist die Förderung der Kinder eine der häufigsten Erwartungen,die sowohl deutsche als auch schwe-
dische Eltern an eine Kinderbetreuungseinrichtung richten: 84 Prozent der deutschen und 83 Prozent der
schwedischen Eltern von 3- bis unter-6-jährigen Kindern ist es besonders wichtig, dass ihre Kinder in einer
Betreuungseinrichtung nicht nur betreut, sondern auch gefördert werden. Ähnlich hohe Anteile der Eltern
fordern,dass die Erzieher gezielt auf die Entwicklung der Kinder achten.Nur eins ist Eltern in beiden Ländern
wichtiger: Dass die Kinder dort Spaß haben und gerne dorthin gehen. Dass Kinder individuell nach ihren
Interessen und Begabungen gefördert werden, ist zwar in beiden Ländern auch einer deutlichen Mehrheit
besonders wichtig, tritt aber vor allem in Deutschland hinter anderen Forderungen zurück.
Auf eine Reihe von Forderungen legen schwedische Eltern deutlich weniger Wert als deutsche.Dies betrifft
zum einen Punkte, die schon im Zusammenhang mit den Unterschieden in den eigenen Förderkonzepten
für kleine Kinder deutlich wurden (vgl.Seite 36,Schaubild 21).So legen schwedische Eltern deutlich weniger
Wert darauf,dass die Betreuungseinrichtung für ausreichend Bewegung der Kinder sorgt oder ein großes An-
gebot an Spiel- und Bastelmöglichkeiten bietet. Und lange Betreuungszeiten für Berufstätige und Betreu-
ungsmöglichkeiten während der Ferien stehen in Schweden vermutlich deshalb weniger häufig als in
Deutschland auf der Prioritätenliste von Eltern, weil dies in Schweden weitgehend selbstverständlich ist.
Auf den ersten Blick bemerkenswert ist hingegen, dass obwohl schwedischen Eltern die Förderung ihrer
Kinder in der Betreuungseinrichtung in praktisch genauso hohem Anteil besonders wichtig ist wie deutschen
Eltern, sie deutlich weniger häufig Wert darauf legen, dass die Kinder gut auf die Schule vorbereitet werden.
Das dürfte aber vor allem damit zusammenhängen, dass die gezielte Vorbereitung auf die Schule in der
Regel in einem gesonderten Vorschuljahr im 6.Lebensjahr erfolgt,d.h.dies für Kinder unter 6 Jahren weniger
Relevanz hat.10
Wichtiger als den deutschen Eltern sind den schwedischen institutionelle und organisatorische Fragen:
kleine Gruppengrößen, regelmäßige Elterngespräche, akademisch ausgebildete Erzieher(innen) und dass es
auch männliche Erzieher gibt (Schaubild 37, Seite 55).
Die Erwartungen, die Eltern an Kinderbetreuungseinrichtungen haben, fallen in Ostdeutschland deutlich
anspruchsvoller aus als im Westen. Von 15 auf einer Liste vorgelegten möglichen Erwartungen an eine
Kinderbetreuungseinrichtung werden 13 von ostdeutschen Eltern häufiger als besonders wichtig genannt
als von westdeutschen Eltern.Besonders groß ist der Unterschied in der Frage des Mittagessens: 94 Prozent
der ostdeutschen Eltern unter-12-jähriger Kinder ist es besonders wichtig, dass den Kindern in der Betreu-
ungseinrichtung ein Mittagessen angeboten wird. Im Westen legen darauf nur 64 Prozent besonderen Wert
(Anhangschaubild 2).
54
10
Obwohl der Besuch der Vorschulklasse freiwillig ist, nutzen fast 96 Prozent der 6-Jährigen dieses Angebot
(vgl.: Anuschka Czepoks, "Kita und Förskola im Vergleich – Schweden als Vorbild für Deutschland?", Bachelor-
Thesis, Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales, 2012, Seite 38).