Ist das systematische Nachdenken über die eigene Lehre schon Wissenschaft? Bieten Laborstudien zum Lernen mit Medien einen echten Mehrwert für die pädagogische Praxis?
Diese Fragen mögen besonders plakativ formuliert sein, doch die Herangehensweisen von anwendungsbezogener und grundlegender Forschung im E-Learning waren schon immer verschieden. Während die eine Seite E-Learning dort, „wo es passiert” untersucht, wählt die andere Seite bewusst die Künstlichkeit der Laborsituation zum besseren Verstehen von Lernprozessen. Beide Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile, doch müssen sie sich gegenseitig ausschließen? Oder sind die Herausforderungen, vor denen E-Learning-Forschung steht, sogar so komplex, dass wir auf unterschiedliche Perspektiven und eine interdisziplinäre Herangehensweise angewiesen sind?
In der Auftaktveranstaltung zum Themenspecial „E-Learning-Forschung” wurde auf e-teaching.org diskutiert, welche Fragestellungen bei der Erforschung von E-Learning-Angeboten von interdisziplinärer Bedeutung sind und welche methodischen Zugänge die Bildungsforschung bereithält, um diese gemeinsam zu beantworten.
Referentinnen des Online-Events waren Prof. Dr. Gabi Reinmann und Prof. Dr. Ulrike Cress.
Methoden der E-Learning-Forschung: Pro und Contra von experimentellen und Design-Based-Ansätzen (Design-Based-Ansätze)
1. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
Design-based Research:
Auftakt für eine methodologische Diskussion
entwicklungsorientierter Bildungsforschung
E-teaching.org
Themenspecial
E-Learning-Forschung
Gabi Reinmann
Zeppelin Universität
Friedrichshafen
Online-Vortrag 30. April 2014
2. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
│ Design-based Research ist keine
Methode, eher ein Forschungsrahmen.
│ Ziel ist eine Forschung, mit der man
innovative Lösungen für praktische
Bildungsprobleme entwickelt und
wissenschaftliche Erkenntnisse
theoretischer Art gewinnt.
│ Entwicklungsorientierte Bildungs-
forschung als deutscher Begriff
│ Die klangliche Nähe zur empirischen
Bildungsforschung ist beabsichtigt.
│ Zwei Hoffnungsträger könnten nicht
schaden.
│ Wir sprechen wenig darüber, was
Empirie eigentlich bedeutet, und in
welchem Verhältnis die Empirie zur
Theorie und beides zur Praxis steht.
│ Wir brachen aber eine solche
methodologische Reflexion und
Diskussion.
Meine Fragen: Inwiefern ist die ent-
wicklungsorientierte Bildungsforschung
│ empirisch,
│ theoretisch,
│ praktisch und
│ kreativ?
3. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
Inwiefern ist entwicklungsorientierte
Bildungsforschung empirisch?
│ Empirie als Beobachten:
ohne theoretische Vorannahmen oder
anhand von Fragen und Annahmen
Beschreibungen und vielleicht erste Ideen
für Erklärungen
│ Empirie als Experimentieren:
mit Theorien bzw. abgeleiteten
Hypothesen, die überprüft werden
neben Beschreibungen auch Erklärungen
(Gesetze, Regeln)
│ Empirie als Evaluieren:
Veränderungen im Feld, deren Urheber
der Forscher nicht ist, werden beobachtet
und bewertet
│ Empirie als Entwickeln:
Veränderungen im Feld nimmt der
Forscher selber vor, implementiert und
evaluiert
│ Empirische Grundoperationen:
- rezeptiv aufnehmend:
beobachten – evaluieren
- produktiv eingreifend
experimentieren - entwickeln
Entwicklung gehört zur Besonderheit der
entwicklungsorientierten Bildungs-
forschung.
Sie arbeitet an vielen Stellen empirisch:
- bei der Analyse des Ausgangsproblems
- bei der Evaluation der Lösung
- bei der Entwicklung derselben
4. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
Inwiefern ist entwicklungsorientierte
Bildungsforschung theoretisch?
│ Theorie als Aussagesystem:
- Verknüpfung von Konzepten zur Be-
schreibung und Erklärung
- Abstraktionen mit variablem Geltungs-
bereich: empirisch überprüfbar
│ Theorie als Werkzeug:
- Beschreibungen und Erklärungen zum
Handeln und Problemlösen
- Theoretischer Status von Be-
schreibungs- und Erklärungsvorgängen
│ Bildung von Theorie:
- Unklar, wie man vor allem zu neuen
Theorien kommt
- Grounded Theory: Theorien aus
Empirie gewinnen
│ Beziehung Theorie - Empirie:
- Empirie als Theorieprüfung
- Empirie zur Theoriebildung
- Theorie als statisches Aussagesystem
- Theorie als Problemlöse-Werkzeug
Theoretische Fundierung kennzeichnet
die entwicklungsorientierten Bildungs-
forschung in mindestens zweifacher
Hinsicht:
- durch Sichtung und Nutzung von
Theorien für die Entwicklung
- durch die Generalisierung empirischer
Erkenntnisse zu lokalen Theorien oder
Gestaltungsprinzipien
5. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
Inwiefern ist entwicklungsorientierte
Bildungsforschung praktisch?
│ Ausgangsfrage aus der Praxis:
Wie kann man ein erstrebenswertes Ziel
in einem gegebenen Bildungskontext
durch eine noch zu entwickelnde
Intervention am besten erreichen?
│ Daran anknüpfende Frage:
Unter welchen Bedingungen kann die
entwickelte Intervention auch in anderen
Kontexten zum Erreichen vergleichbarer
Ziele eingesetzt werden?
│ Spannungsverhältnis:
Wie verträgt sich wissenschaftliche
Strenge (Theorie/Empirie) mit praktischer
Relevanz?
Rolle des Empirie- und Theorie-Begriffs
│ Verzahnung: Praxis - Theorie - Empirie:
Vorläufer und Verwandte in der
- Wirtschaftspädagogik (Euler / Slonae)
- Schulpädagogik (Benner / Klafki)
- Hochschuldidaktik (Flechsig)
Geringe wissenschaftliche Resonanz von
Ansätzen, die auf praktische Problem-
lösungen abzielen:
- bisherige Vernachlässigung des „Allein-
stellungsmerkmals“ der Entwicklung als
möglicher Grund
- allmähliche Fokussierung der Ent-
wicklung vor allem in Ablaufmodellen
6. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
In Anlehnung an McKenney & Reeves (2012, S. 77)
Analyse
Exploration
Entwurf Evaluation
Konstruktion Reflexion
Theoretisches
Verständnis
Implementation und Verbreitung
reifer werdende
Intervention
Idealtypische Beschreibung eines Design
Research-Zyklus
7. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
Inwiefern ist entwicklungsorientierte
Bildungsforschung kreativ?
│ Zentrale Frage:
Wie kommt man zum Neuen: neue
Theorien und innovative Interventionen?
- kreative Prozesse und/oder
- logische Schlüsse?
│ Annahme:
Abduktion als kreativer Prozess, der
Lücke füllt, die Deduktion und Induktion
hinterlassen
│ Deduktion:
Prinzip der Subsumption
z.B. beim Experimentieren
wahrheitsübertragender Schluss
│ Induktion:
Prinzip der Generalisierung
z.B. beim Beobachten
wahrscheinlichkeitsübertragender Schluss
│ Abduktion:
Begriff bekannt durch Charles S. Peirce
Erfinden einer neuen Ordnung für etwas
Unverständliches/Erklärungsbedürftiges
denkender Mensch als Quelle des
Neuen
Abduktion als geeignetes Prinzip in
iterativ-zyklisch ablaufenden Problemlöse-
prozessen wie in der entwicklungs-
orientierten Bildungsforschung
- Nähe zu Deweys Pragmatismus
- Verknüpfung eines Abgleichs mit
Fakten, Gedankenexperimente und
Prüfung an der Wirklichkeit inklusive
8. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
Warum so schwerfällige Überlegungen
zum Gehalt von Empirie und Theorie, zu
Deduktion, Induktion und Abduktion?
Weil eine methodologische Reflexion und
Diskussion die entwicklungsorientierte
Bildungsforschung weiterbringen könnte.
Entwicklungsorientierte Bildungsforschung
konzipiert Interventionen theoriegeleitet,
überprüft sie (Erprobung und Evaluation),
lässt Erkenntnisse in Entwicklung zurück-
fließen, gestaltet den Zyklus iterativ
liefert der Praxis nützliche Problem
lösungen und der Wissenschaft neue
theoretische Erkenntnisse
Das wirklich Neue an der entwicklungs-
orientierten Bildungsforschung bleibt
bislang unterbelichtet und unreflektiert:
die Entwicklung des Neuen. Offen ist:
- Was sind die Teilprozesse der
Entwicklung?
- Welche weiteren Prinzipien gibt es in,
mit und neben der Abduktion?
- Wie ändert sich die Rolle des
Forschers?
Vielen Dank für
Ihre
Aufmerksamkeit!
9. Gabi Reinmann – 30. April 2014 – Online-Vortrag bei e-teaching.org
Literatur
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