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Internet, Videogames und Handy: Grenzen zwischen
       engagierter Nutzung und Verhaltenssucht.
                     Aktuelle Befunde aus der Forschung




                                                          Bern, 7. März 2013
Gregor Waller, MSc                            Fachforum Jugendmedienschutz
Inhalt
1. Onlinesucht: Gibt es das Phänomen überhaupt?
   Definitionsversuche
2. Wie verbreitet ist Onlinesucht? Prävalenzraten
3. Was sind potenzielle diagnostische Kriterien?
4. Welche Schweregrade lassen sich unterscheiden?
5. Was sind komorbide Störungen von Onlinesucht?
6. Wie wird Onlinesucht therapiert?
7. Weiterführende Gedanken / offene Fragen




                                                    Zürcher Fachhochschule
Begriffe: Onlinesucht als Sammelbecken von...
•   Glücksspielsucht
•   Gamesucht
•   Pornosucht
•   Facebooksucht
    (Social Network)
• „News-Junkies“
• Shoppingsucht

Eine Suchtart vs verschiedene Suchtarten?
Aktueller Stand: Onlinesucht als Überbegriff für alle Subformen
    ‣ Internetspezifische Ähnlichkeiten (Anonymität,
      risikoarme Interaktion)
    ‣ Überlappende Symptomatik



                                                                  Zürcher Fachhochschule
Onlinesucht als Symptom anderer Störungen
•   Angststörung
•   Depression
•   Störung der Impulskontrolle
•   Zwangsstörung



    ‣ Onlinesucht als eine (inadäquate) Coping-Strategie zur
      Bewältigung anderer Störungen?
    ‣ Huhn-Ei-Frage: Kausalität?




                                                               Zürcher Fachhochschule
Symptom vs eigene Störung

Aktuelle Befunde weisen in Richtung einer eigenen Störung
  ‣ Symptome sind sehr ähnlich wie bei anderen
     Verhaltenssüchten
  ‣ Neurologische Studien zeigen auch Ähnlichkeiten zu
     anderen Suchtkrankheiten




                                                            Zürcher Fachhochschule
Aufnahme in diagnostisches Klassifikationssystem?

• Erstmaliger Vorschlag zur Aufnahme in DSM-IV (1996 von
  Kimberly Young)
• Aktueller Stand: Diskussion zur Aufnahme in DSM-V (erscheint
  im Mai 2013). Nicht als eigenständige Störung sondern als
  Spezialfall der Verhaltenssucht (im Appendix)




                                                                 Zürcher Fachhochschule
Onlinesucht als Form einer Verhaltenssucht
„Verhaltenssucht ist eine Bezeichnung für exzessive Verhaltens–
weisen, die Merkmale einer psychischen Abhängigkeit aufweisen
und von Betroffenen willentlich nicht mehr vollständig kontrolliert
werden können.“ Grüsser & Thalemann (2006).

Gruppe der stoffungebundenen Süchte

Weitere Beispiele:
• Arbeitssucht
• Kaufsucht (offline)
• Fernsehsucht




                                                                      Zürcher Fachhochschule
Prävalenz-Raten

• Von Land zu Land resp. Studie zu Studie verschieden
• In kollektivistischen Gesellschaften höher als in
  individualistischen Gesellschaften
• Minimalrate: 0.3% US-Studie
• Maximalrate: 10% USA, Europa / 38% China

Gründe für die grossen Unterschiede:
  ‣   Uneinheitliche diagnostische Kriterien
  ‣   Uneinheitliche cut-off-Werte
  ‣   Selektive Stichproben
  ‣   Kulturelle Faktoren




                                                        Zürcher Fachhochschule
Vorgeschlagene diagnostische Kriterien
Kriterien nach APA (2012) für DSM-V

Kriterium                          Beschreibung


Salienz auf der kognitiven Ebene   „ständiges daran Denken“

                                   wiederkehrende Handlungen, z.B. ständiges Einloggen
Salienz auf Verhaltensebene
                                   auf Facebook
                                   während der Aktivität werden positive Emotionen erlebt
Euphorie / Stimmungsregulation
                                   (z.B. Begeisterung)
                                   um Level der positiven Emotionen zu halten, muss
Toleranzaufbau
                                   Aktivität gesteigert werden
                                   negative Emotionen, wenn Aktivität nicht ausgeführt
Entzugserscheinungen
                                   werden kann (Gereiztheit)
                                   Tendenz zur Wiederaufnahme von alten Gewohnheiten
Rückfallerscheinungen
                                   nach Phase der Kontrolle

                                   Konflikte mit Personen aus dem sozialen Umfeld oder
Konflikte mit negativen            anderen Aktivitäten (Job / Schule). Z.B. Täuschung
Konsequenzen                       anderer / aufs Spiel setzen von Beziehung / Job /
                                   Schule


                                                                                            Zürcher Fachhochschule
2-Faktoren-Modell der Verhaltenssucht
nach Charlton & Danforth (2007, S. 1539)

Faktor I „Verhaltenssucht“             Faktor II „engagierte Nutzung“

Salienz (auf Verhaltensebene)          Salienz (auf Gedankenebene)

                                       Euphorie/ Erleichterung /
Konflikte mit negativen Konsequenzen
                                       Stimmungsregulation

Rückfallerscheinungen                  Toleranzaufbau

Entzugserscheinungen




             „core criteria“                     „peripheral criteria“


                                                                         Zürcher Fachhochschule
Abstufungen des Nutzungsverhaltens auf
der Basis des Modells (Schweregrade)


Nicht-Nutzer            kein Internet-Zugang


                        Unterdurchschnittliche Werte auf Faktoren
Zurückhaltende Nutzer
                        „engagierte Nutzung“ und „Verhaltenssucht“

                        Unterdurchschnittlich auf Faktor „Verhaltenssucht“ /
Engagierte Nutzer       Überdurchschnittlich auf Faktor „engagierte
                        Nutzung“

                        Überdurchschnittliche Werte auf Faktoren
Süchtige
                        „engagierte Nutzung“ und „Verhaltenssucht“




                                                                               Zürcher Fachhochschule
Komorbide Störungen von Onlinesucht

• Affektive Störungen (24%)
  z.B. Depression, Angststörungen (soziale / generalisierte)
• Aufmerksamkeitsdefizits-Störung (ADHS / 14%)
• Psychotische Störungen (10%)




                                                               Zürcher Fachhochschule
Therapieformen der Onlinesucht

• Psychologische Therapien:
  Kognitive Verhaltenstherapie
  Systemische Therapie

• Pharmakologische Therapien:
  Antidepressiva (z.B. SSRI)
  Phasenprophylaktikum / Stimmungsstabilisierer (z.B. Lithium)




                                                                 Zürcher Fachhochschule
Wirksamkeit der Therapieformen

• Zielgrössen:
  ‣ Reduktion der negativen Symptome
  ‣ Abnahme der Onlinezeit
  ‣ Abstinenz nicht als Ziel

• Beide Grundformen (psychol. /pharmakol.) sind wirksam
• Wirksamkeit bei den psychologischen Therapieformen ist
  besser belegt / grössere Effekte / nachhaltiger




                                                           Zürcher Fachhochschule
Wirksamkeit der Therapieformen

• Bessere Therapie-Erfolge bei Frauen
  Möglicher Grund: Frauen tendieren eher zu kommunikativen
  Internet-Tätigkeiten, die besser offline substituiert werden
  können. Männer sind eher Infoseekers (Web)

• Bessere Therapie-Erfolge bei älteren Patienten
  Mögliche Gründe: Offline Substitution bei älteren Personen
  einfacher / soziales Umfeld / Muster aus früherer Zeit verfügbar

• Bessere Therapie-Erfolge in westlichen Industrienationen als im
  asiatischen Raum
  Mögliche Gründe: Onlinekultur (z.B. Gaming) ist in der
  asiatischen Welt stärker kulturell verankert und akzeptiert
  (Gaming Liga etc.).
  Das Internet bietet in einer kollektivistischen Kultur individuellen
  Freiraum, den es dort sonst nicht gibt.

                                                                         Zürcher Fachhochschule
Weiterführende Gedanken / offene Fragen
• Huhn-Ei-Problematik: Kausalität Onlinesucht - andere
    Störungen. Es braucht Längsschnittstudien
•   Systemische Wechselwirkung (Umfeld & Person & Kultur)
•   Evtl. besteht eine übergeordnete Medienabhängigkeit
•   Kontrollverlust vs Flow-Erleben?
•   Spontanremission?




                                                            Zürcher Fachhochschule
Literatur	
American Psychiatric Association (2012). Internet use disorder. Retrieved
October 12, 2012, from http://www.dsm5.org/ProposedRevision/Pages/
proposedrevision.aspx?rid=573# (Oktober 2012)
Chakraborty, K., Basu, D., & Vijaya, K. (2010). Internet Addiction: Consensus,
Controversies and the Way Ahead. East Asian Archive of Psychiatry, 20(3),
123-132.
Charlton, J., & Danforth, I. (2007). Distinguishing addiction and high
engagement in the context of online game playing. Computers in Human
Behavior, 23, 1531-1547.
Grüsser, S. M. & Thalemann, C. N. (2006). Verhaltenssucht: Diagnostik, Therapie,
Forschung. Bern: Huber.
Weinstein, A., & Lejoyeux, M. (2010). Internet Addiction or Excessive Internet
Use. The American Journal of Drug and Alcohol Abuse, 36(5), 277-283.
Winkler, A., Dörsing, B., Rief, W., Shen, Y., & Glombiewski, J. (2013). Treatment
of internet addiction: A meta-analysis. Clinical Psychology Review, 33, 317-329.




                                                                                    Zürcher Fachhochschule

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Fo03 gregor waller_de

  • 1. Internet, Videogames und Handy: Grenzen zwischen engagierter Nutzung und Verhaltenssucht. Aktuelle Befunde aus der Forschung Bern, 7. März 2013 Gregor Waller, MSc Fachforum Jugendmedienschutz
  • 2. Inhalt 1. Onlinesucht: Gibt es das Phänomen überhaupt? Definitionsversuche 2. Wie verbreitet ist Onlinesucht? Prävalenzraten 3. Was sind potenzielle diagnostische Kriterien? 4. Welche Schweregrade lassen sich unterscheiden? 5. Was sind komorbide Störungen von Onlinesucht? 6. Wie wird Onlinesucht therapiert? 7. Weiterführende Gedanken / offene Fragen Zürcher Fachhochschule
  • 3. Begriffe: Onlinesucht als Sammelbecken von... • Glücksspielsucht • Gamesucht • Pornosucht • Facebooksucht (Social Network) • „News-Junkies“ • Shoppingsucht Eine Suchtart vs verschiedene Suchtarten? Aktueller Stand: Onlinesucht als Überbegriff für alle Subformen ‣ Internetspezifische Ähnlichkeiten (Anonymität, risikoarme Interaktion) ‣ Überlappende Symptomatik Zürcher Fachhochschule
  • 4. Onlinesucht als Symptom anderer Störungen • Angststörung • Depression • Störung der Impulskontrolle • Zwangsstörung ‣ Onlinesucht als eine (inadäquate) Coping-Strategie zur Bewältigung anderer Störungen? ‣ Huhn-Ei-Frage: Kausalität? Zürcher Fachhochschule
  • 5. Symptom vs eigene Störung Aktuelle Befunde weisen in Richtung einer eigenen Störung ‣ Symptome sind sehr ähnlich wie bei anderen Verhaltenssüchten ‣ Neurologische Studien zeigen auch Ähnlichkeiten zu anderen Suchtkrankheiten Zürcher Fachhochschule
  • 6. Aufnahme in diagnostisches Klassifikationssystem? • Erstmaliger Vorschlag zur Aufnahme in DSM-IV (1996 von Kimberly Young) • Aktueller Stand: Diskussion zur Aufnahme in DSM-V (erscheint im Mai 2013). Nicht als eigenständige Störung sondern als Spezialfall der Verhaltenssucht (im Appendix) Zürcher Fachhochschule
  • 7. Onlinesucht als Form einer Verhaltenssucht „Verhaltenssucht ist eine Bezeichnung für exzessive Verhaltens– weisen, die Merkmale einer psychischen Abhängigkeit aufweisen und von Betroffenen willentlich nicht mehr vollständig kontrolliert werden können.“ Grüsser & Thalemann (2006). Gruppe der stoffungebundenen Süchte Weitere Beispiele: • Arbeitssucht • Kaufsucht (offline) • Fernsehsucht Zürcher Fachhochschule
  • 8. Prävalenz-Raten • Von Land zu Land resp. Studie zu Studie verschieden • In kollektivistischen Gesellschaften höher als in individualistischen Gesellschaften • Minimalrate: 0.3% US-Studie • Maximalrate: 10% USA, Europa / 38% China Gründe für die grossen Unterschiede: ‣ Uneinheitliche diagnostische Kriterien ‣ Uneinheitliche cut-off-Werte ‣ Selektive Stichproben ‣ Kulturelle Faktoren Zürcher Fachhochschule
  • 9. Vorgeschlagene diagnostische Kriterien Kriterien nach APA (2012) für DSM-V Kriterium Beschreibung Salienz auf der kognitiven Ebene „ständiges daran Denken“ wiederkehrende Handlungen, z.B. ständiges Einloggen Salienz auf Verhaltensebene auf Facebook während der Aktivität werden positive Emotionen erlebt Euphorie / Stimmungsregulation (z.B. Begeisterung) um Level der positiven Emotionen zu halten, muss Toleranzaufbau Aktivität gesteigert werden negative Emotionen, wenn Aktivität nicht ausgeführt Entzugserscheinungen werden kann (Gereiztheit) Tendenz zur Wiederaufnahme von alten Gewohnheiten Rückfallerscheinungen nach Phase der Kontrolle Konflikte mit Personen aus dem sozialen Umfeld oder Konflikte mit negativen anderen Aktivitäten (Job / Schule). Z.B. Täuschung Konsequenzen anderer / aufs Spiel setzen von Beziehung / Job / Schule Zürcher Fachhochschule
  • 10. 2-Faktoren-Modell der Verhaltenssucht nach Charlton & Danforth (2007, S. 1539) Faktor I „Verhaltenssucht“ Faktor II „engagierte Nutzung“ Salienz (auf Verhaltensebene) Salienz (auf Gedankenebene) Euphorie/ Erleichterung / Konflikte mit negativen Konsequenzen Stimmungsregulation Rückfallerscheinungen Toleranzaufbau Entzugserscheinungen „core criteria“ „peripheral criteria“ Zürcher Fachhochschule
  • 11. Abstufungen des Nutzungsverhaltens auf der Basis des Modells (Schweregrade) Nicht-Nutzer kein Internet-Zugang Unterdurchschnittliche Werte auf Faktoren Zurückhaltende Nutzer „engagierte Nutzung“ und „Verhaltenssucht“ Unterdurchschnittlich auf Faktor „Verhaltenssucht“ / Engagierte Nutzer Überdurchschnittlich auf Faktor „engagierte Nutzung“ Überdurchschnittliche Werte auf Faktoren Süchtige „engagierte Nutzung“ und „Verhaltenssucht“ Zürcher Fachhochschule
  • 12. Komorbide Störungen von Onlinesucht • Affektive Störungen (24%) z.B. Depression, Angststörungen (soziale / generalisierte) • Aufmerksamkeitsdefizits-Störung (ADHS / 14%) • Psychotische Störungen (10%) Zürcher Fachhochschule
  • 13. Therapieformen der Onlinesucht • Psychologische Therapien: Kognitive Verhaltenstherapie Systemische Therapie • Pharmakologische Therapien: Antidepressiva (z.B. SSRI) Phasenprophylaktikum / Stimmungsstabilisierer (z.B. Lithium) Zürcher Fachhochschule
  • 14. Wirksamkeit der Therapieformen • Zielgrössen: ‣ Reduktion der negativen Symptome ‣ Abnahme der Onlinezeit ‣ Abstinenz nicht als Ziel • Beide Grundformen (psychol. /pharmakol.) sind wirksam • Wirksamkeit bei den psychologischen Therapieformen ist besser belegt / grössere Effekte / nachhaltiger Zürcher Fachhochschule
  • 15. Wirksamkeit der Therapieformen • Bessere Therapie-Erfolge bei Frauen Möglicher Grund: Frauen tendieren eher zu kommunikativen Internet-Tätigkeiten, die besser offline substituiert werden können. Männer sind eher Infoseekers (Web) • Bessere Therapie-Erfolge bei älteren Patienten Mögliche Gründe: Offline Substitution bei älteren Personen einfacher / soziales Umfeld / Muster aus früherer Zeit verfügbar • Bessere Therapie-Erfolge in westlichen Industrienationen als im asiatischen Raum Mögliche Gründe: Onlinekultur (z.B. Gaming) ist in der asiatischen Welt stärker kulturell verankert und akzeptiert (Gaming Liga etc.). Das Internet bietet in einer kollektivistischen Kultur individuellen Freiraum, den es dort sonst nicht gibt. Zürcher Fachhochschule
  • 16. Weiterführende Gedanken / offene Fragen • Huhn-Ei-Problematik: Kausalität Onlinesucht - andere Störungen. Es braucht Längsschnittstudien • Systemische Wechselwirkung (Umfeld & Person & Kultur) • Evtl. besteht eine übergeordnete Medienabhängigkeit • Kontrollverlust vs Flow-Erleben? • Spontanremission? Zürcher Fachhochschule
  • 17. Literatur American Psychiatric Association (2012). Internet use disorder. Retrieved October 12, 2012, from http://www.dsm5.org/ProposedRevision/Pages/ proposedrevision.aspx?rid=573# (Oktober 2012) Chakraborty, K., Basu, D., & Vijaya, K. (2010). Internet Addiction: Consensus, Controversies and the Way Ahead. East Asian Archive of Psychiatry, 20(3), 123-132. Charlton, J., & Danforth, I. (2007). Distinguishing addiction and high engagement in the context of online game playing. Computers in Human Behavior, 23, 1531-1547. Grüsser, S. M. & Thalemann, C. N. (2006). Verhaltenssucht: Diagnostik, Therapie, Forschung. Bern: Huber. Weinstein, A., & Lejoyeux, M. (2010). Internet Addiction or Excessive Internet Use. The American Journal of Drug and Alcohol Abuse, 36(5), 277-283. Winkler, A., Dörsing, B., Rief, W., Shen, Y., & Glombiewski, J. (2013). Treatment of internet addiction: A meta-analysis. Clinical Psychology Review, 33, 317-329. Zürcher Fachhochschule