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whatculturehastodowithitgerman
- 1. 208 dynamik
Familien© K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
N a c h f o l g e r G m b H , R o t e b ü h l s t r. 7 7 , 7 0 1 7 8 S t u t t g a r t
Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
Übersicht: Der Artikel beruht auf Da
Silvas Dissertation mit dem gleichen Ti-
tel. In dieser Arbeit wird davon ausge-
gangen, dass in Luanda, der Hauptstadt
Angolas, eine Diskussion über den Ein-
fluss der Kultur auf Programme zur HIV/
AIDS-Prävention begonnen habe, und
zwar aus der Sicht von Frauen in Luanda.
Diese Feststellung beruht auf den eige-
nen multikulturellen Erfahrungen der
Autorin, auf persönlichen Erzählungen
und Erfahrungen der Studienteilneh-
merinnen sowie auf der konstruktio
nistischen Erkenntnistheorie. Durchge-
führt wurde die Studie auf der Basis von
Grounded Theory, d. h. die Theorie wur-
de aus den Daten heraus entwickelt.
Dazu wurden unterschiedliche Daten-
quellen, z. B. Interviews mit Teilneh-
merinnen, Schriftstücke, Medienberich-
te usw.herangezogen.Ein wichtiges Fazit
der Arbeit: Die Diskussion hat gerade
erst begonnen und sollte fortgesetzt
werden. Aus dem Datenmaterial ergibt
sich zudem, dass die Kultur eine ent-
scheidende Rolle dabei spielt, ob öffent-
liche Programme zur Gesundheitsprä
vention, insbesondere zur HIV/AIDS-
Prävention, in Luanda erfolgreich sind
oder scheitern. Ein weiteres Fazit der Ar-
beit ist es, dass ein Ansatz allein nicht
übergreifend funktioniert, sondern dass
jede Intervention auf ihren besonderen
kulturellen und sozialen Kontext hin an-
gepasst werden muss.
Schlüsselwörter: Kultur, Gesundheits-
vorsorge, Einfluss der Kultur auf HIV-
Prävention, sozialer Konstruktionismus,
Sexualbeziehungen in Angola
Einleitung
Wenn große Epidemien ausbrechen,
wird selten ihr kultureller Kontext the
matisiert. Welchen Einfluss hat die
Kultur darauf, wie sich eine Krankheit
ausbreitet und wie sie sich in einem
spezifischen Kontext manifestiert?
Welche Verhaltensweisen tragen stär
ker zur Ausbreitung einer Krankheit
bei? Welche Rolle spielen kulturelle
Werte in der Gesellschaft? Welche so
zialen Konstrukte werden durch sie
am Leben erhalten?
Die Hauptmotivation für diese Stu
die waren meine persönlichen und
beruflichen Erfahrungen mit Nicht
regierungsorganisationen (NGOs) in
Luanda. Die Einsätze von NGOs basie
ren auf Ergebnissen von KAP-Studien
(Knowledge, Attitudes and Practices),
die in verschiedenen südafrikanischen
Ländern, z. B. in Angola, Kenia und
Namibia, durchgeführt wurden. In ei
ner KAP-Studie wird eine Basis an Wis
sen über HIV festgestellt. Wiederholte
Befragungen in bestimmten Zeitab
ständen sollen Veränderungen in den
Kenntnissen, Einstellungen und Prak
tiken der untersuchten Gruppe sicht
bar machen. KAP-Studien werden gern
von NGOs, Regierungen und interna
tionalen Organisationen wie den Ver
einten Nationen und der Weltbank
durchgeführt, weil so schnell und kos
tengünstig Datenmaterial erhoben
werden kann. Sie sind generell sehr
fokussiert und in ihrem Geltungsbe
reich begrenzt.
In Angola waren die Zielgruppe der
KAP-Studien über HIV/AIDS junge
Menschen zwischen 15 und 24 Jahren,
Prostituierte und LKW-Fahrer, die als
HIV-Hochrisikogruppen gelten. In ei
ner typischen KAP-Studie wird nach
demografischen Angaben, sexuellen
Überzeugungen, Sexualwissen, sexuel
len Praktiken und Orientierungen so
wie nach Wissen über HIV/AIDS ge
fragt und danach, wie und wo dieses
Wissen erworben wurde. Die meisten
Fragen lassen sich mit »Ja«, »Vielleicht«
oder »Nein« oder auf einer Likert-Ska
la mit vorgegebenen Abstufungen von
Zustimmung bis Ablehnung beant
worten. Die Fragen werden im Allge
meinen vorgelesen und die Antworten
vom Interviewer protokolliert. Die
durchschnittliche Stichprobe von KAP-
Befragungen ist ziemlich groß, d. h.
fünfhundert Befragte oder mehr, die
„„ Patricia Fernandes Da Silva | New York
Was hat die Kultur
damit zu tun?
Die andere Frau:
Eine Untersuchung von Mehrfach-
beziehungen in Luanda
1
1
Aus dem Englischen übersetzt von Astrid
Hildenbrand.
- 2. 209dynamik
Familien © K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
»Ich werde mich auf eine
Ursache für HIV konzentrieren,
die mit Kultur zu tun hat:
Sexualbeziehungen zu
mehreren Menschen zur
gleichen Zeit
Fragebögen werden dann elektronisch
analysiert. Aus den Ergebnissen wer
den schließlich Maßnahmen und Emp
fehlungen abgeleitet.
Die Brille der
Forscherin und meine
persönlichen
Erfahrungen
Als ich im April 2003 aus New York
nach Angola zurückging, um für eine
gemeinnützige Organisation zu arbei
ten, die sich um die Ärmsten in den we
niger entwickelten Teilen der Welt
kümmert, hatte ich große Hoffnungen.
Aufgrund meiner Position als Kommu
nikationsleiterin im HIV/AIDS-Bereich
hatte ich die Möglichkeit, Menschen zu
helfen, sich selbst zu helfen, ein besse
res Leben für sich und ihre Familien
aufzubauen.
Damit öffentliche Gesundheitserzie
hung erfolgreich sein kann, muss zu
erst die Ursache für ein spezifisches
Problem erkannt werden. Ich arbeitete
hauptsächlich im HIV-Bereich und fo
kussierte meine Aufmerksamkeit so
fort auf eine bestimmte Zielgruppe:
Frauen im Alter zwischen 14 und 40.
Aufgrund einer sehr guten qualitativen
Forschung, wie die Organisation sie
vor meiner Ankunft durchgeführt hat
te, kannten wir einige der Hauptursa
chen für die hohen HIV-Infektionsra
ten (immer noch niedrig im Vergleich
zu Nachbarländern): ungeschützter
Gelegenheitssex, intergenerationeller
Geschlechtsverkehr (junge Mädchen
mit älteren Männern), sexuelle Hand
lungen im Tausch gegen Geld oder Wa
ren (nicht das gleiche wie Prostitution)
und vor allem die Praxis, Liebesbezie
hungen gleichzeitig zu mehreren Men
schen über einen längeren Zeitraum zu
haben, manchmal sogar jahrelang.
Kurz gesagt: Mit Kampagnen der öf
fentlichen Gesundheitserziehung wird
u. a. versucht, den Menschen beizu
bringen, dass sie sich selbst und mögli
cherweise andere mit einer Krankheit
anstecken und ihr Verhalten die öffent
liche Gesundheit gefährdet, wenn sie
bestimmte Verhaltensweisen praktizie
ren oder bestimmte Vorsichtsmaßnah
men außer Acht lassen
Ich werde mich an dieser Stelle auf
eine Ursache für HIV konzentrieren,
die mit Kultur zu tun hat: Sexualbe
ziehungen zu mehreren
Menschen zur gleichen
Zeit. Das Kommunika
tionsteam hatte den Auf
trag, eine Kampagne zu
starten, in der das Problem
der Mehrfachbeziehung
thematisiert werden sollte.
Doch wie bringt man den
Menschen bei, dass etwas
kulturell so tief Verwur
zeltes wie die Praxis,
gleichzeitig mehr als eine Sexualbezie
hung zu haben, ein Problem darstellt?
Wie bringt man den Menschen bei,
dass sie etwas, an das sie glauben und
was sie als Kinder bei ihren Vätern und
Großvätern, bei ihrer Mutter und ihren
Großmüttern gesehen haben, ändern
müssen, um diese HIV/AIDS-Epide
mie zu überleben? Wie bringt man den
Menschen bei, dass sie, wenn sie über
leben wollen, ihre Kultur ändern müs
sen und mehr noch: zu ändern, wer sie
sind?
Ich wurde ständig daran erinnert,
dass meine Kultur eine männerdomi
nierte ist, in der die Sprache, in der mit
und über Frauen gesprochen wird,
häufig herablassend ist. Dies wirkt sich
auf das Selbstwertgefühl der Frauen
aus und hält sie letztlich davon ab, Ent
scheidungen zu treffen, die für sie ge
sund sind. Gergen spricht über Vorge
hensweisen, wie ein Diskurs subtil
dazu benutzt wird, um Machtbezie
hungen aufrechtzuerhalten, bestimmte
Gruppen herabzusetzen und diejeni
gen zum Schweigen zu bringen, die
den Status quo stören könnten (Ger
gen, 2002). Diese akzeptierte Art der
Kommunikation wird als so normal
angesehen, dass Frauen selbst diese
Sprache verwenden. Je niedriger Bil
dungsgrad und ökonomischer Status
der Frauen sind, desto eher wirkt sich
dieses kulturelle Phänomen auf sie aus.
Gebildetere Frauen, deren Überleben
nicht von Männern abhängt, können
potentiell zwar eher Entscheidungen
für sich treffen, gesundheitsbezogene
Informationen besser verstehen und
sich besser Zugang zu Gesundheits
diensten verschaffen, doch manchmal
werden auch sie Opfer ihres kulturel
len Umfeldes. In diesem Umfeld gelten
sie weniger, wenn sie nicht mit einem
Mann liiert sind oder wenn sie nach Er
reichen eines bestimmten Alters noch
kein Kind zur Welt gebracht haben.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Art,
wie Menschen in Angola auf meine
Entscheidung reagiert haben, für län
gere Zeit ohne meinen Mann in diesem
Land zu arbeiten. Ich kannte das Land,
ich war eine Einheimische, ich kannte
die Sprache, ich kannte die Menschen,
ich hatte das Know-how und die Be
reitschaft. Doch es zeigte sich, dass all
dies nicht genug war, um gegen die
»dicke Mauer der Kultur« anzukom
men. Es begann auf einer eher persönli
chen Ebene. Ich hatte meinen Mann in
New York gelassen, als ich nach Ango
la ging. Meine Familie schätzte meinen
Unabhängigkeitsdrang nicht. Eine »re
spektvolle« Frau verlässt ihren Ehe
mann niemals, aus welchem Grund
auch immer. Meine Freundinnen aus
Kindertagen betrachteten mich mit ei
ner Mischung aus Neugier und Miss
trauen; ihre Ehemänner trauten mir
nicht. Man fragte sich, warum ich allein
dort war. Was hält mein Ehemann da
- 3. 210 dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
von, dass ich hier bin? Ist er verrückt?
Lässt du dich gerade scheiden? Nie
mand konnte verstehen, weshalb je
mand einen perfekten, guten Mann
um einer beruflichen Tätigkeit willen
allein lässt. Anfangs wollte ich den
Menschen klarmachen, dass auch ein
Mann manchmal reisen müsse, um
berufliche Chancen zu ergreifen, und
dass dies auch für Frauen richtig sei.
Natürlich fand ich für diese Behaup
tung wenig Unterstützung; und
schließlich stellte ich meine Erklärun
gen ein und zuckte einfach mit den
Schultern, wenn ich auf meine Situa
tion angesprochen wurde.
Immer wieder staunte ich über die
Macht, die Männer über ihre Ehefrau
en, ihre Schwestern und ihre Kollegin
nen ausübten. Zuerst dachte ich, das
hätte etwas mit ökonomischer Überle
genheit zu tun, aber dann merkte ich,
dass selbst Frauen, die bessere Jobs als
ihre Männer hatten, mehr Geld ver
dienten als ihre Brüder und gebildeter
waren als ihre Kollegen, sich manch
mal spürbar unterwürfig verhielten.
Dies galt noch stärker für die Mann-
Frau-Beziehung: Die Frau sagt das eine
und verhält sich in Anwesenheit ihres
Mannes völlig anders. Da erkannte ich,
dass es nicht nur um Geld ging; es war
etwas Stärkeres, etwas Mächtigeres.
Viele Frauen und Männer sagten mir,
dass dies einfach unsere Kultur sei: Es
ist, wie es ist.
die alltäglichen Entscheidungen der
Menschen aus? Sind sich die Menschen
bewusst, dass sie sich so verhalten,
weil es unsere Art ist, unsere Kultur?
Oder handeln sie einfach automatisch,
weil alle anderen auch so handeln?
Gibt es Menschen, die wünschen, sie
könnten ausbrechen, können das aber
nicht? Warum nicht?
Eine von westlichen
Sichtweisen motivierte
Forschung
KAP-Studien sind effizient und erge
ben rasch umsetzbare Informationen.
Doch den Managern internationaler
NGO-Programme bieten sie kein tief
greifendes Verständnis der Menschen,
denen sie zu helfen versuchen. Da
durch wird das Design einer Studie
problematisch. So sind mit geschlosse
nen Fragen zwei große Schwierigkei
ten verbunden: Erstens wird unter
stellt, dass die Forscher wissen, was sie
fragen müssen; und zweitens erlauben
sie den Befragten nicht, ihre Antworten
genauer darzulegen. In Studien, die
der herkömmlichen westlichen For
schungskultur folgen, können es sich
die Befragten nicht aussuchen, was sie
zu der Forschung beitragen möchten
(Smith, 2002). Smith behauptet in ih
rem Buch, dass durch die Globalisie
rung westlichen Wis
sens und westlicher
Kultur das Selbst-
bild des Westens als
das Zentrum legitimen
Wissens, als Schieds
richter über das, was
als Wissen zählt, und
als Quelle zivilisierten
Wissens ständig neu bestätigt werde.
Folglich werden KAP-Studien, die
nach westlichen Standards konzipiert
sind und wenige oder keine lokalen
Vorgaben machen, zu schon erwarte
ten Antworten führen, weil die gestell
ten Fragen auf Basis dieser Tendenz
und vorgefasster Meinungen formu
liert worden sind.
In einer KAP-Studie könnte der In
terviewer z. B. fragen, wie viele Sexual
partnerinnen der Befragte in einem
bestimmten Zeitraum gehabt hat. Da
durch ist aber noch nicht bekannt, war
um er die Partnerinnen gewechselt
oder ob er zu ihnen zur gleichen Zeit
Liebesbeziehungen unterhalten hat;
denn solche Daten lassen sich auf
grund des Studiendesigns nicht erhe
ben.
Als in den meisten afrikanischen
Ländern auf dem Höhepunkt der HIV-
Krise Mitte der 1980er-Jahre und An
fang der 1990er-Jahre zum Gebrauch
von Kondomen aufgerufen wurde,
zeigten Berichte, dass der Kondom
gebrauch gering war (www.aidsmap.
com). Die Organisationen, die mit der
Verteilung von Kondomen beauftragt
waren – hauptsächlich ausländische
gemeinnützige Organisationen –, führ
ten Studien durch, um die Ursachen zu
untersuchen. Es zeigte sich, dass die
wesentlichen Faktoren Markenanreiz,
Verfügbarkeit und Preis waren. Folg
lich ging man davon aus, dass eine bes
sere Verfügbarkeit, Qualität und ein
stärkerer Markenanreiz zur Verhal
tensänderung führen würden.
Ich bin der Ansicht, dass solche Stu
dien problematisch sind. Sie geben den
Menschen keine Chance, ihre eigentli
chen Anliegen zu äußern und zu erklä
ren, wer sie wirklich sind und weshalb
sie sich verhalten, wie sie es tun. Die
Aufgabe einer NGO besteht m. E. nicht
darin, zu beurteilen und Veränderun
gen auf vorgefertigten Beurteilungs
skalen vorzunehmen, sondern darin,
zu verstehen, zu erkennen und Leiden
zu lindern, indem am kulturellen Kon
text orientierte Studien durchgeführt
werden, in denen die Zielgruppe die
Probleme so darstellen kann, wie sie sie
wahrnimmt. Mit meiner Studie wollte
ich erreichen, dass angolanischen Frau
en die Möglichkeit haben, ihre Stim
men zu Gehör zu bringen. Bei jedem
Schritt versuchte ich, meine eigenen
stereotypen Sichtweisen und Vorur
»Mit meiner Studie wollte ich
erreichen, dass angolanischen
Frauen die Möglichkeit haben, ihre
Stimmen zu Gehör zu bringen
Ich muss gestehen, dass ich skep
tisch war, was die Wirksamkeit der
Kampagne betraf, und musste unent
wegt über die unsichtbare »Mauer der
Kultur« nachdenken, vor der wir stan
den und stellte mir fortwährend Fra
gen wie: Wie wirkt sich die Kultur auf
- 4. 211dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
teile über meine angolanischen Mit
bürgerinnen zu analysieren und sie
nicht zu Probandinnen, sondern zu
Gesprächspartnerinnen zu machen.
In meinen Gesprächen mit den
Frauen aus Luanda habe ich versucht,
die Wissenskluft zwischen ihren mit
HIV/AIDS verbundenen persönlichen
Gedanken und Erfahrungen und den
westlichen Rahmenbedingungen, un
ter denen früher solche Probleme ange
gangen wurden, zu überwinden.
Methode
In der Untersuchung stützte ich mich
auf die Grounded Theory. Dabei wird
die Theorie aus dem Datenmaterial
entwickelt, wobei zu beachten ist, dass
die eigenen Konstruktionen uns bereits
dafür prädisponieren, was wir als Da
tenmaterial akzeptieren, und dass un
sere Vorannahmen und allgemeinen
Vorstellungen in die Analyse solcher
Daten einfließen (Glaser & Strauss,
2010). So beginnt der Prozess nicht mit
einer Hypothese, die dann – anhand
des erhobenen Datenmaterials – vali
diert oder disqualifiziert wird. Das Ziel
ist es, aus den Daten eine aussagekräf
tige Theorie zu entwickeln.
Hierzu werden jeweils ähnliche
Konzepte, die aus den Daten hergelei
tet sind, unter einem Schirm von Kate
gorien mit ähnlichen Merkmalen oder
Eigenschaften gruppiert. Diese werden
zum Schluss zusammengefasst und
konzeptualisiert, um daraus eine be
deutungshaltige Theorie zu bilden.
Alle erhobenen Daten, z. B. Interviews,
Medienberichte und Beobachtungs
protokolle, wurden auf diese Weise
analysiert. Zitate aus Interviews und
Gesprächen sowie Auszüge aus Medi
enberichten wurden immer wieder he
rangezogen, um einen mir wichtigen
Punkt zu veranschaulichen oder um
den Teilnehmerinnen ein direktes Mit
spracherecht in der Diskussion einzu
räumen.
Bei meinen Forschungen ließ ich
mich auch von der konstruktionisti
schen Erkenntnistheorie leiten. Diese
betrachtet Wissen als Ergebnis sozialer
Interaktion. Gergen sieht unser Ver
ständnis der Welt als mit sozialen Arte
fakten verbunden, die Produkte eines
historisch platzierten Austauschs unter
verschiedenen Menschen sind (Ger
gen, 2002). Berger und Luckmann
(2007) benutzen den Begriff der »Wis
senssoziologie«, der sich mit der Ana
lyse der sozialen Konstruktion der
Wirklichkeit befasst. Sie behaupten,
dass Vorstellungen von Wissen und
deren Übersetzung innerhalb und zwi
schen einzelnen Gesellschaften variie
ren. In diesem Prozess der Wissens
konstruktion spielt Sprache eine
wichtige Rolle. Etwas wissen heißt,
dass man es in Begriffen eines oder
mehrerer Diskurse weiß (Davies &
Harre, 1990). Sozialer Konstruktionis
mus betont den Zugriff, den Kultur auf
uns hat: Kultur beeinflusst, wie wir
Dinge sehen (und sogar wahrnehmen)
und formt unsere Sicht von der Welt.
Crotty (1998) bezieht sich auf Clifford
Geertz (1973) und spricht von sinnhaf
ten Symbolen, die eine Kultur zu einem
unverzichtbaren Leitfaden für mensch
liches Verhalten machen.
Der soziale Konstruktionismus geht
davon aus, dass das Verstehen von
Sprache eine wesentliche Vorausset
zung dafür ist, die Realitäten des All
tags zu verstehen. Wie ein Akteur seine
soziale Identität, die soziale Welt und
seinen Platz in ihr versteht und erlebt,
wird diskursiv konstruiert (Frazer,
1989). Frazer hat auch darauf hinge
wiesen, dass die Art, wie Mädchen Ge
schlechts-, Rassen- und Schichtzugehö
rigkeit, ihre persönliche soziale Identi
tät erleben, nur durch die Kategorien
ausgedrückt und verstanden werden
können, die ihnen im Diskurs zur Ver
fügung stehen. Wie wirkt es sich auf
die Konstruktion weiblicher Identität
aus, wenn ein bestimmter Typus des
männlichen Diskurses vorherrscht?
Davies und Harre (1990) erkennen,
welche Macht diskursive Praktiken da
rauf ausüben, wie ein Mensch letztlich
positioniert ist und welchen Einfluss
diese auf die individuelle Subjektivität
haben. Diese kann mit den Diskursen
verknüpft werden, über die die wahr
genommene Rolle von Frauen inner
halb und außerhalb des Haushalts kon
struiert wird. Je mehr wir daran ge
wöhnt sind, einen bestimmten Diskurs
zu hören, desto mehr wird er verallge
meinert und umso wahrscheinlicher
konstruieren wir uns dementspre
chend (Gergen & Gergen, 2004). McNa
mee und Gergen (1999) beschreiben
unser Handeln als ein mit anderen
Menschen koordiniertes Handeln, und
mit diesem entwickeln sich Rituale, Re
geln und Muster genauso wie Erwar
tungen und Verhaltensnormen, ent
sprechende Überzeugungen und Wer
te. Im Hinblick auf die Frauen aus
Luanda haben sich all die Jahre des do
minanten Diskurses, wie er von den
Medien und ihren männlichen Pen
dants praktiziert wird, darauf ausge
wirkt, wie sie die Wirklichkeit ihrer ei
genen Existenz und die Werte, denen
sie sich verpflichtet fühlen, wahrneh
men. Der Diskurs, der viele Jahre lang
dominant war, macht es schwierig,
dass Veränderung und Erneuerung
eintreten und eine neue Art von Dialog
akzeptiert wird.
»Doch auch wenn Männer nicht mehr als eine
Frau legal heiraten können, ist es kulturell
akzeptiert, dass er mehrere Geliebte in unter-
schiedlichen Haushalten und manchmal auch
mehr als eine Familie hat
- 5. 212 dynamik
Familien© K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
Historischer
Hintergrund
Am Anfang meiner Forschungsarbeit
stand die Beschäftigung mit dem Ur
sprung der einheimischen Bevölke
rung von Luanda: den Bantu. Ich stu
dierte ihre Herkunft, ihre Motivationen
und Konstrukte und versuchte, eine
Verbindung zwischen ihnen und der
Bevölkerung des modernen Luanda
herzustellen. In der angolanischen Kul
tur wurde die Praxis der Polygamie
verboten, kurz nachdem das Land 1975
von Portugal unabhängig geworden
war. Heute ist die Vielehe inAngola ge
setzeswidrig. Doch auch wenn Männer
nicht mehr als eine Frau legal heiraten
können, ist es kulturell akzeptiert, dass
er mehrere Geliebte in unterschiedli
chen Haushalten und manchmal auch
mehr als eine Familie hat (Dos Santos &
Ducados, 2000). Gleichermaßen bemer
kenswert ist die übliche Praxis, dass
Frauen in einem angolanischen Haus
halt ihrem Mann gegenüber eine unter
verwurzelt, dass Frauen bereitwillig
große Risiken auf sich zu nehmen, um
den Mutterstatus zu erlangen. Verhü
tungsmethoden oder nicht-penetrie
rende Sexualpraktiken als Optionen
sicheren Geschlechtsverkehrs stellen
die Frauen daher vor ein gewaltiges
Dilemma.
2007 veröffentlichte Helen Epstein
das Buch The Invisible Cure: Africa, the
West and the Fight against AIDS, in dem
sie die Eskalation der HIV/AIDS-Krise
inAfrikauntersucht.Epsteinbeschreibt
die afrikanische Kultur der »Bezie
hungsgleichzeitigkeit« als ein großes
Problem, z. B. auch in Angola. Es wur
de vielfach angenommen, dass die
HIV-Raten in Afrika höher sind als in
anderen Teilen der Welt, weilAfrikaner
normalerweise im Laufe ihres Lebens
zu mehreren Menschen Liebesbezie
hungen haben. Der öffentliche Diskurs
zum ThemaAIDS inAfrika war getrübt
durch die beharrliche Präsenz rassisti
scher Stereotype, moralisierender Be
gründungen und xenophobischer Stra
tegien (Prewitt, 1988). Laut Epstein ist
Partner mehrfache Sexualbeziehungen
haben, eine Infektion dreieinhalb mal
wahrscheinlicher ist als bei Menschen,
deren Partner nicht gleichzeitig andere
Beziehungen unterhalten. So erklärt
sich die allgemeine Beobachtung, dass
in Afrika treue Frauen mit HIV infiziert
werden, auch wenn sie selbst keine an
deren Liebesbeziehungen haben. Das
Verhalten ihrer Ehemänner bringt sie in
Gefahr. Angolanische Frauen sind ih
ren Ehemännern manchmal zwar un
treu, aber die Praxis, über lange Zeit
mehr als eine Sexualbeziehung zu ha
ben, wird fast ausschließlich Männern
zugeschrieben und ist eine kulturell ak
zeptierte Gepflogenheit (Dos Santos &
Ducados, 2000).
Geschichtlich wird HIV je nach Da
tenquelle unterschiedlich wahrgenom
men. In der westlichen Welt sah man
HIV ursprünglich als ein Problem, das
nur bestimmte Bevölkerungsgruppen
betrifft, z. B. homosexuelle Männer und
Drogenkonsumenten. In Afrika wurde
HIV zunächst bestimmten Gruppen
zugeschrieben: Prostituierten, LKW-
Fahrern und später dann Militärange
hörigen (Kalipeni, Craddock, Oppong
& Ghosh, 2004; Whiteside, 2008). Green
(2003) behauptet, dass dieses Schub
ladendenken ursprünglich mit westli
chen Fachleuten angefangen habe, die
die Ausbreitung der Krankheit in Afri
ka spezifischen »Hochrisikogruppen«
zuschrieben. In einer anderen For
schungsarbeit über HIV in Angola
(Castelo, Gaspan & Felix, 1999) wurde
die ethno-linguistische Zusammenset
zung der angolanischen Bevölkerung
zum Ausgangspunkt der Debatte über
sozio-kulturelle Faktoren. Die Bantu,
die Hegenote-Bushmen und die Vatua
wurden als die wichtigsten Ethnien in
Angola genannt. Die Bantu-Volksgrup
pe stellt zwar die Mehrheit der angola
nischen Bevölkerung, aber die Autoren
führten keine gründliche Untersu
chung der kulturellen Gewohnheiten
und Gepflogenheiten der Bantu durch.
Stattdessen gaben sie eine Übersicht
»In Afrika wurde HIV zunächst bestimmten Gruppen
zugeschrieben: Prostituierten, LKW-Fahrern und
später dann Militärangehörigen
geordnete, stützende Rolle einnehmen,
insbesondere bei Entscheidungsfin
dungen (Dos Santos & Ducados, 2000;
Oyebade, 2007). Dieser Umstand hält
Frauen davon ab, über die Neigungen
ihrer Männer, außerhalb der Ehe Lie
besbeziehungen zu unterhalten, zu
sprechen.
Die Bedeutung der Mutterschaft ist
ein weiterer Grund dafür, dass Frauen
zunehmend anfällig sind für HIV und
AIDS. In Angola wie in den meisten af
rikanischen Ländern ist die Mutter
schaft der Kern des Frauseins (Dos San
tos & Ducados, 2000; Vallaeys, 2002).
Eine Frau gilt erst dann als richtige
Frau, wenn sie Mutter ist. Diese Regel
ist in der afrikanischen Kultur so sehr
es aber so, dass Afrikaner im Laufe
ihres Lebens durchschnittlich weniger
Geliebte haben als die meisten Männer
in den USA oder in Europa (Epstein,
2007; Morris & Kretzschmar, 1997). Das
Problem in Afrika ist aber, so die Wis
senschaftlerin, dass die meisten Men
schen über eine längere Zeit mehrere,
d. h. zwei, drei oder noch mehr, Liebes
beziehungen gleichzeitig haben. Laut
Epstein sind parallel laufende oder
gleichzeitige Liebesbeziehungen weit
aus gefährlicher als serielle Monoga
mie, weil Menschen in einem riesigen
Netz von Sexualbeziehungen mitein
ander verbunden sind, das ideale Be
dingungen für die schnelle Ausbrei
tung von HIV schafft. Epstein stellt
ferner fest, dass bei Menschen, deren
- 6. 213dynamik
Familien © K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
über allgemeine Merkmale aller identi
fizierten Ethnien, wobei ihr besonderes
Augenmerk auf dem Sexualverhalten
im ehelichen Kontext sowie den Initia
tionsritualen bei Mädchen und Jungen
lag.
Die Autoren schlossen, dass das Se
xualverhalten allein die Ausbreitung
von HIV/AIDS nicht erkläre. Deshalb
explorierten sie andere kulturelle und
soziale Faktoren – z. B. die Sexualerzie
hung, den Verlust traditioneller Werte
hinsichtlich Sexualität, sexuelle Tabus
nach der Geburt und die Familien
struktur in einem Haushalt, Arten der
Ehe, den Status von Frauen und religi
öse Normen und Werte – als mögliche
Ursache des Anstiegs von HIV/AIDS in
Angola. Außerdem erstrecke sich das
vor allem bei Männern beobachtete
Phänomen der Untreue und der gleich
zeitigen Liebesbeziehungen nicht nur
auf den Umstand, mehrere Familien zu
haben, sondern auch darauf, Gelegen
heitsbeziehungen zu jüngeren Frauen
zu unterhalten.
Die Interviews
Ich interviewte ausschließlich Frauen,
weil ich mich auf ihre Perspektive kon
zentrieren wollte. Bei der Frage, ob sie
zu einem Interview bereit seien, mach
te ich ihnen deutlich, dass wir zwar
wahrscheinlich über HIV sprechen
würden, sie aber nicht auf HIV getestet
werden sollten. Auf diese Weise konnte
ich fünf meiner acht Teilnehmerinnen
ausfindig machen. Zwei der Teilneh
merinnen kannte ich schon, und auf
grund ihrer Lebenserfahrung und ihres
Alters wollte ich unbedingt mit ihnen
sprechen. Um der Diversität willen
wurde die letzte Teilnehmerin von ei
ner anderen Teilnehmerin an mich ver
wiesen, die überzeugt war, dass die Er
fahrung ihrer Freundin für unsere
Interviews relevant sein könnte.
Für die Durchführung der Inter
views wählte ich ein Büro in der Stadt
mitte. Fünf meiner Teilnehmerinnen
wurden hier interviewt, die anderen
auf Wunsch bei sich zu Hause. Die Teil
nehmerinnen, die im Büro interviewt
wurden, kamen generell viel zu spät
(durchschnittlich zwei Stunden). Ein
mal wartete ich vier Stunden lang auf
eine junge Frau, die mich immer wieder
anrief und mich zu warten bat, weil sie
gerade auf dem Weg zu mir sei. Mit
jeder Teilnehmerin führte ich formal
zwei Interviews durch. Im ersten gab es
ein unverbindliches Anfangsgespräch,
es wurde geklärt, um was es in meinem
Projekt ging, und Fragen der Vertrau
lichkeit thematisiert. Die zweite Sit
zung war weniger formal. Hier hatten
die Interviewten die Möglichkeit, sich
die Aufnahme unseres ers
ten Gesprächs anzuhören
und zu kommentieren,
was sie gesagt hatten; sie
konnten sagen, was unklar
war, oder das Gespräch
einfach fortsetzen. In der
zweiten Sitzung äußerten
sich die Teilnehmerinnen
viel persönlicher; sie erzählten mir de
taillierter von ihren persönlichen Bezie
hungen zu Männern und ihren inners
ten Gefühlen bei diesen Beziehungen.
Mit sechs der Teilnehmerinnen konnte
ich eine Betroffenenvalidierung (Trian
gulation) durchführen.
Die Interviews waren halbstruktu
riert. Meistens begann ich mit einer
Frage wie: »Liebesbeziehungen zu
mehreren Menschen gleichzeitig zu ha
ben, wie denken Sie darüber?« Es war
schwerer, Frauen mit niedrigerem Bil
dungsniveau zu interviewen. Ihnen
musste ich eher persönliche Fragen
stellen, weil sie das Problem, sobald es
generalisiert wurde, nur schwer begrif
fen. Also sagte ich eher: »Hat Ihr Part
ner außer der Beziehung zu Ihnen noch
Beziehungen zu anderen Frauen, und
wie denken Sie darüber?« Mir war
auch klar, dass die Interviewten glaub
ten, es gebe richtige und falsche Ant
worten, und dass sie sicher sein woll
ten, mir die richtigen zu geben. Es
dauerte, bis ich sie zum Sprechen
brachte, ohne sich darum zu kümmern,
mir damit einen Gefallen tun zu wol
len. Ich musste mehrfach wiederholen,
dass ich die Antwort auf meine Fragen
nicht kenne und mit ihnen lernen wol
le. Die angolanische Gesellschaft ist ex
trem hierarchisch strukturiert: Die
Menschen schauen jemanden an und
positionieren sich im Verhältnis zu
ihm. Wenn sie glauben, dass sie einem
sozial untergeordnet sind, zeigen sie
einen unbewussten Drang, das zu tun,
was man von ihnen verlangt. Als Inter
viewerin wollte ich nicht, dass genau
das geschieht.
Nach dem ersten Interview verän
derte ich die Fragen leicht und machte
sie etwas persönlicher, fragte etwa die
Teilnehmerinnen, ob sich ihr Partner
mit anderen Frauen treffe. Die Frage
traf natürlich einen empfindlichen
Nerv und brachte die Interviewten
zum Reden, und zwar nicht nur über
ihren gegenwärtigen Status, sondern
auch über den früheren. Sie hatten
nicht nur gleiche Erfahrungen ge
macht, sondern teilten diese auch mit
ihren Freundinnen und weiblichen
Verwandten, was ihnen half, ihre Auf
fassung vorzubringen und mir Beispie
le dafür zu geben, worüber sie spra
chen. Wenn das Gespräch auf einer
persönlicheren Ebene verlief, wurden
das Sprechen leichter und der Prozess
weniger formal. Die Teilnehmerinnen
mit höherem Bildungsniveau hatten
auch ihre Herausforderungen zu be
wältigen. Sie kannten die HIV/AIDS-
Sprache sehr gut, wussten genau, was
richtig und falsch ist, und wollten
schon zu Beginn des Interviews klar
stellen, dass sie das Richtige taten
(d. h., dass sie das ABC der Prävention
kannten und verantwortungsbewusst
waren). Hatten sie sich das von der See
»Es dauerte, bis ich sie zum
Sprechen brachte, ohne sich
darum zu kümmern, mir damit
einen Gefallen tun zu wollen
- 7. 214 dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
le geredet, erzählten sie mir ihre Ge
schichten, die in fast jedem einzelnen
Fall dem widersprachen, was sie mir
ein paar Minuten zuvor gesagt hatten.
Direkte Beobachtung
und andere Formen
der Datenerhebung
Ich konnte mit Frauengruppen darüber
sprechen, wie sie als Gruppe die Situa
tion in Luanda sahen. Während die
Meinungen über die Bedenklichkeit
oder das Ausmaß von Mehrfachbezie
hungen auseinandergingen, bestand
Einigkeit darin, dass über diese Sache
gesprochen werden müsste. Zu beob
achten, wie die Frauen unter sich das
Thema informell behandelten und dar
über sprachen, was in ihrem eigenen
Leben los war und wie sie mit solchen
Situationen umgingen, erwies sich
auch als eine wichtige Methode der Da
tenerhebung; denn so konnte ich die
Frauen in ihrem Alltag beobachten und
sehen, wie sie sich oft mit solchen Situ
ationen befassten oder zumindest mit
Freundinnen und Verwandten darüber
sprachen. Vorkommnisse, Anekdoten
und Unterhaltungen wurden aufge
zeichnet und als Feldbeobachtungen
verwendet.
Interessanterweise war auch Musik
eine reichhaltige Informationsquelle.
Ich wurde von Teilnehmerinnen und
Freunden dazu eingeladen, moderne
Musik von jungen Angolanern zu hö
ren. Dort werden Mehrfachbeziehun
gen und Polygamie oft thematisiert,
aus Sicht der Männer wie der Frauen.
Die Medien, vor allem die Gesprächs
runden am Radio, waren ebenfalls ein
gutes Barometer für Einstellungen zur
Mehrfachbeziehung und Polygamie.
Aufnahmen von Sendungen waren mir
zwar nicht zugänglich, aber ich habe
während des Zuhörens Beobachtungs
protokolle angefertigt.
Gemäß der konstruktionistischen
Denkrichtung legte ich großen Wert
auf den Gebrauch der Sprache in Luan
da und auf deren Einfluss auf Kultur
und Verhalten und nutzte die Medien
als Datenquelle für meine Forschungs
arbeit. Auf die Massenmedien (z. B.
Fernsehen, Radio, Presse, Musik usw.)
griff ich in meiner Studie deshalb als
Datenquelle zurück, weil sich daran
der allgemeine Diskurs über das Prin
zip von Mehrfachbeziehungen und die
Volksmeinung dazu untersuchen lässt.
Diese Art von Datenmaterial gibt uns
ein Bild davon, wie Mehrfachbezie
hungen gesehen und beschrieben und
in der größeren Gemeinschaft disku
tiert werden. Die Sprache des öffentli
chen Diskurses und deren Implikatio
nen öffnen uns ein Fenster zu der
Diskussion, mit deren Hilfe Realität
gestaltet wird. Der Wissenschaftler
Brooke Grundfest Schöpf diskutiert in
dem Buch HIV & AIDS in Africa, Beyond
Epidemiology von Kalipeni et al. (2004),
welch wichtige Rolle die Medien spiel
ten, als sich die ersten Erkenntnisse
und Ansichten über HIV und AIDS in
der Demokratischen Republik Kongo
herausbildeten; das Thema wurde
größtenteils durch gängige Radiosen
der und Musik öffentlich gemacht.
Ähnlich spricht der Journalist Philip
Gourevitch in seinem Buch Wir möchten
Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unse-
ren Familien umgebracht werden. Berichte
aus Ruanda (1999) über die wichtige
Rolle der Medien, vor allem der Radio
station Mille Coline, auf das einzustim
men und das zu organisieren, was 1994
schließlich im Völkermord in Ruanda
gipfelte. Alle diese medialen Äußerun
gen erwiesen sich für meine Studie als
informativ und wurden als Datenquel
len genutzt.
Gemeinnützige Organisationen se
hen die beste Strategie im Kampf gegen
HIV und AIDS in Luanda oft darin, die
Zahl der Sexualpartnerinnen zu redu
zieren. Doch die Praxis, Liebesbezie
hungen zu mehreren Menschen gleich
zeitig zu haben, ist ein akzeptierter Teil
der lokalen kulturellen Wirklichkeit
und nicht negativ konnotiert. Im Ge
genteil: Männer, die diese Praxis nicht
teilen, werden oft als schwach und so
zial erfolglos angesehen und von ande
ren Männern gehänselt.
Mehrere Studienteilnehmerinnen
waren der Meinung, dass Mehrfachbe
ziehungen Teil der lokalen Kultur sind
und die Männer in Luanda, geschicht
lich gesehen, immer mehrere Liebesbe
ziehungen gleichzeitig und mehr als
eine Ehefrau hatten. Andere Studien
teilnehmerinnen behaupteten, dass
Mehrfachbeziehungen früher nicht als
Problem oder als unbedingt falsch an
gesehen wurden. Ein Mann hatte aus
verschiedenen Gründen mehrere Ehe
frauen oder Frauen: um mehr Kinder
zu haben, als Zeichen eines höheren so
zialen Status, weil sich die Männer als
Wanderarbeiter verdingten, weil Bür
gerkrieg war und die Familien getrennt
wurden.
Was hat es mit den »anderen Frau
en« auf sich, die meist wissentlich ein
Verhältnis mit einem Mann haben, der
verheiratet ist oder in einer festen Be
ziehung lebt? Es gibt wohl mehrere
Gründe, weshalb Frauen solche Bezie
hungen bereitwillig eingehen. Doch im
Kontext kultureller Werte betrachtet
unterscheiden sich diese »anderen
Frauen« nicht von den verheirateten
»In unserer Kultur muss ein richtiger Mann mehrere
Frauen haben. Wenn er nicht mehrere Frauen hat,
machen sich sogar seine eigenen Freunde über ihn
lustig und sagen, dass er kein richtiger Mann ist . . .
so ist unsere Kultur
- 8. 215dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
Frauen: Sie wollen eine Familie, einen
Mann und Kinder. Der bekannte ango
lanische Sänger Matias Damasio be
singt die »andere« Frau in dem belieb
ten Lied I am the other (2009), in dem er
sie mitfühlend beschreibt und als Frau
darstellt, die wie jeder andere Mensch
nach Liebe sucht: »Ich weiß, er ist ver
heiratet . . . aber was kann ich tun, ich
liebe ihn, ich möchte nur wie jeder an
dere Mensch glücklich sein.«
Es ist auch viel über die erneute Le
galisierung der Polygamie in Angola
diskutiert worden. Senator Moreira
von der Partei der Neuen Demokratie
hat genau zu diesem Zweck eine Geset
zesvorlage eingebracht. Sein Haupt
argument war, dass Polygamie immer
noch weithin praktiziert werde und
dass eine formale Legalisierung Ord
nung in den Status quo bringen und
den Frauen, die solche Beziehungen
unterhalten, Grundrechte garantieren
würde (Angonoticias, 2009).
In Luanda hat sich die Position der
»anderen Frau« verändert. Zu Zeiten
der Generation meines Großvaters
wussten alle, wer die »anderen Frau
en« waren. Meistens besuchten sich
diese Frauen zu besonderen Anlässen
wie Hochzeiten und Beerdigungen.
Unter den Frauen gab es eine gewisse
Hierarchie, die respektiert und be
wahrt wurde. Einige Studienteilneh
merinnen behaupteten, dass
› die älteren Generationen gegenüber
diesen »anderen« Beziehungen immer
noch offener sind und die anderen Frauen
als Ehefrauen oder Partnerinnen be-
zeichnen.
Im Rahmen meiner Interviews erzähl
ten Teilnehmerinnen, dass in den eher
modernen Beziehungen die andere Frau
meistens geheimgehalten werde; doch
nicht nur der Mann hütet sie als Ge
heimnis, sondern auch die Frau spricht
nur mit engen Freundinnen und
manchmal mit Verwandten über ihre
Beziehung. Das heißt nicht, dass die
meisten Menschen, die jemandem na
‹
hestehen, der eine solche Beziehung
unterhält, nichts von der Existenz der
anderen Frau wüssten. Doch mit dem
Wandel der Zeiten und jüngeren Gene
rationen, die durch Reisen und über
die Medien mit neuen Kulturen und
Werten konfrontiert sind, in denen
Mehrfachbeziehungen als anstößig
oder als Merkmal niedriger Schichtzu
gehörigkeit gelten, hat sich eine neue,
diskretere Einstellung herausgebildet.
Eine Teilnehmerin stellte fest:
› Der Mann, mit dem ich ein Verhältnis
habe, ist sehr respektvoll, wissen Sie.
Wir gehen nicht zusammen in die Öffent-
lichkeit; er will nicht, dass andere Leute ihn
mit mir sehen und von uns wissen; er ach-
tet seine Ehefrau. Ich liebe ihn dafür
umso mehr.
In einer überwiegend katholischen
Stadt wie Luanda besteht auch ein
scharfer Widerspruch zwischen dem,
was kulturell akzeptiert und was religi
ös fragwürdig ist, denn für Katholiken
sind Ehebruch und Mehrfachbezie
hungen zweifellos eine Sünde (Ryan &
Jetha, 2012). Der angolanische Pop-
Sänger Heavy C spricht in seinem Lied
Homem Casado Não Da (»Married Man
Is No Good«, 2009) von Sünde, wenn
jemand mehrere Liebesbeziehungen
gleichzeitig hat: »Die Bibel sagt, ein
Mann für eine Frau. Wenn du verheira
tet bist, musst du bei der einen Frau
bleiben, die du geheiratet hast, und
nicht bei einer anderen. Gott mag das
nicht.«
› Ja, ich weiß, er ist verheiratet, aber ich
liebe ihn, und deshalb werde ich einfach
bei ihm bleiben und schauen, was
passiert.
Die »anderen Frauen« fühlen sich nicht
verantwortlich, wenn sie eine Liebes
beziehung eingehen. »Er hat mich auf
gesucht«, sagte eine dieser Frauen.
Eine Vorstellung ist die, dass eine Frau,
wenn ein Mann sie aufsucht, dessen
Bedürfnis stillt und es ihre Aufgabe ist,
genau dies zu tun. Eine Teilnehmerin
erklärt:
‹
‹
› Wenn alles in Ordnung wäre, würde
er, glaube ich, mich nicht aufsuchen.
Wenn er hier ist, ist es deshalb, weil er
etwas von mir braucht.
Eine andere Frau erzählte mir,
› Wenn ein Mann derjenige ist, der ver-
heiratet ist, ist er auch derjenige, der
sich selbst kontrollieren muss. Es ist nicht
meine Pflicht, ihn an seinen Familienstand
zu erinnern. Ich fühle mich nicht dafür ver-
antwortlich, wenn die verheiratete Frau
unglücklich ist. Dafür ist ihr Ehemann
zuständig, nicht ich.
Im Rahmen der Interviews war sich die
Hälfte der Teilnehmerinnen darüber ei
nig, dass die »andere Frau« wie die
meisten Frauen eine Familie gründen
und Kinder haben möchte, um in die
höhere Hierarchiegruppe der Mütter
aufzusteigen und auch, um ihre Pflicht
als Frau zu erfüllen. Nur in seltenen
Fällen kommt es vor, dass ein Mann
seine Ehefrau verlässt und mit der »an
deren Frau« eine neue Familie gründet.
Eine andere Teilnehmerin sagt:
› Ich habe Geschichten von Männern ge-
hört, die tatsächlich ihre Familien ver-
lassen, um hier in Luanda neue Familien zu
gründen. Aber das ist selten. Es geschieht
fast nie, aber ich hoffe es immer noch. Statt-
dessen gründen sie eine parallele, im Grun-
de geheime Familie. Sie verlassen ihre Ehe-
frauen oder ihre offiziellen Freundinnen
niemals wirklich. Ich meine, es kommt sel-
ten vor – sie haben einfach beide
Liebesbeziehungen zur gleichen Zeit.
In einem anderen, eher informellen Ge
spräch sagte eine Teilnehmerin:
› Es kommt mir so vor, als ob jeder Typ,
in den ich mich verliebe, verheiratet ist
oder im Begriff ist zu heiraten. Wenn man
in einer Beziehung lebt, möchte man, dass
sie auch funktioniert. Man möchte ihnen
glauben, wenn sie einem erzählen, dass sie
in ihrer Ehe nicht glücklich sind. Man
möchte glauben, dass es dieses Mal gut
ausgeht. Das tut es nie wirklich. Es
bringt mich um.
‹
‹
‹
‹
- 9. 216 dynamik
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Die »andere Frau« wird von der übri
gen Gesellschaft weder gerühmt noch
geächtet. Die Teilnehmerinnen reagier
ten auf diesen Umstand meistens mit:
»Die meisten Menschen scheren sich
eigentlich gar nicht darum.« Andere
Teilnehmerinnen stimmten zu, dass
Familien solche Beziehungen manch
mal unterstützen, manchmal auch
nicht. Familien befürworten dann eine
Liaison, wenn die andere Frau ein Kind
mit dem betreffenden Mann hat und er
die beiden als seine »andere« Familie
anerkennt. Die Teilnehmerinnen waren
sich auch darin einig, dass Familien
solche Liebesbeziehungen oft dann un
terstützen, wenn der betreffende Mann
nicht nur für die andere Frau sorgt,
sondern auch für deren Familie.
Die Interviews brachten noch einen
anderen wichtigen kulturellen Faktor
zutage, der erwähnenswert ist: die Be
deutung, Kinder zu haben oder Mutter
zu werden. Die Teilnehmerinnen wa
ren sich einig, dass es zu den wichtigs
ten sozialen und persönlichen Pflich
ten einer Frau gehört, ein Kind zu
haben. Liebesbeziehungen bringen sie
diesem Ziel näher, und letztlich verur
teilt die Gesellschaft sie dafür nicht.
Eine Teilnehmerin sagte:
› In Angola ist es so, dass alle zufrieden
sind, wenn du nur ein Kind hast,
selbst wenn dessen Vater verheiratet ist.
Die positiven kulturellen Werte, die
mit der Mutterschaft verbunden sind,
bleiben bestehen, auch wenn der Um
stand, mit einem verheirateten Mann
ein Kind zu haben, negativ konnotiert
werden kann. Der Wert der Mutter
schaft bzw. das, was damit erreicht
wird, ist weiterhin Richtschnur für das
Verhalten (Brislin, 2000).
› Ich denke mal, dass man ein Kind ad-
optieren kann, aber hier (in Luanda) ist
das nicht wirklich das gleiche. Ich meine,
du musst dein eigenes Kind zur Welt brin-
gen; sonst kann dein Mann dich tatsächlich
verlassen . . . oder weggehen und mit
einer anderen Frau das Kind haben.
‹
‹
Andererseits ist es ein schweres Stigma
für erwachsene Frauen, wenn sie keine
Kinder haben. Eine Teilnehmerin for
mulierte es so:
› Wenn du eine erwachsene Frau bist
und du hast noch kein Kind, reden die
Leute hinter deinem Rücken, und wenn sie
dich gut kennen, sagen sie es dir direkt
ins Gesicht.
Eine andere Teilnehmerin stellte fest,
dass
› man sich letztlich bei gesellschaftlichen
Anlässen oder Familientreffen von der
Gesellschaft fragen lassen muss: »Wann
bekommst du nun ein Kind?« Solche Fra-
gen kommen sogar dann, wenn die meisten
Anwesenden wissen, dass du kein
festes Verhältnis mit jemandem hast.
Künstliche Befruchtung ist teuer und
nur begrenzt verfügbar, auch Adopti
on wird nicht als gleichwertig angese
hen. Heute wie früher werden Männer
von ihren Familien dazu ermuntert,
sich andere Frauen zu suchen, um mit
ihnen Kinder zu haben, wenn ihre der
zeitigen Partnerinnen keinen Nach
wuchs bekommen. Männer haben das
Recht, sich andere Frauen zu nehmen,
um mit ihnen Kinder zu haben, selbst
wenn sie mit der derzeitigen Partnerin
schon Kinder haben, diese aber keine
weiteren mehr möchte. Einmal erzählte
mir eine Frau:
› Ich habe schon drei Kinder. Ich möchte
keine weiteren Kinder mehr. Ich verste-
he nicht, weshalb er mich darin nicht un-
terstützen kann. Seine Familie hat mir
schon gesagt, dass ich nicht überrascht
sein soll, wenn er ein außereheliches
Kind hat.
Die »andere Frau« zu sein wird gesell
schaftlich nicht geächtet und es gibt
klare Belohnungen dafür, mit einem
Mann liiert zu sein und, was noch
wichtiger ist, sein Kind zu haben. Die
sen Sachverhalt kommentierten zwei
Frauen so:
‹
‹
‹
› Es ist nicht zu leugnen; wenn du Kin-
der hast, behandeln dich die Leute
anders. Sogar deine Verwandtschaft.
Eine andere Frau sagte:
› Meine Schwester ist jünger als ich,
aber sie bekam ihren Sohn vor mir.
Meine Mutter fing an, sie anders zu behan-
deln, mit mehr Respekt, als sie mich
behandelte, obwohl ich die älteste war.
Schlussendlich überwiegen die Beloh
nungen die Nachteile und die Entschei
dung liegt klar auf der Hand. Zwei
Teilnehmerinnen waren mit verheira
teten Männern liiert und hatten Kinder
mit ihnen. Sie waren wie alle anderen
stolze Mütter und niemand konnte ih
nen das nehmen – unabhängig von der
Tatsache, dass sie ihre Partner nur gele
gentlich besuchten und zu den Vätern
ihrer Kinder nicht in einer formalen Be
ziehung standen.
› Meine Tochter bedeutet mir alles und er
hat sie zu mir gegeben. Wie könn-
te ich diesen Mann denn nicht lieben?
Diese Frauen gehörten zu der Gruppe,
zu der alle Frauen in diesem kulturel
len Kontext gehören möchten, und das
ist für sie die höchste gesellschaftliche
Belohnung (Levitt & Dubner, 2005).
Mit der Betrachtung dieses Phänomens
der »anderen Frau« wird die Aufmerk
samkeit weniger auf das individuelle
Verhalten gelegt als auf die Bedeutung,
die ein solches Verhalten in ihrer kultu
rellen Umgebung hat (Brislin, 2000).
Diskussion
In Bezug auf die ursprüngliche Frage,
was Kultur mit dem Thema HIV/AIDS
zu tun hat, wurde in dieser Studie
deutlich: Im Verhalten der lokalen Po
pulation spielen kulturelle Werte eine
große Rolle. Auch das Wissen um mög
liche Infektionsgefahren hält die meis
ten nicht davon ab, Liebesbeziehungen
‹
‹
‹
- 10. 217dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
zu mehreren Menschen zur gleichen
Zeit zu haben. Für ihre Vorfahren war
es ein Statussymbol, mehrere Sexual
beziehungen gleichzeitig zu unterhal
ten; und das ist bis heute so.
Ein Mann mit mehreren Ge
liebten gilt in den Augen
seiner Gleichaltrigen als er
folgreich und viriler. Dieser
Wert ist in den Köpfen der
Menschen tief verwurzelt.
Der Zufluss an Öldollars
und der Zustrom von Aus
ländern, die andere kultu
relle Gewohnheiten haben und eine
neue Schicht reicher und mächtiger
Menschen, vor allem Männer, spielen
für die Praxis der Mehrfachbeziehun
gen genauso eine Rolle wie die katholi
schen Werte, die während der portu
giesischen Kolonialzeit übernommen
wurden. Manche setzen die Praxis, Lie
besbeziehungen zu mehreren Men
schen gleichzeitig zu haben, fort; ande
re hadern damit und geraten dadurch
in emotionale Widersprüche.
Auch die Frauen werden durch älte
re, traditionelle Werte dazu motiviert,
sich auf Mehrfachbeziehungen einzu
lassen. Mutter zu sein, ist in der angola
nischen Kultur von größter Bedeutung.
Eine Frau, die ein Kind bekommt, er
füllt das, was als ihr Daseinszweck be
trachtet wird, und sie nimmt bereitwil
lig Risiken auf sich, um diesen Status
zu erreichen. Deshalb haben Frauen
ein sehr hohes Maß an Toleranz gegen
über männlicher Untreue und sehen
diese schon fast als unausweichlichen
Teil ihres Lebens an – eine Sichtweise,
von der Populärmedien wie Musik
und Fernsehen nachweislich durch
drungen sind.
Die Teilnehmerinnen führten ihr
Verhalten oft auf die alten Gewohnhei
ten zurück, und wenn sie von Verände
rung sprachen, verwiesen sie auf Ver
änderung der Einstellungen und auf
alte Werte, aber nicht darauf, das Ver
halten an sich einzustellen. De facto
sprachen die Teilnehmerinnen von
Schadensreduzierung und nicht von
Verhaltensänderung. Alle waren sich
einig darin, dass es ein integraler Be
standteil der Menschen in Angola sei,
mehr als eine Familie zu haben. Wäh
»Die Frauen werden durch
ältere, traditionelle Werte
dazu motiviert, sich auf
Mehrfachbeziehungen
einzulassen
rend einige dies als Problem sahen, wa
ren mehr von ihnen in Sorge um feh
lende Familienwerte und mangelnden
Respekt. Sie beklagten, dass Männer
Frauen abhängig machen, indem sie ih
nen riskante und verantwortungslose
Gelegenheitsbeziehungen aufbürden,
statt für die von ihnen gegründeten Fa
milien zu sorgen. Den vorhandenen
Kulturstudien ist zu entnehmen, dass
die meisten befragten Menschen in der
Region nicht daran glauben, dass sich
die Praxis der Mehrfachbeziehung völ
lig beseitigen lässt, dass sie aber, wie es
in Uganda der Fall war, stark einge
dämmt werden kann, um den Schaden
zu mindern, den sie anrichtet (www.
avert.org/aids-uganda.htm).
Das Dilemma wird umso offensicht
licher, wenn ausländische und wohl
meinende gemeinnützige Organisatio
nen, die in der HIV-Prävention in Afri
ka tätig sind, die Tragweite der lokalen
kulturellen Dynamik nicht verstehen.
Das Thema Schadensreduzierung ver
sus Verhaltensänderung ist der Grund
für lange und hitzige Debatten. Pro
gramme zur Schadensreduzierung fo
kussieren auf den Gebrauch von Kon
domen und die Verringerung der Zahl
der Sexualpartnerinnen, während Pro
gramme zur Verhaltensänderung auf
Treue und die verzögerte Aufnahme
sexueller Aktivitäten fokussieren. Bei
de Schwerpunkte müssen nicht im Wi
derspruch zueinander stehen. Beide
haben ihre Berechtigung und können
eine entscheidende und sich ergänzen
de Rolle bei der Senkung der HIV-Ra
ten spielen. Green (2003) ist jedoch der
- 11. 218 dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
Ansicht, dass Programme zur Scha
densreduzierung, die nicht auf Verän
derung riskanter Verhaltensweisen,
sondern auf Maßnahmen zur Risiko
verringerung fokussieren – d. h. vorge
ben, man könne weiterhin mehrere Se
xualpartnerinnen haben, sollte aber
zur Vermeidung des Infektionsrisikos
konsequent Kondome benutzen –, ei
nem paternalistischen Ansatz folgten.
Er ist der Auffassung, dass solche Pro
gramme das reproduzierten, was der
Westen in der eigenen Kultur mache,
statt lokale Lösungen zu suchen.
Obwohl ich westlich motivierte Pro
grammdesigns in der HIV-Prävention
inAfrika strikt ablehne, teile ich Greens
Ansicht nicht. Ich halte Schadensredu
zierung für den ersten notwendigen
Schritt. Menschliche Verhaltensweisen
sind komplex, und sie zu verändern
kann ein langer und schwieriger Pro
zess sein. Programme zur Schadensre
duzierung sind da, wo sie nötig sind,
kein Fehler. Sie sind eher eine Möglich
keit, die Menschen zum Nachdenken
über ihr Handeln zu bewegen und Ver
änderungen in einer Geschwindigkeit
einzuleiten, die für sie und ihre Kultur
akzeptabel ist.
Fazit
Es gibt in Schwarzafrika kein univer
selles Patentrezept für den Kampf ge
gen HIV/AIDS. Jedes Land ist anders
und je nach Region bestehen unter
schiedliche Realitäten. Programme zur
Verhaltensänderung, z. B. die verzö
gerte Aufnahme sexueller Aktivitäten
sind zwar Instrumente der HIV-Prä
vention, aber sie werden nicht auf dem
gesamten Kontinent funktionieren. In
manchen Gegenden werden Mädchen
sehr früh verheiratet. In vielen dieser
Fälle ist Sexualität vor der Ehe verbo
ten. Solche Heiraten haben für die
Familie und die Gemeinschaft einen vi
talen Zweck, sie sind für die Gemein
schaft eine Quelle des Stolzes. In einem
solchen Kontext reagiert eine Gemein
schaft nicht wohlwollend darauf, wenn
Außenstehende ihr sagen, dass sie
diese Art von Verheiratung nicht mehr
durchführen dürfe. Unter diesen Be
dingungen sind Programme zur Scha
densreduzierung, die auf Verringe
rung der Zahl der Sexualpartnerinnen,
auf Vermeidung von Gelegenheitssex
oder sexuellem Kontakt mit Prostitu
ierten sowie auf Treue zur Ehefrau
oder zu den Ehefrauen fokussieren,
kulturell dann eher akzeptabel.
Ein Programm, das auf die verzö
gerte Aufnahme sexueller Aktivitäten
fokussiert, ist dagegen eher in ländli
chen Regionen angemessen, wo die
Mädchen zur Schule gehen und das –
so das dahinterstehende Ziel – so lange
wie möglich tun sollten. Das vermeidet
intergenerationellen Geschlechtsver
kehr (Sex zwischen Mädchen und älte
ren Männern) und gibt den Mädchen
die Chance, in der Zukunft bessere Jobs
zu finden und finanziell unabhängiger
zu werden. Die verzögerte Aufnahme
sexueller Aktivitäten verhindert in sol
chen Situationen auch frühe Schwan
gerschaften. Mädchen, die erst in spä
terem Alter sexuell aktiv werden,
werden wahrscheinlich auch weniger
Liebespartner haben und folglich die
Wahrscheinlichkeit verringern, sich
mit HIV zu infizieren.
Wenn Programme sich an lokalen
Gegebenheiten orientieren, entscheidet
die reale Zielpopulation darüber, wel
cher Ansatz für sie geeigneter ist und
zuverlässigere Ergebnisse bringt. Des
halb geht es nicht allein um die Frage,
ob wir auf Schadensreduzierung oder
Verhaltensänderung fokussieren soll
ten, sondern auch darum, wer diese
Entscheidung trifft. Wenn die Zielpo
pulation ein integraler Bestandteil des
Entscheidungsprozesses ist, kann sie
auch Lösungen anbieten, die auf ihren
Kenntnissen der kulturellen Kontexte
basieren. Als Programmentwickler
sollten wir nicht davon ausgehen, zu
wissen, was für die Zielpopulation am
besten ist. Maßnahmen wie Kondom
gebrauch, Verringerung der Zahl der
Liebesbeziehungen, verzögerte Auf
nahme sexueller Aktivitäten, eheliche
Treue usw. haben im Kampf gegen
HIV/AIDS durchweg ihre Berechti
gung. Keine Lösung ist der anderen
überlegen, aber je nach kulturellem
und sozialem Kontext mehr oder weni
ger passend.
ÎÎ Summary
What Does Culture has to do it?
The article «What does culture has to
do it?« is based on Da Silva’s larger the
sis entitled «The other – A look into
concurrent relationships in Luanda-
Angola«. The work’s proposed thesis
was to start a conversation on the influ
ence of culture on HIV/AIDS preventi
on programs in Luanda from the per
spective of women in Luanda. The
background of the thesis was the
author’s own multicultural experien
ces, participant’s personal accounts
narratives and experiences as well as
the constructionism epistemology. The
author used «Grounded Theory« a
qualitative research methodology in
which the theory comes from the data.
Various data sources were used, inclu
ding participant’s interviews, papers,
media coverage etc. The work conclu
ded not only that the conversation has
»Das Dilemma wird umso offensichtlicher, wenn
ausländische und wohlmeinende gemeinnützige
Organisationen, die in der HIV-Prävention in Afrika
tätig sind, die Tragweite der lokalen kulturellen
Dynamik nicht verstehen
- 12. 219dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
only began and must continue but that
according to the data used, culture
plays a key role in the success and fai
lures of public health prevention pro
grams in particular HIV/AIDS preven
tion programs in Luanda. The author
also argued in her conclusions that
there is not one approach that works
across board but rather that every in
tervention must be tailored to its very
specific cultural and social context.
Keywords: culture, health protection, in
fluence of culture on HIV prevention,
social constructionism, grounded theo
ry, sexual relationships in Angola
ÎÎ Bibliografie
Angonotícias (2009, January 24). ND quer in
stituir a subversão moral [New Democra
cy wants to establish moral subversion].
Retrieved from http://www.angonoticias.
com/Artigos/item/21060/nd-quer-insti
tuir-a-subversao-moral.
Berger, B. L., & Luckmann, T. (2007). Die
Konstruktion der sozialen Wirklichkeit. Eine
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Anschrift der Verfasserin
Patricia Fernandes Da Silva
64 Beaver Street
New York, NY 10038
pdasilvaconsultant@gmail.com
Patricia Da Silva, MPA, Ph. D., lebt als
unabhängige Beraterin im Bereich
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