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Holger Kuße

Tolstoj und die
Sprache der Weisheit


Vandenhoeck & Ruprecht
Holger Kuße




Lev Tolstoj und die Sprache
       der Weisheit




      Vandenhoeck & Ruprecht
für Hanna, Mirjam und Malin




                          Mit 5 Abbildungen

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
           im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

           ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-525-56004-4
         ISBN der elektronischen Ausgabe: 978-3-647-56004-5

                         Umschlagabbildung:
             Leo Tolstoi waehrend einer Rast im Wald. –
             Gemaelde, 1891, von Ilja Repin (1844 – 1930)
                          Foto: akg-images



      2010 Vandenhoeck  Ruprecht GmbH  Co. KG, Göttingen /
           Vandenhoeck  Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.
                               www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich
 geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen
  Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
 Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne
 vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich
 gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für
           Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.
             Druck und Bindung: c Hubert  Co, Göttingen
               Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Vorwort
Dieses Buch ist zufällig entstanden. Tolstoj habe ich nie beson-
ders gemocht. Und das gilt nicht nur für den Moralisten, den
Prediger des einfachen Lebens, den kämpferischen Vegetarier
oder den kinderreichen Propagandisten absoluter Keuschheit,
als der er in der zweiten Hälfte seines Lebens auftrat, sondern
auch für den genialen Schriftsteller, als der er gerühmt wird.
„Krieg und Frieden“ habe ich noch gerne gelesen, durch die
„Auferstehung“ mich mit Interesse durchgequält, bei „Anna
Karenina“ streckte ich die Waffen. Doch für eine Untersuchung
zur normativen Funktion von Modalwörtern (sollen, müssen
usw.) entdeckte ich Tolstojs Sammlung „Der Weg des Lebens“
von 1910 als wahre Fundgrube an Beispielen. Und es folgte in
Vorbereitung auf seinen hundertsten Todestag die Einladung,
mich an einem Sammelband zu „Lev Tolstoj als theologischer
Denker und Kirchenkritiker“ zu beteiligen. Für ein weiteres
Projekt zum Thema „Weisheit in Europa und Asien“ schaute ich
mir „Der Weg des Lebens“ noch einmal intensiv an. Und je mehr
ich Tolstoj las, desto interessanter wurde er. Die „Beichte“, „Über
das Leben“, „Das Reich Gottes ist in euch“ oder auch „Was ist
Kunst?“ – all diese berüchtigt moralschweren Schriften begannen
zu wirken und wurden zur spannenden Lektüre. Vor allem aber
ließ sich in den letzten Werken, den Weisheitssammlungen „Le-
sezyklus“, „Für jeden Tag“ und „Der Weg des Lebens“, noch ein
anderer Ton vernehmen als der des Moralpredigers. Neben dem
Erzähler und dem Prediger begegnet in ihnen ein dritter Tolstoj,
der Tolstoj der Weisheit. Wenn die Moral nach der Wende der
siebziger Jahre, nach „Anna Karenina“, die Erzählung verdrängt
hat (was chronologisch bekanntlich nicht ganz aufgeht), so wur-
den die letzten Lebensjahre Tolstojs zu einer weiteren Schaf-
fensperiode, in der die Weisheit die Moral abzulösen begann.
Und dieser ,ganz späte‘ Tolstoj ist heute vielleicht der interes-
santeste.
   Was in den verschiedenen Zusammenhängen entstanden ist,
habe ich hier neu zusammengefügt, an manchen Stellen gekürzt,
Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4   5
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an anderen ergänzt und erweitert. Im Fokus steht die Weisheit
Tolstojs. Das Buch handelt aber nicht nur von ihr, sondern be-
schreibt auch den Weg, der zu ihr führt. Es geht zunächst um den
Moralisten Tolstoj, der in langen Traktaten die Übel der Welt und
der menschlichen Gesellschaft anprangert, und es geht um den
Mystiker, der vom Licht Gottes spricht, das in jedem Menschen
leuchten will. Es geht auch um die expressionistischen Gegen-
sätze, in denen sich sein Denken vollzieht: Wahrheit und Täu-
schung, Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod
und Leben.
   Tolstoj ist ein radikaler Denker. Kaum etwas Irdisches ist er-
laubt auf dem Weg zum Reich Gottes. Schuhe machen ist besser
als Bücher schreiben (gleichwertig wäre okay gewesen), Sex soll
man bleiben lassen, Kinder würden besser nicht geboren, und
wer nicht arm ist, kann nicht gut sein … Die Apodiktik seiner
(nicht selten widersprüchlichen) Forderungen, die ihn am Ende
in den eigenen Tod trieb, wirkt abstoßend. Darüber ist viel ge-
schrieben, dafür ist Tolstoj viel kritisiert worden. Der russische
Philosoph Vladimir S. Solov’ev rückte ihn aufgrund der radika-
len Moral, die Tolstoj nicht mehr zur Diskussion stellte, sogar in
die Nähe des Antichristen. Als reaktionär muss heute seine
Vorstellung von der Rolle der Geschlechter gelten. So fällt es leicht
und ist bequem, sich der Tolstojkritik anzuschließen und den
Tolstoj jenseits der Erzählungen schnell ad acta zu legen, wenn
nicht gar ins Altpapier zu geben (wäre ja immerhin ein gutes
Werk …). Aber seine Aufzeichnungen aus der Schule von Jasnaja
Poljana, die er für Bauernkinder einrichtete, haben die Reform-
pädagogik inspiriert, und sein Engagement für verfolgte religiöse
Minderheiten ließ ihn zum Anwärter auf den Friedensnobelpreis
werden. Und dann lese ich vom Preis für luxuriöse Privatyachten:
300 Millionen Euro – und sehe in den Nachrichten wieder einmal
Kinder, die am anderen Ende der Welt Steine auf dem Kopf
schleppen, um sich und ihre Familien am Leben zu erhalten, und
frage mich, ob Tolstojs harte Gegensätze, sein Ja und sein Nein,
sein Wahr und sein Falsch nicht doch ihre Berechtigung haben.
Es gibt genug, für das ein Reden in Gegensätzen die einzig ange-
messene Sprache ist. Man muss nicht zum Tolstojaner werden,
um zu erkennen, dass Tolstoj bedenkenswert ist.
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           © Vandenhoeck  Ruprecht GmbH  Co.KG, Göttingen 2010
Dieses Buch handelt nicht nur von Tolstojs Denken in Ge-
gensätzen und ihrer Überwindung in der Weisheit, es ist be-
sonders auch der Sprache, d. h. den Formen gewidmet, in denen
Tolstoj die Gegensätze, die ihn quälten, zum Ausdruck brachte
und zu überwinden suchte. So werden in insgesamt vier Kapiteln
zunächst Tolstojs „Flucht aus den Gegensätzen“ und sein „Den-
ken in Gegensätzen“ dargestellt, sodann die „Sprache der Moral“
der religiösen Traktate und schließlich die „Sprache der Weis-
heit“, zu der er am Ende seines Lebens gefunden hat.
   Den Menschen Tolstoj konnte der Weg der Weisheit am Ende
nicht retten, aber seine Sprache der Weisheit ist auch heute le-
senswert. Der zweite Teil des Buches ist deshalb ihm selbst
überlassen: mit einer kleinen Auswahl aus seiner letzten
Sammlung: „Der Weg des Lebens“ von 1910.

Mein Dank gilt Frau Dr. Claudia Woldt und Frau Marina Scharlaj,
M.A. vom Institut für Slavistik der TU Dresden für ihre Unter-
stützung bei der Korrektur des Manuskripts.

Dresden und Rügen im Oktober und November 2009




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            Lev Nikolaevic Tolstoj 1910




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Inhalt



I. Über Tolstoj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      11
   1. Die Flucht aus den Gegensätzen . . . . . . . . . . . . . . . . .                       11
   2. Denken in Gegensätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                  16
   3. Die Sprache der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                53
   4. Die Sprache der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                 95

II Von Tolstoj: Der Weg des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Texte von Lev N. Tolstoj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Werkausgabe 1929 – 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Weitere Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151




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I. Über Tolstoj
               1. Die Flucht aus den Gegensätzen

                ˇ
Lev Nikolaevic Tolstoj starb am 7. November 19101 auf der Bahn-
station Astapovo. Im fremden Haus des Stationsvorstehers endete
seine bizarre Flucht aus Jasnaja Poljana, dem Landgut, auf dem er
aufgewachsen war und die meiste Zeit seines Lebens verbracht
hatte, die Flucht vor seiner Familie, seinem Leben als Adliger, der er
nicht sein wollte, vielleicht auch die Flucht vor der eigenen Popu-
larität, die er als Prediger des einfachen, schlichten Lebens nicht
gut heißen konnte und die doch im Presserummel ihr Ende und
Ziel fand. Bei Dunkelheit, morgens um fünf Uhr, am 28. Oktober
hatte sich Tolstoj aus seinem Haus geschlichen. Begleitet wurde er
von seinem Arzt, später schloss sich die jüngste Tochter an. Zu-
nächst mit der Kutsche, dann mit der Bahn machte er sich auf den
Weg, erkrankte und starb – fast noch in der Bewegung, fast noch
im Wartesaal, im Umsteigen begriffen vom einen in den nächsten
Zug.
   Der spektakuläre Tod, unterwegs, an einem unspektakulären
Ort wurde zum letzten Wort des Schriftstellers und Denkers, zum
letzten seiner berühmten Werke. 17 Jahre danach zählte Stefan
Zweig dieses Werk zu den „Sternstunden der Menschheit“ (Zweig
1987 [1927]), in einer Reihe mit dem Fall Konstantinopels und
Scotts Ende in der Arktis, und er nannte es „Die Flucht zu Gott“.
Aber zu Gott musste Tolstoj nicht fliehen, wenn er seiner eigenen
Glaubenslehre nicht misstraute, und er musste auch nicht die
„Flucht in die Unsterblichkeit“ antreten, wie der Titel einer we-
niger bekannten Zusammenstellung von Dokumenten aus seinen
letzten Tagen lautet (Pozner o. J.). Denn bei Gott war er schon – wie
jeder Mensch. Und auch unsterblich war er – wie jeder Mensch.
Tolstoj war ein mystischer Denker, und das heißt: Er fand Gott im
Menschen, nur im Menschen. In den letzten Eintragungen des

   1
     Aten Stils (Julianischer Kalender); nach heutigem (Gregorianischem)
Kalender: 20. November.

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„nur für sich selbst“ geschriebenen Tagebuchs, die er seiner
Tochter Aleksandra am 31. Oktober 1910 diktierte, steht: „Wahr-
haft existiert nur Gott. Der Mensch ist Seine Erscheinung in der
Materie, in der Zeit und im Raum“ (PSS 1934/58, 1432). Und: „Gott
erkennen wir nur durch das Bewusstsein Seiner Erscheinung in
uns“ (PSS 1934/58, 144). Das menschliche Wesen ist eine Er-
scheinung Gottes – das ist die Mitte der Tolstojschen Religion,
Tolstojs Evangelium. Schon deswegen ist der Mensch, jeder
Mensch, unsterblich, weil Gott in ihm nicht sterben kann. Er ist es
aber auch, weil das Leben jedes Menschen sich fortsetzt in anderen
Menschen, weil Leben fortlebt und geistig weitergegeben wird, so
wie es seine fleischliche Geburt der fleischlichen Weitergabe von
Leben in der Zeugung verdankt. In „Über das Leben“ hatte Tolstoj
schon Ende der achtziger Jahre geschrieben: „Mein Bruder ist
gestern oder vor tausend Jahren gestorben, und die Kraft seines
Lebens, die während seiner fleischlichen Existenz wirkte, wirkt in
mir und Hunderten, Tausenden, Millionen Menschen noch stärker
weiter, auch wenn das sichtbare Zentrum dieser Kraft seiner zeit-
lichen fleischlichen Existenz meinen Augen entschwunden ist“ (PSS
1936/26, 414).
   Wenn die Kraft des Lebens sich in Handlungen und Worten
ausdrückt, die auf Menschen wirken und in ihnen über Genera-
tionen weiterwirkt, und wenn Gott in jedem Menschen lebt, dann
musste sich Tolstoj um Unsterblichkeit keine Sorgen machen und
auch keine Flucht zu einem fernen Ort beginnen, um Gott zu
finden. Es musste ihn anderes bewegt haben.
   Tolstoj dachte in Gegensätzen: Gott und Mensch, Mann und
Frau, Geist und Fleisch, das Innerliche und das Äußerliche,
Wahrheit und Täuschung. Und er hoffte auf die Überwindung der
Gegensätze in einem geistbestimmten Leben, dessen verbleibende
Materialität sich auf die notwendige Versorgung des Körpers, der
materiellen Hülle des Geistes, mit Nahrung beschränkt. Nichts
mehr als die Ernährung (vegetarisch) und die elementare Arbeit

     2
                                ˇ
    PSS = Polnoe Sobranie Socinenij v 90 tomach. Moskva/Leningrad:
                                    ˇ
Gosudarstvennoe izdatel’stvo „Chudozestvennaja literatura“. 1929 – 1958
[Vollständige Werkausgabe in 90 Bänden. Moskau/Leningrad: Staatlicher
Verlag „Künstlerische Literatur“.]

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mit den Dingen, die Feldarbeit oder das Handwerk, sollten den
Geist mit der Erde und dem Leib verbinden. Nur so sei ein Leben in
der Wahrheit möglich, nur so sei menschliche Gemeinschaft
wahrhaftig: in der Gesellschaft, in der Familie, zwischen Mann und
Frau, in der Religion … Jasnaja Poljana–Astapovo war deshalb
keine Flucht zu und keine Flucht in, sondern eine Flucht aus: eine
Flucht aus den Gegensätzen, in denen der fleischliche Mensch Lev
Tolstoj sich gefangen fühlte, auch wenn der geistige Mensch Lev
Tolstoj sich längst aus ihnen befreit sah.
   Beides, die Überwindung der Gegensätze und die Flucht aus
ihnen, fand bei Tolstoj vor allem auf dem Papier statt. Selbst die
Arbeit auf dem Feld mit der Sense in der Hand oder das Schus-
terhandwerk, das er für wertvoller erachten wollte als seine Ro-
mane, und schließlich die Flucht mit Kutsche und Eisenbahn
wurden von einer beständigen Textproduktion begleitet. Tolstoj
hörte nicht auf zu schreiben, bis er ins Koma fiel. Das falsche Leben
sollte mit Worten bezwungen, das wahre und gute Leben mit
Worten erkannt und vermittelt werden.
   In Tagebucheintragungen, Briefen und immer neuen Schriften
vergewisserte er sich und andere eindeutiger Werte, die das gute
und richtige Leben ohne Kompromiss und Kehrseite ge-
währleisten sollten. Tolstoj nannte es das unveränderliche Gesetz
des wahren Lebens, das wahre Gesetz des Lebens, das wahre Gesetz
Gottes, das Gesetz Gottes und des Menschen oder auch nur Gesetz
Gottes oder Gesetz des Lebens. Zum Prediger dieses „wahren Ge-
setzes“ wurde Tolstoj in seiner zweiten Lebenshälfte. Öffentlich
hatte er, fünfzig Jahre alt, nach dem Erscheinen von „Anna Kare-
nina“ (1875 – 1877), seine innerliche Lebenswende eingeleitet. In
der „Beichte“ (1879/18823) bezichtigt er sich, sein bisheriges Leben
sei irdisch, fleischlich, materiell und eine Verkettung von Sünden
gewesen. Die Erkenntnis des wahren Lebens oder wenigstens des
Weges dorthin habe er aber erkannt und sich auf diesen Weg des
Lebens begeben.
   Zu Tolstojs Erkenntnis und Selbsterkenntnis schreibt Romain
Rolland (1866 – 1944), dass sich „der Hang zur Vernunft und der

   3
     Die erste Jahreszahl gibt das Jahr der Entstehung, die zweite das der
Erstveröffentlichung an.

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Tätigkeitsdrang des Abendländers den Träumen des Asiaten bei-
mischte“, denn da Tolstoj eben kein indischer Mystiker gewesen
sei, dem Ekstase genügt, „musste er die ihm gewordene Offenba-
rung in praktischen Glauben umsetzen und aus diesem göttlichen
Erleben Regeln für das tägliche Leben ableiten“ (Rolland 1922, 79).
Und nicht nur das. Aus der Erkenntnis wurde Polemik und, wie der
liberale Philosophiehistoriker Isaiah Berlin (1909 – 1997) sagt, ein
„Aktionsprogramm“: „eine Kriegserklärung gegen gängige soziale
Werte, gegen die Tyrannei von Staaten, Gesellschaften und Kir-
chen, gegen Brutalität, Ungerechtigkeit, Dummheit, Heuchelei und
Schwäche, vor allem aber gegen Eitelkeit und moralische Blind-
heit“ (Berlin 1981, 334 f.).
   Das falsche Leben zu bekämpfen und das wahre Leben allen zu
predigen, wurde Tolstoj zur Lebensaufgabe, der Zwang, dieses
Leben im eigenen Leben zu verwirklichen, zum Trauma. „Ent-
setzlich, immer wieder sich verstellen müssen, immer wieder sich
verstecken“, lässt Stefan Zweig ihn sprechen: „Vor der Welt will
man wahr sein, vor sich selbst will man wahr sein und darf es nicht
vor seiner Frau und seinen Kindern! Nein, so kann man nicht leben,
so kann man nicht leben!“ (Zweig 1987, 197).
   Tolstoj entzog sich durch Flucht, letztlich durch den Tod, den er
sich buchstäblich holte, indem er die Fahrt mal im überheizten und
überfüllten Wagen der dritten Klasse, mal auf der offenen Platt-
form im kalten Fahrtwind zubrachte (Schklowski 1984, 696 f.).
Aber bevor es dazu kam, hatte Tolstoj noch einen anderen als den
Weg des sublimen Selbstmordes gesucht, um dem Anspruch seiner
rigoristischen Moral – nur in vollkommener Keuschheit und in
vollständiger Armut und Bedürfnislosigkeit ist das wahre Leben
möglich – gerecht zu werden, genauer: ihn auf dem Papier
sprachlich zu meistern. Dies ist nicht mehr die Sprache der Moral,
sondern die Sprache der Weisheit, zu der Tolstoj in seinen letzten
Werken, den „Gebeten“ (1909) und den Spruchsammlungen „Le-
sezyklus“ (1904 – 1908), „Für jeden Tag“ (1907 – 1910) und „Der
Weg des Lebens“ (1910) fand. In ihnen spricht Tolstoj nicht allein.
Er fügt Zitate aneinander und folgt besonders amerikanischen
Vorbildern, aus denen er übersetzt (Alekseeva 2005). Doch im
Anschluss an die und im Dialog mit seinen Vorlagen und den
Vorbildern aus der Menscheitsgeschichte entstehen eigene Worte
14         Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4
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und Einsichten, spricht dann doch ein Autor und nicht ein Kom-
pilator. Tolstojs religiöse und moralische Botschaft ändert sich
gegenüber den großen religiösen und moralischen Traktaten wie
„Kurze Darlegung des Evangeliums“ (1881 – 1883), „Über das
Leben“ (1886 – 1887), „Das Reich Gottes ist in euch“ (1890 – 1893)
oder „Was ist Kunst?“ (1897 – 1898) nicht, was sich aber ändert, ist
die Form: Aus dem geschlossenen Text wird eine offene Sammlung
von Gedanken, die Lücken lässt, in die eigene Erfahrungen ein-
getragen werden können, und die den Rigorismus des Wahrheits-
anspruchs und des moralischen Imperativs relativieren, manch-
mal sogar aufheben. Weisheit ist hier nicht nur die von allen
Weisen aller Zeiten und Religionen übereinstimmend erkannte
Wahrheit des wahren Lebens, die Tolstoj in seinen Sammlungen
vereinen wollte, sondern auch die Weisheit der Beschränkung.
Einzelne Worte werden in den Alltag gesprochen. Zusammen
bilden sie vielleicht ein System, eine allumfassende Welterklärung
und Philosophie, aber vor allem sollen sie einzeln im Leben ihrer
Leser wirken.
   Es ist kein Zufall, dass nach den großen Romanen, „Krieg und
Frieden“ (1868 – 1869), „Anna Karenina“ (1875 – 1877) oder auch
„Auferstehung“ (1889 – 1899), Tolstojs Sprache der Weisheit am
bekanntesten ist und, wie ich meine, Zukunft haben wird. Das eine
wie das andere verdankt sie nicht zuletzt den ganz kleinen Formen
des Gedankenaustausches, in denen weisheitliches Denken sich
ausdrücken kann: traditionell als Kalenderspruch auf Abreißka-
lendern, als Spruchbuch oder, neuerdings, in den Zitatensamm-
lungen des World Wide Web. Das mag unseriös erscheinen, erfüllt
aber den Zweck, den das weisheitliche Wort haben soll: den Ge-
danken, vielleicht die moralische Forderung mit den Erfahrungen
des Alltags in Verbindung zu bringen und das eine am anderen zu
messen. Diese Form, zu der Tolstoj in seinen letzten Lebensjahren
fand, steht am Ende des Denkens in Gegensätzen und ist in ihm
schon angelegt – da die Gegensätze selbst untereinander gegen-
sätzlich sind: Sie können unversöhnlich und unüberwindlich sein:
Wahrheit und Täuschung und Geist und Fleisch. Sie können in
andere Gegensätze eingehen und nicht das sein, was sie zu sein
scheinen: Tod und Leben. Ein Gegensatz kann komplementär sein:
Mann und Frau. Und es gibt den Gegensatz, der, obwohl er größer
Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4   15
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nicht sein könnte, in sich schon überwunden ist: Gott und Mensch.
Dieser in sich überwundene Gegensatz prägt auch Tolstojs weis-
heitliches Denken. Über Gott und Mensch schreibt er in „Der Weg
des Lebens“, dass der Mensch Gott nur in sich selbst erkenne: „Es
gibt keinen Gott für den, der Ihn nicht in sich weiß“ und: „Wenn Du
dich ihm hingibst, erhebst Du dich höher als das Glück und das
Unglück“ (PSS 1956/45, 60).
   Dass Tolstoj sich dennoch zur letzten Flucht gezwungen sah, ist
mehr als ein Gegensatz. Das ist der Widerspruch, in dem sein
Leben endete. Es endete im Widerspruch zu seiner Weisheit. Sich
damit zu beschäftigten, wäre die Aufgabe einer Tolstojbiographie.
Dieses Buch jedoch handelt von Texten. Es bleibt also bei den
Gegensätzen, der Moral und der Weisheit und ihren Ausdrucks-
formen. Sie sind, anders als sein persönliches Lebensdrama, nicht
nur für Tolstoj selbst oder die Befriedigung unserer Neugier,
sondern von allgemeiner – wenn der Ausdruck erlaubt ist: von
philosophischer Bedeutung.




                   2. Denken in Gegensätzen

 Wahrheit und Täuschung (der erste unversöhnliche Gegensatz)

1891 erschien in Russland, ein Jahr nach der Erstveröffentlichung
der deutschen Übersetzung, eine Erzählung Tolstojs mit dem
harmlos schöngeistigen Titel „Die Kreutzersonate“. Schon vor
ihrer Veröffentlichung sorgte die Novelle für Klatsch und Skandal,
denn in ihr legt Tolstoj seine eigenen Moralvorstellungen niemand
anderem als einem Mörder in den Mund. Auf einer Zugfahrt
                                         ˇ
beichtet der traurige Held Vasilij Pozdnysev den Mitreisenden, wie
er seine Frau umgebracht hat. Tolstojs eigene Ehe war (abgesehen
von dessen Ende) dem erzählten Drama nicht unähnlich, und seine
Frau Sof ’ja Andreevna Tolstaja (1844 – 1919) schien in der Er-
mordeten porträtiert zu sein. Zwar kümmerte sie sich selbst um
die Veröffentlichung, sah sich aber doch so getroffen, dass sie eine
Gegendarstellung verfasste (die allerdings gut hundert Jahre un-
16         Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4
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Vandenhoeck  Ruprecht



                           Die Sprache der Weisheit, zu der Lev Tolstoj in
                           seinen letzen Lebensjahren fand, bildet eine eigen-
                           ständige Welt im Werk des russischen Dichters.
                           Ihr Höhepunkt ist die Sammlung »Der Weg des
                           Lebens« aus dem Todesjahr 1910.
                           Tolstoj war Moralist, der in Gegensätzen dachte
                           wie Wahrheit und Täuschung, Gott und Mensch,
                           Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod und Leben.
                           Er war aber auch Mystiker, der vom Licht Gottes
                           sprach, das in jedem Menschen leuchten will. Das
                           macht ihn zu einem aktuellen, provokanten Denker
                           auch für unsere Gegenwart.
                           Holger Kuße stellt Tolstojs Denken in Gegensätzen,
                           die Sprache seiner rigoristischen Moral und die
                           Sprache seiner Weisheit vor sowie eine Auswahl
                           aus »Der Weg des Lebens«.


                           Der Autor
                           Dr. phil Holger Kuße ist Professor für Slavische
                           Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft an der
                           Universität Dresden.




                           www.v-r.de


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Ibrahim Mazari
 

Ähnlich wie Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, Leseprobe, ISBN 978-3-525-56004-4 (20)

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Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, Leseprobe, ISBN 978-3-525-56004-4

  • 1. Holger Kuße Tolstoj und die Sprache der Weisheit Vandenhoeck & Ruprecht
  • 2. Holger Kuße Lev Tolstoj und die Sprache der Weisheit Vandenhoeck & Ruprecht
  • 3. für Hanna, Mirjam und Malin Mit 5 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-525-56004-4 ISBN der elektronischen Ausgabe: 978-3-647-56004-5 Umschlagabbildung: Leo Tolstoi waehrend einer Rast im Wald. – Gemaelde, 1891, von Ilja Repin (1844 – 1930) Foto: akg-images 2010 Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: c Hubert Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
  • 4. Vorwort Dieses Buch ist zufällig entstanden. Tolstoj habe ich nie beson- ders gemocht. Und das gilt nicht nur für den Moralisten, den Prediger des einfachen Lebens, den kämpferischen Vegetarier oder den kinderreichen Propagandisten absoluter Keuschheit, als der er in der zweiten Hälfte seines Lebens auftrat, sondern auch für den genialen Schriftsteller, als der er gerühmt wird. „Krieg und Frieden“ habe ich noch gerne gelesen, durch die „Auferstehung“ mich mit Interesse durchgequält, bei „Anna Karenina“ streckte ich die Waffen. Doch für eine Untersuchung zur normativen Funktion von Modalwörtern (sollen, müssen usw.) entdeckte ich Tolstojs Sammlung „Der Weg des Lebens“ von 1910 als wahre Fundgrube an Beispielen. Und es folgte in Vorbereitung auf seinen hundertsten Todestag die Einladung, mich an einem Sammelband zu „Lev Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker“ zu beteiligen. Für ein weiteres Projekt zum Thema „Weisheit in Europa und Asien“ schaute ich mir „Der Weg des Lebens“ noch einmal intensiv an. Und je mehr ich Tolstoj las, desto interessanter wurde er. Die „Beichte“, „Über das Leben“, „Das Reich Gottes ist in euch“ oder auch „Was ist Kunst?“ – all diese berüchtigt moralschweren Schriften begannen zu wirken und wurden zur spannenden Lektüre. Vor allem aber ließ sich in den letzten Werken, den Weisheitssammlungen „Le- sezyklus“, „Für jeden Tag“ und „Der Weg des Lebens“, noch ein anderer Ton vernehmen als der des Moralpredigers. Neben dem Erzähler und dem Prediger begegnet in ihnen ein dritter Tolstoj, der Tolstoj der Weisheit. Wenn die Moral nach der Wende der siebziger Jahre, nach „Anna Karenina“, die Erzählung verdrängt hat (was chronologisch bekanntlich nicht ganz aufgeht), so wur- den die letzten Lebensjahre Tolstojs zu einer weiteren Schaf- fensperiode, in der die Weisheit die Moral abzulösen begann. Und dieser ,ganz späte‘ Tolstoj ist heute vielleicht der interes- santeste. Was in den verschiedenen Zusammenhängen entstanden ist, habe ich hier neu zusammengefügt, an manchen Stellen gekürzt, Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 5 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 5. an anderen ergänzt und erweitert. Im Fokus steht die Weisheit Tolstojs. Das Buch handelt aber nicht nur von ihr, sondern be- schreibt auch den Weg, der zu ihr führt. Es geht zunächst um den Moralisten Tolstoj, der in langen Traktaten die Übel der Welt und der menschlichen Gesellschaft anprangert, und es geht um den Mystiker, der vom Licht Gottes spricht, das in jedem Menschen leuchten will. Es geht auch um die expressionistischen Gegen- sätze, in denen sich sein Denken vollzieht: Wahrheit und Täu- schung, Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod und Leben. Tolstoj ist ein radikaler Denker. Kaum etwas Irdisches ist er- laubt auf dem Weg zum Reich Gottes. Schuhe machen ist besser als Bücher schreiben (gleichwertig wäre okay gewesen), Sex soll man bleiben lassen, Kinder würden besser nicht geboren, und wer nicht arm ist, kann nicht gut sein … Die Apodiktik seiner (nicht selten widersprüchlichen) Forderungen, die ihn am Ende in den eigenen Tod trieb, wirkt abstoßend. Darüber ist viel ge- schrieben, dafür ist Tolstoj viel kritisiert worden. Der russische Philosoph Vladimir S. Solov’ev rückte ihn aufgrund der radika- len Moral, die Tolstoj nicht mehr zur Diskussion stellte, sogar in die Nähe des Antichristen. Als reaktionär muss heute seine Vorstellung von der Rolle der Geschlechter gelten. So fällt es leicht und ist bequem, sich der Tolstojkritik anzuschließen und den Tolstoj jenseits der Erzählungen schnell ad acta zu legen, wenn nicht gar ins Altpapier zu geben (wäre ja immerhin ein gutes Werk …). Aber seine Aufzeichnungen aus der Schule von Jasnaja Poljana, die er für Bauernkinder einrichtete, haben die Reform- pädagogik inspiriert, und sein Engagement für verfolgte religiöse Minderheiten ließ ihn zum Anwärter auf den Friedensnobelpreis werden. Und dann lese ich vom Preis für luxuriöse Privatyachten: 300 Millionen Euro – und sehe in den Nachrichten wieder einmal Kinder, die am anderen Ende der Welt Steine auf dem Kopf schleppen, um sich und ihre Familien am Leben zu erhalten, und frage mich, ob Tolstojs harte Gegensätze, sein Ja und sein Nein, sein Wahr und sein Falsch nicht doch ihre Berechtigung haben. Es gibt genug, für das ein Reden in Gegensätzen die einzig ange- messene Sprache ist. Man muss nicht zum Tolstojaner werden, um zu erkennen, dass Tolstoj bedenkenswert ist. 6 Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 6. Dieses Buch handelt nicht nur von Tolstojs Denken in Ge- gensätzen und ihrer Überwindung in der Weisheit, es ist be- sonders auch der Sprache, d. h. den Formen gewidmet, in denen Tolstoj die Gegensätze, die ihn quälten, zum Ausdruck brachte und zu überwinden suchte. So werden in insgesamt vier Kapiteln zunächst Tolstojs „Flucht aus den Gegensätzen“ und sein „Den- ken in Gegensätzen“ dargestellt, sodann die „Sprache der Moral“ der religiösen Traktate und schließlich die „Sprache der Weis- heit“, zu der er am Ende seines Lebens gefunden hat. Den Menschen Tolstoj konnte der Weg der Weisheit am Ende nicht retten, aber seine Sprache der Weisheit ist auch heute le- senswert. Der zweite Teil des Buches ist deshalb ihm selbst überlassen: mit einer kleinen Auswahl aus seiner letzten Sammlung: „Der Weg des Lebens“ von 1910. Mein Dank gilt Frau Dr. Claudia Woldt und Frau Marina Scharlaj, M.A. vom Institut für Slavistik der TU Dresden für ihre Unter- stützung bei der Korrektur des Manuskripts. Dresden und Rügen im Oktober und November 2009 Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 7 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 7. ˇ Lev Nikolaevic Tolstoj 1910 Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 8. Inhalt I. Über Tolstoj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Die Flucht aus den Gegensätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Denken in Gegensätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Die Sprache der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4. Die Sprache der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II Von Tolstoj: Der Weg des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Texte von Lev N. Tolstoj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Werkausgabe 1929 – 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Weitere Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 9.
  • 10. I. Über Tolstoj 1. Die Flucht aus den Gegensätzen ˇ Lev Nikolaevic Tolstoj starb am 7. November 19101 auf der Bahn- station Astapovo. Im fremden Haus des Stationsvorstehers endete seine bizarre Flucht aus Jasnaja Poljana, dem Landgut, auf dem er aufgewachsen war und die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte, die Flucht vor seiner Familie, seinem Leben als Adliger, der er nicht sein wollte, vielleicht auch die Flucht vor der eigenen Popu- larität, die er als Prediger des einfachen, schlichten Lebens nicht gut heißen konnte und die doch im Presserummel ihr Ende und Ziel fand. Bei Dunkelheit, morgens um fünf Uhr, am 28. Oktober hatte sich Tolstoj aus seinem Haus geschlichen. Begleitet wurde er von seinem Arzt, später schloss sich die jüngste Tochter an. Zu- nächst mit der Kutsche, dann mit der Bahn machte er sich auf den Weg, erkrankte und starb – fast noch in der Bewegung, fast noch im Wartesaal, im Umsteigen begriffen vom einen in den nächsten Zug. Der spektakuläre Tod, unterwegs, an einem unspektakulären Ort wurde zum letzten Wort des Schriftstellers und Denkers, zum letzten seiner berühmten Werke. 17 Jahre danach zählte Stefan Zweig dieses Werk zu den „Sternstunden der Menschheit“ (Zweig 1987 [1927]), in einer Reihe mit dem Fall Konstantinopels und Scotts Ende in der Arktis, und er nannte es „Die Flucht zu Gott“. Aber zu Gott musste Tolstoj nicht fliehen, wenn er seiner eigenen Glaubenslehre nicht misstraute, und er musste auch nicht die „Flucht in die Unsterblichkeit“ antreten, wie der Titel einer we- niger bekannten Zusammenstellung von Dokumenten aus seinen letzten Tagen lautet (Pozner o. J.). Denn bei Gott war er schon – wie jeder Mensch. Und auch unsterblich war er – wie jeder Mensch. Tolstoj war ein mystischer Denker, und das heißt: Er fand Gott im Menschen, nur im Menschen. In den letzten Eintragungen des 1 Aten Stils (Julianischer Kalender); nach heutigem (Gregorianischem) Kalender: 20. November. Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 11 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 11. „nur für sich selbst“ geschriebenen Tagebuchs, die er seiner Tochter Aleksandra am 31. Oktober 1910 diktierte, steht: „Wahr- haft existiert nur Gott. Der Mensch ist Seine Erscheinung in der Materie, in der Zeit und im Raum“ (PSS 1934/58, 1432). Und: „Gott erkennen wir nur durch das Bewusstsein Seiner Erscheinung in uns“ (PSS 1934/58, 144). Das menschliche Wesen ist eine Er- scheinung Gottes – das ist die Mitte der Tolstojschen Religion, Tolstojs Evangelium. Schon deswegen ist der Mensch, jeder Mensch, unsterblich, weil Gott in ihm nicht sterben kann. Er ist es aber auch, weil das Leben jedes Menschen sich fortsetzt in anderen Menschen, weil Leben fortlebt und geistig weitergegeben wird, so wie es seine fleischliche Geburt der fleischlichen Weitergabe von Leben in der Zeugung verdankt. In „Über das Leben“ hatte Tolstoj schon Ende der achtziger Jahre geschrieben: „Mein Bruder ist gestern oder vor tausend Jahren gestorben, und die Kraft seines Lebens, die während seiner fleischlichen Existenz wirkte, wirkt in mir und Hunderten, Tausenden, Millionen Menschen noch stärker weiter, auch wenn das sichtbare Zentrum dieser Kraft seiner zeit- lichen fleischlichen Existenz meinen Augen entschwunden ist“ (PSS 1936/26, 414). Wenn die Kraft des Lebens sich in Handlungen und Worten ausdrückt, die auf Menschen wirken und in ihnen über Genera- tionen weiterwirkt, und wenn Gott in jedem Menschen lebt, dann musste sich Tolstoj um Unsterblichkeit keine Sorgen machen und auch keine Flucht zu einem fernen Ort beginnen, um Gott zu finden. Es musste ihn anderes bewegt haben. Tolstoj dachte in Gegensätzen: Gott und Mensch, Mann und Frau, Geist und Fleisch, das Innerliche und das Äußerliche, Wahrheit und Täuschung. Und er hoffte auf die Überwindung der Gegensätze in einem geistbestimmten Leben, dessen verbleibende Materialität sich auf die notwendige Versorgung des Körpers, der materiellen Hülle des Geistes, mit Nahrung beschränkt. Nichts mehr als die Ernährung (vegetarisch) und die elementare Arbeit 2 ˇ PSS = Polnoe Sobranie Socinenij v 90 tomach. Moskva/Leningrad: ˇ Gosudarstvennoe izdatel’stvo „Chudozestvennaja literatura“. 1929 – 1958 [Vollständige Werkausgabe in 90 Bänden. Moskau/Leningrad: Staatlicher Verlag „Künstlerische Literatur“.] 12 Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 12. mit den Dingen, die Feldarbeit oder das Handwerk, sollten den Geist mit der Erde und dem Leib verbinden. Nur so sei ein Leben in der Wahrheit möglich, nur so sei menschliche Gemeinschaft wahrhaftig: in der Gesellschaft, in der Familie, zwischen Mann und Frau, in der Religion … Jasnaja Poljana–Astapovo war deshalb keine Flucht zu und keine Flucht in, sondern eine Flucht aus: eine Flucht aus den Gegensätzen, in denen der fleischliche Mensch Lev Tolstoj sich gefangen fühlte, auch wenn der geistige Mensch Lev Tolstoj sich längst aus ihnen befreit sah. Beides, die Überwindung der Gegensätze und die Flucht aus ihnen, fand bei Tolstoj vor allem auf dem Papier statt. Selbst die Arbeit auf dem Feld mit der Sense in der Hand oder das Schus- terhandwerk, das er für wertvoller erachten wollte als seine Ro- mane, und schließlich die Flucht mit Kutsche und Eisenbahn wurden von einer beständigen Textproduktion begleitet. Tolstoj hörte nicht auf zu schreiben, bis er ins Koma fiel. Das falsche Leben sollte mit Worten bezwungen, das wahre und gute Leben mit Worten erkannt und vermittelt werden. In Tagebucheintragungen, Briefen und immer neuen Schriften vergewisserte er sich und andere eindeutiger Werte, die das gute und richtige Leben ohne Kompromiss und Kehrseite ge- währleisten sollten. Tolstoj nannte es das unveränderliche Gesetz des wahren Lebens, das wahre Gesetz des Lebens, das wahre Gesetz Gottes, das Gesetz Gottes und des Menschen oder auch nur Gesetz Gottes oder Gesetz des Lebens. Zum Prediger dieses „wahren Ge- setzes“ wurde Tolstoj in seiner zweiten Lebenshälfte. Öffentlich hatte er, fünfzig Jahre alt, nach dem Erscheinen von „Anna Kare- nina“ (1875 – 1877), seine innerliche Lebenswende eingeleitet. In der „Beichte“ (1879/18823) bezichtigt er sich, sein bisheriges Leben sei irdisch, fleischlich, materiell und eine Verkettung von Sünden gewesen. Die Erkenntnis des wahren Lebens oder wenigstens des Weges dorthin habe er aber erkannt und sich auf diesen Weg des Lebens begeben. Zu Tolstojs Erkenntnis und Selbsterkenntnis schreibt Romain Rolland (1866 – 1944), dass sich „der Hang zur Vernunft und der 3 Die erste Jahreszahl gibt das Jahr der Entstehung, die zweite das der Erstveröffentlichung an. Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 13 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 13. Tätigkeitsdrang des Abendländers den Träumen des Asiaten bei- mischte“, denn da Tolstoj eben kein indischer Mystiker gewesen sei, dem Ekstase genügt, „musste er die ihm gewordene Offenba- rung in praktischen Glauben umsetzen und aus diesem göttlichen Erleben Regeln für das tägliche Leben ableiten“ (Rolland 1922, 79). Und nicht nur das. Aus der Erkenntnis wurde Polemik und, wie der liberale Philosophiehistoriker Isaiah Berlin (1909 – 1997) sagt, ein „Aktionsprogramm“: „eine Kriegserklärung gegen gängige soziale Werte, gegen die Tyrannei von Staaten, Gesellschaften und Kir- chen, gegen Brutalität, Ungerechtigkeit, Dummheit, Heuchelei und Schwäche, vor allem aber gegen Eitelkeit und moralische Blind- heit“ (Berlin 1981, 334 f.). Das falsche Leben zu bekämpfen und das wahre Leben allen zu predigen, wurde Tolstoj zur Lebensaufgabe, der Zwang, dieses Leben im eigenen Leben zu verwirklichen, zum Trauma. „Ent- setzlich, immer wieder sich verstellen müssen, immer wieder sich verstecken“, lässt Stefan Zweig ihn sprechen: „Vor der Welt will man wahr sein, vor sich selbst will man wahr sein und darf es nicht vor seiner Frau und seinen Kindern! Nein, so kann man nicht leben, so kann man nicht leben!“ (Zweig 1987, 197). Tolstoj entzog sich durch Flucht, letztlich durch den Tod, den er sich buchstäblich holte, indem er die Fahrt mal im überheizten und überfüllten Wagen der dritten Klasse, mal auf der offenen Platt- form im kalten Fahrtwind zubrachte (Schklowski 1984, 696 f.). Aber bevor es dazu kam, hatte Tolstoj noch einen anderen als den Weg des sublimen Selbstmordes gesucht, um dem Anspruch seiner rigoristischen Moral – nur in vollkommener Keuschheit und in vollständiger Armut und Bedürfnislosigkeit ist das wahre Leben möglich – gerecht zu werden, genauer: ihn auf dem Papier sprachlich zu meistern. Dies ist nicht mehr die Sprache der Moral, sondern die Sprache der Weisheit, zu der Tolstoj in seinen letzten Werken, den „Gebeten“ (1909) und den Spruchsammlungen „Le- sezyklus“ (1904 – 1908), „Für jeden Tag“ (1907 – 1910) und „Der Weg des Lebens“ (1910) fand. In ihnen spricht Tolstoj nicht allein. Er fügt Zitate aneinander und folgt besonders amerikanischen Vorbildern, aus denen er übersetzt (Alekseeva 2005). Doch im Anschluss an die und im Dialog mit seinen Vorlagen und den Vorbildern aus der Menscheitsgeschichte entstehen eigene Worte 14 Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 14. und Einsichten, spricht dann doch ein Autor und nicht ein Kom- pilator. Tolstojs religiöse und moralische Botschaft ändert sich gegenüber den großen religiösen und moralischen Traktaten wie „Kurze Darlegung des Evangeliums“ (1881 – 1883), „Über das Leben“ (1886 – 1887), „Das Reich Gottes ist in euch“ (1890 – 1893) oder „Was ist Kunst?“ (1897 – 1898) nicht, was sich aber ändert, ist die Form: Aus dem geschlossenen Text wird eine offene Sammlung von Gedanken, die Lücken lässt, in die eigene Erfahrungen ein- getragen werden können, und die den Rigorismus des Wahrheits- anspruchs und des moralischen Imperativs relativieren, manch- mal sogar aufheben. Weisheit ist hier nicht nur die von allen Weisen aller Zeiten und Religionen übereinstimmend erkannte Wahrheit des wahren Lebens, die Tolstoj in seinen Sammlungen vereinen wollte, sondern auch die Weisheit der Beschränkung. Einzelne Worte werden in den Alltag gesprochen. Zusammen bilden sie vielleicht ein System, eine allumfassende Welterklärung und Philosophie, aber vor allem sollen sie einzeln im Leben ihrer Leser wirken. Es ist kein Zufall, dass nach den großen Romanen, „Krieg und Frieden“ (1868 – 1869), „Anna Karenina“ (1875 – 1877) oder auch „Auferstehung“ (1889 – 1899), Tolstojs Sprache der Weisheit am bekanntesten ist und, wie ich meine, Zukunft haben wird. Das eine wie das andere verdankt sie nicht zuletzt den ganz kleinen Formen des Gedankenaustausches, in denen weisheitliches Denken sich ausdrücken kann: traditionell als Kalenderspruch auf Abreißka- lendern, als Spruchbuch oder, neuerdings, in den Zitatensamm- lungen des World Wide Web. Das mag unseriös erscheinen, erfüllt aber den Zweck, den das weisheitliche Wort haben soll: den Ge- danken, vielleicht die moralische Forderung mit den Erfahrungen des Alltags in Verbindung zu bringen und das eine am anderen zu messen. Diese Form, zu der Tolstoj in seinen letzten Lebensjahren fand, steht am Ende des Denkens in Gegensätzen und ist in ihm schon angelegt – da die Gegensätze selbst untereinander gegen- sätzlich sind: Sie können unversöhnlich und unüberwindlich sein: Wahrheit und Täuschung und Geist und Fleisch. Sie können in andere Gegensätze eingehen und nicht das sein, was sie zu sein scheinen: Tod und Leben. Ein Gegensatz kann komplementär sein: Mann und Frau. Und es gibt den Gegensatz, der, obwohl er größer Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 15 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 15. nicht sein könnte, in sich schon überwunden ist: Gott und Mensch. Dieser in sich überwundene Gegensatz prägt auch Tolstojs weis- heitliches Denken. Über Gott und Mensch schreibt er in „Der Weg des Lebens“, dass der Mensch Gott nur in sich selbst erkenne: „Es gibt keinen Gott für den, der Ihn nicht in sich weiß“ und: „Wenn Du dich ihm hingibst, erhebst Du dich höher als das Glück und das Unglück“ (PSS 1956/45, 60). Dass Tolstoj sich dennoch zur letzten Flucht gezwungen sah, ist mehr als ein Gegensatz. Das ist der Widerspruch, in dem sein Leben endete. Es endete im Widerspruch zu seiner Weisheit. Sich damit zu beschäftigten, wäre die Aufgabe einer Tolstojbiographie. Dieses Buch jedoch handelt von Texten. Es bleibt also bei den Gegensätzen, der Moral und der Weisheit und ihren Ausdrucks- formen. Sie sind, anders als sein persönliches Lebensdrama, nicht nur für Tolstoj selbst oder die Befriedigung unserer Neugier, sondern von allgemeiner – wenn der Ausdruck erlaubt ist: von philosophischer Bedeutung. 2. Denken in Gegensätzen Wahrheit und Täuschung (der erste unversöhnliche Gegensatz) 1891 erschien in Russland, ein Jahr nach der Erstveröffentlichung der deutschen Übersetzung, eine Erzählung Tolstojs mit dem harmlos schöngeistigen Titel „Die Kreutzersonate“. Schon vor ihrer Veröffentlichung sorgte die Novelle für Klatsch und Skandal, denn in ihr legt Tolstoj seine eigenen Moralvorstellungen niemand anderem als einem Mörder in den Mund. Auf einer Zugfahrt ˇ beichtet der traurige Held Vasilij Pozdnysev den Mitreisenden, wie er seine Frau umgebracht hat. Tolstojs eigene Ehe war (abgesehen von dessen Ende) dem erzählten Drama nicht unähnlich, und seine Frau Sof ’ja Andreevna Tolstaja (1844 – 1919) schien in der Er- mordeten porträtiert zu sein. Zwar kümmerte sie sich selbst um die Veröffentlichung, sah sich aber doch so getroffen, dass sie eine Gegendarstellung verfasste (die allerdings gut hundert Jahre un- 16 Holger Kuße, Tolstoj und die Sprache der Weisheit, 978-3-525-56004-4 © Vandenhoeck Ruprecht GmbH Co.KG, Göttingen 2010
  • 16. Vandenhoeck Ruprecht Die Sprache der Weisheit, zu der Lev Tolstoj in seinen letzen Lebensjahren fand, bildet eine eigen- ständige Welt im Werk des russischen Dichters. Ihr Höhepunkt ist die Sammlung »Der Weg des Lebens« aus dem Todesjahr 1910. Tolstoj war Moralist, der in Gegensätzen dachte wie Wahrheit und Täuschung, Gott und Mensch, Geist und Fleisch, Mann und Frau, Tod und Leben. Er war aber auch Mystiker, der vom Licht Gottes sprach, das in jedem Menschen leuchten will. Das macht ihn zu einem aktuellen, provokanten Denker auch für unsere Gegenwart. Holger Kuße stellt Tolstojs Denken in Gegensätzen, die Sprache seiner rigoristischen Moral und die Sprache seiner Weisheit vor sowie eine Auswahl aus »Der Weg des Lebens«. Der Autor Dr. phil Holger Kuße ist Professor für Slavische Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft an der Universität Dresden. www.v-r.de 9 7 8 3 52 5 5 6 0 0 4 4