1. Was ist ein Ereignis? Slavoj Zizek erkundet diese alte indem
er Unterscheidungen trifft Zunächst betrachtet er das Ereignis als
Rahmung, als Sturz und als Aufklärung. Dann unterscheidet
drei brE'l,2,'111S~)e in der Philosophie: die Wahrheit, das Selbst, das
Universale. Und schließlich spricht er über drei
Psychoanalyse: das Reale, das Symbolische, das Imaginäre. Von Pla-
ton über den Buddhismus bis Shakespeare, Wagner, Chesterton,
Hegel und natürlich Lacan legt Zizek das Wesen des
frei, um schließlich die zentralen timrisse einer Antwort auf die
alles entscheidende zu sk.izzieren: Was ist ein politisches Er-
Ein provokanter und unterhaltsamer Trip in die Philoso-
phie, ein echter
und Kul-
turkritiker. Er lehrt
in Slowenien und an der Gracluate School in Saas··Fee
und ist derzeit International Director am Birkbeck Institute für the
Humanities in London. Seine zahlreichen Bücher sind in über 20
::iprac:ne·n übersetzt Im S. Fischer sind zuletzt erschienen
)Was ist ein (2014) und )Das Jahr der Träu-
me< (2013).
Weitere Informationen finden Sie at~f www.fischerverlage.äc.
Slavoj Zizek
Was ist ein Ereig11is?
Aus dem Englischen von Karen Genschow
FISCHER Taschenbuch
2. Erschienen bei FISCHER 'Ihschenbuch
Frankfurt am Mai11, August 2016
Or.i.girlal<msgal)e erschien unter dem Titel »Event«
Penguin, London, im Januar 2014
2014
Hedclerichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-596-03123·8
Inhalt
Alle einsteigen - Eine Entdeckungsreise durch
das Ereignis beginnt! 7
Erster Halt- Rah1nung, Neuralnnung, Gestell 13
Zweiter Halt - Feiix Culpa 37
Dritter Halt - Naturalisierter Bucldhisn1us 60
Vierter Halt Die drei Ereignisse der Philosophie 80
Fünfter Halt - Die drei
Sechster Halt - Das Ungeschehen1nachen
eines Ereignisses 160
Endstation Notabene! 177
189
3. Alle einsteigen - Eine Entdeckungsreise
durch das Ereignis beginnt!
»Ein Tsunan1i hat 1nehr als 200000 Menschen in Indonesien
getötet!« »Ein Paparazzo hat Britney Spears' Vagina fotogra-
fiert!« »Mir wurde klar, dass ich alles liegenlassen und ihn1
helfen n1usste!« »Die brutale Machtübernah1ne des Militärs
überschattete das Land!« »Das Volk hat gesiegt! Der Dikta-
tor ist geflohen!« »Wie ist etwas so Schönes wie Beethovens
letzte Klaviersonate überhaupt Inöglich?«
All diese Aussagen beziehen sich auf etwas, das wenigs-
tens einige von uns für ein Ereignis halten würden - ein
an1phibischer Begriff~ der 1nehr als fiinfzig shades o.f grey
un1f~1sst. Ein »Ereignis« kann sich auf Zerstörerische Natur-
katastrophen beziehen oder aufden letzten Pron1i-Skandal,
den Tritnnph des Volkes oder einen brutalen politischen
Wandel, die tiefe Erfahrung eines Kunstwerks oder aufeine
persönliche Entscheidung.. Angesichts dieser Variationen
können wir nur Ordnung in dieses Rätsel bringen, wenn
wir das Wagnis aufuns den zu und
unsere Reise nlit einer vorläufigen Definition von .._._..__.""_.........
Christies 16 Uhr 50 ab Faddington ....................u ... ...
von Schottland nach London, wo McGilli-
cuclcly, auf detn Weg, ihre alte Freundin Marple zu be-
.,u....u ......Ju., eine Frau erblickt, die im Abteil eines vorbeifahren-
den (der tun 16.50 Uhr ab Paddington) wird.
Alles geschieht sehr schnell und ihre Sicht ist verschwom-
7
4. m.en, so dass die Polizei Elspeths Bericht nicht ernst nün1nt,
da es keine IHnweise auf ein Verbrechen gibt Allein Miss
Marple glaubt ihre Geschichte und beginnt Nachforschun-
gen anzustellen. Dies ist ein Ereignis in seiner reinsten und
Ininünalsten Fonn: etwas Schockierendes, aus den Fugen
Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und
den herkönnnlichen Lauf der Dinge unterbricht; etwas,
das anscheinend von nirgendwo kon1n1t, ohne erkennbare
Gründe, eine Erscheinung ohne feste Gestalt als Basis.
Definitionsgen1äg liegt etwas »Wunderbares« in
Ereignis, von den Wundern unseres alltäglichen Lebens
zu denen der höchst erhabenen Sphären, die göttlichen
eingeschlossen. Die ereignishafte Natur des Christentmns
sich aus der Notwendigkeit, an ein einziges Ereignis
zu glauben, tnn Christ zu sein- den Tod und die Auferste-
hung Christi. Vielleicht ist sogar das zirkuläre Verhältnis
zwischen Glaube und seinen Begrünelungen noch wesent-
licher: Ich kann nicht sagen, dass ich an Christus glaube,
weil ich von den Gründen, an ihn zu glauben, überzeugt
worden wäre; erst wenn ich glaube, kann .ich die Gründe
für den Glauben verstehen. ....,"'·""'-·"',;·"" .t...uJ.-...I..u<:u
.........................................,,....................... .
gilt für die Liebe:Jch verliebe nlich
Gründen (ihre ihr Lächeln ...) - sonelern weil ich
sie bereits liebe, fühle ich nüch zu ihren Lippen etc. hin-
gezogen. Aus cliesen1 Grund ist auch die Liebe ereignishaft.
Sie ist eine von zirkulärer in
der der Effekt rückwirkend die Ursachen
oder Grüncle1
für sie bestin1n1t. Dasselbe auch für ein
wie die lang anhaltenden Proteste auf
in Kairo, die das Mubarak-Regin1e zu Fall
brachten: Man kann die Proteste leicht als be~
stin11nter Blockienm.gen in der Gesellschaft er~
8
klären (arbeitslose, gut ausgebildete Jugendliche ohne klare
Perspektiven etc.), aber dennoch kann keine allein für die
synergetische Energie verantwortlich gen1acht werden, die
die Bewegung entstehen ließ.
In derselben Weise ist das Entstehen einer neuen Kunst-
fonn ein Ereignis. Nel11nen wir beispielsweise denfilm noir.
In seiner detaillierten Analyse zeigt Mare Vernet,2
dass die
Haupteigenschaften, die die allgeineine Definition des film
noir bilden (chiaroscuro-Beleuchtung, schroffe Kmnerawin-
kel, das paranoische Universun1 des hartgesottenen Ermitt-
lers, in den1 Korruption zun1 kosn1ischen n1etaphysischen
Merl<Inal en1porgehoben wird, verkörpert in der femme
fatale), schon zuvor in Hollywood-Fihnen präsent waren.
Dennoch bleibt das Geheilunis der rätselhaften Effizienz
und Dauer des Begriffs des noir bestehen: Je mehr Vernet in
Bezug auf die Fakten recht hat, je 1nehr er historische Be-
gründungen anbietet, desto rätselhafter und unerklärlicher
wird die augerordentliche Stärke und Langlebigkeit dieses
Hee:ntts, der jahrzehnte-
....,...,....};:,J~.~..~..,.,'-" ist der von den1 Spalt zwischen
einein Effekt und seinen Ursachen eröffnet wird. Bereits
n1it dieser annähernden Definition befinden wir uns Init-
ten im Herzen der da die Kausalität eines der
uncuegeilcte:n Probleine Init denen sich die Philoso-
phie befasst: Sind alle
verbunden? Muss alles, was exJtstt.ert
HeJgnmcturtgen beruhen? Oder
aus dem Nichts }:;'-"'-.I.J....1..1.....I.J.:
helfen, zu bestilnn1en, was ein
9
5. fall, der nicht auf ausreichenden Gründen beruht- und wie
es n1öglich ist?
VGnihren1_Beginn an scheint die Philosophie zwischen
( zwei Ansätzen:;zu schwanken: dem transzendentalen und
den1 ontologischen oder ontischen....Der erste betriHt die
universelle Struktur, wie uns die Realität erscheint. Welche
Bedingungen 1nüssen zusainn1entreffen_,.Elanüt wir.. t;>twas
als wirklich existent wahrnehm.en? >;,~I'ranszendental«: ist
der technische Begriff des Philosophen Aii~ eiii~~ solc:l;ei{ah-
111Ul1g, die die Koordinaten von Realität definiert beispiels··
weise lässt uns der transzendentale Ansatz gewahr werden,
dass für einen wissenschaftlichen Naturalisten allein raun1-
zeitliche Inaterielle Phänmnene, die durch Naturgesetze
'--"'-.1'"'"·'·'--.L'~.u, während für einen vonnodernen
Traditionalisten auch Geist und Bedeutungen ein Teil der
Reali~~1t sind, nicht nur unsere Inenschlichen Projektionen.
Dem( ontischeq)Zugriff andererseits ist es tnn die Realität
,,' '"«······· "''' ,..,.,.,q.' ,, ·' •·' ..•...••~;~
selbst zu tun, in ihrer Entstehung und ihrein Einsatz: Wie
ist das Universmn entstanden? Hat es einen Anf~1ng und ein
Ende? Was ist unser Platz darin? In120.Jahrhundert hat sich
der Spalt zwischen beiden Denkweisen extren1 ve1.·2TtDJ~t~n:
Der transzendentale Ansatz erreichte seinen Gipfel tnit
dein deutschen Philosophen Martin (1889-1976),
während der ontologische heute von den Nattnwissenschaf-
ten worden zu sein scheint- wir e1warten die Ant-
wort auf die
sun1s aus der der t-!IJrnJtor·scJhltng
seines neuen Bestsellers
Der Entwtl'lf- eine neue Erklärung des Universums erklärt
Stephen Hawking triun1phierencl, die sei tot:a
Metaphysische über den Ursprung des Universmus
etc., die ein1nal das Thema philosophischer Spekulationen
10
waren, können nun von der experin1entellen Wissenschaft
beantwortet und folglich ernpirisch getestet werden.
Was dern EntcleckUI,1g~~·~'isenclt;>g ~1t}Kf.~tllt;>I1 J1J:qss, ist, dass
beide.AnsätzeJneinen1 Begriffvon Ereignisgipf~i~;~ das Er~
eigtJi$ als..gi1thi~llt1ng des Seih$.- des Be~leutungsho~·izonts,
d~r bestin1n1t, wie wir die Re~lität wahrnehrnen und uns
zu ihr in Beziehung setzen - in Heideggers Denken; hn on-
tischen Ans(ltz, cleryon der Qpantenkosn1ologie verteidigt
wird(das ~1~·sprünglicl~eEreigni~,)der Urknall (oder die Syn1~
metriebrechung), aus dein unser: ges;nntes Universtun ent~
standen ist.
Unsere erste tastende Definition von Ereignis als einen1
Effekt, der seine Gründe übersteigt, wirft uns also auf ~ine
...:..,,",.",...''"" Ist das eine
rung wie die Realit~i.t uns erscheint, oder ist
es eine erschütternde Transfonnation der Realität
Reduziert die Philosophie die Autonon1ie eines brei~~m.SS(~S
oder kann sie genau über diese Autonotnie etwas aussagen?
Also noch einn1al: Gibt es einen Weg, Ordnung in dieses
Rätsel zu Das offensichtliche wäre ge-
wesen, die Ereignisse in Gattungen und Untergattungen zu
l<l<lSSitl~~lerei1, tun zwischen materiellen und i1ntnateriellen
Ereignissen, zwischen küiistlerischen, wissenschaftlichen,
oder privaten zu unterscheiden.
la1•rln·•t'r<' l(T>"ln.l'lC.>lr•r ein solcher Ansatz
:sa1CKJ2:a~;sen eines jeden
dass unsere Reise durch die Veränderungen der
11
6. heit selbst führt, um clc:nnit- so hoffe ich- den1 nahezukmn~
1nen, w~~ :ti~g~l die »konkreteAllgetneb1i1~it« gem~~;~;t:J;;t::
eine Allgeineinheit, die nicht einfach ein leerer Behälter
ihres jeweiligen Inhalts ist, sonelern die stattdessen diesen
Inhalt aus der Entfaltung ihrer in11nanenten Antagonisn1en,
Sackgassen und Inkonsistenzen hervorbringt.
Stellen wir uns also vor, wir befänden uns auf einer
U-Bahn-Fahrt 1nit vielen Haltestellen und Verbindungen,
bei der jeder Halt für eine Inögliche Definition von Er-
eignis steht. Der erste Halt wird eine Änderung oder eine
Auflösung des Ralunens sein, durch den die Realität uns er-
scheint; der zweite ein religiöser Sündenfall. Darauf folgt
ein Sytninetriebruch; die buddhistische .Erleuchtung; ein
Zusan1mentreffen nlit der Wahrheit, die unser norn1ales Le-
ben erschüttert; die Erfahnn1g des Selbst als rein ereignis-
haft:es Geschehen; die Ilnmanenz der Illusion in der Wahr-
heit, die die Wahrheit selbst ereignishaft: werden lässt;
ein Traun1a, das die sytnbolische Ordnung, in der wir uns
befinden, aus dem Gleichgewicht bringt; das Aufl<onunen
eines neuen eines Signifikanten, der
das Feld der Bedeutung strukturiert; die Erf~1hrung
des reinen Fließens von (Un)Sinn; politischer
.br~~etmt:sses. Die Reise wird holperig, aber aufregend, und
auf den1 Weg
12
Erster Halt- Ralunung, Neurahmung. Gestell
A1n 7. Septetuber 1944, nach der Invasion der Alliierten in
Frankreich, wurden Marschall Philippe Petain und die Mit-
glieder seiner Vichy-Regierung von den Deutschen nach
Sigtnaringen i111 Süden Deutschlands versetzt. Ein exterrito-
rialer Stadtstaat wurde errichtet, regiert von der französi-
schen Exilregierung, der non1inell Fernancl de Brinon vor-
stand. Es gab sogar drei Botschafteninnerhalb des Stadtstaats:
diejenigen von Deutschland, Italien und Japan. Sig1naringen
hatte seine eigenen Radiosender (Radio-patrie unclld Ia Prartce)
und seine eigene Presse (La France, Le PetitParisien). Die Bevöl~
kerung der Enklave bestand aus etwa 6000 Einwohnern,
unter denen sich bekannte kollaborationistische Politiker
(Laval), Journalisten und Schriftsteller (Celine, Rebatet),
Schauspieler wie Le Vigan, der in Duviviers Golgatha von
1935 Christus hatte, sowie deren Fanlilien und etwa
500 Soldaten, 700 SSwMitgÜeder und fhtnzösische
/~"..",,.,;:,..,....,,.,,~-<:•,. befanden. Der Schauplatz war von höchsw
tetn bürokratischen Wahnsinn Un1 den Mythos zu
stützen, die sei die
rung Frankreichs (was von einem rechtlichen Standpunkt
aus auch lief die Staatsmaschinerie in
weiter und stieß einen unendlichen Fluss an Erklärungen,
t1esetze11, Verwaltungsentscheidungen aus, ohne
Konsequenz, wie ein Staatsapparat ohne Staat, der ganz alw
lein funktioniert und in seiner Fiktion ist.1
13
7. Sechster Halt - Das Ungeschehenn1.achen
eines Ereignisses
Der deutsche Ausdntck ))rückgängig n1achen« wird ins Eng-
lische fi.ir gewöhnlich übersetzt n1it »to annul, cancel or
unhitch«, hat aber eine etwas genauere Konnotation: etwas
rückwirkend ungeschehen Inachen, dafiir sorgen, dass es
nie stattgefunden hat. Der Vergleich zwischen Mozarts
Hochzeit des Figaro und Rossinis Figaroartigen Opern macht
dies unn1ittelbar deutlich. Bei Mozart überlebt das politi-
sche Pote11tial von Beaun1archais' Draniä den bril.ck der
ieiisur- denken wir nur an das Finale, in dem der Graf
niederknien und seine Untergebenen un1 Vergebung bitten
n1uss -, ganz abgesehen von der Explosion des kollektiven
»Viva la liberta!« in1 Finale des ersten Akts von Don Giovanni.
Die atetnberaubende Leistung von Rossitüs Barbier von
villa sollte an diesen1 Standard gen1essen werden: Rossini
nahn1 ein Theaterstück, das eines der Sytnbole des revolu-
tionären bürgerlichen Geistes in Frankreich
politisiert~ es V()llständig und verwandelte es in eine reine
Opera bufl'a. Es verwundert nicht, dass die Jahre
und 1830 die
Rück~~äDlgi~~n1;acuLen, das NH:nr--gescr1enlen-n1,acr1en
angegangenen revolutionären Dekaden. Genau das unter-
nin1n1t Rossini in seinen ko1nischen Opern: Sie
versuchen dein Leben die Unschuld der vorrevolutionären
160
Welt zurückzugeben. Rossini hasste und bekän1pfte nicht
aktiv die neue Welt, er kmnponierte schlicht, als hätten
die Jahre von 1789 bis 1815 nicht existiert. Rossini hatte
deshalb recht da1nit, nach 1830 (fast) vollständig das Koin-
ponieren einzustellen, die zufriedene Haltung eines Bonvi-
vants einzuneh1nen und auf Tourneen zu gehen. Dies war
das einzig ethisch Richtige, was er tun konnte, und sein lan-
ges Schweigen ist vergleichbar tnit dem. von Jean Sibelius.
In Anbetracht der Tatsache, dass. die Französisc:.:he..Rev.o:.,
lution das Ereignis der n1odernenGeschichte ist, der Bruch,
n~fcl1'C1einil.lc:i1is nlehr war wie vorher, sollte ;11an hier die
Frage aufwerfen: Ist diese Art des Rückgängigtnachens, das
Ereignis ungeschehen zu machen, eines der Inöglichen
Schicksale eines jeden Ereignisses? Die gut bekannte For-
mel »Je sais bien, mais quand n1e1ne ...«(Ich weiß sehr wohl,
aber dennoch ...) signalisiert eine zwiespältige Haltung des
Subjekts gegenüber einer Entität - Inan weiß, es ist wahr,
kann aber diese Wahrheit nicht akzeptieren, wie in cliesen1
Beispiel: »Ich weiß sehr gut, dass mein Sohn ein Mörder ist,
aber trotzdein kann ich es nicht glauben!« Dieselbe zwie-
gespaltene Haltung kann Inan sich ebenso geJt?:eirülJer
Ereignis vorstellen: »Ich weiß sehr dass es kein
gegeben hat, sonelern nur die norn1ale Routine der
aber vielleicht, unglücklicherweise ... glaube ich dennoch,
dass es stattgefunden hat.« Und- noch interessanter ist
es ein nicht sondern rückwirkend
abzustreiten? Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die in
ihre ethische Substanz vollkon1n1en die n1odernen
Axion1e von cle1nokratischen Rechten,
der Pflicht einer für Bildung und
de aller ihrer Mitglieder zu sorgen,
161
8. inakzeptabel und lächerlich gemacht hat, so dass es noch
nicht eüunal nötig ist, gegen Rassisn1us beispielsweise zu
argun1entieren, weil jeder, der offen Rassisn1us verteidigt,
augenblicklich als verrückter Exzentriker wahrgenmntnen
wird, den Inan nicht ernst nehm.en kann. Dann aber wer~
den diese Axion1e de facto Schritt für Schritt, obwohl die
Gesellschaft nach wie vor ihr Lippenbekenntnis zu ihnen
ablegt, ihrer Substanz beraubt. Hier ein Beispiel aus der
aktuellen europäischen Geschichte: Im. Son1n1er 2012 sagte
Viktor Orban, der rechte ungarische Prenüern1inister, dass
in Zentraleuropa ein neues Wirtschaftssysten1 errichtet
werden n1uss
und hofien wir, dass Gott uns dabei helfen wirdund wir nicht
eine neue Art von politischem System anstelle der Demokra·
tie erfinden müssen, das für das Wohl des wirtschaftlichen
Überlebens eingeführt werden müsste (...) Kooperation ist
des Zwangs, nicht der Absichten. Vielleicht gibt
nicht auf diese Art und Weise
fünktionieren, in den skandinavischen Län·
dern, aber ein solch halb-asiatisches zm;an1men~~e-v~rürte
Volk, wie wir es sind, kann sich nur einen, wenn es Zwang
Die Ironie dieser Zeilen blieb alten uu.z;;cul.l.:l,-.l.L...;u
Dissielenten nicht Als die Sowjetannee in Buda~
un1 die antikon1n1unistischen Auf~
lautete die Nachricht,
die die Führer in den Westen
sandten: »Wir hier Europa!« den asiati~
sehen Konununismus, selbstverständlich). Nun, nachden1
der Kon1munis1nus zusan1n1engebrochen 1nalt die
christlich-konservative Regierung als ihren Hauptfeind die
162
n1ultikulturelle liberale Konsmndenwkratie aus, für die das
heutige westliche Europa steht, und ruft zu einer neuen,
organischeren konununitären Ordnung auf, die die »tur-
bulente« liber<:lle Detnokratie der letzten zwei Jahrzehnte
ersetzen soll. In derselben Weise, in der die Faschisten über
die »plutokratisch-bolschewistische Verschwörung« spra~
chen, werden (Ex)Kon1n1unisten und liberale »bourgeoise«
Denlokraten als zwei Gesichter desselben Feindes wahr-
genonlnlen. Es vetwunclert daher nicht, dass Orban und
seine Verbündeten wiederholt ihre Sytnpathie für den chi-
nesischen »Kapitalisn1us n1it asiatischen Werten« geäußert
haben und den »asiatischen« Autoritarisn1us als Lösung
gegen die exkon1n1unistische Bedrohung sehen wenn also
Orbans Regierung sich selbst exzessiven1 Druck aus der Eu~
ropäischen Union ausgesetzt sieht, können wir uns bestens
vorstellen, wie er eine Nachricht nach China sendet: »Wir
verteidigen hier Asien!«
Der ~(}lLU.n,g(;lr!l ist jedenfalls nur ein Ir I L.>l n "'
1
''"'
1
"
fall iin globalen Proz;ess des .~~~..,'"·"'"''"·'.......................,........u ........g.1o-..l'·''-·"
das die Grundlagen unserer en1anzipatori~
sehen Ern1ngenschaften bedroht. Neh1nen wir ein Beispiel
von der anderen Seite unserer westlichen Welt. In einen1
Brief an die Los Times die Ke~giS1)eunn
Kathryn Bigelow den wahrheitsgetreuen Blick ihres Fihns
Zero Dark Thirty aufdie Foltennethoclen von der us~
..........................u ..:;;.. tun Osc:nna bin Laden zu finden und zu töten:
J1e·1en.urE~n von uns, die in der Kunst dass
..............................k
.....e
...ine Wenn es so wäre,
umnenschliche Praktiken "'""'·,1;;"-·''.l'
kein Autor könnte über sie und kein --~-......--~·--
könnte die schwierigen Thetnen unserer Zeit erforschen.«2
Ist das so? Ohne wie ein abstrakter n1oralistischer Idealist
163
9. handeln zu wollen und in vollen1 Bewusstsein der unvor-
hersehbaren Zwänge, die in der Bekän1pfung terroristischer
Angriffe entstehen können, sollten wir nicht wenigstens
ann1erken, dass die Folter eines Menschen in sich selbst
etwas zutiefst Erschütterndes ist und dass die neutrale Ab-
bildung- d. h. die Neutralisierung genau dieser erschüttern-
den Dünension - bereits eine Art von Billigung ist?
Genauer noch liegt der Haken in der Frage, wie Folter
abgebildet: wird. Da das 'I'hen1a derart sensibel ist, ist jede
Fonn von tatsächlicher Neutralität eine Fälschung; eine
bestinunte Haltung gegenüber dein Then1a ist i1111ner er-
kennbar. Stellen wir uns einen Dokmnentarfihn über den
Holocaust vor, der ihn in kühler, desinteressierter Weise
als eine riesige industriell-logistische Operation die
technischen Probleine (Transport, Lagerung der Leichen,
Vern1eiclung der Panik unter den Gefangenen, die vergast
werden sollen etc.) ein solcher Film würde entweder
eine perverse und zutiefst unn1oralische Faszination von
seinem The1na verkörpern, oder er würde sich auf genau
diese obszöne Moralität seines Stils verlassen, mn Entset-
uncl Horror in seinen Zuschauern hervorzurufen. Wo
befindet sich Bigelow hier? Definitiv und ohne den Hauch
Zweifels auf der Seite der von Folter.
Als Maya, die Heidin des Fihns, zum ersten Mal einem
Waterboarding beiwohnt, ist sie leicht aber sie
einen
nicht 111it uns ..,,....,,,r,"._,r
Ihr Fanatisrnus bei der
"'.,,.""'1··(.:)cd- sie kühl
liefern wir dich nach Israel aus.«
~A~'"'A"'-~,u.,,,.. Bin Ladens hilft
alle gewöhnlichen n1oralischen Bedenken zu neutralisie-
ren. Noch mninöser ist ihr Partner, der junge bärtige. CIA-
Agent, der perfekt die Kunst beherrscht, heuchlerisch von
164
der Folter zur Freundlichkeit überzugehen, nachclen1 das
Opfer gebrochen wurde (inden1 er seine Zigarette anzündet
und Witze erzählt). Es liegt etwas äußerst Verstörendes dar-
in, wie er später ün Fihn fließend von1 bärtigen Folterer in
Jeans zun1 gutgekleideten Washingtoner Bürokraten wird.
Dies ist Norn1alisierung in ihrer reinsten und wirksamsten
Fonn - ein wenig Unwohlsein, Inehr in Bezug auf verletzte
Sensibilität als in Bezug auf Ethik, aber der Job n1uss erle-
digt werden. Dieses Bewusstsein der verletzten Sensibilität
als (hauptsächlicher) tnenschlicher Preis der Folter stellt si-
cher, dass der Filin nicht einfach billige rechte Propaganda
ist: Die psychologische Kon1plexität wird genau abgebildet,
so dass wohhneinende Liberale den Filn1 ohne Schuldgefüh-
le genießen können. Aus diesein Grund ist Zero Dark Thirty
so viel schlinuner als 24, wo Jack Bauer an1 Ende der Serie
wenigstens zusan1n1enbricht.3
Die Debatte um. die Frage, ob das Waterboarding Folter
ist oder nicht, sollte als offensichtlicher Unsinn fallengelas-
sen werden: Warun1, wenn es keinen Schn1erz und keine
Todesängste zufügt. bringt Waterboarding abgehärtete Ter-
rorisn1usverdächtige zun1 Sprechen? Was das Ersetzen des
Wortes »Folter« durch Verhörn1ethode« betrifft,
sollte n1an dass wir es hier nüt einer Auswei-
tung der Logik der politischen Korrektheit zu tun haben:
In derselben Weise, in der ein »Behinderter« ein »physisch
Heral,ts~~etor<:lei~t:er« wird, wird aus »Folter« »erweiterte Ver-
hönnethode« (und verrnutlich könnte
»erweiterter werden). Der
de Punkt dass Folter brutale Gewalt, die von1 Staat
an!Q:e1Tatlat wird - in genau dein Mo1nent öffentlich
tabel gen1acht wurde, in den1 die öffentliche Sprache poli-
tisch korrekt wurde, um Opfer vor der symbolischen Ge-
165
10. walt von Etiketten zu schützen. Diese beiden Phän01nene
sind zwei Seiten derselben Medaille.
Die obszönste Verteidigung des Filn1s ist die Behauptung,
dass Bigelow billiges Moralisieren zurückweist und souve~
rän die Realität der Terrorisn1usbekä1npfung zeigt, dabei
schwierige Fragen aufwirft und uns so dazu aufruft zu den-
ken (augerden1, so fügen einige Kritiker hinzu, >>dekonstru-
iert« sie Weiblichkeitsklischees - Maya zeigt keinerlei se-
xuelle Interessen oder Sentiinentalität; sie ist zäh und stürzt
sich genau wie ein Mann in ihre Aufgabe). Unsere Antwort
sollte lauten, dass n1an angesichts eines Thetnas wie Folter
gerade nicht »denken« sollte. Eine Parallele n1it den1 Thema
Vergewaltigung drängt sich hier auf: Was würden wir über
einen Fihn denken, der eine brutale Vergewaltigung in der-
selben neutralen Weise zeigt und fordert, dass Inan billiges
Moralisieren venneiden und über Vergewaltigung in all
ihrer Komplexität nachdenken sollte? Unser Bauchgefühl
uns, dass hier etwas fürchterlich fhlsch ist. Ich tnöc,hte
in einer Gesellschaft leben, in der Vergewaltigung schlicht
als inakzeptabel betrachtet wird, so dass jeder, der dafür
argumentiert, als ein Idiot erscheint, nicht
in einer Gesellschaft, in der tnan argmnentieren
n1uss und dasselbe für Folter: Ein Zeichen für den ethi-
schen Fortschritt ist die Tatsache, dass Folter »dogmatisch«
als abstoßend wird, ohne
keit weiterer Diskussionen.
Wie verhält es sich n1it detn
ge~~eoen, und sogar noch stärker in der
er~~an.ge:n111elt., ist es nicht also besser, darüber
Dies ist gerrau das Pro-
bletn: Wenn Folter in11ner vorgekon1n1en ist, warum erzählen
uns diejenigen, die die Macht haben, offen davon? Es kann
166
. •*"fi.
nur eine Antwort darauf geben: u1n sie zu nonnalisieren,
d. h. mn unsere ethischen Standards zu senker1. Folter rettet
Leben? Möglich, aber sie verdirbt n1it Sicherheit Seelen -
und ihre obszönste Rechtfertigung ist, zu behaupten, dass
ein wahrer .Held bereit sei, seine Seele zu opfern, tun das
Leben seiner Landsleute zu retten. Die Nonnalisierung von
Folter in Zero Dark Thirty ist ein Zeichen fiir das n1oralische
Vakuun1, eiern wir uns alln1~ihlich nähern. Sollte es irgend-
einen Zweifel daran geben, sollten wir nur einm.al ver~
suchen, uns eine größere Hollywoocl-Produktion von vor 20
oder 30 Jahren vorzustellen, die Folter in einer ähnlichen
Weise behandelt - es ist undenkbar.
K01nm.en wir nun zu unserein dritten und viel brutaleren
Fall, der uns n1it den1 konfrontiert, was selbst heute un~
denkbar ist: den1 Dokun1entarfilm The Act ofKilling (Final Cut
Film Procluctions, Kopenhagen) von Josliüä Oppenheüner
und Christine Cynn, der seine Premiere 2012 aufdern Tellu-
ride Filmfestival feierte. The Act ofKilling liefert einen
artigen und zutiefst verstörenden Einblick in die ethische
'-'Cl'~..,,~;cl_,;,~ cl:~... S~<:)p§t!~!~....I<~pi~~lisrl1ÜS·.··Ö{;r····Dokttlnentarfihn
2007 in Meclan, lnclonesien- berichtet über einen
Fall von äußerster Obszöni~ät: einen Filn1, der von Anwar
und seinen Freunden gedreht wurde, von denen ei~
inzwischen Politiker sind, die aber Ver-
brecher und Anführer von Todesschwadronen waren und
eine Schlüsselrolle bei der von etwa 2,5 Mil-
lionen 111t1tn1aglichen kommunistischen :sv:mt:>athrsante11
.,..,J.~J.LI;;l.l, die rneisten von ihnen ethnische in den
Jahren 1965-1966. The Act of Kil1ing handelt von »Mördern,
die gewonnen und die Art von Gesellschaft, die sie
errichtet haben«. Nach ihren1 wurden ihre schreck-
lichen Taten nicht als Geheünnis« behandelt,
167
11. als Gründungsverbrechen, dessen Spuren verwischt wer-
den sollten- ün Gegenteil, sie prahlen offen 1nit den Details
ihrer Massaker (die richtige Art, ein Opfer mit einen1 Draht
zu erdrosseln, eine Kehle zu durchschneiden, eine Frau auf
höchst lustvolle Weise zu vergewaltigen).ln;:tQkt~~~~F 2007
produzierte das indonesische St<:l<l:~sf~rn~~gen eine Taii<-
show, in der Anwar und seine Freunde gefeiert Wi1i:Cieii;
n1itteri in der Show, nachdein Anwar erzählt hat, dass ihre
Tötungen von Gangstertihnen inspiriert waren, dreht sich
die strahlende Moderatorin zur Kmnera und sagt: »Unglaub-
lich! Ein Applaus fi.ir Anwar Conga und seine Freunde!«
Als sie Anwar fragt, ob er die Rache der Angehörigen der
Opfer fürchtet, antwortet er: »Sie können nicht. Wenn sie
ihre Köpfe erheben, werden wir sie auslöschen!« Und sein
Ktnnpan fügt hinzu: »Wir werden sie alle ausrotten!«, und
das Publiktun explodiert in überschwängliches Jubeln. Man
niuss es sehen, tun es zu glauben.
Was aber The Act ofKi1ling außerordentlich tnacht, ist, dass
der Filn1 hier noch einen Schritt weitergeht und die
stellt: »Was hatten die ]VIörder im Sinn~ als sie Menschen um-
brachten?«4, d. h. welchen schützenden Schiri11verwetideten
sen, was sie taten? Die Antwort lautet, dass dieser schützen-
de Schirm, der eine tiefere Inoralische Krise verhinderte,
der filn1ische Schinn war: Sie erlebten ihre Handlungen
als Aufführung ihrer filrnischen Vorbilder, die sie dazu be-
.~<:u.u;;L.o;;;.u, die Realität selbst als Fiktion wahrzunehinen als
Bewunderer Hollywoods ihre Karrie-
ren als und Kontrolleure des Schwarzn1arkts
im Handeln von Kinotickets) sie eine Rolle in ih-
ren Massakern und ilnitierten einen Hollywood-Gangster,
einen Cowboy oder selbst einen Musical-Tänzer.
168
Es gibt einen sytnpathischen Witz über Jesus: U1n sich
nach seiner harten Arbeit des Predigens und WUndervoll-
bringens zu entspannen, beschloss Jesus, eine kurze Pause
am Ufer des Galiläa-Sees einzulegen. Während eines Golf-
spiels Init seinen Jüngern n1usste er einen schwierigen
Schlag ausführen; er verschlug ihn, und der Ball landete
in1 Wasser, so dass er seinen üblichen Trick anwandte und
über das Wasser bis zu der Stelle lief, an der sich der Ball
beh1ncl, sich hinunterbeugte und ihn aufhob. Als Jesus den-
selben Schlag noch eintnal versuchen wollte, sagte ihn1 der
Apostel, dass es ein schwieriger Schlag sei - nur jen1and wie
Tiger Woods könne ihn vollführen. Jesus antwortete: »Was
ztun Teufel, ich bin Gottes Sohn, was Tiger Woods kann,
kann ich auch!« und schlug noch ein1nal. Der Balllandete
wieder iln Wasser, und Jesus lief wieder darüber, um ihn
zurückzuholen. In diesen1 Mon1ent kan1 eine Gruppe atne-
rikanischer Touristen vorbei, und einer von ihnen, der das
Geschehen beobachtete, drehte sich zu1n Apostelund sag-
te: »Mein Gott, wer ist dieser Typ da? Denkt er, er sei Jesus?«
Der Apostel antwortete: »Nein, der Depp denkt, er sei
Woods.« So funktioniert phantasmatische Identifikation:
Nien1and, nicht einn1al Gott selbst, ist in direkter Weise
das, was er jeder braucht einen eiezentrierten
Identifikationspunkt. Und wir können uns diese Szene mit
einein atnerikanischen Journalisten der Anwar
beiln Foltern eines n1utinaßlichen Kon1munisten beobach~
tet: Der Journalist Anwars der daneben steht:
»Wer ist dieser Typ da? Denkt er, er sei ein Instrument von
Gottes und der Freund antwortet: »Nein, er
denkt, er sei Humphrey
Hier wir detn n1oralischen Vakuu:n1 der Gesell~
welcher Art von syn1-
169
12. bolischer Textur (der Satz Regeln, der die Grenze zwischen
den1 zieht, was öfl<:~ntlich erlaubt ist, und clen1, was nicht
erlaubt ist) n1uss eine Gesellschaft zusanunengesetzt sein,
wenn selbst die geringste Stufe von öffentlicher Schande
(die die Täter dazu zwingen würde, ihre Taten als ))schinut-
ziges Geheimnis« zu behandeln) außer Kraft gesetzt ist und
eine n1onströse Orgie von Folter und Mord Jahrzehnte,
nachdein sie stattgefunden hat, öffentlich noch nicht ein-
Inal als außergewöhnliches, notwendiges Verbrechen, son-
dern als gewöhnliche, akzeptable und vergnügliche Hand-
lung gefeiert wird? Die Falle, die 111a11 hier mngehen n1uss,
ist natürlich die beque1ne, inden1 n1an die Schuld entweder
direkt Hollywood oder der »ethischen Prinlitivität« Indo-
nesiens zuweist. Der Ausgangspunkt sollten eher die ent-
wurzelnden Effekte der kapitalistischen Globalisierung
sein, die durch das Aushöhlen der »symbolischen Effizienz«
traditioneller ethischer Stn1kturen solch ein tnoralisches
Vakuun1 schafft.5
Bedeutet dies, dass wir durch die graduelle Auflösung
unserer ethischen Substanz einfach zu unserein individua-
listischen Egoisn1us zurückkehren? Die Dinge sind weitaus
kmnplexer. Wir hören oft, dass unsere ökologische Krise
das eines kurzfristigen sei: Besessen
von1 unn1ittelbaren und Wohlstand, vergessen
wir das Allgerneinwohl. Hier allerdings wird
er
im hin, seinen
Reichtun1 zu 1nehren und ist seine Gesundheit und
seinen Frohsinn zu nicht zu vom Wohl-
stand seiner Fan1ilie und clen1 Wohlergehen der Um.welt.
Es ist folglich nicht nötig, eine intellektuelle Moralität
170
wachzurufen und über kapitalistischen Egoisn1us herzu-
ziehen - gegenüber der pervertierten t~m.atischen Hingabe
des Kapitalisten genü.gt es, ein gutes Maß an cinf~lchen ego-
istischen und utilitaristischen Sorgen zu beschwören. In
anderen Worten, das Streben nach dern, was Rousseau die
natürliche anwur-de-soi (Selbstliebe) nannte, erfordert eine
kultivierte Bewusstseinsebene.
Der hedonistische Egoisinus, der vern1eintlich unsere
Gesellschaften durchdringt, ist de1nzutolge keine Tatsache,
sonelern unsere gesellschaftliche Ideologie die Ideologie,
die von I-legel in der Phänornenologie des Geistes an1 Ende des
Kapitels über die Vernunft unter clen1 N.:unen »das geistige
Tierreich« artikuliert wird, Hegels Na1ne für die m.oderne
Zivilgesellschaft in der die Menschen in ei~~entil1t:ei·es:sier
ter Interaktion gef~lngen sind. Wie Hegel fonnulierte, ist
die Leistung der Moderne »das Prinzip der Subjektivität
sich zum selbständigen Extren1e der persönlichen Beson-
derheit vollenden zu lassen.«6
Dieses Prinzip ermöglicht
die Zivilgesellschaft als denjenigen Bereich, in dein auto-
nmne Inenschliche Individuen sich durch Institutionen
der freien Marktwirtschaft zusatninenschließen, tun ihre
privaten Bedürfnisse zu Alle
liehen Ziele sind den privaten Interessen der Individuen
unterworfen; sie sind bewusst und kalkuliert
n1it clen1 Ziel der Maxin1ierung dieser Interessen. Was :für
ist der
171
13. engen Ziele verfolgen, tatsächlich detn gemeinschaftlichen
Interesse cÜeneri: Di~ spezifisch dialektische Spannung
entsteht hier, wenn wir uns bewusst werden, dass je ego-
istischer die Individuen handeln, sie desto n1ehr ztnn Ge-
lneinwohl beitragen.
Das Paradoxe ist, dass, wenn die Individuen ihre engen
privaten Interessen opfern und direkt für das Gelneinwohl
arbeiten wollen, das Geineinwohl darunter leidet - Hegel
erzählt gerne historische Anekdoten über einen guten Kö-
nig oder Prinzen, dessen Aufopferung für das Geineinwohl
das Land in den Ruin treibt. Die eigentliche philosophische
Neuerung Hegels war es, diesen >>Widerspruch« auf der
Spannungslinie zwischen den1 »Anünalischen« und de1n
weiter zu bestin1n1en: Die universelle spiritu-
elle Substanz, die »Arbeit aller und eines jeden«, entsteht
als Ergebnis der »n1echanischen« Interaktion zwischen
Individuen. Dies bedeute~, da~~ eben die »Anin1;;~,Jität« des
eürerlinteJ~essie:rtc;~n »menschlich~!l'IJeres« (das Individuun1,
das an1 kotnplexen Netzwerk der Zivilgesellschaft teilhat)
...:,...,"._,,,... dieses Wechsels kann Inan überall
J.J.J.J..L!o;:JLJ., vor allen1 in den sich schnell entwickelnden asiati-
schen wo der einen äußerst bruta~
len Einfluss ausübt. Bertolt Brechts <»~D:':'.~i.~e-:....~..~~~.<l.'~~.~.~.~..~~,~··'-'··""'".....".~···""~:~.:::
,(ein
schichte eines reichen Händlers, der 1nit seinein
172
(»Kuli«) die Yahi-Wü.ste durchquert (einer von Brechts fikti-
ven chinesischen Orten), mn einen Ölhandel abzuschlie-
gen. Als die beiden sich in der Wüste verlaufen und ihre
Wasservorräte zur Neige gehen, erschießt der Händler ver-
sehentlich den Kuli, weil er denkt, er werde attackiert,
während der Kuli ih1n in Wirklichkeit Wasser anbieten
wollte, das er noch in seiner Flasche hatte. Später, vor Ge-
richt, wird der Händler freigesprochen: Der Richter urteilt,
dass der Händler jedes Recht hatte, eine potentielle Bedro-
hung in clen1 Kuli zu sehen, weshalb es gerechtfertigt war,
diesen in Selbstverteidigung zu erschießen, unabhängig da-
von, ob es eine tatsächliche Bedrohung gegeben hat. Da der
Händler und sein Kuli zu unterschiedlichen Klassen gehö-
ren, hatte der Händler allen Grund, Hass und Aggression
seitens des Kulis zu erwarten: Dies ist die typische Situa-
tion, die Regel, die Freundlichkeit des Kulis hingegen die
Ausnahme. Ist diese Geschichte also einfach eine weitere
von Brechts rnarxistischen Vereinfachungen? Keineswegs,
wie Inan aus diesein Bericht aus dem heutigen wirklichen
China ersehen kann:
In stürzte vor etwa fünf Jahren eine ältere Frau,
während sie i11 den Bus wollte. Die Ze:itung~;berichte
bes:agt:en, die Frau habe ihre Hüfte Am
Unfallort erschien ein Mann, der ihr zu Hilfe eilte,
nennen wir ihn Yu, was seinem tatsächlichen N<unen
der älteren Frau 200 RMB (zu dieser
Zeit genug, um 300 Bustickets zu und brachte sie ins
Krankenhaus. Dann blieb er bei ihr, bis ihre Familie
verl<Iagteihn auf136,419 RMB. Tatsächlich
befand das den jungen Mann für schul·
und verurteilte ihn zu 45,876 RMB. Das Gericht
173
14. dass Peng Yu zuerst den Bus bestiegen hatte und damit aller
Wahrscheinlichkeit nach die ältere Frau umgestoJ;en hatte.
AuJ;erdem hatte er seine Schuld eigentlich zugegeben, so be~
gründete das Gericht, indem er bei der Frau im Krankenhaus
geblieben war. Eine normale Person würde nicht so freund-
lich sein, wie Peng Yu zu sein vorgab?
Ist dieser Vorfall nicht eine exakte Parallele zu Brechts Ge~
schichte? Peng Yu half der alten Frau aus einfachen1 Mit-
leid oder aus Anstand, aber da eine solche Freundlichkeits~
äußerungnicht »typisch«, nicht die Regel ist (»eine nonnale
Person wäre nicht so freundlich wie Peng Yu zu sein vor-
gab«), wurde es von1 Gericht als Beweis fiir Peng Yus Schuld
gewertet, und er wurde angelnessen bestraft. Ist dies eine
lächerliche Ausnahme? Ganz und gar nicht, dein People's
Daily (der Regierungszeitung) zufolge, das in einer Online~
Un1frage eine große Anzahl junger Menschen befragt hatte,
was sie tun würden, wenn sie eine ältere Person sehen, die
gestürzt ist: »87% der jungen Menschen würden nicht hel~
fen. Peng Yus Geschichte spiegelt die Überwachung des öf~
fentlichen Ramnes wider. Die Menschen wiirden nur dann
helfen, wenn eine Katnera anwesend ist.« Ein solches Wi-
derstreben zu helfen dass es eine
ün Status des öffentlichen Raun1es »Die Straße ist ein
zutiefst Ort, und anscheinend '""'{...",,.,",.~.. die Worte
>öffentlich< und >privat< keinen Sinn.« sich an einein
öffentlichen Ort nicht nur Init
mit unbekannten Menschen zusmnm.en zu sein
wenn ich n1ich unter ihnen bin ich noch
in n1einem privaten Ratun, nicht mit ihnen
und erkenne sie nicht. Um als öffentlich zu m.uss
der Raun1 meiner Koexistenz und Interaktion n1it anderen
174
(oder deren Mangel) durch Sicherheitska1neras abgedeckt
sein.
Ein weiteres Zeichen für diese Veränderung zeigt sich
an1 entgegengesetzten Ende, Menschen beim Sterben zu~
zusehen und nichts zu unternehn1en - und einein neuen
Trend zu öffentlichen1 Sex in Harclcore-Pornos. Es gibt irn-
nler 1nehr Fihne, die ein Paar (oder n1ehr Personen) zeigen,
die in erotische Spiele versunken sind, bis zur regelrech-
ten Kopulation, an einein öffentlichen Ort (einem Strand,
in einein Zug, einein Bus oder einein Bahnhof oder den1
offenen Raun1 eines Einkaufszentrun1s), wobei das inter~
essante Merkrnal dabei ist, dass die Mehrzahl der Personen,
die vorübergehen, die Szene ignorieren (oder so tun als
ob) - eine Minderheit wirft einen diskreten Blick auf das
Paar und noch weniger n1achen eine sarkastische obszöne
Be1nerkung. Auch hier ist es, als ob das kopulierende Paar
in seinein Privatraun1 bliebe, so dass wir uns utn ihre In~
tilnitäten nicht scheren sollten.
Dies fUhrt uns ztniick zu Begeis Tierreich«
und der Wer handelt in dieser Weise und an
Sterbenden vorbei in seliger Ignoranz oder kopuliert vor
anderen? Tiere natürlich. Diese Tatsache bringt keinesfalls
die lächerliche Schlussfolgerung Init sich, dass wir ,,_.,."'T"l'''-
wie zu einer tierischen Stufe »zurückkehren«. Die Anin1a~
lität, 1nit der wir es hier zu tun haben - der >;.lJlC:l.l.......u.J.v''""
ist das des l<omtlle)ces·ten
Netzwerks sozialer (Markttausch, soziale Ver~
Ini:tutmg von Produktion), und die dass Incliviclu-
en selbst blind für dieses l<omr:•leJ~~e Netzwerk sind, deutet
auf ihren idealen (»geistigen«) Charakter hin: In einer vmn
Markt stntkturierten die Abstrak~
tion stärker als in der Geschichte der Menschheit.
175
15. Es heißt oft, dass heute, nlit unserein vollständigen 111e·
dialen Ausgesetztsein, der Kultur der öffentlichen Beichte
und den Tustnunenten der digitalen Kontrolle, der private
Raun1 verschwinde. Man sollte diesen Gemeinplatz kontern
nlit der gegenteiligen Behauptung: Es ist der eigentliche öf~
'""' ,,,.,{·•'•'"'•'"'"1'''"''·"·"-'•"'·•1•1•"'""' = ,"//•~"''"·'·"w'"'l
fentliche Ratm1, der verschwindet. D1e,Person. die i1n Netz
''"'"<''"'"'""',.'""""''"'"'"''"'""'""'"""'"·"··"""'"''"""'""''"·"''''''''"•·••wl"'"'"'"'··"'"'"•'''"'"•"'''•'••,'•" '
ihre Nacktbilder oder intüne Details und obszöne Trätnne
ausstellt, ist kein Exhibitionist: Exhibitionisten dringen in
die öffentliche Sphäre ein, während diejenigen, die ihre
Nacktbilder in1 Netz zeigen, ün privaten Raum, verweilen
und diesen einfach ausdehnen, un1 andere m.it einzubezie~
hen. Und, zurück zu The Act of Killing, dasselbe gilt für An~
war und seine Kollegen: Sie privatisieren den öffentlichen
Raun1 in einein Sinne, der viel bedrohlicher ist als die öko·
non1ische Privatisierung. Eine solche Privatisierung ist ein
exen1plarischer Fall da:für,yyi~. il1....UI1S~Jep Q~s~gsc~<:~fte!l
ci.as en1an~ip~ttorische Ereignis der Moderne alln1ählich
176
Endstation - Nota bene!
Wie stehen die (:hancenJür ein wahres politisches Ereignis
in diesen cleprünierenden Zeiten, li1 dei1en der vol~herr
scnende Pl.·ozess davon bestüntnt ist, vergangene Ereignis'"
se rückgängig zu rnachen? Wir sollten uns zunächst daran
erinnern, dass ein ~E~~ggi~ ~~!l.X~lcl.ÜalexWend~ptli~l~tjst,
der in seiner wahren Dünension unsichtbar - un1 den
französischen Philosophen Maurice Blancl1ot zu zitieren:
»Frage: Gestehen Sie die Tatsache zu, dass wir uns an einein
Wendepunkt befinden? Antwort: Wenn es eine Tatsache ist,
ist es kein Wendepunkt.«1
Jn eint::Pl Ereignis ändern sich die
Dir~:~~ I1icl?-t nttr:. Was .sich ändert, ist eben jener Para.lnetet,
a!i'~de1n yvirdie Tatsachen derVeränderung n1essen, d. h. ein
Wendepunkt verändert~cl~1s Felcl, innerhalb dessen
Tatsachen erscheinen. Dies iin Hinterkopf zu behalten, ist
entscheidend in den heuti~en Zeiten, in denen sich alles
ständig verändert in einern nie da gewesenen hektischen
Ten1po. Jedenfalls ist es unter all diesen konstanten Ver-
~11"~•11""1.11~'"10'/:l•n nicht schwer, eine f~1cle Gleichheit festzustel-
als ob sich die cla1nit alles
bleiben kann wie es das alte französische
wort fonnuliert: plus ~a change, plus c'est la meme chose. hn
177
16. Aspekte des Ereignisses in der Psychoanalyse fortgesetzt
haben. Nachdem wir der Möglichkeit ins Auge gesehen ha~
ben, ein Ereignis rück~~1t~gipzu n1achen, haben wir die End~
station erreicht, inclen1 wir cfie l~?gt~1r~11 eiJ1~S J?(:)~i!~~~~~n
Er~~gnissest~li~E~~~~~?: .haben. W~~~I~ cler Rei~e~cl~ ~~~·Abei;ct·~~
schon in1 Bett liegend, nach detn Ende seiner Fahrt recht~
schaffen tnücle ist oder zu n1üde, um die Aussicht eines poli~
,.,,,,,,,_,.,,,"'•" •,.,,
tischen Ereignisses vorauszusehen, karirr ich nur ehrlich zu
ihtii s::1ge1i: ))Notabene!«
188
Antnerkungen
Alle einsteigen- Eine Entdeckungsreise durch das
Ereignis beginnt!
1 In der Liebe zeigen wir uns aus dieseln Grund den1 Ge-
liebten in allunserer Verletzlichkeit: Wenn wir nackt
beieinander sind, kann ein zynisches Lächeln ocler ein
Kmnmentar unseres Partners den Zauber in Lächerlich-
keit vetwandeln. Liebe schließt absolutes Vertrauen
ein: Wenn man jetnandenliebt, gibt Inan ihn1 oder ihr
die Macht, einen zu zerstören, und hofft, dass er oder
sie von dieser Macht keinen Gebrauch 1nachen wird.
2 Siehe Mare Vernet, »Filn1 Noir on the Eclge of Doon1«,
in: Joan Copjec (Hg.), Shades ofNoir, London 1993: Verso
Books.
3 Stephen HawkingjLeo11arcl Mlodinow, Der groj<e Bnt-
wmj- eine neue Erklärung des Universums, Reinbek 2010:
Rowohlt.
Erster Halt - Rahmung, Neurahmung, Gestell
1 Trotz der Absurdität der darin eine
Art Schönheit; in D'un chateau d l'autre liefert
Celine eine des Elends und des
Durcheinanders des täglichen Lebens in Sigtnaringen.
189
17. 30 In seinein Sen1inar über Wagner an der Ecole Nonnale
Superieure in Parisam 14. Mai 2005.
31 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt an1 Main 1993:
Suhrkam.p, S. 19.
32 Ebd. S.22f.
33 Alle drei Haikus von Bashö, zitiert nach Haiku. Japa-
nische Dreizei1er, hg. u. übersetzt v. Jan Ulenbrook, Stutt-
gart 1995: Reclan1.
34 Robert Pirsig, Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten.
Bin Versuch über Werte, Frankfurt a1n Main 1992: Fischer.
35 Brian Victoria, Zen, Nationalismus und Iüieg. Eine unheim-
liche Allianz, Berlin 1999: Theseus Verlag, S. 159f.
36 Persönliche Irrfonnation eines Freundes.
37 Niall Ferguson. The War of the Worlci. Twentieth Cerrtury
Con:flict and the Descent ofthe West, London 2007: Penguin.
Sechster Halt Das Ungeschehenmachen eines
Ereignisses
1 http:ffwww.freehungary.hu/index.phpfarchives-newf
1230-hungary-pn1-orbans-scandalous-statetnents-at-
a-fonnn-of-hungarian-business-leaders (eine deutsche
Seite zitiert Ausschnitte aus der Rede: http:ffwww.pres-
seurop.eufdefcontentfnews-brief/2438011-viktor-orban-
will-die-demokratie-ersetzten).
2 Siehe http:// www.latimes.conljentertainmentfmoviesf
tnoviesnowfla-ct-n1n-0116-bigelow-zero-dark-thirty-
20130116,0,5937785.story.
3 Aus diesen1 Grund ist Bigelows Kon1n1entar über den
Fihn ))Wenn Inan Gewalt sieht, wird man in einen1
lacanianischen Sinne dekonstnliert« (Siehe http://
204
www.newyorker.conlftalk/2012/12/17/121217ta_talk_
fllkins)- nicht nur Unsinn (es gibt keine la.canianische
Dekonstruktion, Lacan war kein Dekonstruktivist),
sonelern eine ethische Obszönität.
4 Zitiert aus dein Werbematerial der Produktionsfirn1a
Final Cut Films.
5 Allge1neiner noch: Wie könnten (relativ) anständige
Menschen grauenvolle Dinge tun? Un1 das zu be-
gründen, n1uss Inan den üblichen konservativen anti-
individualistischen Blick tnnkehren, den1zufolge die
sozialen Institutionen unsere individuellen, spontanen
und bösen Tendenzen, unerbittlich unseren Zerstöreri-
schen und egoistischen Ilnpulsen zu folgen, begrenzen
und kontrollieren: Was wäre, wenn wir als Individuen
ganz hn Gegenteil (relativ) anständig wären, und die
Institutionen alle ihre Tricks anwenden 1nüssten, un1
uns dazu zu bringen, schreckliche Dinge zu tun? Die
Rolle der Institutionen als vernlittelnde Instanzen ist
hier entscheidend: Es gibt Dinge, die ich nie in der
wäre, persönlich zu tun, aber wenn ich es n1eine
Agenten für mich tun kann ich so tun, als wüss~
te ich nicht, was los ist. Wie viele Menschenfreunde,
wie Angelina Jolie und Brad Pitt, investieren ihr Geld
in Bauprojekte in Dubai, wo rnoclerne Versionen von
Sklavenarbeit werden, während sie nichts
davon wissen (oder so tun können), weil es von ihren
Finanzberatern wurde?
6 G. W. F. Grundlinien der Philosophie des Rechts,
Frankfurt axn Main 1986: Suhrkamp, S. 407.
7 Michael Yuen, »China and the Mist of Complicatecl
Things«, unveröffentlichter Text.
205