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Magistra Dr. Rabea Alienne Uchtmann
Was ist Kultur?
Beiträge zur Kultursemiotik
AlienneLaval
Inhalt
Was ist Kultur?______________________________________________________________________3
Der Begriff 'Kultur'________________________________________________________________3
Der Begriff 'Zeichen'_______________________________________________________________5
Der Begriff 'Text'___________________________________________________________________6
Der Begriff 'Code'__________________________________________________________________7
Kulturemergenz und Kulturevolution___________________________________________9
Die Struktur der Kultur__________________________________________________________12
Die Vermittlung von Operationen auf den tertiären Codes__________________13
Wer war Jesus?____________________________________________________________________22
Vision, Prophezeiung und Prognose_________________________________________32
Das Kreuz und die Quadratur des Weltkreises_____________________________41
Wie entsteht Religion?___________________________________________________________51
AlienneLaval
Fundamentalismus und Synkretismus_______________________________________62
Ansätze zu einer Meeresanthropologie______________________________________72
Die Geschichte vom Erlöschen der Lampen________________________________88
Die saisonale Polarisierung arktischer Gemeinschaften______________________89
Kulturkontakt und Depolarisierung____________________________________________95
Codewandel: Technologie versus Adaption und saisonalem Rhythmus___101
Ubi natura definit, ibi ars incipit (Wo die Natur aufhört, hebt die Kunst
an)__________________________________________________________________________________105
Meereskulte________________________________________________________________________111
Die Inversionsoperation als initiales semiotisches Geschehen im
Kulturprozeß_______________________________________________________________________134
Semiose und Semiosphäre: Die zwei Dimensionen der Kultur_____________134
Der Kulturprozeß oder die Semiose als Differenzprinzip___________________138
Störungen der Semiosphäre als Katastrophen und Anastrophen__________144
Die zweite Wirklichkeit des Geistes und die Semiose________________________149
Ränder, Reste und unscharfe Mengen_________________________________________156
Differenz ist Transformation____________________________________________________159
Verwandlung und Entwandlung_____________________________________________165
Wunschmaschine und Offene Codierung__________________________________182
Regreß und Pädomorphose_____________________________________________________182
Information und Redundanz____________________________________________________185
Der projektive Gehalt der biologischen Funktionen_________________________188
Bipolare oder offene Codifikation______________________________________________189
Synchronisation____________________________________________________________________192
AlienneLaval
Was ist Kultur?
Der Begriff 'Kultur'
Tylor definierte 1871 Kultur als jenes komplexe Ganze, welches Wissen,
Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und
Gewohnheiten einschließt, die der Mensch als Mitglied der Gesellschaft
erworben hat.
Tylor ging hierbei vom Vorhandensein einer Gesellschaft aus, die in
verschiedene Bereiche gegliedert ist und sich aus Mitgliedern zusammensetzt.
Angenommene erwerbbare kulturelle Fähigkeiten und Gewohnheiten werden
dabei von der Gesellschaft auf die Mitglieder übertragen. Das komplexe Ganze,
von dem Tylor spricht, setzt sich also aus erkennbaren, unterscheidbaren Teilen
zusammen, die zueinander in Funktion stehen und durch den Verbund der
Funktionen dieses Ganze ergeben.
Tylor nimmt hier die Kategorien seiner eigenen Gesellschaft (bzw. seiner
Interpretation davon) und setzt sie als 'allgemeinmenschlich'. Die dabei
verwendeten Begriffe werden wie 'objektive' (etische, absolute) Gegenstände
behandelt und auf jede mögliche 'Kulturform' (emisch) in einer
allgemeingültigen Formel angewendet.
AlienneLaval
In der strukturalen Analyse dieser kurzen Definition zeigt sich schon, dass Tylor
hier eine idealtypische Aussage über seine eigene Gesellschaft macht.
Vor dem Hintergrund von Firth' Konzeption der 'social organization', das in den
1950er Jahren erarbeitet wurde, läßt sich dingfest machen, welcher
'Strukturebene' der sozialen Organisation Tylors Definition zugehört. Firth
(1964) unterscheidet drei Ebenen der sozialen Organisation: die
Handlungsstruktur (structure of action), die Erwartungsstruktur (structure of
expectation) und die Idealstruktur (structure of ideals). Die Handlungsstruktur
zeigt eine gegebene Ethnie (soziale Gruppe, Gesellschaft etc.) in Aktion. Die
Erwartungsstruktur gibt Auskunft über die Erwartungen dieser Gruppe, was die
Gestaltung der unmittelbaren Zukunft angeht. Z.B.: früher war es die Regel,
dass der älteste Sohn den Hof erbte. Vor der Industrialisierung konnte er davon
ausgehen, dieses 'Recht' auch wahrzunehmen, da es seinen und den Erwartungen
seiner sozialen Gruppe entsprach. Industrialisierung und Verstädterung änderten
aber zumindest Teile seiner Erwartungen und dann auch die Handlungspraxis.
Die Idealstruktur wird aber durch die Verschiebung des Erwartungshorizontes
noch lange nicht angetastet. Man kann sagen, dass es sich hier um eine Ebene
besonders 'schwerer Zeichen' handelt. Der Bauer vom Lande, um bei diesem
Beispiel zu bleiben, war als Bauer in seiner Idealstruktur Christ und ist es auch
als Fabrikarbeiter geblieben. Selbst die Bürger in den Industrienationen sind
ihren Erwartungen (Monogamie, Mann dominiert Frau, ethnisches Dünkel usw.)
und Idealen nach Christen oder Muslime geblieben.
Das Verbot und die Aufweichung von tradierten Handlungsmustern änderte
nichts an den Erwartungen und Idealen.
Tylors Aussage läßt sich auf folgenden Inhalt reduzieren: in jeder 'Kultur'
werden die kulturellen Interna sozialisiert und konditioniert.
Bei Cohens Kulturdefinition (1974:46) treten materialistische und
produktivistische Kategorien in den Vordergrund. Er spricht von Artefakten,
Institutionen, Ideologien und der gesamten Breite gebräuchlicher
Verhaltensweisen, mit denen die Gesellschaft für die Ausbeutung ihrer
besonderen Umwelt ausgestattet ist. 'Verhalten' und 'Ausbeutung' werden bei
Levine (1975:213) zu 'Energiesystemen'. Er bringt damit in seine Definition die
Idee des Fließgleichgewichtes ein und weist in eine ökologische bzw.
kybernetische Richtung der Kulturinterpretation. Für ihn besteht Kultur aus den
Energiesystemen einer Bevölkerungsgruppe und deren Methoden bei ihrer
Verwertung, aus der Organisation der sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Beziehungen, aus Sprache, Sitte und Bräuchen, Glaubensvorstellungen,
Verhaltens- und Kunstregeln - aus allem, was von anderen Menschen oder deren
Werken gelernt ist.
In diesen beispielhaft herausgegriffenen Kulturdefinitionen wird fast der
gesamte Bereich menschlicher Artefakte und Tätigkeiten bzw. Handlungen
unter dem Begriff Kultur subsumiert. (s.a. Bystrina u. Kuper 1990:650). Vom
AlienneLaval
ethnozentrischen Standpunkt der Probleme in den industriellen Gesellschaften
her sind die Protagonisten obiger Definitionen zu begreifen. (s.a. ebd.)
Posner (1989:250) versucht daher materielle und geistige Kultur voneinander zu
unterscheiden, meint aber die Differenz zwischen Technik und Kultur.
Eine solche Trennung hat wissenschaftsgeschichtliche Tradition: zu Beginn des
20. Jahrhunderts wurde im deutschen Sprachraum, durch den amerikanischen
Evolutionismus (L.H.Morgan) beeinflußt, zwischen Kultur und Zivilisation
unterschieden. Max Weber (1927) verstand unter Kultur die geistige, emotionale
und ideale Seite menschlicher Lebenstätigkeit, wobei er mit Zivilisation die
technologische und materiell-utilaristische Seite der Entwicklung bezeichnete.
"Das bei Marx entlehnte 'Reich der Notwendigkeit' wurde für die
Zivilisation charakteristisch, das ebenfalls Marxsche 'Reich der Freiheit'
wurde mit dem Einzugsbereich der Kultur identifiziert. Diese
Gegenüberstellung erstreckt sich bis zu den Schriften von H.Marcuse, für
den zu dem Bereich Kultur die authentischen Werke der Literatur, Kunst,
Musik und Philosophie gehören, die durch die Zivilisation 'übernommen,
organisiert und verkauft' werden." (Bystrina u. Kuper ebd.)
Diese Trennung ist theoretisch und handlungspraktisch relevant. Kulturelle
Äußerungen haben, im Gegensatz zu denen, die dem Objektbereich der
Zivilisation/Technik (z.B. Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände, Werkzeuge,
Maschinen, Waffen) zuzuordnen sind, zeichen- und insbesondere texthaften
Charakter.
Nach Lotman (1981) ist der Mensch dadurch an zwei existentiellen Prozessen
beteiligt. Auf der einen Seite ist er Verbraucher materieller Dinge und
Sachwerte; auf der anderen agiert er als Akkumulator von Information und vor
allem als Interpret. Lotman definierte Kultur als die 'Gesamtheit der Texte',
womit er gleichzeitig die 'Gesamtheit der Funktionen' dieser Texte meinte. Das
umschließt die systemisch-statische (synchrone) ebenso wie die dynamische
(diachrone) Perspektive von Kultur.
"Bei synchroner Betrachtung stellt so die menschliche Kultur ein System
von Texten dar, aus diachroner Sicht kommt dazu auch die Herstellung,
Übermittlung, Speicherung, Rezeption, Interpretation und Wirkung der
Texte: also die Kultur als eine funktionierende Semiose." (Bystrina u.
Kuper :651)
Wesentlich an diesem Kulturbegriff ist der implizite Prozeßcharakter, der ein
Fortschreiben, einen Zeichenprozeß (Semiose) annimmt, der unter referentieller
Zugrundelegung von u.a. Kontext, kultureller, sozialer, historischer Situation
und allen Phänomenen der sogenannten 'Umwelt' sich beständig entwickelt.
AlienneLaval
Eigentlicher Zweck kultureller Handlungen sind Zeichengebung und -
interpretation, die sich in Zeichen- und Textprozessen darstellen.
"Welchen zeichenhaften Sinn oder welches Ziel haben...: die Produktion,
der Gebrauch und Verbrauch z.B. von Werkzeugen, Nahrungsmitteln oder
Waffen oder der Transport von Gütern?", fragen dann auch Bystrina u.
Kuper (:653).
Der Begriff 'Zeichen'
Wesentlich in dieser Diskussion des Kulturbegriffes ist die Explikation des
Zeichenbegriffes. Wenn die Kultur- und Kommunikationswissenschaften
versuchen, sich mit dem uralten, mythisch-magischen Wort 'Geist' in seinem
tatsächlichen kulturevolutionären Sinn zu befassen, benötigen sie einen anderen
Zeichenbegriff als die Geistes- oder Sozialwissenschaften:
"Im Einklang mit... einer realistischen Weltauffassung verstehen wir unter
dem (semiotischen) Terminus 'Zeichen' ein materiell-energetisches,
sinnlich wahrnehmbares Objekt (System), das eine vom Zeichengeber
intendierte Information über ein Bezeichnetes enthält. Dies ist die
Zeichenfunktion eines Objekts als eines Zeichenträgers." (Bystrina u.
Kuper :654)
Eine 'Realistische Weltauffassung' impliziert hierbei, vor einer
kulurevolutionären Folie gedeutet, einen 'existentiellen Zeichengebrauch', der
für das jeweilige Sein konstitutiv und unabdingbar ist. Erforderlich bei diesem
Zeichenbegriff ist die Annahme einer Intendiertheit des Zeichenproduzenten.
Inwieweit hierbei eine Unterscheidung, gerade an den Punkten kultureller
Emergenz, bewußt/unbewuß sinnvoll ist, wird später ersichtlich werden.
Gedanken und andere psychische Ereignisse müssen aber, um Zeichen zu
werden, erst materiell-energetisch in der Außenwelt manifestiert werden, wobei
aber die An- oder Abwesenheit eines Rezipienten der Zeichenfunktion eines
Textes keinen Abbruch tut; der Text muß lediglich potentiell rezipierbar sein.
Gebrauchsobjekte, soziale Systeme oder 'natürliche Objekte' sind demnach
primär keine Zeichen, sondern sie können eine sekundäre Zeichenfunktion
annehmen, wenn sie per Interpretation oder Inversion in die kulturelle Sphäre
transformiert werden. Die meisten Gegenstände dieser Menge der Anzeichen
sind potentiell Objekte semiotischer Aktualisation, auch wenn niemand sie
aktuell in dieser Form benutzt.
Der Ansatz, der diesen Ausführungen zugrunde liegt, geht also von einer
existentiellen Zeichenfunktion aus: Zeichen sind keine esoterischen und quasi-
magischen Relationen, sondern materiell-energetische, intendierte Objekte. Es
AlienneLaval
sind keine konsensuellen Auffassungen gemeint, die selbst nicht frei von
magischer Relationalität sind. Die durch die üblichen sozialen Konstrukte
bedingten Wahrnehmungsweisen sind als selbstverständlich unterstellte
Relationen und meinen, bzw. glauben, keine Objekte zu produzieren, solche zu
sein, geschweige denn, diese als derartige zu sehen. In diesem Kontext wird das
'menschliche Sein und Handeln' in der Welt als nicht entfremdet, d.h. als mit ihr
identisch, begriffen.
Erst Intention und existentielle Produktion von Texten setzen diesen
Automatismus außer Kraft und zeigen Kultur als ein Ensemble von Texten.
Der Begriff 'Text'
Unter einem Text wird deshalb ein sinnvoller Komplex von Zeichen verstanden.
"Nach Lotman ist ein Text an sich relativ geschlossen, durch Anfang und
Ende begrenzt und enthält eine potentiell rezipierbare Botschaft." (Bystrina
u. Kuper :656)
Jeder kohärente, intendierte Zeichenkomplex kann prinzipiell als Text aufgefaßt
werden. Michael Titzmann (1977:9) formuliert das so:
"...alle menschlichen aber auch tierischen Äußerungen..., die als
'zeichenhaft' und 'bedeutungstragend' fungieren: normalsprachliche Texte
der Alltagskommunikation; religiöse, philosophische, wissenschaftliche,
'hohe' und 'triviale' literarische Texte; epische, dramatische, lyrische Texte;
Produkte der Malerei, Plastik, Architektur; Comic Strips, Filme, Werbung:
im Prinzip auch gestische oder mimische Äußerungen."
Dabei muß aber eingeräumt werden, dass materiell-energetische Objekte ihren
Zeichen- und Textcharakter in dem Maße verlieren, wie ihre ursprünglich
dominante Zeichenfunktion zu einer Nebenfunktion wird. Das ist im
Alltagsverhalten und der sozialen Organisation der Fall; genauso können
Gebrauchsgegenstände ihre Gebrauchsfunktion verlieren.
Gebrauchsverhalten, Technik, soziale Organisation etc. haben sich in der
Humanevolution solange nicht entscheidend entwickelt, bis bis die dominante
Funktion auf die kulturellen Texte überging. Bis heute haben sich diese Bereiche
jedoch so weit verselbständigt, dass dieses entscheidende Merkmal außerhalb
ihrer Wahrnehmung liegt, da die dominante Textfunktion nun die rationale bzw.
die instrumentale, also die Gebrauchsfunktion zu sein scheint und die kulturellen
Texte als ihr Beiwerk erscheinen.
Es ist aber gerade der
AlienneLaval
"...hohe Grad an Verselbständigung dieser Tätigkeiten, der Verlust eines
erkennbaren Zusammenhangs mit den unmittelbaren
Lebensnotwendigkeiten, die Redundanz dieser Tätigkeiten, ihre scheinbare
Überflüssigkeit (vom Standpunkt des einfachen physischen Überlebens),
ihr l'Art pour l'Art, was sie zum kulturellen Phänomen ummünzt. Für das
Imaginativ-Kreative, das Phantastische, Narrative und Poetische, Ironische,
Groteske und Absurde, das irgendwo am Anfang der menschlichen Kultur
steht, gilt das, was Huizinga (1938:17) über das Spiel schrieb: es 'steht
außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von
Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß'."
(Bystrina u. Kuper :659)
Der Begriff 'Code'
Wie eben angedeutet, gibt es verschiedene Textsorten und Textstrukturen, die
durch die dominierende Funktion des Textes ersichtlich werden.
Grundlage für diese Interpretation des Kulturellen ist das 'Drei-Schichten-
Modell der Codes', wie es Bystrina (1989) vorgeführt hat. Es wird dabei davon
ausgegangen, dass 'Mensch' in drei unterschiedlichen Codeebenen existiert.
Ähnliche Modelle wurden von Leroi-Gourhan (1964), Jakobson und Morris
(1988) vorgeschlagen.
Bystrina unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes, wobei die
primären einfache, syntaktische Codes sind, die wir z.B. als genetische Codes
bezeichnen. Ihr Kennzeichen ist eine hohe Codegebundenheit (Stringenz) und
eine daraus resultierende relativ starke Invarianz. Sie strukturieren die primären
Lebensformen und bezeichnen eigentlich Leben und darüberhinaus gar nichts.
Auf den sekundären Codes sind semantische Operationen möglich; sie
regulieren ethologische Systeme, die verschiedenen Spielarten des Sozialen im
Tierreich (auch Mimikry, Tarnungen und Täuschungen), soziale Syteme und
Phänomene der menschlichen Alltagssprache. Das Moment der Tradierung von
Verhaltensrepertoires ist auch hier festzumachen (das 'ethnische Gedächtnis'
Leroi-Gourhans). Die Stringenz der Codes nimmt zu den 'kulturellen Codes',
den tertiären Codes, hin ab, so dass sie diejenigen sind, die die größte Freiheit
erlauben. Die Varianz, also Beweglichkeit auf dieser Codeebene ist es, die das
menschliche Leben durch die Jahrhunderttausende gesichert hat. Genetische und
ethnische Codes beispielsweise sind aufgrund von relativ langer Amplitude in
der Generationenfolge des Menschen und dem zur Stasis tendierenden
ethnischen und sozialen Gedächtnis dazu viel zu schwerfällig und zu langsam.1
1 deswegen konnte beispielweise das Soziale durch die Industrialisierung so leicht
ausgehebelt und zweckentfremdet werden. Der hohen 'Geschwindigkeit' (s.a. Virilio 1992)
dieser neuen Systeme war das Soziale schutzlos preisgegeben. Die Warnungen aus der
kulturellen Sphäre konnten aus dem gleichen Grund weder verstanden, noch befürwortet
werden (s.a. Surrealisten, Dadaisten und die frühen Strukturalisten). Es viel dem Sozialen
AlienneLaval
Begrenzt werden die Möglichkeiten auf den tertiären Codes durch Setzungen,
die die kulturellen Äußerungen durch Bedrohung, Semantisierung und
Marginalisierung einschränken. D.h.: Ethnie, Gesellschaft oder
Dogma/Ideologie können kulturelle Äußerungen kontrollieren, verbieten,
zensieren und/oder über sie richten.
Die Macht eines Systems in dieser Richtung wächst mit den Möglichkeiten der
genetischen und sozialen Kontrolle. Wie wir heute wissen, ist das u.a. eine
technische Option.
Mit dem kulturellen Code aber erst gelingt dem Menschen die bahnbrechende
Erfindung eines originär menschlichen Seins, das im subhumanen Bereich nur
als Disposition, aber nicht als tragende Kraft, angelegt ist.
Diese Ebene des tertiären Codes ist es, die zunächst auf der Ebene der
sekundären Codes das Gebrauchsverhalten verändert und schließlich über die
Annahme einer empirischen Ebene primärer Codes syntaktisch-instrumentale
Systeme wie den Computer erfindet.
Dass der Mensch ab dem Zeitpunkt der Kulturemergenz, der ihn der Natur
gegenüberstellte, zumindest in zwei Bereichen existierte, läßt sich schon von
den Erkenntnissen Saussures (1916) ableiten, der zwischen langue und parole
differenzierte. Lévi-Strauss (1958) stellte bei der Untersuchung von
südamerikanischen Indigenen fest, dass die Alltagssprache dieselben
Gegenstände wie die mythische Sprache, nur auf einer anderen Ebene,
bezeichnet. Nach Bystrinas Modell liegt die Interpretation nahe, dass Lévi-
Strauss herausgefunden hat, dass das Soziale wiederum auf einer Ebene der
sekundären Codes agiert, während die mythische Sprache, die dem Sozialen
zugrunde liegende 'langue' also, einen tertiären Code meint. Der Mythos aber
wird erst auf dem tertiären Code aktualisiert; er ist dem Sozialen verschlossen.
Übergänge vom einen Bereich in den anderen sind bei sogenannten
Stammesgesellschaften häufig mit besonderen Festen und Handlungen
verbunden.
Kultur bedeutet demnach das 'signifikante Operieren in einer zweiten
Wirklichkeit' (Bystrina 1989, Bystrina u. Kuper 1990).
"Die hinter der physischen Welt anzusiedelnde zweite Wirklichkeit
existiert - in den menschlichen Gehirnen und in Texten - parallel neben der
bezeichnenderweise leichter, sich insgesamt an die Industrie anzukoppeln (s.a. die Utopien
des Karl Marx), als den individuellen Sprung in das kulturelle Sein zu wagen. Der
Bodenlosigkeit des kulturellen Anspruches gegenüber versprach die Industrie die Wahrung
von Heimat (auch einer internationalen, wenn gerade angesagt), Werten und Tradition. So
lassen sich heute so heterogene Ansprüche und strukturelle Unvereinbarkeiten wie 'High
Tech' und 'Blut und Boden' problemlos in einer gemeinsamen Menge vereinen.
Bayernschrankwand, Trachtenrock etc. schließen nicht Videorekorder, Mikrowelle, Computer
etc. aus. Eine solche 'menschliche' und d.h. ideologische Industrie, muß dem kulturellen
Schaffen zuwider sein
AlienneLaval
ersten und wird aus dem Material der ersten Wirklichkeit durch vielfältige
Umstrukturierung aufgebaut." (Bystrina u. Kuper :659)
Kulturemergenz und Kulturevolution
Die Geschichte des menschlichen Gebrauchsverhaltens (Gebrauchsgegenstände,
Technik) ist, beginnend mit den ältesten Artefakten der Steinzeit, weitestgehend
gut dokumentuert und bewertet. Exemplarische Belege lassen die Technik-
Evolution plausibel rekonstruieren und als Adaptionen an die Erfordernisse der
unmittelbaren Umwelt der Hominiden erscheinen. Die Veränderungen in der
sozialen Organisation im Laufe der Humanevolution lassen sich vor diesem
Hintergrund scheinbar sinnvoll erklären.
Leroi-Gourhans (1964:139) Ausführungen legen die Vermutung nahe, dass die
frühen Techniken dem Rhythmus der biologischen Evolution folgten, denn
Chopper und Faustkeil erscheinen eher als Teile des Skeletts, als dessen
Verlängerungen. Dass diese Form des 'Werkzeuggebrauchs' auch bei anderen
biologischen - nicht nur plazentalen - Arten auftaucht, scheint diese Annahme zu
bestätigen. Erst mit - vage formuliert - 'neuen Möglichkeiten des Gehirns'
beginnen die Techniken einen rasanten Aufstieg.
Diese Möglichkeiten sind auch schon im Tierreich - als subhumane
Dispositionen - angelegt. Diese zeigen sich in Traum, Spiel und deviantem
Verhalten, wie Bystrina (1989:225ff) in seinem Aufsatz 'Die Wurzeln der
Kultur' darlegt. In dieser Sphäre, die im Verlaufe der Humanevolution durch
bewußte 'Entregelungen' (Rausch, ekstatische oder asketische Techniken,
Visionen, Prophetien) weiter angereichert wird, bilden sich die prozessualen
Archetypen oder Invarianten, die die Kulturemergenz und die weitere
Kulturevolution ermöglichen und bestimmen. Den Hintergrund, auf den diese
neue Form zeichenhafter und symbolischer Aktualisierung sich wirft, die
augenscheinlich mit Verlängerungen des Skeletts nichts mehr zu tun hat, bildet
die sich nun abzeichnende 'erste Wirklichkeit' der die Menschen umgebenden
Phänomene mitsamt den Erscheinungen der belebten und unbelebten 'Umwelt'.
Die Phänomene der 'Außenwelt' werden hierbei in einem Prozeß der Inversion
zu Phänomenen der 'Innenwelt' und erfahren dadurch tiefgreifende
Veränderungen, die wiederum, zunächst als 'Höhlenmalereien' und dann als
verschiedenste zeichenhafte Systeme (materiell-energetische Objekte; Texte), in
der Außenwelt kondensieren, die aber auch in der individuell-psychischen,
inneren Auseinandersetzung (Holensteins (198-) Introspektion; von mir 1991 als
'auditiver Modus' bezeichnet) und mit anderen Personen kommuniziert werden.
Die, wenn auch nicht intendierten, Rezipienten solcher Texte sind nicht
zwangsläufig Zeitgenossen, also Teilnehmer derselben Semiosphäre (Lotman
19--), sondern sie können auch diachron versetzt (z.B. erst in der Zukunft;
andere, parallel - kulturrelativ - existierende Gruppen) auftreten. Prinzipiell ist
AlienneLaval
aber jeder in-formierende Zeichenprozeß (Semiose), auch zwischen Individuen,
auf dieses diachrone 'Gefälle' - die Asymmetrie - angewiesen.
Wenn Gruppen sich durch Konsensbildungen (auch durch Macht) formieren,
dann können Symmetriesationen stattfinden (Uchtmann 1990), die aus der
Diachronie entkoppeln. Flusser hat das für die Wirkungsweise der modernen
Massenmedien angenommen, Baudrillard (1982) in seiner Analyse auf die
Industriegesellschaften beschränkt, doch zieht sich diese Möglichkeit durch die
gesamte Humanevolution.
Synchronie an sich, als jeweiliger individueller und sozialer Begriff von
Gegenwart verstanden, ist als kulturrelativer Ausgangs- und Bezugspunkt
notwendiges Konstituens jeder Möglichkeit diachroner Information. Dennoch
scheint es Erwartungen im Repertoire menschlichen Verhaltens zu geben, die
versucht sind, die Diachronie auszuhebeln. Diese Erwartungen sind als
Heilserwartungen in den Religionen formuliert, bedeuten eigentlich aber den
Wunsch nach einer 'Rückkehr' in den homöostatischen Zustand der Indifferenz,
der zwischen allen Individuen gleichen Abstände, der kontingenten
Adaptiertheit an Gott und Natur, um das 'Unheil' der Information auszuschalten.
Information stellte immer eine Herausforderung an die Synchronie dar, denn sie
ist genetisch gekoppelt an den Zeit- und Raumpunkt der Kulturemergenz.
Die initiale Leistung des heraufdämmernden menschlichen Bewußtseins war die
Kognition des Todeswissens und die damit verbundene Selbstbewußtheit (s.a.
Bystrina 1989). Zu den Erfordernissen des physischen Überlebens gesellten sich
nun die des psychischen Überlebens und damit die existentielle
Zeichenproduktion. Einerseits entstehen hier neue Strukturmuster, (kognitive)
Codes, die über Schamanismus, Mythenbildungen, Philosophien, den
verschiedenen Spielarten der Kunst bis hin zu den Theorienbildungen der
Wissenschaften führen, in denen Bewegung und Struktur dominieren.
Andererseits entstanden nun neue Formen des Sozialen (Systeme), die in ihrem
Bestand durch Rituale, Initiationszeremonien und kollektiven Zeichengebrauch
gesichert wurden, in denen Form und Funktion dominieren und die damit
sekundäre Codes ausbilden.
Die neuen Strukturmuster sind die 'tertiären Codes', die sich, wie gesagt, den
vorangegangenen beiden Codeebenen impizit aufschichten. Explizit bilden sich
auf der Basis dieser Codes quasi-statische soziale Systeme, die mit ihren Regel-
und Kompensationsmechanismen den 'Angriff' des Todes zu erwehren und
seinen Sinn in eine 'höhere Ordnung' zu überführen suchen (s.a. Bystrinas
(1989) Ausführungen zu 'triadischen Lösungen'). Sie kreieren auf diese Weise
den Bereich der 'zweiten Wirklichkeit', der seitdem neben der 'ersten
Wirklichkeit' gültiges Faktum menschlichen Seins ist. Während die erste
Wirklichkeit durch Wechselwirkungen reguliert ist, werden in der zweiten
Gesetze formuliert, die aber genauso bindend sind.
Die Möglichkeit eines 'fremdartigen' impliziten Codes am Punkt der
Kulturemergenz zeigt doch schon, dass die 'Ordnung' der Natur hintergehbar
war. Als genauso hintergehbar zeigten sich aber die menschlichen Ordnungen
AlienneLaval
und Sprachen; der tertiäre Code wurde damit zum Träger und Mittler der
Kulturevolution.
Die Introspektion, die beispielsweise Schamanen und manchen Wissenschaftler
und Künstler zum Erlebnis des tertiären, kognitiven Codes führt, ist an sich ein
pädomorphes Eintauchen in den Urgrund menschlichen Seins.
Am Anfang der Kultur standen besonders schwere 'Zeichen', die uns noch heute
beschäftigen und die wir zu bewältigen suchen, sozusagen eine Meta-
Idealstruktur im Sinne Firth, die die Invarianten der folgenden Kulturevolution
bildeten und noch heute wirken.
Die hier entworfenen Welten, die das Soziale in seiner jeweiligen Gegenwart
wie selbstverständlich okkupiert und unreflektiert reproduziert, sind originär
keines sozialen Ursprunges. Daher ist auch die Einheitlichkeit, Geschlossenheit
und Abbildhaftigkeit (Isomorphie/Homomorphie mit einer 'realen' Welt) des
Sozialen irrational. Die Intention des Sozialen ist auf seine Erhaltung und
Perpetuierung beschränkt. Um das zu leisten, muß es die Mittel des Kulturellen
für seine Zwecke gebrauchen.
Kultur entsteht aus der Erkenntnis einer Spaltung, eines unlösbaren
Widerspruches, der kritisches Denken ermöglicht sowie auslöst. Das Soziale ist
die Leugnung und Aufhebung dieses Widerspruches durch Installation eines
Dritten (früher: Gott; heute: das Soziale selbst). Diese passiv gelebte und aktiv
von anderen geforderte Widerspruchslosigkeit bedeutet die Überfrachtung der
Möglichkeiten durch das Nichts.
Dass dieser harte Satz wahr ist, läßt sich belegen:
Soziale Funktionen und Systeme werden schnellstens aufgegeben, sobald innere
oder äußere Gefahr im Verzuge ist. Das Soziale hat dem nichts
entgegenzusetzen außer einer hohlen, haltlosen, lediglich verbrieften, aber nicht
vertieften, Ethik. Wenn das Dritte versagt, liegen die Widersprüche so offen dar,
dass sich nur Fassungslosigkeit und Unverständnis breitmachen, die wiederum
nur nach Gegengewalt verlangen oder sich in dem platten Ruf "Ruhe bewahren"
Gehör verschaffen. Der Umgang mit den Widersprüchen wurde im Sozialen
weder gelehrt, gelernt, noch war er erwünscht. Folter, Krieg und Gewalt werden
als Randphänomene einer 'zivilisierten' Welt und eines 'kultivierten' Verstandes
markiert und in das Ausland verdrängt, da wo die Verrückten sind (Barbaren
und Menschenfresser - da hilft auch keine Toleranzhudelei). Die größte
Platitude aller Scheinlösungen ist dabei die Forderung nach der ultimaten,
paradiesischen Ideologie.
Lösungen auf den kulturellen Codes versprechen keine Programme, dazu sind
sie zu komplex. Was sie aber bringen, ist die Akkzeptanz und Aufklärung des
Widerspruches, ohne dass dieser sich explosiv - wie beim Versagen des Sozialen
- entladen muß oder mit der Ohnmacht und Kontrollmacke des Genetikers
kaschiert und unterdrückt werden braucht. Im Übrigen: auch die genetische
Lösung ist eine Scheinlösung.
AlienneLaval
Die Struktur der Kultur
Kultur ist daher
"Dialektik in einem mehrpolaren Kraftfeld (und) bedeutet ständiges
Ausbalancieren verschiedener 'Anstöße' einzelner Elemente,
Umgruppierung ihrer dominanten Positionen, Veränderung von Vektoren
usw. Es ist eine Interaktion von strukturell verschiedenen Entitäten", wie
Karbusicky (1973:102) schreibt.
Die 'strukturell unterschiedlichen Entitäten' Karbusickys sind die erörterten
Codes Bystrinas.
"Sobald im Augenblick der Belebung des Kraftfeldes durch einen kreativen
Akt oder durch das Hinzukommen neuer Elemente die Entitäten (hier:
Codes) in Interaktion treten, fangen sie an, sich in ihren gegenseitigen
Potenzen zu befragen, sich ihre Strukturen einzuprägen und sich
umzugruppieren." (ebd.)
Dem Subjekt können im Anschluß an Karbusicky die psychologischen,
assoziativen und sensualistischen Eigenschaften zugeschrieben werden und dem
Material die formalen Eigenschaften.
Beschränkt sich die Interaktion auf diese beiden Pole, entsteht die auf dem
Kantischen 'interesselosen Wohlgefallen' beruhende Auffassung von der Kunst
oder Kultur als Spiel, auch wenn das Spiel zu den kulturkonstituierenden,
subhumanen Dispositionen gehört.
Zwischen dem Material und dem Objekt erstreckt sich der Bereich der
aristetolischen Mimesis, in dem sich nur die Frage nach richtiger oder falscher
Adaptiertheit stellen läßt.
Erst die kultursemiotische Betrachtung nimmt den 'Austritt' des Artefaktes aus
dem kreativen Subjekt zur Grundlage, da sich hier die ontischen Kräfte der
Kultur wie aus dem Urchaos hervorquellend bekunden. Ein sogenannter
Realismus in der Kuturanalyse würde die mimetisch-ikonische Komponente in
den Vordergrund stellen, die nur noch richtig-falsch Entscheidungen zuläßt.
Neben der Achse Material-Objekt, die durch die semantischen Regeln der
Adaption geregelt ist, gibt es noch solche, die zwischen Subjekt, der
Gesellschaft und dem Material polarisiert sind. Kernpunkt der
kultursemiotischen Analyse ist die Zugrundelegung der Subjekt-Objekt-Achse;
von hier aus werden alle anderen Bezüge problematisiert.
Der einzige nicht-codierte Pol in diesem Interaktionsfeld ist der des Objektes; es
wird durch den potentiellen, tertiären Code repräsentiert, der aktuell aber erst im
Subjekt wirkt.
Wenn das Objekt codiert wäre, wie es beispielsweise noch Cantor mit seinem
Begriff des Transfiniten annahm, dann hätten wir damit das Absolute und d.h.:
AlienneLaval
Gott, vor uns. Die sich als kontingent (homomorph, isomorph) in die Welt
projezierende Gesellschaft oder das Subjekt in seinem Selbstverständnis vom
Sein erreichen durch die Verweigerung des tertiären Codes aber genau diesen
Effekt: sie simulieren das Absolute, wie aus den Ausführungen Baudrillards
(1976) zu schließen ist und kontrollieren die zweite Wirklichkeit durch mächtige
Moral-, Normen- und Regelsysteme die konsensuell und durch Setzungen
reguliert sind. Dem freien, grenzüberschreitende Austausch mit Geistern und
Kräften wird ein Ende gesetzt.
Mit Luhmann (1990) kann man also mit einer gewissen Berechtigung sagen,
dass es sich bei psychischen und sozialen Systemen um tote Systeme handelt.
Wenn man davon ausgeht, dass zumindest noch auf der phylogenetisch jüngsten,
der tertiären Codeebene, die aristetolische Logik ausgehebelt wird, dann geht es
hier nicht um kontingente Adaptiertheit, sondern um die Schaffung neuer,
narrativer Formen. Das Leben wird ja gerade dadurch intentional und
irreduzibel, indem es die Welt nicht richtig abbildet, sondern interpretierend
aktualisiert und so die Wechselwirkungen des unbelebten Universums hintergeht
und partiell - zumindest bis zum Tod - unwirksam macht. In einem bipolaren,
aristetolischen System wäre damit das Leben und erst recht die Kultur, nicht bei
dem mit 'richtig' markierten Pol, sondern bei dem mit 'falsch' markierten,
angesiedelt.
Gerade auf den tertiären Codes steht das Subjekt direkt dem Objekt gegenüber.
Die einzige, tatsächliche Information, die vom Objekt ausgeht, sobald dieses
aktualisiert wird, ist zunächst die Erkenntnis des Todes. Dieser Raum wird dann
mit kulturellen Texten angefüllt.
Wenn spätestens auf den sekundären Codes so etwas wie Bewußtsein, das wohl
mit dem Verlassen rein ikonischer Repräsentationen entsteht, möglich ist, dann
bildet sich hier das Selbst-Bewußtsein aus, dessen Bildung mit dem
Todeswissen einhergeht.
Die Vermittlung von Operationen auf den tertiären Codes
Voraussetzung für die kulturelle Handlungspraxis und die Vermittlung einer
solchen Praxis, die sich sowohl in methodischer als auch in thematischer
Hinsicht abgrenzen soll von dem, was bislang im Bereich der 'Kulturarbeit'
geleistet wurde, ist ein theoretischer Anspruch und Ansatz, der auf den im
vorangegeangenen Teil zugrunde gelegten Annahmen basiert.
Da Kultur und kulturelle Handlungsoperationen für das physische Überleben des
Menschen nicht notwendig sind, entfallen sie der Sphäre des
Gebrauchsverhaltens, der Überlebens-Technik und damit auch der Arbeit. Selbst
das Freizeit-Verhalten, das sich in einem 'interesselosen Wohlgefallen'
begründet, ist nicht kulturelles Tun und kann - wenn es das unbedingt soll und
das überhaupt geht - den Druck der physischen Sphäre nur unvollkommen
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kompensieren. (Hierzu zählen das Squash-Spielen, Bowling, Freizeitparks etc.
ebenso wie die Herstellung von Makramee-Eulen, Holzenten, Schüttelreimen im
offenen Radio usw.: also 'Beschäftigungen' und die vielfachen sich hieraus
ableitenden sog. 'Therapien').
Nach dem vorhin formulierten kuturevolutionären Anspruch ist offensichtlich,
weshalb kulturelles Tun nicht mit dem psychologischen und pädagogischen
Instrumentarium des Sozialen vermittelt werden kann, dass das Überleben in
einem gegebenen Kontext und dieses Kontextes ermöglichen soll.
Eine 'Kulturpädagogik' im Sinne eines kultursemiotischen Ansatzes kann
Anregungen vermitteln und auf Prozesse verweisen, die sich in der
Humanevolution bewährt haben. Eine solche Pädagogik muß verzichten auf den
partikularisierenden, akkumulativen Anspruch des Sozialen. Sie muß vielmehr
Ängste nehmen durch theoretische sowie kulturhistorische und -psychologische
Abpufferung und Begleitung des individuellen Erkenntnisprozesses. Sie muß
neuerlich dazu ermutigen, initiatorische Wege zu beschreiten, um auf der Basis
individueller Reflektion und Reduktion kritische Zustände zu induzieren, die
kulturelles Schaffen erst ermöglichen.
Dies meint keine entfremdeten Konstruktionen, die als rationale Folie dem sog.
Unbewußten aufzulegen wären, sondern eine strukturgenetische Eruierung und
Anwendung des humanen Zeichenprozesses, der ebenso bewußt wie unbewußt -
aber dennoch intendiert - vonstatten geht, da er existentiell ist.
Ein großer Stellenwert kommt hierbei den 'symbolischen Formen' zu, die die
Emergenz und die Evolution der Kultur bis heute begleitet haben und als
Variablen und Axiome relativ invariante Muster (patterns) der Kognition bilden.
Mythen, Märchen und Kunstwerke sind voll davon; Religion, Politik,
Ökonomie, soziale Organisation etc. sind aus ihnen hervorgegangen. Sie bilden
die individuellen und kollektiven Grundlagen, auch wenn es letztlich um die
Produktion zufällig auftretender Texte geht.
Im Vorangehenden wurde ein Oppositionspaar, Kultur - Soziales, expliziert.
Der kultursemiotische Ansatz legt, wie begründet, daher nahe, zwischen
'sozialem' und 'kulturellem' Verhalten zu differenzieren. Eine angebliche
Identität der durch beide Termen bezeichneten Mengen von Objekten und
Relationen wurde als nichtig erwiesen, da die jeweiligen Verfahrensweisen
verschiedenen Sphären der Evolution entstammen und zuzuordnen sind, auch
wenn die Evolutionen des Sozialen und des Kulturellen auf weiten Strecken
parallel und interdependent verlaufen sind. Es ist doch sinnvoller, sie aus
pragmatischen und analytischen Gründen in Untersuchung und Praxis
auseinander zu halten.
Das Soziale meint immer das in einer jeweiligen Gegenwart und Gesellschaft
internalisierte Repertoire, das über seinen Raum und seine Zeit nicht
hinausweist. Daher tautologisieren, 'skorpionisieren' (Baudrillard 1976), sich die
AlienneLaval
Systeme, die sich auf das Soziale und soziale Kontrolle ( Horizontalität)
verlassen.
Die Interdependenzen der sozialen, wie auch der natürlichen Systeme werden im
Kulturellen verlassen. Auch wenn Utopien - vor allen Dingen, wenn im Sozialen
umgesetzt - die Tendenz zur Inversion und Perversion aufweisen, kommt der
Mensch, wenn er auch psychisch als Mensch überleben will, um sie nicht
umhin. Eine 'soziale' Kontrolle der Utopien kann einen neuen Faschismus
religiöser und/oder ökologisch-kybernetischer Art erzeugen.
Kulturelle Interpretationsleistungen und Produkte sind durch hohe Ambivalenz
ausgezeichnet und eben dadurch kreativ, indem sie die Neugier gegen die Angst
ausspielen. Otto (1917) wies darauf hin mit den Bezeichnungen 'mysterium
tremendum' und 'mysterium fascinans'. Kultur durchbricht damit die linear
scheinende Stringenz der homöostatischen Abläufe (Konditionierung,
Sozialisierung) des Sozialen und durch ihre Redundanz vom Standpunkt des rein
physischen Überlebens den Mythos der ewigen Wiederkehr.
Kulturschaffen erfüllt primär keinen sozialen Zweck; es meint eine dritte
Codeebene, einen tertiären Code, der die Objekte der Außenwelt in eine innere
Dimension überschreitet und diese in narrativen Texten interpretiert. Narrative,
also kulturelle, Texte sind in diesem Zusammenhang - wie gesagt - alle aus den
kulturkonstituierenden subhumanen Dispositionen (i.e. Traum, Spiel, psychische
Devianz, Drogen) sich ableitenden Zeichenprozesse (Semiosen) und ihre
materiell-energetischen Produkte (Zeichensysteme).
Sorten derartiger Texte sind Malerei, Plastik, Literatur, Musik, bestimmte
wissenschaftliche Theorienbildungen, Ursprungsmythen, Märchen, Tanz,
Maskenspiele usw. Gebrauchs-, so auch Designobjekte, haben keine innere
Textstruktur, sie sind nicht Träger von Geschichten, also keine Texte im
angeführten Sinn. D.h.: die Texthaftigkeit des Kulturobjektes muß durch seinen
Schöpfer intendiert sein, setzt also intellektuelle Tätigkeit voraus, die sich in der
Produktion eines materiell-energetischen Systems (Text) äußert.
Dieser Text wiederum kann Ausgangspunkt für andere Texte - nicht
zwangsläufig gleicher Sorte - sein. Die Semiose umfaßt daher nicht nur die
Produktion, sondern auch die Vermittlung, Speicherung, Tradierung,
Aufführung solcher Texte.
Sicherlich haben auch 'tote Gegenstände' wie Sterne, Blitz, Hagel, Erdbeben,
Atombombe, Schraubenschlüssel, gekachelte Wände, Autos, Kaffeetassen,
Formen sozialer Organisation etc. einen potentiellen Textcharakter; im
eigentlichen Sinne aber handelt es sich bei solchen Objekten um Anzeichen,
deren Zeichenhaftigkeit erst in einem intendierten, intellektuellen Prozeß
aktualisiert werden kann.
In einem wesentlichen Aspekt sind kulturelle Handlungsoperationen ihrem
Ursprung nach - und sie sind dies auch heute noch - Mittel der Bannung, der
AlienneLaval
Versicherung gegen übermächtige Geister (heute wohl nicht mehr so sehr die
Naturkräfte, als vielmehr die durch Technologie und konzertierte Aktion
entfesselten Gewalten und der individuelle Tod), ihre Handhabbarmachung
durch Beschwörung, der Inversion unliebsamer Vertikalität (z.B. im alten
Karneval), schlichtweg die Veröffentlichung und Auflösung fataler Symmetrien,
die sich durch Gewöhnung und Wiederholung eingeschlichen haben (z.B.:
früher die Gewöhnung an die ständige Bedrohung des Menschen durch die
'Natur'; heute Gewöhnung an Klassengesellschaft, menschliche Dummheit,
massenhaftes Verhalten, Macht, Ohnmacht, Kapital, Übermacht der Technik
etc.).
"...so stark ist der Druck des Realitätsprinzips der industriellen
Massengesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern geworden, deren relative,
empirische Freiheit auch in der Normierung der Kunst auf ihre realistische
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sich niederschlägt." (Gorsen
1981:224)
Die durch Kultur dargelegten und entregelten Gegensätze werden so oft durch
beliebte Scheinlösungen ( die Letzten werden die Ersten sein, Diktatur des
Proletariats, der 'gute' Diktator, Tod für das Kollektiv, seelig sind die geistig
Armen usw.) im Sozialen wieder eingeregelt und ertragbar gemacht. Durch
Sozialisation, Tradition ( auch die Ritualisierung der Arbeit als
Lebenswirklichkeit zählt dazu), Wiederholung und Gewöhnung nehmen diese
Systeme 'Wirklichkeitsstatus' an. Deswegen erscheinen sie auch so starr,
unreflektierbar und invariant (eine übliche Meinung: "es war schon immer so"),
dass eine 'Lösung' unmöglich scheint. Gerade heute wird diese Behäbigkeit und
die dadurch implizierte Gefahr des Sozialen im Angesicht einer
wahrscheinlichen Katastrophe offensichtlich. In autopoietischer
Selbstgefälligkeit konstruiert das Soziale unter Zuhilfenahme kultureller, also
poetischer Inputs, als Rettungs- und Rechtfertigungsversuch Kybernetik,
Ökologie und Netzwerke. Diese 'neuen' Inhalte sollen auf bekanntem Wege
vermittelt werden, also lehr- und lernbar sein. In die möglichen neuen Schläuche
rinnt auf diese Weise der längst umgekippte Wein alter Schule und Didaktik.
Explorationstrieb (Koestler 1978) und Verstand werden zum Rieselfeld des
Bildungsapparates, der schulmeisterlichen Langeweile preisgegeben.
Eine Verschulung der Vermittlung kultureller Praxis steht daher in
methodischem Widerspruch zu den Möglichkeiten dieser hochflexiblen
Codeebene.
Im verschulten, programmatischen Ablauf stehen quantitative, die Kreativität
hemmende Verfahren im Vordergund. Die gemeinschaftliche 'Ideensammlung'
und 'Problematisierung' unter Anleitung eines Lehrers ersetzt die individuelle
Introspektion und Audition. Hierbei wird eine all-gültige Systematik und eine
Form der Kategorialität (Rahmen) vorausgesetzt, die von vornherein eine
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stillschweigend als gemeinschaftlich akzeptierte Form der Versprachlichung
unterstellt und sofortige und unmittelbare Stellungnahme fordert (das ganze
Schulsystem funktioniert so).
Dieses Reiz-Reaktions-Schema unterstellt ein ethologisch-behavioristisches
Muster, das nur den systeminherenten Informationsfluß (Kybernetik) in Gang
hält. Eine tatsächliche Kommunikation individueller Erkenntnisse und
Erkenntniswege kann so nicht stattfinden; sie würde auf 'offene' Kommunikation
angewiesen sein, deren Mittel und Regeln sich im jeweiligen Prozeß neu
formulieren würden. Das kybernetische Modell hingegen simuliert
Kommunikation.
Dieses didaktische Mittel zwingt jede Auseinandersetzung zur
Oberflächlichkeit, da es die Hintergehbarkeit der konsensuellen Sprachebene
(Holenstein 1980) verwehrt. Erst durch das Eintauchen in den Ozean der
Introspektion kann sich qualitativ was tun, weil erst hier die Kreativität und der
eigene Ausdruck (die eigene Sprache) gefunden werden können (Therre 1979;
Uchtmann 1991).
Der Konsens hypostasiert und erzwingt ein nicht entfremdetes Empfinden zu
einer gemeinschaftlichen Sprache und Handlungspraxis; er fordert ein
einheitliches, stets mit sich selbst identisches Alltags-Subjekt als Teilnehmer.
Eine Entwicklung der Persönlichkeit ist nur akkumulativ und zirkumbulativ
denkbar.
Kulturelles Schaffen jedoch lebt gerade von der Erkenntnis der Entfremdung
(bislang hat glücklicherweise noch jedes System neue Möglichkeiten der
Entfremdungen geschaffen!). Das In-sich-sein des geschlossenen,
kontextualisierten Subjekts wird im kulturellen Prozeß zu einem mindestens
teilweisen Außer-sich-sein.
Neben seiner profanen Existenz in der Sphäre des Gebrauchsverhaltens schafft
es sich so eine zweite Existenz, die es mit den Ur-Sprüngen des Menschlichen
verbindet, aber auch fortschreiten läßt.
Nun ist die Idee von einer anderen Kulturpraxis schon sehr alt und erscheint
überdies abgeschmackt und nicht notwendig. Von de Sades Anspruch einer
hedonistischen Kulturpraxis, die sich gleichermaßen gegen Natur und
Zivilisation richtet, spannt sich der Bogen über die psychoanalytisch-
kulturtheoretischen Ansätze Freuds, die 'revolutionären' Versuche in der
Anfangszeit der Sowjetunion und den Surrealismus bis hin zur 68er-Bewegung
in West- und Osteuropa. Gerade durch die ökologische Krise, Anfang der 70er
Jahre vom 'Club of Rome' beschworen, wurde dem ein Ende gesetzt, verlangte
sie doch nach Umkehr, Einkehr, neuer Religiosität und dadurch nach
systemtheoretischen, kybernetischen Modellen der 'Krisenbeherrschung'. Die
zügellose Kreativität, die ja auch schreckliche Waffen hervorbrachte, müßte, so
wurde angenommen, durch neue Regelsysteme 'gebannt' werden. Verbeeks
(1990) Analyse zur Anthropologie der Umweltzerstörung problematisiert erneut
vor dieser Folie die Evolution der menschlichen Gesellschaften und
rationalisiert als Lösungsvorschlag noch einmal die Einrichtung von neuen
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Kontroll- und Regelmechanismen. Problematisch ist dabei die offensichtliche
Repressivität, die zu Gunsten eines höheren Zieles in Kauf genommen wird.
Kultursemiotisch betrachtet ist das wiederum eine triadische, die Widersprüche
hinwegzwingende Scheinlösung quasi-religiöser Konnotation, sie lautet:
individueller Verzicht für das Kollektiv, für ein besseres Leben in einer
kommenden, friedlichen Welt (Paradiesvorstellung).
Die Grenzen des Systems markieren gleichzeitig die Grenzen der Erkenntnis
und der Welt, deren Überschreitung verboten ist bzw. wird.2
Diese Möglichkeiten, wenn auch häufig verteufelt (s.a. Verbeek), sind es aber,
die, im Gegensatz zum jeweilg synchron Systemimmanenten, seit der
Kulturemergenz die entscheidenden Innovationen in der Kulturevolution
gebracht haben.
"Während ich an seinen (van Goghs) unglaublich 'psychedelischen' Bildern
vorbeischlenderte, dachte ich über den einzigartigen Realitätstunnel dieses
Malers nach, seine erstaunlichen Visionen, seine Poesie, sein kreatives
Sehen. Wieder einmal wurde mir bewußt, dass van Gogh gerade deshalb so
wunderbar ist, weil er eben Rembrandts Realitätstunnel nicht nachahmte.
Picasso ist ein bedeutender Maler, weil er van Gogh nicht nachahmte, und
Mondrian ist großartig, weil er Picasso nicht nachahmte. Bedeutende Kunst
ist immer eine neue Synergie, eine neue Transaktion zwischen Beobachter
und Beobachtetem. Plötzlich fiel mir Adolf Hitler ein, der gesagt hatte,
jeder, der den Himmel grün malt, sollte auf der Stelle sterilisiert werden.
Und ich verstand den Rechthaber ein wenig besser. Ein Rechthaber ist an
seinen Realitätstunnel gekettet, denn auf die Konfrontation mit den
Realitätstunneln anderer, kreativer Wesen reagiert er mit Angst und
Schrecken", schreibt Wilson (1992:225f).
Es waren die Lösungen auf den tertiären Codes, die das (Über-)Leben der
Menschen ermöglicht und ausschlaggebend beeinflußt haben. Dass eine solche
Praxis mit unabsehbaren Risiken für Indivduum und Spezies verbunden ist, kann
nicht bestritten werden. Koestler (1978) sieht in der Sprachentstehung u.a. das
entscheidende Generativum für Kriege und Waffentechnologie. Als fatale
Lösung empfahl er entweder die Abschaffung der Sprache oder einen
neurochemischen Eingriff ins Gehirn. Auch Skinner (1971) strebte eine
Änderung der 'Kontingenzen' an, durch Anpassung der menschlichen Umwelt an
2 siehe dazu z.B. John Norman's Trivialroman-Epos 'Gor - die Gegenerde' (Heyne-Verlag).
Mächtige Satellitensysteme kontrollieren hier die Herstellung von Waffen, die über Hieb- und
Stichwaffen hinausgehen. Erfindet jemand eine Feuerwaffe, so wird er per Satellitenstrahl
exterminiert. Bezeichnend ist, dass diese Waffen in diesem Szenario dauerend neu erfunden
werden und nur eine exteriorisierte Kontrollinstanz dieses ungezügelte, innere Schaffen
unterbinden kann.
Eine solche Vorstellung läßt sich leicht auf den intellektuellen Bereich übertragen.
SittenwächterInnen, wie derzeit im Iran, könnten die Überwachung erlaubten Denkens
garantieren.
AlienneLaval
Laborbedingungen. Er stellt sich dann eine Kunst und Literatur vor, die ohne
Tod, Mord, Macht, Ohnmacht und Tragödie/Komödie auskommt. Nach seinem
Ideal würde sich zu guter Letzt der Kontrolleur selbst in die Laborbedingungen
einbringen.
"Daher häufig der Ruf nach Allgemeinverständlichkeit um jeden Preis,
nach Durchsichtigkeit, die für Rationalität ausgegeben wird, nach
Leichtvertäglichkeit und Unkompliziertheit des Ästhetischen anstelle von
Hermetismus." (Gorsen :223)
An dieser Stelle entsteht ein unkritischer Realismus, wie Gorsen (ebd.) ausführt:
"Der Kunstbeschauer wird zum Abnehmer von sozialen Tasachen und
Ideologien, die auf eine einprägsame ästhetische Form gebracht wurden.
Die unkritische Seite dieses Realismus ist, dass er alles so beläßt, wie er es
vorfindet, im zitierenden Abbilden und Ideologisieren, im Montieren und
Umgruppieren von Wirklichkeitsstücken das Bestehende nachahmt..."
Die ästhetische Qualität von Kunstwerken wird dabei allein danach
beurteilt, "...ob sich diese überindividueller Mitteilungsweisen und sozial
anpassungsfähiger Konzeptionen bedienen oder dem als kultisch,
rückschrittlich, esoterisch, privilegiert geschmähten Bereich traditioneller
Kunstherstellung verhaftet bleiben." (ebd.:222f)
Offensichtlich ist dabei nach Gorsen die 'domestizierende Sicht auf die reine
Gebrauchsfunktion der Kunst für die Gesellschaft'. Das eben Gesagte betrifft
daher nicht nur den Kunstbeschauer, der sich, sie letztlich auch verteidigend, in
diese Realität einbringen soll, sondern auch den Künstler, der gezwungen ist,
sich in sie einbringen zu müssen.
"Entweder werden die Künstler zu politischen Phantasten und
Propagandisten einer Einheit von Wirklichkeit und Kunst, deren
Versöhnung in der Praxis aussteht und die objektiv erst zu leisten wäre,
oder sie neigen zu bloßer Rezeption und zum Nachbeten dessen, was
gesellschaftlich vorgegeben ist, das sie unwesentlich verändern oder so
belassen, wie es geworden ist." (Gorsen a.a.O.:223)
Im gleichen Maße, wie durch diesen Vorgang Kunst und Kultur zur Ware
werden, zwingt die Masse die Herstellung jeder Kunst auf ihr Verständnisniveau
als Konsumenten herunter.
"Diese Barbarei werden sie als neue Freiheit, als Emanzipation des
Genusses missverstehen." (Gorsen a.a.O.:224)
AlienneLaval
Das bedeutet im Kontext dieser Konzeption eine Kybernetisierung und
Symmetrisierung der Kultur auf einem systemimmanenten Informationsniveau.
Kultur kann nur noch als Gebrauchs- bzw. Freizeitverhalten geduldet werden.
Das Innovative wird gänzlich den Regelkreisen (u.a. dem Sozialen) überlassen,
die es aber nicht leisten können und immer weitergehende Simulationsformen
produzieren. (s.a. Baudrillard 1976)
"Für die wirkliche Befreiung der Massen zum Kunstverständnis und damit
für die Chance aller, einen ähnlich hohen oder vielmehr höheren, qualitativ
anderen Status ästhetischer Bildung und Sensibilität zu erreichen,...wird
heute...(nichts) Entscheidendes getan."
Gorsen (:236) führt weiter aus, dass es 'die marxistische Psychoanalyse Reichs
und der surrealistische Marxismus Marcuses waren, die dem Gedanken zum
Zuge verholfen haben, dass Regressionen den Boden für Politisierung und
Revolutionierung (wider den verkehrten Fortschritt und wider eine vernunftlose
Vernunft) bereiten können,
"...dass sie nicht nur als Weltverlust, Autismus, als Rückschritt, Krankheit
und psychische Mangelerscheinung verstanden werden können, sondern,
dass sie - aus dem konservativen und repressive Ordnung stabilisierenden
Rahmen der heilmedizinischen Betrachtung gesprengt - Möglichkeiten
darstellen, jene Erlebnis- und Erfahrungsqualitäten, nun freilich verwandelt
und auf der Stufe der Selbstaufklärung ins Bewußtsein zurücktreten zu
lassen, die als deren Nachtseite verdrängt und zu sozial 'wertlosen'
Leistungen 'kultiviert' worden sind."
Solche Regressionen, bzw. die 'Nachtseite', sind dann als 'Pädomorphosen'
(Koestler 1978) anzusehen, die eine Hinwendung zum 'Medium der kognitiven
Kompetenz' (Holenstein 1980) bedeuten:
"Die biologische Evolution ist weitgehend eine Geschichte gelungener
Fluchtversuche aus den Sackgassen der übermäßigen Spezialisierung und
die Geschichte der Ideen ist eine Reihe gelungener Fluchtversuche aus der
Tyrannei geistiger Gewohnheiten und erstarrter Routinemäßigkeiten. In der
biologischen Evolution ist die Flucht ein Rückschritt vom Erwachsenen-
ins Kindheitsstadium, das anschließend als Ausgangspunkt für eine neue
Entwicklungslinie genutzt wird; bei der geistigen Evolution ist sie ein
vorübergehender Rückschritt zu primitiveren, ungehemmteren Arten der
Vorstellungskraft, gefolgt von einem schöpferischen Sprung nach vorn..."
(Koestler 1978:255)
Gefährlich wird es nur, wenn diese Prozesse ins Private gedrängt verbleiben.
Gerade rigorose und faschistische Systeme haben immer die Tendenz, das
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Öffentliche bzw. die Öffentlichkeit zu verhindern und - da fremd und bedrohlich
- zu zerstören.
Kulturelles Schaffen ist, wie oben gesagt, auf den große Variabilität zulassenden
tertiären Codes angesiedelt. Es erhöht damit die Geschwindigkeit der
Modifikationen in der Humanevolution.3
Kennzeichnend ist die Reversibilität (s.a. Kramer 1987; Baudrillard 1983) aller
Prozesse auf dieser Ebene. Das bedeutet demnach Vorläufigkeit und ein
Ablassen von den auf das Finale fixierten Ideologien. Diese Einsicht fällt in
Europa, wo wir über Jahrhunderte das Leben in und das Bezogen-Sein auf starre
Muster gelernt haben, schwer:
"Auf die negativ entropisch wirkende Entregelung, die den Regress ins
Chaos wagt und ihre Autorität aus dem vom sozialen Kosmos als
Übermacht begriffenen Bereich bezieht, folgt der entropische Wunsch nach
Ordnung und der Homogenität eines von einer Macht - und sei sie auch nur
strukturales Prinzip - kontrollierten Paradieses." (Uchtmann 1991:169)
Eine wirkungsvolle Kulturpädagogik muss aber gerade hier ansetzen. Sie kann
nicht umhin, von der Prämisse auszugehen, dass 'Kultur' die treibende Kraft im
Prozeß der Humanevolution war und ist. Genau diesen Inhalt müßte sie
vermitteln. Die Vorgabe eines Ergebnisses wäre wiederum eine finale Fixierung.
Das Individuum ist anzusprechen, das bereit ist Intention/Intellekt zu
entwickeln. Eine Quantifizierung der Teilnahme durch großangelegte Entwürfe
und Raster schadet dabei der Qualität.
3 z.B.: das Efe/Gelede-Fest der Yoruba hat keinen anderen Sinn, als Geschehnisse der ersten
Wirklichkeit mit Hilfe der zweiten reversibel zu machen. Zu Beginn des Festes, das in der
Nacht beginnt, wird der Platz durch bestimmte, jenseitige (innere) Kräfte verkörpernde
Maskenträger gereinigt und auf die Ankunft der Wesen aus der anderen Welt vorbereitet. Es
wird dabei angenommen, dass diese Wesen mit dem Wind kommen und am Ende des Festes
mit dem Wind auch wieder gehen. Genauso wird aber davon ausgegangen, dass die realen
Unbilden mit dem Wind gekommen sind und am Ende des Festes von den Wesen der anderen
Welt mit dem Wind hinfortgenommen werden. Das Ganze ist profanerer Natur als man
zunächst denkt: Der 'Wind' bringt Veränderungen ins Land, die verstanden werden müssen,
damit mit ihnen umgegangen, damit auf sie reagiert werden kann. Dies sind nicht nur
Krankheiten, Mißernten usw., sondern auch die Einfuhr neuartiger Güter, Ideen, Kleidung,
Techniken und Arbeitsweisen.
Nach der das Fest eröffnenden Efe-Nacht tragen die Tänzer des nächsten Tages (Gelede) auf
ihren stereotypen, das Gesicht bedeckenden, Maskenunterteilen Aufbauten, die in
symbolischer oder realistischer Manier das Fremde und Neuartige darstellen (so können dort
neben traditionellen Motiven der Polizist, die Nähmaschine, der weiße Händler, das Auto, der
Heimcomputer etc. auftauchen).
Diese Form der Auseinandersetzung ist auf Reversibilität angelegt, die durch den Wind
symbolisiert wird. Das Skulpturelle dient der Anschauung, ist aber nicht Mittelpunkt. Der
Tanz ist dabei analog dem Wind. Es ist diese hohe Flexibilität, die das Überleben des Sozialen
bei gleichzeitiger Transformabliität sichert.
AlienneLaval
"Ob und wie es möglich wird, kulturelle Repressionen bloß dadurch, dass
man sie den Regressionen provokatorisch konfrontiert, rückgängig zu
machen, ist keine leichte Frage. Die konkrete Utopie sinnlicher und
geistiger Freiheit kann für den Künstler in der unfreien Gesellschaft nur
wie in einem Zerrspiegel erscheinen: eben in der häßlichen, negativen
Gestalt von Neurosen, Perversionen, von Unfreiheit und Versagung, von
Unrecht und Gewalt, die Gegenstand von Konsensaufkündigungen sind."
(Gorsen :236f)
Kultur meint eben keine reine Ästhetik, keine 'reine Schönheit ohne Wert'
(Bataille), sondern ein existentielles Tun, das auf Veränderung ausgerichtet ist.
Das Individuum muß hierbei zunächst einen kritischen Zustand durchlaufen, der
es außerhalb des Normativen stellt, ihm die 'Kunst' vermittelt, den Sinn von
Regeln zu hinterfragen. (s.a. Uchtmann 1991)
Selbst eine effektive Gruppendynamik ist auf Individuen, Kritik und
Widerspruch, nicht aber auf Allgemeinheit angewiesen; das gemeinsame,
soziale Werkeln darf nicht im Vordergrund stehen, nicht zum Inhalt werden.
Eine solche Kulturpädagogik setzt bei Betreibern und Teilnehmern die
Bereitschaft voraus, grundsätzliche kognitive und damit auch soziale
Veränderungen in Kauf zu nehmen.
Ein solches Unterfangen wird zwangsläufig den Charakter eines Experiments haben müssen. Experiment
bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, von außen steuernd in den Prozeß einzugreifen, sondern gemeinsam zu
lernen und zu erfahren, dass existentielle Realitäten gleichzeitig experimentelle Realitäten sind, denn: ohne den
Zeichengebrauch auf den tertiären Codes ist das psychische Überleben nicht gesichert.
Wer war Jesus?
Zur Kultursemiotik eines religiösen Phänomens
Die Kultursemiotik ist die Wissenschaft, die sich mit den von den Menschen in
der Entwicklung der Kulturen erfundenen Zeichenprozessen - den Semiosen -
und Zeichenräumen - den Semiosphären - beschäftigt.
Die semiotischen Wurzeln der Kultur finden sich in den Träumen und Spielen,
die man bei allen höheren Säugetieren nachweisen kann. Spätestens mit dem
Auftauchen der Kultur als originär menschlichem Phänomen kommen
psychische Devianzen, Drogengebrauch, Askese, Ekstase und symbolschaffende
Aktivitäten, also zeichenhafte Handlungsoperationen, hinzu.
Dieses Auftreten des Menschen als Kulturwesen übersteigt die Anforderungen,
die eine Organisation des bloß Lebensnotwendigen an das Mensch-Sein stellt.
Die ursprüngliche Kultur war die Gesellschaftsformation der Wildbeuter, jener
frühen, nur zeitweilig seßhaften Menschengruppen, die vom Jagen und
Sammeln lebten.
AlienneLaval
Die Forschung geht heute davon aus, dass sich hier Schamanen herausbildeten.
Die Schamanen machten die Wanderbewegungen ihrer Gruppen nicht nur mit,
sondern sie begaben sich darüber hinaus auch auf die Seelenwanderung.
Im Zustand der Trance konnten sie so an weit entfernte Orte reisen, die Zukunft
erkunden, sich in Himmel und Unterwelt begeben und auch in das Meer
hinabtauchen.
Die Doppelexistenz, die eigentlich jeder Mensch führt - indem er gleichzeitig
Teil der Natur und Teil der Kultur ist -, wird erst mit der zwillingshaften
Wahrnehmungsweise der Schamanen offenbar. Der Schamane kann von seinen
in der Trance gewonnenen Einsichten ausgehend aber auch gesellschaftliche
Ungerechtigkeiten, Asymmetrien und Hierarchien erkennen, kritisieren und
versuchen, Veränderungen durchzusetzen.
Dem Schamanen ist dabei klar, dass Welt und Mensch nicht statisch auf
bestimmte Formen festgelegt, sondern veränderlich sind.
Auch dann, wenn Nahrung gesammelt, gejagt, zerlegt, geteilt, gegessen, verdaut
und ausgeschieden oder ein verfallendes Lebewesen bei der Auflösung
beobachtet wird, wird eine Metamorphose offenbar, die auch vice versa, als
Entfaltung, als Umkehrung - Inversion - des Zerfallsprozesses, denkbar sein
müßte. Das Geschehen des Verfalls, der Zerstückelung, wird zur synthetischen
Leistung invertiert, die das Zerlegte vor dem Hintergrund einer besonderen
Situation in einem Mythos vereinigt und somit den Verfall aufhebt und
zumindest partiell - in einer Semiose - umkehrt. Mit dieser Inversion haben wir
den kulturgenerierenden Übergang von den rein zergliedernden und zerlegenden
Leistungen und Verfahren zur allein synthetisch begründbaren Dimension der
Kultur vorliegen.
Diese Wahrnehmungsweise wurde als mit den Naturkräften in Verbindung
stehend gedacht. Schamanische Fähigkeiten wurden in den Mythen häufig
dadurch dargestellt, dass man ihre Erlebnisse als die Abenteuer von
Zwillingspaaren tradierte.
Claude Lévi-Strauss schreibt, dass Zwillinge neben anderen Gaben über
"...die Fähigkeiten verfügten, Kranke zu heilen, günstige Winde zu wecken
und über Regen und Wind zu gebieten..."
Der eine Zwilling wird in den Mythen häufig als häuslich und sozial gedacht
und mit gekochten Nahrungsmitteln ernährt, während der andere in der Wildnis
lebt, der Natur nahe ist, sich von rohen Beeren, Bohnen und ähnlichem ernährt
und von den Tieren aufgezogen wird.
Der wilde Zwilling ist schelmischer und intelligenter als der häusliche und
verführt diesen dazu, das eingefriedete Terrain zu verlassen. Nach einigem Hin
und Her - unter anderem erlernen die Zwillinge die Kunst, sich gegenseitig
AlienneLaval
wieder zum Leben zu erwecken - beginnen sie gemeinsame Sache zu machen
und begründen neue Verfahrensweisen im Umgang mit den Menschen und den
Phänomenen der Welt.
Der Religionshistoriker Mircea Eliade gesteht dem Schamanen die Fähigkeiten
zu,
"...im Dunkeln zu sehen,...mit geschlossenen Augen Finsternisse zu
durchschauen und künftige Dinge und Ereignisse, die den anderen
Menschen verborgen sind, wahrzunehmen; so kann (...) (der Schamane)
ebenso die Zukunft erkennen wie die Geheimnisse der Mitmenschen."
Zu dieser Einsichtsfähigkeit und dem vorausschauenden, schlußfolgernden
Denken und Handeln gelangt der Schamane, indem er eine Initiation durchläuft,
wobei er seine imaginäre Zerstückelung, sein Sterben, die Auferstehung, die
Himmelsreise und eine magische Neugestaltung seines Körpers erlebt.
Der Ethnologe Joachim Sterly behauptet, dass der Schamane die Gewißheit des
Todes als eigenste äußerste Seinsmöglichkeit erfährt, deren verstehende
Übernahme in das eigene Dasein die Wurzel des Selbst- und Weltverständnisses
der Schamenenexistenz bildet. Das Phänomen der Geisterwelt zeigt sich ihm
nicht als ein vorhandenes Jenseits, sondern eher als eine Welt gewesener, zum
Dasein gehörender Möglichkeiten. Mit den Geistern kann der Schamane nur
verkehren, wenn er - vorlaufend in den Tod - die Freiheit und Macht erlangt, alle
vorher gewesenen Möglichkeiten eigens zu erschließen.
Für den Kultursemiotiker Ivan Bystrina werden die 'Todesbewußtheit' und damit
in ihrer Folge die 'Selbstbewußtheit' zu den die Kultur und damit das
Menschsein konstituierenden Faktoren schlechthin.
Was bei der Initiation tatsächlich stirbt, ist demnach die alte Weltauffassung des
Schamanen, die allein durch sein in Erziehung, Sozialisation und Anpassung
geformtes 'Ich' bestimmt war.
Forschende und kreative Zugänge zur Welt, wie wir sie noch heute in den
Künsten und Wissenschaften finden, haben ihren Ursprung in dem komplexen
Zusammenspiel der Zwillinge, das der der Linearität des sozialen Schicksals
entgegengesetzt wird.
Nach Sigmund Freud soll es daher zwei Formen von Sublimierung geben, die
das Wesen eines Menschen verfeinern können, wobei eine das Werk der
Erziehung ist und eine andere, 'niedere Form', die selbständig entsteht und deren
Beginn in die sexuelle Latenzperiode der Kindheit zu verlegen ist. Im
günstigsten Fall bleibt diese Form das ganze Leben hindurch erhalten.
Diese niedere Form ist es, die nicht in den Bereich des Sozialen paßt, da sie
vom Sozialen aus gesehen zufällig entsteht und nicht kontrollierbar ist. Da diese
AlienneLaval
Form der Sublimierung aber auch nicht in die Natur gehört, obwohl sie eine
wilde Form ist, gilt sie als gefährlich, aber auch als heilig.
Die Freuden am Schaffen, die Künstler und Forscher empfinden, sagt Sigmund
Freud in seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur, erscheinen uns feiner und
höher, da sie diese besondere Qualität haben.
Die Initiation, in der der Schamane lernt, seinen wilden Aspekt oder Zwilling
mit dem sozialen Aspekt oder Zwilling zusammen zu bringen, vollzieht sich in
drei Schritten, deren erster die Trennung vom Sozialen, die Separation, bedeutet.
Auf diesen folgt eine Zeit der Absonderung, der Marginalität, die der Initiand
alleine in der Wildnis verbringt. Der letzte Schritt, der auch die Initiation
öffentlich macht, ist das Auftreten in der neuen Rolle, die Aggregation.
Im Falle des Jesus von Nazaret waren dies die Taufe durch Johannes im Jordan,
sein Wüstenaufenthalt und die Aufnahme seiner Tätigkeit als Wanderprediger
Nach der Darstellung des zeitgenössischen Historikers Josephus verstand
Johannes die Taufe nicht als magischen Ritus. Für ihn hatte die Taufe nichts mit
der Vergebung der Sünden zu tun, sondern war physisches Symbol einer bereits
hergestellten Realität, auf deren Einbruch man nur zu warten brauchte.
Diese Realität war für Johannes das Kommen des von den Propheten
angekündigten wahren Messias im Verbund mit einem rächenden,
apokalyptischen Gott. Die Taufe des Johannes bereitete die Getauften passiv auf
das apokalyptisch erwartete und herbeigesehnte Reich Gottes vor, war also kein
Initiationsgeschehen.
Es befreite die Getauften nicht von ihrem Unwissen, sondern beließ sie in einer
passiven Abhängigkeit, wobei hier allerdings die Abhängigkeit von den
römischen Besatzern auf das kommende himmlische Reich übertragen wurde.
Jesus, der aber als Handelnder auftreten und aktiv in das Geschehen eingreifen
wollte, stand gegen die Apokalyptik des Johannes. Im Gegensatz zu ihm, der mit
Wasser taufte, wurde die Taufe durch Jesus mit dem Feuer in Verbindung
gebracht.
Bei dem Taufgeschehen zeigte sich der Geist, der aus dem Himmel kommt, als
Taube.
In einem Mythos der siberischen Burjaten war es der Adler, der ausgeschickt
wurde, um dem ersten Menschen, dem er begegnete, egal welchen Geschlechts,
Lebenskraft und Allweisheit zu übermitteln. In diesem Mythos war es eine Frau,
der der Adler begegnete und die damit zur ersten Schamanin wurde.
Der Adler spielt in vielen Kulturen des nordasiatischen Raumes und
Nordamerikas die Rolle des Kulturbringers. Außerdem ist er Beschützer und
Leitwesen der in Trance reisenden Schamanen.
AlienneLaval
Der Adler gilt aber auch als Symbol Christi und es gibt die Vorstellung vom
Kampf des Adlers mit der Schlange, als Symbol des Kampfes Christus mit dem
Satan, des Lichtes mit der Finsternis.
Der Kulturphilosoph Jean Baudrillard hat treffend zusammengefasst, was Jesus
in der Wüste durchlebte oder - was ganz allgemein - ein Asket in seiner
Abgeschiedenheit eigentlich treibt. Der Initiand, der selber noch nicht frei ist
von den gesellschaftlichen und symbolischen Zwängen, versucht dabei, das
herrschende Äquivalenzsystem der jenseitigen und diesseitigen Bedrohungen,
Strafen und Belohnungen samt seiner Machtverteilung und den geltenden
Gottheiten außer Kraft zu setzen. Erst dann kann der Initiierte als Individuum
und damit störend in dem auf Ausgleich angelegten Getriebe des Systems
wirken.
Baudrillard schreibt:
"So fordert der Asket, der sich abtötet, Gott heraus, ihm stets das
Äquivalent zu geben. Gott tut, was er kann, um es ihm 'hundertfach'
zurückzuerstatten, in der Form des Prestiges, der spirituellen Macht und gar
der weltlichen Herrschaft. Aber der geheime Traum des Asketen ist der, an
einen solchen Punkt der Abtötung zu gelangen, dass sogar Gott die
Herausforderung nicht mehr annehmen und seine Schuld tilgen kann. Er
wird dann über Gott selbst triumphiert haben, und er wird Gott sein.
Deshalb ist der Asket nie weit von der Häresie und dem Sakrileg entfernt
und wird als solcher von der Kirche verdammt, die nur dazu da ist, Gott vor
diesem symbolischen 'Auge in Auge' zu bewahren, vor dieser tödlichen
Herausforderung, in der Gott genötigt wird, zu sterben, sich zu opfern, um
die Herausforderung des Sichabtötenden anzunehmen. Zu allen Zeiten wird
die Kirche die Aufgabe gehabt haben, diese Art einer (zuerst für sie)
katastrophischen Konfrontation zu vermeiden und durch einen geregelten
Austausch von Bußen und Belohnungen zu ersetzen, durch ein
Äquivalentensystem zwischen Gott und den Menschen, das sie selbst
verwalten würde."
Baudrillard ist hier misszuverstehen, denn der Asket fordert immer die jeweils
herrschende Gottheit, also den Zeitgeist heraus. An anderer Stelle wird
deutlicher, was er meint:
"Alle Institutionen, alle gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und
psychologischen Vermittlungsinstanzen sind nur dazu da, dass nie jemand
mehr Geglegenheit bekommt zu dieser symbolischen Herausforderung zum
Tode, dieser irreversiblen Gabe, die wie die absolute Selbstabtötung des
Asketen über jede Macht triumphieren läßt, wie stark ihr Einfluß auch
AlienneLaval
wäre. Diese direkte Konfrontation darf niemals...stattfinden. Alles muß
ausgehandelt werden."
Aus der vor der Initiation unkontrollierten und von außen beeinflußten oder
gelenkten Dissoziiertheit, einer Art geistiger Apartheid der zwillingshaften
Komponenten, wird in der Initiation die bewußte Bisoziation oder
Zusammenschau dieser beiden, vorher getrennten Kontexte.
Den Begriff der Bisoziation leitete der Kulturphilosoph Arthur Koestler von
dem psychologischen Ausdruck der Assoziation ab, der ihm als zu linear
erschien, um das Komplexe des menschlichen Seins zu erfassen.
Diese Fertigkeit dient vornehmlich nicht der Einübung von Anpassungen,
sondern sie gestattet die Entdeckung und Einführung neuer Praktiken im
Umgang mit dem Sozialen und der Umwelt.
Um die Zeit von Jesus' Geburt hatte es bereits eine Reihe von Bauernaufständen
gegen die römischen Besatzer gegeben. Die Bauern wehrten sich gegen die
hohen Steuern und die Schuldknechtschaft, die sie in zunehmende Armut und
schließlich zum Verlust ihres Ackerlandes führte.
Drei Viertel der Einwohner der Stadt Rom waren Sklaven oder Nachkommen
von Sklaven. Nach römischem Recht waren diese Menschen Sachen, die weder
das Recht zur Eheschließung, noch das Recht hatten, vor Gericht zu klagen.
Das Dorf Nazaret, in dem Jesus aufwuchs, lag an einer der verkehrsreichsten
Handelsstraßen Palästinas, sieben Kilometer von der römischen
Provinzhauptstadt Sepphoris (Sefforis) entfernt.
Sepphoris - mit seinen 30 000 Einwohnern - eine Großstadt, war Gerichtssitz,
hatte ein Theater mit 4000 Sitzplätzen, Paläste, Märkte, Archive, eine königliche
Bank, ein Zeughaus.
Das Weltbild der Bevölkerung Palästinas im ersten Jahrhundert unserer
Zeitrechnung war aber nicht nur von solchen Faktoren geprägt. Der
Religionswissenschaftler Morton Smith schreibt:
"Über der Erde gab es Himmel, bewohnt von Dämonen, Engeln und
Göttern verschiedener Art (die 'vielen Götter', deren Existenz Paulus in
1.Kor.8.5 einräumte und zu denen er den 'Gott dieses Zeitalters' rechnete
2.Kor.4.4). Im höchsten Himmel thronte der oberste Gott, Jahwe, 'Gott' par
excellence, der lange zuvor den ganzen Kosmos erschaffen hatte und der
im Begriff war, ihn umzuformen oder zu zerstören und zu ersetzen. Unter
der Erde existierte eine Unterwelt, zu welcher die meisten der Toten
hinabstiegen. Auch dort gab es Dämonen. Zwischen Unterwelt, Erde und
Himmel herrschte ein ständiges Kommen und Gehen übernatürlicher
Wesen, die sich auf vielerlei Weise in menschliche Angelegenheiten
AlienneLaval
einmischten. Krankheit, vornehmlich Wahnsinn, Seuchen, Hungersnöte,
Erdbeben, Kriege und Katastrophen aller Art hielt man allgemein für das
Werk von Dämonen. Wie mit üblen Menschen, besonders mit
ausländischen Unterdrückern, lebbten die Bauern Palästinas mit diesen
Dämonen in ständiger Feindschaft und gelegentlichem Konflikt, doch die
Beziehungen waren komplex. Wie die römische Regierung ihre jüdischen
Agenten hatte, von denen einige, vornehmlich die Herodes, lokale
Herrscher waren, so hatten die Dämonen ihre menschlichen Agenten, die
Wunder verrichten und dadurch viele irreführen konnten. Die niedrigeren
Götter waren die Herrscher dieses Zeitalters, und Menschen, die sich
darauf verstanden, sie anzurufen, konnten ihre Hilfe für Zwecke aller Art
erlangen. So etwa Frauen, deren Gunst sie dadurch belohnt hatten, dass sie
ihnen Magie und andere Künste des höheren Lebens beibrachten.
Andererseits war oftmals Jahwe, wie die Dämonen, die Ursache von
Katastrophen, Krankheiten und dergleichen, die er als Strafen
herabschickte. Zuweilen setzte er Engel, zuweilen Dämonen als Agenten
seines Zornes ein, und seine menschlichen Agenten, die Propheten,
konnten ebenso Schaden zufügen, wie sie helfen konnten. Die meisten
Juden waren überzeugt, dass er zuletzt die Welt vernichten oder die
gegenwärtige Welt umformen und eine neue Ordnung schaffen werde, in
der die Juden oder zumindest diejenigen, die sein Gesetz befolgt hatten, ein
besseres Leben hätten. Allerdings herrschte tiefe Uneinigkeit über den
Gang der Ereignisse und über die Akteure in der kommenden Katastrophe;
eine reichliche Anzahl widersprüchlicher Programme war in Umlauf: mit
verschiedenen Rollen für einen oder mehrere 'Messiasse' - Sondervertreter
Jahwes -, Antimessiasse und verschiedenartige mythologische Ungeheuer.
Wir dürfen vermuten, dass nahezu alle palästinensischen Juden der Zeit
Jesu von sich annahmen, sie seien in das mythologische kosmische Drama
verwickelt."
Jesus wuchs auf in diesem Spannungsfeld zwischen den Herrschenden in den
Metropolen, die die Symmetrie und damit Macht und Recht für sich
reklamierten und den Beherrschten, die ausgeschlossen von der Teilhabe waren.
Nach der Ansicht Morton Smith' hatte Jesus schon früh soziale Schwierigkeiten
und zeigte Verhaltensauffälligkeiten.
Während die Kunst der Stadtzivilisationen immer weiter zum Statischen,
Soliden und Symmetrischen tendierte, zeigte das politische, soziale,
mythologische und kosmische Drama Züge, die immer asymmetrischer wurden.
Diese Entwicklung deutete sich früh in der Kulturgeschichte mit der Gründung
fester Siedlungsplätze und Dörfer an, die häufig in eine untere und eine obere
Hälfte unterteilt waren. Die obere Hälfte wurde dann mit den herrschaftlichen
AlienneLaval
Elementen Himmel und Feuer in Verbindung gesehen, die untere mit den
Elementen Erde und Wasser, die auf körperliche Arbeiten, wie Ackerbau und
Fischfang, hinwiesen.
Bis in die gesellschaftlichen Vorstellungen des dritten Reiches, in der
Vernichtung der Juden, Andersdenkender- und empfindender und in den
architektonischen Utopien Hitlers, die in dem monumentalen Entwurf eines
neuen Berlin, das dann Germania heißen sollte, gipfelten, findet sich diese
Aufteilung wieder.
Der Religionswissenschaftler John Dominic Crossan hat das Palästina vor und
zu der Zeit Jesu als Reich der Mittler beschrieben.
Die Mittler waren Anwälte, Günstlinge der Mächtigen, Personen mit
gesellschaftlichem oder wirtschaftlichem Ansehen.
Die Bevölkerung des römischen Reiches - das galt auch für Palästina - ließ sich
in zwei Hauptklassen einteilen: die Ehrwürdigen und die Demütigen. Während
die obere Klasse der Herrschenden und Besitzenden sehr klein war, war die
untere Klasse der Beherrschten und Besitzlosen außerordentlich groß und wuchs
durch die zunehmende Verarmung noch weiter an.
Ein direkter Kontakt zwischen beiden Klassen war nicht möglich, sondern
mußte von einem Dritten vermittelt werden.
Dieses Patronats- und Klientenwesen wirkte aber nicht nur in der Sphäre der
sozialen Beziehungen und der politischen Organisation.
Auch Himmel, Erde, Unterwelt und ihre Verpflechtungen und Übergänge waren
in dieser Weise organisiert.
Jeder, der in dieses System eingebunden war, von den Reichen bis hin zu den
Armen und Sklaven war auf das symmetrisierende Zentrum bezogen.
Freiheit konnte daher theoretisch nur erlangt werden in der bewußten Abkehr
und Abwendung von den Verflechtungen, Beziehungen und gesellschaftlichen
Hierarchien.
Es war das Versagen der realen Vermittler , welches in der Bevölkerung
Palästinas ein Vakuum erzeugte, das virtuelle Vermittler, Orakeldeuter,
Bezeichner und Interpreten wie Zauberpriester, Wahrsager, Propheten,
Apokalyptiker und Messiasse füllen konnten.
Diese virtuellen Vermittler nutzten die Gegebenheiten aus und waren in der
Regel nicht an der Freiheit ihrer Klienten interessiert. Stattdessen erzeugten sie
neue Abhängigkeiten.
Jesus hingegen - und das war wohl das Neue - ging es zunächst um die
Vermittlung von Würde.
AlienneLaval
Der entscheidende Widerspruch, den Jesus und seine Anhänger den römischen
Zentralisierungs- und Symmetrisierungsbestrebungen entgegensetzten, bestand
in ihrer geographischen und demographischen Beweglichkeit.
Das entstehende Christentum reagierte auf die Statik mit einer
Hirtenmetaphorik, die der früheren bewegungsgebundenen Lebensform der
Hirtennomaden wieder näherkam und der jüdischen Religion entlehnt war.
Hierdurch kommt der Faktor der Narration - der Erzählung - der für kulturelle
Entwicklung besonders wichtig ist, wiederum zum Tragen.
Gehen und Schaffen, Wandern und Erzählen sind Formen, die Gemeinsamkeiten
haben. Beide finden in der Zeit statt. Im Verlauf der Zeit verändern sich die
Landschaften und Geschichten entwickeln sich. Ernst Bloch hat einmal von der
Reiseform des Wissens und vom Prozeßcharakter der Materie gesprochen.
Auch die Bundeslade, die die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten enthielt und
den mosaischen Bund mit Gott repräsentierte, war tragbar. Sie wurde bei der
Migration mitgeführt und bei Bedarf in einem speziellen Zelt aufgestellt.
Diese 'Reiseform' wird mit der Gründung fester Siedlungen und der
Verstädterung einerseits zu einem Moment der Ausgegrenzten und der bis in die
Besitzlosigkeit verarmten Unterschichten, andererseits aber auch zum Modus
des Wissens und damit der Flexibilität, den sich die in den Städten
Herrschenden bewahren, während sie sich hinter den Monumentalbauten
verschanzt halten.
Die Beweglichkeit der Ausgegrenzten ist aber nur geduldet, so lange sie sich
von oben bewegen lassen. Auch die Arbeitsmigration, die im Palästina der
römischen Zeit üblich war, gehört zu den erwünschten oder geduldeten
Bewegungen.
Irregulär und tabuisiert ist die Beweglichkeit dann, wenn die Menschen
beginnen, sich selbständig zu bewegen und eine neue Ausdifferenzierung der
Gesellschaft fordern. Damit maßen sie sich Wissen an, das ihnen nicht gestattet
ist.
Aber auch in den großen Religionen - der jüdischen, christlichen, islamischen,
zoroastrischen und buddhistischen - die unter seßhaften Völkern gepredigt
wurden, die von wandernden Gruppen abstammten und später Hirten-Nomaden
waren, blieb dieses Gedankengut erhalten. Ihr Zeremoniell ist immer noch reich
an Hirtenmetaphern, ihre Prozessionen und Pilgerreisen sind Nachahmungen
von Hirtenwanderungen.
Der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin sagte über die nomadischen Kunst, dass
sie dazu tendiere, tragbar, asymmetrisch, dissonant, rastlos, entkörperlicht und
intuitiv zu sein.
Die nomadische Kunst oder nomadisierende, oral vermittelte Texte offenbaren
dadurch ein dynamisches Potential, das eine Sprengkraft entwickelt, die auch
den Metropolen gefährlich werden kann.
AlienneLaval
Was Jesus und seine Anhänger machten, kann daher als ein Rückgriff in
kulturevolutionär ältere Schichten gesehen werden. Sie bedienten sich
archaischer Verfahrensweisen, da nur diese Regression imstande schien, den
römischen Staatsapparat auszuhebeln und zu entregeln.
Hierbei hatten sie kein Interesse daran, den Machtapparat zu übernehmen. Sie
wollten lediglich den Geist aus ihm herausziehen, ihn dazu zwingen, den Geist
aufzugeben, um ihn auf diese Weise subversiv auszuhöhlen.
Das Leben des wandernden Predigers nahm das Motiv der schamanischen
Seelenreisen wieder auf, und die bewegungsgebundene Lebensweise
reaktivierte die alte, nomadische, zur Metaphorik gewordene, Weltsicht als
selbstbesimmte Lebensmöglichkeit.
Hinzu kam eine Wertumkehr, in der er die herrschende Wertehierarchie
vollkommen auf den Kopf gestellt und invertiert wurde. Das Verbot von
Eheschließungen, das für Sklaven galt, wurde von Jesus als positiv gesetzt.
Familienbindungen, die Sklaven sowieso nicht hatten, wurden von ihm als
unsinnig erklärt.
Die Revolte für das Leben, für welche die frühen Christen Folter und Tod in
Kauf nahmen, ist ein jenseitiger Akt, der von Mächten, die außerhalb der
Verwaltung stehen, legitimiert wird.
Jesus von Nazaret war zu Lebzeiten jenseitig orientiert und konnte erst durch
seine Kreuzuigung diesseitig und bildhaft festgesetzt werden. Als nun seßhafter
Vermittler sitzt er zur Rechten Gottes, da das, was er einst tat, niemals wieder
stattfinden darf.
Aber sein anderer Aspekt ersteht mit jedem Menschen wieder auf, der sich
gegen Ungerechtigkeiten stemmt, die Gegebenheiten nicht einfach fraglos
hinnimmt und sich neugierig und forschend auf das Angebot des wilden
Zwillings einläßt.
Gerade in individuellen oder kollektiven Krisenzeiten werden die archaischen
Verfahren reaktiviert, um Freiheiten wiederzuerlangen, die vorher genommen
waren. Eine ausweglose Situation kann so umgangen werden, die Eingleisigkeit
des vorherbestimmten Schicksals beseitigt werden.
Das schamanische Erleben, das einer statisch und unflexibel gewordenen
Ordnung entgegengesetzt wird, die die Menschen an der Entfaltung ihrer
Möglichkeiten hindert, wird zeitgemäß bleiben, so lange der dynamische, wilde
Aspekt des Menschseins als unerwünscht gilt.
Statische Systeme entwickeln sich nicht, haben keine Evolution. Das
Dynamische ist unausrottbar, da es eine kardinale Eigenschaft des Lebens ist,
die immer wieder auf das Statische einwirken und versuchen wird, es zu
verändern.
AlienneLaval
Wenn diese Einwirkung - sei es nun durch sozialen Druck, mediale
Beeinflussung oder Unterdrückung von oben - nicht zugelassen wird, wird sich
die Dynamik immer wieder revolutionär entladen.
Vision, Prophezeiung und Prognose
Von der Utopie zur Zukunft
Was das Unerschlossene - wir Modernen sagen: die Zukunft - bringen mag,
darüber haben sich die Menschen schon zu allen Zeiten Gedanken gemacht.
Dieser Bereich muß sich aber nicht grundsätzlich vor uns in der Zeit, im Morgen
oder Übermorgen befinden, es kann sich auch um ein glorifiziertes Gestern, eine
goldene Zeit, handeln. Er kann aber auch als weit entfernter Ort im Raum
gelegen sein, der nur durch mühselige Reisen und Fahrten zu erreichen ist.
Für den Helden Gilgamesch des gleichnamigen sumerisch-babylonischen Epos,
dessen älteste Spuren bis in das Jahr 2000 vor unserer Zeitrechnung
zurückreichen, lag dieser Ort weit zurück in der Vergangenheit, im Zeitalter der
unsterblichen Götter. Gilgamesch hoffte, an diesem Ort Unsterblichkeit für sich
und seinen verstorbenen Freund Enkidu zu erlangen, dessen Tod ihn mit
Schmerz und Trauer erfüllte.
AlienneLaval
Enkidu war der wilde, unberechenbare und behaarte Mensch, der noch in
Eintracht mit dem Göttlichen in den Wäldern lebte und von der Endlichkeit des
Lebens nicht viel wußte. Das Zeitalter dieser Menschen ging mit der Gründung
der ersten Stadtzivilisationen im Zweistromland und dem massiven Aufschwung
von Ackerbau und Technik zu Ende. Diese Städte waren von Mauern umgeben,
die sie wie Inseln vom Umland abgrenzten.
Der Preis für diese Änderung des Lebensstils war aber auch die Erkenntnis der
Begrenztheit des 'Ich' und damit der eigenen Sterblichkeit.
Gilgamesch war ein Mensch dieses neuen Typs und sich deshalb des Todes
seines Freundes und der Möglichkeit des eigenen Todes bewußt. Das
aufkommende Selbstbewußtsein aber stellte sich mit Gilgamesch gegen das
Todesbewußtsein und verlangte das ewige Leben zurück.
Hilfe versprach er sich von dem Sintfluthelden Utnapischtim. Utnapishtim
entspricht dem Noah der Bibel und hat, ebenso wie dieser, eine Arche gebaut,
um die Sintflut zu überleben, als die Mehrzahl der Götter beschlossen hatte, das
Menschengeschlecht zu vernichten. Doch ein neuer Himmel tat sich auf, eine
neue Welt war im Begriff sich zu bilden und mit ihr kamen neue Götter, denn
einige Götter hielten sich nicht an diesen Beschluß und warnten Utnapishtim:
"Reiß ab das Haus, erbau ein Schiff,
Laß fahren Reichtum, dem Leben jag nach!
Besitz gib auf, der Seele erhalt das Leben!
Heb hinein allerlei beseelten Samen ins Schiff!"
Die Arche, die Utnapishtim baute, war aber kein gewöhnliches Schiff: sie war
ein perfekter Würfel mit sieben Ebenen. Der Würfel ist die Arche - also der
Ursprung - eines neuen Zeitalters, das unter dem Primat der Berechnung steht
und zunächst die Architektur, den Städtebau, die Landvermessung, die
Grenzziehung und stehende Heere hervorgebracht hat.
Auch unsere Gegenwart steht unter dem Zeichen des Würfels, denn auch die
Mathematik und die Technik haben hier ihren Ursprung.
Für diese Tat verliehen die Götter Utnapischtim das ewige Leben. Eine weit im
Osten gelegene Insel gaben sie ihm und seiner Frau zum Wohnsitz.
Um dorthin zu gelangen, mußte Gilgamesch die Wasser der Sintflut, die
gleichzeitig die Wasser des Todes sind, durchqueren.
Als er angekommen war, gab Utnapishtim Gilgamesch die Empfehlung, sich mit
der neuen Zeit zu arrangieren und zum Leben zurückzukehren.
Im Gilgamesch-Epos heißt es:
"Utnapischtim sprach zu ihm, zu Gilgamesch:
'Warum, Gilgamesch, vermehrst du die Klage,
Der du aus Fleisch der Götter und Menschen
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herrlich gestaltet bist?'"
Utnapischtim erläuterte Gilgamesch, dass er gleichermaßen aus göttlichen und
menschlichen Anteilen gemacht sei, dass er genauso physisch wie psychisch
existiere. Keinen der beiden Aspekte dürfe er vernachlässigen, da er sonst sein
Leben einbüße.
Der Geschichtsphilosoph Giambattista Vico, der am Übergang des 17. zum 18.
Jahrhundert in Italien lebte, hat versucht den Verlauf der Geschichte anhand
derartiger Mythen zu systematisieren und zu bestimmen.
Vico nahm die alte, ägyptische Vorstellung von den drei aufeinanderfolgenden
Zeitaltern auf - dem der Götter, dem der Helden und dem der Menschen - und
erweiterte sie um ein viertes Zeitalter, das des Chaos, in dem wir uns auch heute
wieder befinden.
Mit der Entwicklung vom göttlichen Zeitalter zu dem des Chaos geht nach Vico
ein Verlust der Sprache einher, die sich von der hieroglyphischen oder heiligen
Sprache über die symbolische oder figurative Sprache bis hin zur vulgären
Sprache verändert, die nur noch Zeichen benutzt, um die alltäglichen
Bedürfnisse des Lebens mitzuteilen. Nach Vicos Ansicht werden sich die
Verwirrungen des chaotischen Zeitalters, das unter dem Merkmal der Spirale
steht, erst in einem neuen Zeitalter der Götter auflösen. Dieses wird als
Kennzeichen die Gerade haben, also die Richtungslosigkeit aufheben.
Vico begreift die geschichtliche Entwicklung als ein System, das er durch die
Wirkungsweise des Menschen zu begründen versucht, dessen Leben als
zwischen zwei Polen - Materie und Geist - aufgespannt erscheint.
Die Menschwerdung wird Vico zu einem Abstieg in die Materie, der nur in einer
Entmenschlichung - also im Chaos - enden kann.
Auf die größtmögliche Annäherung an die Materie im Zeitalter des Chaos muß
nach der Auffassung Vicos aber der Wiederaufstieg des Geistes im Zeitalter der
Götter folgen.
Diese Mythen und ihre Interpretationen thematisieren die Angst des Menschen
vor dem Verlust der Seele und ihrer möglichen Auflösung in der Materie.
Jeder Art von Prophezeiung, vom Johannes der biblischen Offenbarung über
Nostradamus bis hin zu Karl Marx, liegt ein derartiges oder ähnliches System
der Seelenrettung zugrunde, in das die Wahrnehmungen eingeordnet und in dem
sie bewertet werden, denn das Unerschlossene selbst ist für den Menschen
unaushaltbar.
Der Mensch hat daher immer gehofft, dass dort irgendwo in der Ferne ein Ort
sein müsse, der die Widersprüche und Ungerechtigkeiten, die ihm das Leben
schon so beschert - vor allem aber den Fluch des Geboren-Seins und die mit
AlienneLaval
ihm verbundenen Verwicklungen und Komplexe bis hin zum unabwendbaren
Sterben -, außer Kraft setzen müsse.
Früher gehörte der Umgang mit Leben und Tod in den Bereich der Religion;
inzwischen hat sich aber die Wissenschafts-Technik dieser Thematik
bemächtigt.
Ein wirkungsmächtiger Umgang mit dem Bereich des Unerschlossenen war
daher oft ergriffenen und entschlossenen Personen oder religiösen Spezialisten
vorbehalten. Von den schamanischen Visionären und den Propheten der
Religionen bis hin zu den astrologischen Berechnungen und den modernen
Prognosen der Zukunftsforscher läßt sich der Stammbaum der Zukunftsdeuter
rekonstruieren.
Die Entwicklung von der Vision zur Prognose ist aber verbunden mit einer
anderen, nämlich der von der Utopie zur Zukunft, die sich mit der
würfelförmigen Arche des Utnapischtim bereits andeutet. Es sind dabei nicht
nur alte Begriffe durch moderne ersetzt worden, sondern die neuen Begriffe
beschreiben auch ganz andere Haltungen und Erwartungen als die alten.
Die Utopie hat zu tun mit den Märchen, Mythen und den Hoffnungen, die sie
seit grauer Vorzeit veranschaulichen. Sie ist in Visionen und Träumen
entstanden und erlebt worden und hat die Entwicklung des Menschen lange
begleitet.
In der Regel machen die Helden der Märchen und Mythen lange Reisen, auf
denen sie gegen Ungeheuer zu kämpfen und schwere Rätsel zu lösen haben.
Diese Reisen finden aber mehr in einem inneren und geistigen Bereich statt als
in der realen Außenwelt.
Zu diesen Seelenreisen zählen die Fahrten des Gilgamesch und des Odyseeus,
die zu den Grundlagen der abendländischen Kultur wurden. Das Epos, das von
den Abenteuern des Gilgamesch handelt, beeinflußte die Entwicklung der
Kunstform der Literatur bis in unsere Gegenwart. Homers Epos Die Odyssee
zählt zu den Gründungsmythen der athenischen Demokratie.
Während es sich bei den utopischen Seelenreisen um Visionen handelt, so
systematisiert die Prophezeiung das Gesehene, fügt es zu Zyklen und versucht,
es berechenbar zu machen und bildet den Übergang von der Vision zu den
modernen Verfahren der Zukunftsbestimmung.
Die Prognostik, die sich aus der naturwissenschaftlichen Methodik ableitet,
wurde im Laufe der Zeit zunehmend auch auf Phänomene der sozialen und
ökonomischen Entwicklung angewendet. Die Prognostik will empirisch arbeiten
und kommt daher, im Gegensatz zur Vision oder Prophezeiung, ohne die
Begriffe 'Geist' oder 'Seele' aus.
AlienneLaval
Entscheidend ist, dass beide Wahrnehmungsweisen - die visionäre und die
prognostische - unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Seins
entstammen. Während die erstere ihre Begründung in den Träumen und der
Introspektion findet, läßt sich die letztere ableiten von dem Umgang der
Menschen mit den Gegebenheiten der Umwelt.
Der Mensch existiert demnach in zwei Wirklichkeitsbereichen. Das sind zum
einen der Bereich des Alltagsbewußtseins und des Gebrauchsverhaltens - der das
physische Überleben sichert - und zum anderen der Bereich des
Kulturverhaltens, der das psychische und seelische Überleben garantiert.
Die Gegensätzlichkeit dieser Wirklichkeitsbereiche - und das wußte schon
Utnapischtim - macht den Effekt aus, den wir Realität nennen. Bei allem was
wir tun, müssen wir also immer beide Wirklichkeitsbereiche mitberücksichtigen.
Doch hierbei ergibt sich ein Problem, denn Vision und Prophezeiung haben, wie
auch die Prognose, die Tendenz, diesen Effekt einseitig aufzuheben. Während
Vision und Prophezeiung Utopien entwerfen, die letztendlich die physische
Realität negieren und zur Verleugnung alles Körperlichen führen können,
versucht die Prognose das Kulturelle und Psychische außer Kraft zu setzen, um
die Zukunft in eine bestehende Gegenwart einzugemeinden.
Beide Absichten führen in ihren extremen Ausprägungen zur Bildung von
Ideologien, formulieren also Machtansprüche und gehen - im individuellen oder
kollektiven Fall - der Realität verlustig.
Wir vertrauen heute eher den Prognosen als den Visionen und Prophezeiungen,
da wir an ein naturwissenschaftliches Weltbild gewöhnt sind. Unsere Zukunft
erscheint uns als allein mit unserem Gebrauchsverhalten und Alltagsbewußtsein
angehbar und machbar.
Die Schlüssel zur Zukunft sind - so glauben wir - nüchterne Überlegung und
Planung, die uns einen geregelten Übergang ermöglichen werden. Diese
Planung ist nicht nur das Kennzeichen technologischer oder ökonomischer
Ansätze, sondern auch von fortschrittlich-ökologischen Bemühungen, die zwar
der klassischen Ökonomie entgegenstehen, sich aber dennoch von ihr ableiten
und eine Gegenrechung aufmachen.
Bislang ist es nicht gelungen, Seele oder Psyche im Labor zu isolieren, und das
bedeutet, dass sie u-topisch - also nicht-örtlich - und keineswegs empirisch sind:
sie zeigen sich uns nur in Form von Wirkungen. Die Wirkungen haben
Textcharakter: hierzu gehören Märchen, Mythen, Kunstwerke, Literatur, Tanz,
Theater, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwürfe, Religionen und
Philosophien. Umgekehrt sind es diese Texte, die Menschen zur Seelenhaftigkeit
anregen oder ihre Seelen beflügeln.
AlienneLaval
Die Ortlosigkeit der Seele wird in der empirischen und quantitativen Forschung
durch ihre Nicht-Existenz begründet. In den einschlägigen Erklärungen wird die
Seele zur Funktion und durch biologische und psycho-soziale Zusammenhänge
ersetzt, die gestört oder ungestört ablaufen können.
Die Entindividualisierung und der Seelenverlust, die sich im Geleit dieser
Entwicklung ergeben, führen zu Verhaltensunsicherheit, Mißtrauen, Angst und
zu einem Verlust charakterlicher Merkmale, der deshalb so unauffällig ist, da er
heute fast alle Menschen betrifft. In der Regel ist nicht Kritikfähigkeit die Folge
dieses Geschehens, sondern die Konkurrenz unter Gleichen und die gegenseitige
Kontrolle des Lebensstils, der Einstellungen und des Verhaltens.
Obwohl die Menschen unter dieser Art der Gestaltung des Lebens leiden,
müssen die Selbstkritik und die Kritik von außen ausgeschaltet bleiben, damit
sie ungestört an diesem Rausch teilhaben können.
Da die Psyche eine Utopie ist, kann sie in diesen Systemen, die nichts anderes
als ihre Unterdrückung und Austreibung im Schilde führen, auch nicht mehr
auftauchen; ebenso ergeht es den Texten, in denen sie sich entäußert. Kulturelle
Texte werden zunehmend abgelöst durch Bedienungsanleitungen und reine
Gebrauchstexte, die an der sozialen Realität kleben und niemanden mehr dazu
erheben, über den Tellerrand zu gucken.
Das Tagesgeschehen und die Gespräche handeln hauptsächlich von der
Organisation des Banalen. Die Verrichtungen, um die sich alles dreht, sind
Essen, Trinken, Fernsehen, Bekleidung, Kinderaufzucht, Sport und Arbeit. Es
gibt keinen Sinn mehr hinter diesen Funktionen; sie finden ihre Begründung nur
noch in sich selbst. Ihr Ziel ist der reine Selbsterhalt dieser Tätigkeiten und ihre
Vererbung von der einen Generation auf die nächste; es gibt keine Utopie mehr.
Jede Leistung oder Handlung, die wir erbringen, bleibt jedoch auf die Utopie
geworfen, wenn sie einen Sinn haben soll.
Wie ein System beschaffen ist, das beiden Wirklichkeiten Rechnung trägt, kann
am Beispiel des Kula-Ring-Tausches der Bewohner der melanesischen
Trobriand-Inseln verdeutlicht werden.
Das Kula war eine Form des symbolischen Tauschhandels zwischen den
Bevölkerungen eines großen Gebietes, die einen weiten Ring von Inseln im
Norden und Osten der Ostspitze Neuguineas und auch Dörfer am Ostkap
Neuguineas bewohnten.
Die Trobriander veranstalteten noch in diesem Jahrhundert alljährliche
Seefahrten, bei denen werttragende Halsketten aus roten Muschelscheiben im
Ring der Kula-Inseln in der einen Richtung fortgegeben wurden, um sie dann
aus der anderen Richtung im Tausch gegen ebenso wertvolle Armreifen aus
weißen Muscheln wieder zurückzubekommen.
AlienneLaval
Während die Muschelketten im Urzeigersinn im Ring der Inseln weitergegeben
wurden, wanderten die Armreifen in entgegengesetzter Richtung, so dass jeder
dieser Gegenstände auf seiner Reise in dem geschlossenen Kreislauf auf
Gegenstände der anderen Art traf und ständig gegen diese getauscht wurde.
Bei den Fahrten ging es aber in erster Linie nicht um den materiellen Wert der
Gegenstände, die getauscht wurden. Ihr Wert war ideeller Natur, denn sie waren
Ausdruck und Überbringer einer bestimmten Seelenhaftigkeit, die in Form von
Geschichten, Mythen und Ritualen weitergegeben wurde.
Es gibt Indizien dafür, dass die Kula-Unternehmungen die Kopfjagd abgelöst
und in ihrer Funktion ersetzt haben.
Mit den Kula-Unternehmungen wurde der Kopfjagd ein utopisches Bild des
Mensch-Seins als alternatives Projekt entgegengesetzt, das als eine durch die
Seefahrten aufrechterhaltene Beziehung gelebt wurde. Durch die alljährliche
Wiederholung der Reisen entstand daher eine neue Tradition, die das alte
Verfahren allmählich überlagerte.
Die in diesem Kula-Bündnis zusammengeschlossenen Inseln hatten sich damit
gegenseitig auf ein Menschenbild verpflichtet, in dem die Kopfjagd abgelehnt
wurde.
Die Muschelketten und Armreifen waren im Kula so etwas wie permanente
Archen, deren Weitergabe das Bündnis erneuerte.
Die riskanten Seereisen zwangen die Teilnehmer nicht nur zur
Auseinandersetzung mit den Elementen Wasser und Wind, sondern auch zur
Beschäftigung mit ihren Vorstellungswelten.
Die Vorstellungen und Gedanken, die die Teilnehmer das ganze Jahr über
beschäftigt hatten, wurden nun vor dem Hintergrund dieser besonderen Situation
in Geschichten, in die auch die Erzählungen früherer Reisen einflossen,
bewältigt.
Dabei konnten die Reisenden Kannibalen, Zauberern, fliegenden Hexen,
springenden Steinen, Inseln männerloser Frauen und fliegenden Kanus
begegnen; jedoch konnte keiner der Teilnehmer von vornherein wissen, welchen
Erscheinungen sie im Einzelnen begegnen würden. Die Kula-Unternehmungen
waren nur grob skizziert und im Voraus nicht genau planbar; hierin
unterschieden sie sich von den Tätigkeiten, die mit dem Gebrauchsverhalten zu
tun hatten.
Der Ethnologe Bronislav Malinowski hat seine Monographie über die Bewohner
der Trobriand-Inseln auf drei Bände angelegt. Den ersten Band, der sich mit
dem Kula-Ring und dem symbolischen Tausch beschäftigt, nannte er - in
Anlehnung an die Argofahrt des Odysseus - Argonauten des westlichen Pazifik.
AlienneLaval
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Was ist kultur

  • 1. Magistra Dr. Rabea Alienne Uchtmann Was ist Kultur? Beiträge zur Kultursemiotik AlienneLaval
  • 2. Inhalt Was ist Kultur?______________________________________________________________________3 Der Begriff 'Kultur'________________________________________________________________3 Der Begriff 'Zeichen'_______________________________________________________________5 Der Begriff 'Text'___________________________________________________________________6 Der Begriff 'Code'__________________________________________________________________7 Kulturemergenz und Kulturevolution___________________________________________9 Die Struktur der Kultur__________________________________________________________12 Die Vermittlung von Operationen auf den tertiären Codes__________________13 Wer war Jesus?____________________________________________________________________22 Vision, Prophezeiung und Prognose_________________________________________32 Das Kreuz und die Quadratur des Weltkreises_____________________________41 Wie entsteht Religion?___________________________________________________________51 AlienneLaval
  • 3. Fundamentalismus und Synkretismus_______________________________________62 Ansätze zu einer Meeresanthropologie______________________________________72 Die Geschichte vom Erlöschen der Lampen________________________________88 Die saisonale Polarisierung arktischer Gemeinschaften______________________89 Kulturkontakt und Depolarisierung____________________________________________95 Codewandel: Technologie versus Adaption und saisonalem Rhythmus___101 Ubi natura definit, ibi ars incipit (Wo die Natur aufhört, hebt die Kunst an)__________________________________________________________________________________105 Meereskulte________________________________________________________________________111 Die Inversionsoperation als initiales semiotisches Geschehen im Kulturprozeß_______________________________________________________________________134 Semiose und Semiosphäre: Die zwei Dimensionen der Kultur_____________134 Der Kulturprozeß oder die Semiose als Differenzprinzip___________________138 Störungen der Semiosphäre als Katastrophen und Anastrophen__________144 Die zweite Wirklichkeit des Geistes und die Semiose________________________149 Ränder, Reste und unscharfe Mengen_________________________________________156 Differenz ist Transformation____________________________________________________159 Verwandlung und Entwandlung_____________________________________________165 Wunschmaschine und Offene Codierung__________________________________182 Regreß und Pädomorphose_____________________________________________________182 Information und Redundanz____________________________________________________185 Der projektive Gehalt der biologischen Funktionen_________________________188 Bipolare oder offene Codifikation______________________________________________189 Synchronisation____________________________________________________________________192 AlienneLaval
  • 4. Was ist Kultur? Der Begriff 'Kultur' Tylor definierte 1871 Kultur als jenes komplexe Ganze, welches Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, die der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat. Tylor ging hierbei vom Vorhandensein einer Gesellschaft aus, die in verschiedene Bereiche gegliedert ist und sich aus Mitgliedern zusammensetzt. Angenommene erwerbbare kulturelle Fähigkeiten und Gewohnheiten werden dabei von der Gesellschaft auf die Mitglieder übertragen. Das komplexe Ganze, von dem Tylor spricht, setzt sich also aus erkennbaren, unterscheidbaren Teilen zusammen, die zueinander in Funktion stehen und durch den Verbund der Funktionen dieses Ganze ergeben. Tylor nimmt hier die Kategorien seiner eigenen Gesellschaft (bzw. seiner Interpretation davon) und setzt sie als 'allgemeinmenschlich'. Die dabei verwendeten Begriffe werden wie 'objektive' (etische, absolute) Gegenstände behandelt und auf jede mögliche 'Kulturform' (emisch) in einer allgemeingültigen Formel angewendet. AlienneLaval
  • 5. In der strukturalen Analyse dieser kurzen Definition zeigt sich schon, dass Tylor hier eine idealtypische Aussage über seine eigene Gesellschaft macht. Vor dem Hintergrund von Firth' Konzeption der 'social organization', das in den 1950er Jahren erarbeitet wurde, läßt sich dingfest machen, welcher 'Strukturebene' der sozialen Organisation Tylors Definition zugehört. Firth (1964) unterscheidet drei Ebenen der sozialen Organisation: die Handlungsstruktur (structure of action), die Erwartungsstruktur (structure of expectation) und die Idealstruktur (structure of ideals). Die Handlungsstruktur zeigt eine gegebene Ethnie (soziale Gruppe, Gesellschaft etc.) in Aktion. Die Erwartungsstruktur gibt Auskunft über die Erwartungen dieser Gruppe, was die Gestaltung der unmittelbaren Zukunft angeht. Z.B.: früher war es die Regel, dass der älteste Sohn den Hof erbte. Vor der Industrialisierung konnte er davon ausgehen, dieses 'Recht' auch wahrzunehmen, da es seinen und den Erwartungen seiner sozialen Gruppe entsprach. Industrialisierung und Verstädterung änderten aber zumindest Teile seiner Erwartungen und dann auch die Handlungspraxis. Die Idealstruktur wird aber durch die Verschiebung des Erwartungshorizontes noch lange nicht angetastet. Man kann sagen, dass es sich hier um eine Ebene besonders 'schwerer Zeichen' handelt. Der Bauer vom Lande, um bei diesem Beispiel zu bleiben, war als Bauer in seiner Idealstruktur Christ und ist es auch als Fabrikarbeiter geblieben. Selbst die Bürger in den Industrienationen sind ihren Erwartungen (Monogamie, Mann dominiert Frau, ethnisches Dünkel usw.) und Idealen nach Christen oder Muslime geblieben. Das Verbot und die Aufweichung von tradierten Handlungsmustern änderte nichts an den Erwartungen und Idealen. Tylors Aussage läßt sich auf folgenden Inhalt reduzieren: in jeder 'Kultur' werden die kulturellen Interna sozialisiert und konditioniert. Bei Cohens Kulturdefinition (1974:46) treten materialistische und produktivistische Kategorien in den Vordergrund. Er spricht von Artefakten, Institutionen, Ideologien und der gesamten Breite gebräuchlicher Verhaltensweisen, mit denen die Gesellschaft für die Ausbeutung ihrer besonderen Umwelt ausgestattet ist. 'Verhalten' und 'Ausbeutung' werden bei Levine (1975:213) zu 'Energiesystemen'. Er bringt damit in seine Definition die Idee des Fließgleichgewichtes ein und weist in eine ökologische bzw. kybernetische Richtung der Kulturinterpretation. Für ihn besteht Kultur aus den Energiesystemen einer Bevölkerungsgruppe und deren Methoden bei ihrer Verwertung, aus der Organisation der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, aus Sprache, Sitte und Bräuchen, Glaubensvorstellungen, Verhaltens- und Kunstregeln - aus allem, was von anderen Menschen oder deren Werken gelernt ist. In diesen beispielhaft herausgegriffenen Kulturdefinitionen wird fast der gesamte Bereich menschlicher Artefakte und Tätigkeiten bzw. Handlungen unter dem Begriff Kultur subsumiert. (s.a. Bystrina u. Kuper 1990:650). Vom AlienneLaval
  • 6. ethnozentrischen Standpunkt der Probleme in den industriellen Gesellschaften her sind die Protagonisten obiger Definitionen zu begreifen. (s.a. ebd.) Posner (1989:250) versucht daher materielle und geistige Kultur voneinander zu unterscheiden, meint aber die Differenz zwischen Technik und Kultur. Eine solche Trennung hat wissenschaftsgeschichtliche Tradition: zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde im deutschen Sprachraum, durch den amerikanischen Evolutionismus (L.H.Morgan) beeinflußt, zwischen Kultur und Zivilisation unterschieden. Max Weber (1927) verstand unter Kultur die geistige, emotionale und ideale Seite menschlicher Lebenstätigkeit, wobei er mit Zivilisation die technologische und materiell-utilaristische Seite der Entwicklung bezeichnete. "Das bei Marx entlehnte 'Reich der Notwendigkeit' wurde für die Zivilisation charakteristisch, das ebenfalls Marxsche 'Reich der Freiheit' wurde mit dem Einzugsbereich der Kultur identifiziert. Diese Gegenüberstellung erstreckt sich bis zu den Schriften von H.Marcuse, für den zu dem Bereich Kultur die authentischen Werke der Literatur, Kunst, Musik und Philosophie gehören, die durch die Zivilisation 'übernommen, organisiert und verkauft' werden." (Bystrina u. Kuper ebd.) Diese Trennung ist theoretisch und handlungspraktisch relevant. Kulturelle Äußerungen haben, im Gegensatz zu denen, die dem Objektbereich der Zivilisation/Technik (z.B. Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände, Werkzeuge, Maschinen, Waffen) zuzuordnen sind, zeichen- und insbesondere texthaften Charakter. Nach Lotman (1981) ist der Mensch dadurch an zwei existentiellen Prozessen beteiligt. Auf der einen Seite ist er Verbraucher materieller Dinge und Sachwerte; auf der anderen agiert er als Akkumulator von Information und vor allem als Interpret. Lotman definierte Kultur als die 'Gesamtheit der Texte', womit er gleichzeitig die 'Gesamtheit der Funktionen' dieser Texte meinte. Das umschließt die systemisch-statische (synchrone) ebenso wie die dynamische (diachrone) Perspektive von Kultur. "Bei synchroner Betrachtung stellt so die menschliche Kultur ein System von Texten dar, aus diachroner Sicht kommt dazu auch die Herstellung, Übermittlung, Speicherung, Rezeption, Interpretation und Wirkung der Texte: also die Kultur als eine funktionierende Semiose." (Bystrina u. Kuper :651) Wesentlich an diesem Kulturbegriff ist der implizite Prozeßcharakter, der ein Fortschreiben, einen Zeichenprozeß (Semiose) annimmt, der unter referentieller Zugrundelegung von u.a. Kontext, kultureller, sozialer, historischer Situation und allen Phänomenen der sogenannten 'Umwelt' sich beständig entwickelt. AlienneLaval
  • 7. Eigentlicher Zweck kultureller Handlungen sind Zeichengebung und - interpretation, die sich in Zeichen- und Textprozessen darstellen. "Welchen zeichenhaften Sinn oder welches Ziel haben...: die Produktion, der Gebrauch und Verbrauch z.B. von Werkzeugen, Nahrungsmitteln oder Waffen oder der Transport von Gütern?", fragen dann auch Bystrina u. Kuper (:653). Der Begriff 'Zeichen' Wesentlich in dieser Diskussion des Kulturbegriffes ist die Explikation des Zeichenbegriffes. Wenn die Kultur- und Kommunikationswissenschaften versuchen, sich mit dem uralten, mythisch-magischen Wort 'Geist' in seinem tatsächlichen kulturevolutionären Sinn zu befassen, benötigen sie einen anderen Zeichenbegriff als die Geistes- oder Sozialwissenschaften: "Im Einklang mit... einer realistischen Weltauffassung verstehen wir unter dem (semiotischen) Terminus 'Zeichen' ein materiell-energetisches, sinnlich wahrnehmbares Objekt (System), das eine vom Zeichengeber intendierte Information über ein Bezeichnetes enthält. Dies ist die Zeichenfunktion eines Objekts als eines Zeichenträgers." (Bystrina u. Kuper :654) Eine 'Realistische Weltauffassung' impliziert hierbei, vor einer kulurevolutionären Folie gedeutet, einen 'existentiellen Zeichengebrauch', der für das jeweilige Sein konstitutiv und unabdingbar ist. Erforderlich bei diesem Zeichenbegriff ist die Annahme einer Intendiertheit des Zeichenproduzenten. Inwieweit hierbei eine Unterscheidung, gerade an den Punkten kultureller Emergenz, bewußt/unbewuß sinnvoll ist, wird später ersichtlich werden. Gedanken und andere psychische Ereignisse müssen aber, um Zeichen zu werden, erst materiell-energetisch in der Außenwelt manifestiert werden, wobei aber die An- oder Abwesenheit eines Rezipienten der Zeichenfunktion eines Textes keinen Abbruch tut; der Text muß lediglich potentiell rezipierbar sein. Gebrauchsobjekte, soziale Systeme oder 'natürliche Objekte' sind demnach primär keine Zeichen, sondern sie können eine sekundäre Zeichenfunktion annehmen, wenn sie per Interpretation oder Inversion in die kulturelle Sphäre transformiert werden. Die meisten Gegenstände dieser Menge der Anzeichen sind potentiell Objekte semiotischer Aktualisation, auch wenn niemand sie aktuell in dieser Form benutzt. Der Ansatz, der diesen Ausführungen zugrunde liegt, geht also von einer existentiellen Zeichenfunktion aus: Zeichen sind keine esoterischen und quasi- magischen Relationen, sondern materiell-energetische, intendierte Objekte. Es AlienneLaval
  • 8. sind keine konsensuellen Auffassungen gemeint, die selbst nicht frei von magischer Relationalität sind. Die durch die üblichen sozialen Konstrukte bedingten Wahrnehmungsweisen sind als selbstverständlich unterstellte Relationen und meinen, bzw. glauben, keine Objekte zu produzieren, solche zu sein, geschweige denn, diese als derartige zu sehen. In diesem Kontext wird das 'menschliche Sein und Handeln' in der Welt als nicht entfremdet, d.h. als mit ihr identisch, begriffen. Erst Intention und existentielle Produktion von Texten setzen diesen Automatismus außer Kraft und zeigen Kultur als ein Ensemble von Texten. Der Begriff 'Text' Unter einem Text wird deshalb ein sinnvoller Komplex von Zeichen verstanden. "Nach Lotman ist ein Text an sich relativ geschlossen, durch Anfang und Ende begrenzt und enthält eine potentiell rezipierbare Botschaft." (Bystrina u. Kuper :656) Jeder kohärente, intendierte Zeichenkomplex kann prinzipiell als Text aufgefaßt werden. Michael Titzmann (1977:9) formuliert das so: "...alle menschlichen aber auch tierischen Äußerungen..., die als 'zeichenhaft' und 'bedeutungstragend' fungieren: normalsprachliche Texte der Alltagskommunikation; religiöse, philosophische, wissenschaftliche, 'hohe' und 'triviale' literarische Texte; epische, dramatische, lyrische Texte; Produkte der Malerei, Plastik, Architektur; Comic Strips, Filme, Werbung: im Prinzip auch gestische oder mimische Äußerungen." Dabei muß aber eingeräumt werden, dass materiell-energetische Objekte ihren Zeichen- und Textcharakter in dem Maße verlieren, wie ihre ursprünglich dominante Zeichenfunktion zu einer Nebenfunktion wird. Das ist im Alltagsverhalten und der sozialen Organisation der Fall; genauso können Gebrauchsgegenstände ihre Gebrauchsfunktion verlieren. Gebrauchsverhalten, Technik, soziale Organisation etc. haben sich in der Humanevolution solange nicht entscheidend entwickelt, bis bis die dominante Funktion auf die kulturellen Texte überging. Bis heute haben sich diese Bereiche jedoch so weit verselbständigt, dass dieses entscheidende Merkmal außerhalb ihrer Wahrnehmung liegt, da die dominante Textfunktion nun die rationale bzw. die instrumentale, also die Gebrauchsfunktion zu sein scheint und die kulturellen Texte als ihr Beiwerk erscheinen. Es ist aber gerade der AlienneLaval
  • 9. "...hohe Grad an Verselbständigung dieser Tätigkeiten, der Verlust eines erkennbaren Zusammenhangs mit den unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten, die Redundanz dieser Tätigkeiten, ihre scheinbare Überflüssigkeit (vom Standpunkt des einfachen physischen Überlebens), ihr l'Art pour l'Art, was sie zum kulturellen Phänomen ummünzt. Für das Imaginativ-Kreative, das Phantastische, Narrative und Poetische, Ironische, Groteske und Absurde, das irgendwo am Anfang der menschlichen Kultur steht, gilt das, was Huizinga (1938:17) über das Spiel schrieb: es 'steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß'." (Bystrina u. Kuper :659) Der Begriff 'Code' Wie eben angedeutet, gibt es verschiedene Textsorten und Textstrukturen, die durch die dominierende Funktion des Textes ersichtlich werden. Grundlage für diese Interpretation des Kulturellen ist das 'Drei-Schichten- Modell der Codes', wie es Bystrina (1989) vorgeführt hat. Es wird dabei davon ausgegangen, dass 'Mensch' in drei unterschiedlichen Codeebenen existiert. Ähnliche Modelle wurden von Leroi-Gourhan (1964), Jakobson und Morris (1988) vorgeschlagen. Bystrina unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes, wobei die primären einfache, syntaktische Codes sind, die wir z.B. als genetische Codes bezeichnen. Ihr Kennzeichen ist eine hohe Codegebundenheit (Stringenz) und eine daraus resultierende relativ starke Invarianz. Sie strukturieren die primären Lebensformen und bezeichnen eigentlich Leben und darüberhinaus gar nichts. Auf den sekundären Codes sind semantische Operationen möglich; sie regulieren ethologische Systeme, die verschiedenen Spielarten des Sozialen im Tierreich (auch Mimikry, Tarnungen und Täuschungen), soziale Syteme und Phänomene der menschlichen Alltagssprache. Das Moment der Tradierung von Verhaltensrepertoires ist auch hier festzumachen (das 'ethnische Gedächtnis' Leroi-Gourhans). Die Stringenz der Codes nimmt zu den 'kulturellen Codes', den tertiären Codes, hin ab, so dass sie diejenigen sind, die die größte Freiheit erlauben. Die Varianz, also Beweglichkeit auf dieser Codeebene ist es, die das menschliche Leben durch die Jahrhunderttausende gesichert hat. Genetische und ethnische Codes beispielsweise sind aufgrund von relativ langer Amplitude in der Generationenfolge des Menschen und dem zur Stasis tendierenden ethnischen und sozialen Gedächtnis dazu viel zu schwerfällig und zu langsam.1 1 deswegen konnte beispielweise das Soziale durch die Industrialisierung so leicht ausgehebelt und zweckentfremdet werden. Der hohen 'Geschwindigkeit' (s.a. Virilio 1992) dieser neuen Systeme war das Soziale schutzlos preisgegeben. Die Warnungen aus der kulturellen Sphäre konnten aus dem gleichen Grund weder verstanden, noch befürwortet werden (s.a. Surrealisten, Dadaisten und die frühen Strukturalisten). Es viel dem Sozialen AlienneLaval
  • 10. Begrenzt werden die Möglichkeiten auf den tertiären Codes durch Setzungen, die die kulturellen Äußerungen durch Bedrohung, Semantisierung und Marginalisierung einschränken. D.h.: Ethnie, Gesellschaft oder Dogma/Ideologie können kulturelle Äußerungen kontrollieren, verbieten, zensieren und/oder über sie richten. Die Macht eines Systems in dieser Richtung wächst mit den Möglichkeiten der genetischen und sozialen Kontrolle. Wie wir heute wissen, ist das u.a. eine technische Option. Mit dem kulturellen Code aber erst gelingt dem Menschen die bahnbrechende Erfindung eines originär menschlichen Seins, das im subhumanen Bereich nur als Disposition, aber nicht als tragende Kraft, angelegt ist. Diese Ebene des tertiären Codes ist es, die zunächst auf der Ebene der sekundären Codes das Gebrauchsverhalten verändert und schließlich über die Annahme einer empirischen Ebene primärer Codes syntaktisch-instrumentale Systeme wie den Computer erfindet. Dass der Mensch ab dem Zeitpunkt der Kulturemergenz, der ihn der Natur gegenüberstellte, zumindest in zwei Bereichen existierte, läßt sich schon von den Erkenntnissen Saussures (1916) ableiten, der zwischen langue und parole differenzierte. Lévi-Strauss (1958) stellte bei der Untersuchung von südamerikanischen Indigenen fest, dass die Alltagssprache dieselben Gegenstände wie die mythische Sprache, nur auf einer anderen Ebene, bezeichnet. Nach Bystrinas Modell liegt die Interpretation nahe, dass Lévi- Strauss herausgefunden hat, dass das Soziale wiederum auf einer Ebene der sekundären Codes agiert, während die mythische Sprache, die dem Sozialen zugrunde liegende 'langue' also, einen tertiären Code meint. Der Mythos aber wird erst auf dem tertiären Code aktualisiert; er ist dem Sozialen verschlossen. Übergänge vom einen Bereich in den anderen sind bei sogenannten Stammesgesellschaften häufig mit besonderen Festen und Handlungen verbunden. Kultur bedeutet demnach das 'signifikante Operieren in einer zweiten Wirklichkeit' (Bystrina 1989, Bystrina u. Kuper 1990). "Die hinter der physischen Welt anzusiedelnde zweite Wirklichkeit existiert - in den menschlichen Gehirnen und in Texten - parallel neben der bezeichnenderweise leichter, sich insgesamt an die Industrie anzukoppeln (s.a. die Utopien des Karl Marx), als den individuellen Sprung in das kulturelle Sein zu wagen. Der Bodenlosigkeit des kulturellen Anspruches gegenüber versprach die Industrie die Wahrung von Heimat (auch einer internationalen, wenn gerade angesagt), Werten und Tradition. So lassen sich heute so heterogene Ansprüche und strukturelle Unvereinbarkeiten wie 'High Tech' und 'Blut und Boden' problemlos in einer gemeinsamen Menge vereinen. Bayernschrankwand, Trachtenrock etc. schließen nicht Videorekorder, Mikrowelle, Computer etc. aus. Eine solche 'menschliche' und d.h. ideologische Industrie, muß dem kulturellen Schaffen zuwider sein AlienneLaval
  • 11. ersten und wird aus dem Material der ersten Wirklichkeit durch vielfältige Umstrukturierung aufgebaut." (Bystrina u. Kuper :659) Kulturemergenz und Kulturevolution Die Geschichte des menschlichen Gebrauchsverhaltens (Gebrauchsgegenstände, Technik) ist, beginnend mit den ältesten Artefakten der Steinzeit, weitestgehend gut dokumentuert und bewertet. Exemplarische Belege lassen die Technik- Evolution plausibel rekonstruieren und als Adaptionen an die Erfordernisse der unmittelbaren Umwelt der Hominiden erscheinen. Die Veränderungen in der sozialen Organisation im Laufe der Humanevolution lassen sich vor diesem Hintergrund scheinbar sinnvoll erklären. Leroi-Gourhans (1964:139) Ausführungen legen die Vermutung nahe, dass die frühen Techniken dem Rhythmus der biologischen Evolution folgten, denn Chopper und Faustkeil erscheinen eher als Teile des Skeletts, als dessen Verlängerungen. Dass diese Form des 'Werkzeuggebrauchs' auch bei anderen biologischen - nicht nur plazentalen - Arten auftaucht, scheint diese Annahme zu bestätigen. Erst mit - vage formuliert - 'neuen Möglichkeiten des Gehirns' beginnen die Techniken einen rasanten Aufstieg. Diese Möglichkeiten sind auch schon im Tierreich - als subhumane Dispositionen - angelegt. Diese zeigen sich in Traum, Spiel und deviantem Verhalten, wie Bystrina (1989:225ff) in seinem Aufsatz 'Die Wurzeln der Kultur' darlegt. In dieser Sphäre, die im Verlaufe der Humanevolution durch bewußte 'Entregelungen' (Rausch, ekstatische oder asketische Techniken, Visionen, Prophetien) weiter angereichert wird, bilden sich die prozessualen Archetypen oder Invarianten, die die Kulturemergenz und die weitere Kulturevolution ermöglichen und bestimmen. Den Hintergrund, auf den diese neue Form zeichenhafter und symbolischer Aktualisierung sich wirft, die augenscheinlich mit Verlängerungen des Skeletts nichts mehr zu tun hat, bildet die sich nun abzeichnende 'erste Wirklichkeit' der die Menschen umgebenden Phänomene mitsamt den Erscheinungen der belebten und unbelebten 'Umwelt'. Die Phänomene der 'Außenwelt' werden hierbei in einem Prozeß der Inversion zu Phänomenen der 'Innenwelt' und erfahren dadurch tiefgreifende Veränderungen, die wiederum, zunächst als 'Höhlenmalereien' und dann als verschiedenste zeichenhafte Systeme (materiell-energetische Objekte; Texte), in der Außenwelt kondensieren, die aber auch in der individuell-psychischen, inneren Auseinandersetzung (Holensteins (198-) Introspektion; von mir 1991 als 'auditiver Modus' bezeichnet) und mit anderen Personen kommuniziert werden. Die, wenn auch nicht intendierten, Rezipienten solcher Texte sind nicht zwangsläufig Zeitgenossen, also Teilnehmer derselben Semiosphäre (Lotman 19--), sondern sie können auch diachron versetzt (z.B. erst in der Zukunft; andere, parallel - kulturrelativ - existierende Gruppen) auftreten. Prinzipiell ist AlienneLaval
  • 12. aber jeder in-formierende Zeichenprozeß (Semiose), auch zwischen Individuen, auf dieses diachrone 'Gefälle' - die Asymmetrie - angewiesen. Wenn Gruppen sich durch Konsensbildungen (auch durch Macht) formieren, dann können Symmetriesationen stattfinden (Uchtmann 1990), die aus der Diachronie entkoppeln. Flusser hat das für die Wirkungsweise der modernen Massenmedien angenommen, Baudrillard (1982) in seiner Analyse auf die Industriegesellschaften beschränkt, doch zieht sich diese Möglichkeit durch die gesamte Humanevolution. Synchronie an sich, als jeweiliger individueller und sozialer Begriff von Gegenwart verstanden, ist als kulturrelativer Ausgangs- und Bezugspunkt notwendiges Konstituens jeder Möglichkeit diachroner Information. Dennoch scheint es Erwartungen im Repertoire menschlichen Verhaltens zu geben, die versucht sind, die Diachronie auszuhebeln. Diese Erwartungen sind als Heilserwartungen in den Religionen formuliert, bedeuten eigentlich aber den Wunsch nach einer 'Rückkehr' in den homöostatischen Zustand der Indifferenz, der zwischen allen Individuen gleichen Abstände, der kontingenten Adaptiertheit an Gott und Natur, um das 'Unheil' der Information auszuschalten. Information stellte immer eine Herausforderung an die Synchronie dar, denn sie ist genetisch gekoppelt an den Zeit- und Raumpunkt der Kulturemergenz. Die initiale Leistung des heraufdämmernden menschlichen Bewußtseins war die Kognition des Todeswissens und die damit verbundene Selbstbewußtheit (s.a. Bystrina 1989). Zu den Erfordernissen des physischen Überlebens gesellten sich nun die des psychischen Überlebens und damit die existentielle Zeichenproduktion. Einerseits entstehen hier neue Strukturmuster, (kognitive) Codes, die über Schamanismus, Mythenbildungen, Philosophien, den verschiedenen Spielarten der Kunst bis hin zu den Theorienbildungen der Wissenschaften führen, in denen Bewegung und Struktur dominieren. Andererseits entstanden nun neue Formen des Sozialen (Systeme), die in ihrem Bestand durch Rituale, Initiationszeremonien und kollektiven Zeichengebrauch gesichert wurden, in denen Form und Funktion dominieren und die damit sekundäre Codes ausbilden. Die neuen Strukturmuster sind die 'tertiären Codes', die sich, wie gesagt, den vorangegangenen beiden Codeebenen impizit aufschichten. Explizit bilden sich auf der Basis dieser Codes quasi-statische soziale Systeme, die mit ihren Regel- und Kompensationsmechanismen den 'Angriff' des Todes zu erwehren und seinen Sinn in eine 'höhere Ordnung' zu überführen suchen (s.a. Bystrinas (1989) Ausführungen zu 'triadischen Lösungen'). Sie kreieren auf diese Weise den Bereich der 'zweiten Wirklichkeit', der seitdem neben der 'ersten Wirklichkeit' gültiges Faktum menschlichen Seins ist. Während die erste Wirklichkeit durch Wechselwirkungen reguliert ist, werden in der zweiten Gesetze formuliert, die aber genauso bindend sind. Die Möglichkeit eines 'fremdartigen' impliziten Codes am Punkt der Kulturemergenz zeigt doch schon, dass die 'Ordnung' der Natur hintergehbar war. Als genauso hintergehbar zeigten sich aber die menschlichen Ordnungen AlienneLaval
  • 13. und Sprachen; der tertiäre Code wurde damit zum Träger und Mittler der Kulturevolution. Die Introspektion, die beispielsweise Schamanen und manchen Wissenschaftler und Künstler zum Erlebnis des tertiären, kognitiven Codes führt, ist an sich ein pädomorphes Eintauchen in den Urgrund menschlichen Seins. Am Anfang der Kultur standen besonders schwere 'Zeichen', die uns noch heute beschäftigen und die wir zu bewältigen suchen, sozusagen eine Meta- Idealstruktur im Sinne Firth, die die Invarianten der folgenden Kulturevolution bildeten und noch heute wirken. Die hier entworfenen Welten, die das Soziale in seiner jeweiligen Gegenwart wie selbstverständlich okkupiert und unreflektiert reproduziert, sind originär keines sozialen Ursprunges. Daher ist auch die Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Abbildhaftigkeit (Isomorphie/Homomorphie mit einer 'realen' Welt) des Sozialen irrational. Die Intention des Sozialen ist auf seine Erhaltung und Perpetuierung beschränkt. Um das zu leisten, muß es die Mittel des Kulturellen für seine Zwecke gebrauchen. Kultur entsteht aus der Erkenntnis einer Spaltung, eines unlösbaren Widerspruches, der kritisches Denken ermöglicht sowie auslöst. Das Soziale ist die Leugnung und Aufhebung dieses Widerspruches durch Installation eines Dritten (früher: Gott; heute: das Soziale selbst). Diese passiv gelebte und aktiv von anderen geforderte Widerspruchslosigkeit bedeutet die Überfrachtung der Möglichkeiten durch das Nichts. Dass dieser harte Satz wahr ist, läßt sich belegen: Soziale Funktionen und Systeme werden schnellstens aufgegeben, sobald innere oder äußere Gefahr im Verzuge ist. Das Soziale hat dem nichts entgegenzusetzen außer einer hohlen, haltlosen, lediglich verbrieften, aber nicht vertieften, Ethik. Wenn das Dritte versagt, liegen die Widersprüche so offen dar, dass sich nur Fassungslosigkeit und Unverständnis breitmachen, die wiederum nur nach Gegengewalt verlangen oder sich in dem platten Ruf "Ruhe bewahren" Gehör verschaffen. Der Umgang mit den Widersprüchen wurde im Sozialen weder gelehrt, gelernt, noch war er erwünscht. Folter, Krieg und Gewalt werden als Randphänomene einer 'zivilisierten' Welt und eines 'kultivierten' Verstandes markiert und in das Ausland verdrängt, da wo die Verrückten sind (Barbaren und Menschenfresser - da hilft auch keine Toleranzhudelei). Die größte Platitude aller Scheinlösungen ist dabei die Forderung nach der ultimaten, paradiesischen Ideologie. Lösungen auf den kulturellen Codes versprechen keine Programme, dazu sind sie zu komplex. Was sie aber bringen, ist die Akkzeptanz und Aufklärung des Widerspruches, ohne dass dieser sich explosiv - wie beim Versagen des Sozialen - entladen muß oder mit der Ohnmacht und Kontrollmacke des Genetikers kaschiert und unterdrückt werden braucht. Im Übrigen: auch die genetische Lösung ist eine Scheinlösung. AlienneLaval
  • 14. Die Struktur der Kultur Kultur ist daher "Dialektik in einem mehrpolaren Kraftfeld (und) bedeutet ständiges Ausbalancieren verschiedener 'Anstöße' einzelner Elemente, Umgruppierung ihrer dominanten Positionen, Veränderung von Vektoren usw. Es ist eine Interaktion von strukturell verschiedenen Entitäten", wie Karbusicky (1973:102) schreibt. Die 'strukturell unterschiedlichen Entitäten' Karbusickys sind die erörterten Codes Bystrinas. "Sobald im Augenblick der Belebung des Kraftfeldes durch einen kreativen Akt oder durch das Hinzukommen neuer Elemente die Entitäten (hier: Codes) in Interaktion treten, fangen sie an, sich in ihren gegenseitigen Potenzen zu befragen, sich ihre Strukturen einzuprägen und sich umzugruppieren." (ebd.) Dem Subjekt können im Anschluß an Karbusicky die psychologischen, assoziativen und sensualistischen Eigenschaften zugeschrieben werden und dem Material die formalen Eigenschaften. Beschränkt sich die Interaktion auf diese beiden Pole, entsteht die auf dem Kantischen 'interesselosen Wohlgefallen' beruhende Auffassung von der Kunst oder Kultur als Spiel, auch wenn das Spiel zu den kulturkonstituierenden, subhumanen Dispositionen gehört. Zwischen dem Material und dem Objekt erstreckt sich der Bereich der aristetolischen Mimesis, in dem sich nur die Frage nach richtiger oder falscher Adaptiertheit stellen läßt. Erst die kultursemiotische Betrachtung nimmt den 'Austritt' des Artefaktes aus dem kreativen Subjekt zur Grundlage, da sich hier die ontischen Kräfte der Kultur wie aus dem Urchaos hervorquellend bekunden. Ein sogenannter Realismus in der Kuturanalyse würde die mimetisch-ikonische Komponente in den Vordergrund stellen, die nur noch richtig-falsch Entscheidungen zuläßt. Neben der Achse Material-Objekt, die durch die semantischen Regeln der Adaption geregelt ist, gibt es noch solche, die zwischen Subjekt, der Gesellschaft und dem Material polarisiert sind. Kernpunkt der kultursemiotischen Analyse ist die Zugrundelegung der Subjekt-Objekt-Achse; von hier aus werden alle anderen Bezüge problematisiert. Der einzige nicht-codierte Pol in diesem Interaktionsfeld ist der des Objektes; es wird durch den potentiellen, tertiären Code repräsentiert, der aktuell aber erst im Subjekt wirkt. Wenn das Objekt codiert wäre, wie es beispielsweise noch Cantor mit seinem Begriff des Transfiniten annahm, dann hätten wir damit das Absolute und d.h.: AlienneLaval
  • 15. Gott, vor uns. Die sich als kontingent (homomorph, isomorph) in die Welt projezierende Gesellschaft oder das Subjekt in seinem Selbstverständnis vom Sein erreichen durch die Verweigerung des tertiären Codes aber genau diesen Effekt: sie simulieren das Absolute, wie aus den Ausführungen Baudrillards (1976) zu schließen ist und kontrollieren die zweite Wirklichkeit durch mächtige Moral-, Normen- und Regelsysteme die konsensuell und durch Setzungen reguliert sind. Dem freien, grenzüberschreitende Austausch mit Geistern und Kräften wird ein Ende gesetzt. Mit Luhmann (1990) kann man also mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass es sich bei psychischen und sozialen Systemen um tote Systeme handelt. Wenn man davon ausgeht, dass zumindest noch auf der phylogenetisch jüngsten, der tertiären Codeebene, die aristetolische Logik ausgehebelt wird, dann geht es hier nicht um kontingente Adaptiertheit, sondern um die Schaffung neuer, narrativer Formen. Das Leben wird ja gerade dadurch intentional und irreduzibel, indem es die Welt nicht richtig abbildet, sondern interpretierend aktualisiert und so die Wechselwirkungen des unbelebten Universums hintergeht und partiell - zumindest bis zum Tod - unwirksam macht. In einem bipolaren, aristetolischen System wäre damit das Leben und erst recht die Kultur, nicht bei dem mit 'richtig' markierten Pol, sondern bei dem mit 'falsch' markierten, angesiedelt. Gerade auf den tertiären Codes steht das Subjekt direkt dem Objekt gegenüber. Die einzige, tatsächliche Information, die vom Objekt ausgeht, sobald dieses aktualisiert wird, ist zunächst die Erkenntnis des Todes. Dieser Raum wird dann mit kulturellen Texten angefüllt. Wenn spätestens auf den sekundären Codes so etwas wie Bewußtsein, das wohl mit dem Verlassen rein ikonischer Repräsentationen entsteht, möglich ist, dann bildet sich hier das Selbst-Bewußtsein aus, dessen Bildung mit dem Todeswissen einhergeht. Die Vermittlung von Operationen auf den tertiären Codes Voraussetzung für die kulturelle Handlungspraxis und die Vermittlung einer solchen Praxis, die sich sowohl in methodischer als auch in thematischer Hinsicht abgrenzen soll von dem, was bislang im Bereich der 'Kulturarbeit' geleistet wurde, ist ein theoretischer Anspruch und Ansatz, der auf den im vorangegeangenen Teil zugrunde gelegten Annahmen basiert. Da Kultur und kulturelle Handlungsoperationen für das physische Überleben des Menschen nicht notwendig sind, entfallen sie der Sphäre des Gebrauchsverhaltens, der Überlebens-Technik und damit auch der Arbeit. Selbst das Freizeit-Verhalten, das sich in einem 'interesselosen Wohlgefallen' begründet, ist nicht kulturelles Tun und kann - wenn es das unbedingt soll und das überhaupt geht - den Druck der physischen Sphäre nur unvollkommen AlienneLaval
  • 16. kompensieren. (Hierzu zählen das Squash-Spielen, Bowling, Freizeitparks etc. ebenso wie die Herstellung von Makramee-Eulen, Holzenten, Schüttelreimen im offenen Radio usw.: also 'Beschäftigungen' und die vielfachen sich hieraus ableitenden sog. 'Therapien'). Nach dem vorhin formulierten kuturevolutionären Anspruch ist offensichtlich, weshalb kulturelles Tun nicht mit dem psychologischen und pädagogischen Instrumentarium des Sozialen vermittelt werden kann, dass das Überleben in einem gegebenen Kontext und dieses Kontextes ermöglichen soll. Eine 'Kulturpädagogik' im Sinne eines kultursemiotischen Ansatzes kann Anregungen vermitteln und auf Prozesse verweisen, die sich in der Humanevolution bewährt haben. Eine solche Pädagogik muß verzichten auf den partikularisierenden, akkumulativen Anspruch des Sozialen. Sie muß vielmehr Ängste nehmen durch theoretische sowie kulturhistorische und -psychologische Abpufferung und Begleitung des individuellen Erkenntnisprozesses. Sie muß neuerlich dazu ermutigen, initiatorische Wege zu beschreiten, um auf der Basis individueller Reflektion und Reduktion kritische Zustände zu induzieren, die kulturelles Schaffen erst ermöglichen. Dies meint keine entfremdeten Konstruktionen, die als rationale Folie dem sog. Unbewußten aufzulegen wären, sondern eine strukturgenetische Eruierung und Anwendung des humanen Zeichenprozesses, der ebenso bewußt wie unbewußt - aber dennoch intendiert - vonstatten geht, da er existentiell ist. Ein großer Stellenwert kommt hierbei den 'symbolischen Formen' zu, die die Emergenz und die Evolution der Kultur bis heute begleitet haben und als Variablen und Axiome relativ invariante Muster (patterns) der Kognition bilden. Mythen, Märchen und Kunstwerke sind voll davon; Religion, Politik, Ökonomie, soziale Organisation etc. sind aus ihnen hervorgegangen. Sie bilden die individuellen und kollektiven Grundlagen, auch wenn es letztlich um die Produktion zufällig auftretender Texte geht. Im Vorangehenden wurde ein Oppositionspaar, Kultur - Soziales, expliziert. Der kultursemiotische Ansatz legt, wie begründet, daher nahe, zwischen 'sozialem' und 'kulturellem' Verhalten zu differenzieren. Eine angebliche Identität der durch beide Termen bezeichneten Mengen von Objekten und Relationen wurde als nichtig erwiesen, da die jeweiligen Verfahrensweisen verschiedenen Sphären der Evolution entstammen und zuzuordnen sind, auch wenn die Evolutionen des Sozialen und des Kulturellen auf weiten Strecken parallel und interdependent verlaufen sind. Es ist doch sinnvoller, sie aus pragmatischen und analytischen Gründen in Untersuchung und Praxis auseinander zu halten. Das Soziale meint immer das in einer jeweiligen Gegenwart und Gesellschaft internalisierte Repertoire, das über seinen Raum und seine Zeit nicht hinausweist. Daher tautologisieren, 'skorpionisieren' (Baudrillard 1976), sich die AlienneLaval
  • 17. Systeme, die sich auf das Soziale und soziale Kontrolle ( Horizontalität) verlassen. Die Interdependenzen der sozialen, wie auch der natürlichen Systeme werden im Kulturellen verlassen. Auch wenn Utopien - vor allen Dingen, wenn im Sozialen umgesetzt - die Tendenz zur Inversion und Perversion aufweisen, kommt der Mensch, wenn er auch psychisch als Mensch überleben will, um sie nicht umhin. Eine 'soziale' Kontrolle der Utopien kann einen neuen Faschismus religiöser und/oder ökologisch-kybernetischer Art erzeugen. Kulturelle Interpretationsleistungen und Produkte sind durch hohe Ambivalenz ausgezeichnet und eben dadurch kreativ, indem sie die Neugier gegen die Angst ausspielen. Otto (1917) wies darauf hin mit den Bezeichnungen 'mysterium tremendum' und 'mysterium fascinans'. Kultur durchbricht damit die linear scheinende Stringenz der homöostatischen Abläufe (Konditionierung, Sozialisierung) des Sozialen und durch ihre Redundanz vom Standpunkt des rein physischen Überlebens den Mythos der ewigen Wiederkehr. Kulturschaffen erfüllt primär keinen sozialen Zweck; es meint eine dritte Codeebene, einen tertiären Code, der die Objekte der Außenwelt in eine innere Dimension überschreitet und diese in narrativen Texten interpretiert. Narrative, also kulturelle, Texte sind in diesem Zusammenhang - wie gesagt - alle aus den kulturkonstituierenden subhumanen Dispositionen (i.e. Traum, Spiel, psychische Devianz, Drogen) sich ableitenden Zeichenprozesse (Semiosen) und ihre materiell-energetischen Produkte (Zeichensysteme). Sorten derartiger Texte sind Malerei, Plastik, Literatur, Musik, bestimmte wissenschaftliche Theorienbildungen, Ursprungsmythen, Märchen, Tanz, Maskenspiele usw. Gebrauchs-, so auch Designobjekte, haben keine innere Textstruktur, sie sind nicht Träger von Geschichten, also keine Texte im angeführten Sinn. D.h.: die Texthaftigkeit des Kulturobjektes muß durch seinen Schöpfer intendiert sein, setzt also intellektuelle Tätigkeit voraus, die sich in der Produktion eines materiell-energetischen Systems (Text) äußert. Dieser Text wiederum kann Ausgangspunkt für andere Texte - nicht zwangsläufig gleicher Sorte - sein. Die Semiose umfaßt daher nicht nur die Produktion, sondern auch die Vermittlung, Speicherung, Tradierung, Aufführung solcher Texte. Sicherlich haben auch 'tote Gegenstände' wie Sterne, Blitz, Hagel, Erdbeben, Atombombe, Schraubenschlüssel, gekachelte Wände, Autos, Kaffeetassen, Formen sozialer Organisation etc. einen potentiellen Textcharakter; im eigentlichen Sinne aber handelt es sich bei solchen Objekten um Anzeichen, deren Zeichenhaftigkeit erst in einem intendierten, intellektuellen Prozeß aktualisiert werden kann. In einem wesentlichen Aspekt sind kulturelle Handlungsoperationen ihrem Ursprung nach - und sie sind dies auch heute noch - Mittel der Bannung, der AlienneLaval
  • 18. Versicherung gegen übermächtige Geister (heute wohl nicht mehr so sehr die Naturkräfte, als vielmehr die durch Technologie und konzertierte Aktion entfesselten Gewalten und der individuelle Tod), ihre Handhabbarmachung durch Beschwörung, der Inversion unliebsamer Vertikalität (z.B. im alten Karneval), schlichtweg die Veröffentlichung und Auflösung fataler Symmetrien, die sich durch Gewöhnung und Wiederholung eingeschlichen haben (z.B.: früher die Gewöhnung an die ständige Bedrohung des Menschen durch die 'Natur'; heute Gewöhnung an Klassengesellschaft, menschliche Dummheit, massenhaftes Verhalten, Macht, Ohnmacht, Kapital, Übermacht der Technik etc.). "...so stark ist der Druck des Realitätsprinzips der industriellen Massengesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern geworden, deren relative, empirische Freiheit auch in der Normierung der Kunst auf ihre realistische Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sich niederschlägt." (Gorsen 1981:224) Die durch Kultur dargelegten und entregelten Gegensätze werden so oft durch beliebte Scheinlösungen ( die Letzten werden die Ersten sein, Diktatur des Proletariats, der 'gute' Diktator, Tod für das Kollektiv, seelig sind die geistig Armen usw.) im Sozialen wieder eingeregelt und ertragbar gemacht. Durch Sozialisation, Tradition ( auch die Ritualisierung der Arbeit als Lebenswirklichkeit zählt dazu), Wiederholung und Gewöhnung nehmen diese Systeme 'Wirklichkeitsstatus' an. Deswegen erscheinen sie auch so starr, unreflektierbar und invariant (eine übliche Meinung: "es war schon immer so"), dass eine 'Lösung' unmöglich scheint. Gerade heute wird diese Behäbigkeit und die dadurch implizierte Gefahr des Sozialen im Angesicht einer wahrscheinlichen Katastrophe offensichtlich. In autopoietischer Selbstgefälligkeit konstruiert das Soziale unter Zuhilfenahme kultureller, also poetischer Inputs, als Rettungs- und Rechtfertigungsversuch Kybernetik, Ökologie und Netzwerke. Diese 'neuen' Inhalte sollen auf bekanntem Wege vermittelt werden, also lehr- und lernbar sein. In die möglichen neuen Schläuche rinnt auf diese Weise der längst umgekippte Wein alter Schule und Didaktik. Explorationstrieb (Koestler 1978) und Verstand werden zum Rieselfeld des Bildungsapparates, der schulmeisterlichen Langeweile preisgegeben. Eine Verschulung der Vermittlung kultureller Praxis steht daher in methodischem Widerspruch zu den Möglichkeiten dieser hochflexiblen Codeebene. Im verschulten, programmatischen Ablauf stehen quantitative, die Kreativität hemmende Verfahren im Vordergund. Die gemeinschaftliche 'Ideensammlung' und 'Problematisierung' unter Anleitung eines Lehrers ersetzt die individuelle Introspektion und Audition. Hierbei wird eine all-gültige Systematik und eine Form der Kategorialität (Rahmen) vorausgesetzt, die von vornherein eine AlienneLaval
  • 19. stillschweigend als gemeinschaftlich akzeptierte Form der Versprachlichung unterstellt und sofortige und unmittelbare Stellungnahme fordert (das ganze Schulsystem funktioniert so). Dieses Reiz-Reaktions-Schema unterstellt ein ethologisch-behavioristisches Muster, das nur den systeminherenten Informationsfluß (Kybernetik) in Gang hält. Eine tatsächliche Kommunikation individueller Erkenntnisse und Erkenntniswege kann so nicht stattfinden; sie würde auf 'offene' Kommunikation angewiesen sein, deren Mittel und Regeln sich im jeweiligen Prozeß neu formulieren würden. Das kybernetische Modell hingegen simuliert Kommunikation. Dieses didaktische Mittel zwingt jede Auseinandersetzung zur Oberflächlichkeit, da es die Hintergehbarkeit der konsensuellen Sprachebene (Holenstein 1980) verwehrt. Erst durch das Eintauchen in den Ozean der Introspektion kann sich qualitativ was tun, weil erst hier die Kreativität und der eigene Ausdruck (die eigene Sprache) gefunden werden können (Therre 1979; Uchtmann 1991). Der Konsens hypostasiert und erzwingt ein nicht entfremdetes Empfinden zu einer gemeinschaftlichen Sprache und Handlungspraxis; er fordert ein einheitliches, stets mit sich selbst identisches Alltags-Subjekt als Teilnehmer. Eine Entwicklung der Persönlichkeit ist nur akkumulativ und zirkumbulativ denkbar. Kulturelles Schaffen jedoch lebt gerade von der Erkenntnis der Entfremdung (bislang hat glücklicherweise noch jedes System neue Möglichkeiten der Entfremdungen geschaffen!). Das In-sich-sein des geschlossenen, kontextualisierten Subjekts wird im kulturellen Prozeß zu einem mindestens teilweisen Außer-sich-sein. Neben seiner profanen Existenz in der Sphäre des Gebrauchsverhaltens schafft es sich so eine zweite Existenz, die es mit den Ur-Sprüngen des Menschlichen verbindet, aber auch fortschreiten läßt. Nun ist die Idee von einer anderen Kulturpraxis schon sehr alt und erscheint überdies abgeschmackt und nicht notwendig. Von de Sades Anspruch einer hedonistischen Kulturpraxis, die sich gleichermaßen gegen Natur und Zivilisation richtet, spannt sich der Bogen über die psychoanalytisch- kulturtheoretischen Ansätze Freuds, die 'revolutionären' Versuche in der Anfangszeit der Sowjetunion und den Surrealismus bis hin zur 68er-Bewegung in West- und Osteuropa. Gerade durch die ökologische Krise, Anfang der 70er Jahre vom 'Club of Rome' beschworen, wurde dem ein Ende gesetzt, verlangte sie doch nach Umkehr, Einkehr, neuer Religiosität und dadurch nach systemtheoretischen, kybernetischen Modellen der 'Krisenbeherrschung'. Die zügellose Kreativität, die ja auch schreckliche Waffen hervorbrachte, müßte, so wurde angenommen, durch neue Regelsysteme 'gebannt' werden. Verbeeks (1990) Analyse zur Anthropologie der Umweltzerstörung problematisiert erneut vor dieser Folie die Evolution der menschlichen Gesellschaften und rationalisiert als Lösungsvorschlag noch einmal die Einrichtung von neuen AlienneLaval
  • 20. Kontroll- und Regelmechanismen. Problematisch ist dabei die offensichtliche Repressivität, die zu Gunsten eines höheren Zieles in Kauf genommen wird. Kultursemiotisch betrachtet ist das wiederum eine triadische, die Widersprüche hinwegzwingende Scheinlösung quasi-religiöser Konnotation, sie lautet: individueller Verzicht für das Kollektiv, für ein besseres Leben in einer kommenden, friedlichen Welt (Paradiesvorstellung). Die Grenzen des Systems markieren gleichzeitig die Grenzen der Erkenntnis und der Welt, deren Überschreitung verboten ist bzw. wird.2 Diese Möglichkeiten, wenn auch häufig verteufelt (s.a. Verbeek), sind es aber, die, im Gegensatz zum jeweilg synchron Systemimmanenten, seit der Kulturemergenz die entscheidenden Innovationen in der Kulturevolution gebracht haben. "Während ich an seinen (van Goghs) unglaublich 'psychedelischen' Bildern vorbeischlenderte, dachte ich über den einzigartigen Realitätstunnel dieses Malers nach, seine erstaunlichen Visionen, seine Poesie, sein kreatives Sehen. Wieder einmal wurde mir bewußt, dass van Gogh gerade deshalb so wunderbar ist, weil er eben Rembrandts Realitätstunnel nicht nachahmte. Picasso ist ein bedeutender Maler, weil er van Gogh nicht nachahmte, und Mondrian ist großartig, weil er Picasso nicht nachahmte. Bedeutende Kunst ist immer eine neue Synergie, eine neue Transaktion zwischen Beobachter und Beobachtetem. Plötzlich fiel mir Adolf Hitler ein, der gesagt hatte, jeder, der den Himmel grün malt, sollte auf der Stelle sterilisiert werden. Und ich verstand den Rechthaber ein wenig besser. Ein Rechthaber ist an seinen Realitätstunnel gekettet, denn auf die Konfrontation mit den Realitätstunneln anderer, kreativer Wesen reagiert er mit Angst und Schrecken", schreibt Wilson (1992:225f). Es waren die Lösungen auf den tertiären Codes, die das (Über-)Leben der Menschen ermöglicht und ausschlaggebend beeinflußt haben. Dass eine solche Praxis mit unabsehbaren Risiken für Indivduum und Spezies verbunden ist, kann nicht bestritten werden. Koestler (1978) sieht in der Sprachentstehung u.a. das entscheidende Generativum für Kriege und Waffentechnologie. Als fatale Lösung empfahl er entweder die Abschaffung der Sprache oder einen neurochemischen Eingriff ins Gehirn. Auch Skinner (1971) strebte eine Änderung der 'Kontingenzen' an, durch Anpassung der menschlichen Umwelt an 2 siehe dazu z.B. John Norman's Trivialroman-Epos 'Gor - die Gegenerde' (Heyne-Verlag). Mächtige Satellitensysteme kontrollieren hier die Herstellung von Waffen, die über Hieb- und Stichwaffen hinausgehen. Erfindet jemand eine Feuerwaffe, so wird er per Satellitenstrahl exterminiert. Bezeichnend ist, dass diese Waffen in diesem Szenario dauerend neu erfunden werden und nur eine exteriorisierte Kontrollinstanz dieses ungezügelte, innere Schaffen unterbinden kann. Eine solche Vorstellung läßt sich leicht auf den intellektuellen Bereich übertragen. SittenwächterInnen, wie derzeit im Iran, könnten die Überwachung erlaubten Denkens garantieren. AlienneLaval
  • 21. Laborbedingungen. Er stellt sich dann eine Kunst und Literatur vor, die ohne Tod, Mord, Macht, Ohnmacht und Tragödie/Komödie auskommt. Nach seinem Ideal würde sich zu guter Letzt der Kontrolleur selbst in die Laborbedingungen einbringen. "Daher häufig der Ruf nach Allgemeinverständlichkeit um jeden Preis, nach Durchsichtigkeit, die für Rationalität ausgegeben wird, nach Leichtvertäglichkeit und Unkompliziertheit des Ästhetischen anstelle von Hermetismus." (Gorsen :223) An dieser Stelle entsteht ein unkritischer Realismus, wie Gorsen (ebd.) ausführt: "Der Kunstbeschauer wird zum Abnehmer von sozialen Tasachen und Ideologien, die auf eine einprägsame ästhetische Form gebracht wurden. Die unkritische Seite dieses Realismus ist, dass er alles so beläßt, wie er es vorfindet, im zitierenden Abbilden und Ideologisieren, im Montieren und Umgruppieren von Wirklichkeitsstücken das Bestehende nachahmt..." Die ästhetische Qualität von Kunstwerken wird dabei allein danach beurteilt, "...ob sich diese überindividueller Mitteilungsweisen und sozial anpassungsfähiger Konzeptionen bedienen oder dem als kultisch, rückschrittlich, esoterisch, privilegiert geschmähten Bereich traditioneller Kunstherstellung verhaftet bleiben." (ebd.:222f) Offensichtlich ist dabei nach Gorsen die 'domestizierende Sicht auf die reine Gebrauchsfunktion der Kunst für die Gesellschaft'. Das eben Gesagte betrifft daher nicht nur den Kunstbeschauer, der sich, sie letztlich auch verteidigend, in diese Realität einbringen soll, sondern auch den Künstler, der gezwungen ist, sich in sie einbringen zu müssen. "Entweder werden die Künstler zu politischen Phantasten und Propagandisten einer Einheit von Wirklichkeit und Kunst, deren Versöhnung in der Praxis aussteht und die objektiv erst zu leisten wäre, oder sie neigen zu bloßer Rezeption und zum Nachbeten dessen, was gesellschaftlich vorgegeben ist, das sie unwesentlich verändern oder so belassen, wie es geworden ist." (Gorsen a.a.O.:223) Im gleichen Maße, wie durch diesen Vorgang Kunst und Kultur zur Ware werden, zwingt die Masse die Herstellung jeder Kunst auf ihr Verständnisniveau als Konsumenten herunter. "Diese Barbarei werden sie als neue Freiheit, als Emanzipation des Genusses missverstehen." (Gorsen a.a.O.:224) AlienneLaval
  • 22. Das bedeutet im Kontext dieser Konzeption eine Kybernetisierung und Symmetrisierung der Kultur auf einem systemimmanenten Informationsniveau. Kultur kann nur noch als Gebrauchs- bzw. Freizeitverhalten geduldet werden. Das Innovative wird gänzlich den Regelkreisen (u.a. dem Sozialen) überlassen, die es aber nicht leisten können und immer weitergehende Simulationsformen produzieren. (s.a. Baudrillard 1976) "Für die wirkliche Befreiung der Massen zum Kunstverständnis und damit für die Chance aller, einen ähnlich hohen oder vielmehr höheren, qualitativ anderen Status ästhetischer Bildung und Sensibilität zu erreichen,...wird heute...(nichts) Entscheidendes getan." Gorsen (:236) führt weiter aus, dass es 'die marxistische Psychoanalyse Reichs und der surrealistische Marxismus Marcuses waren, die dem Gedanken zum Zuge verholfen haben, dass Regressionen den Boden für Politisierung und Revolutionierung (wider den verkehrten Fortschritt und wider eine vernunftlose Vernunft) bereiten können, "...dass sie nicht nur als Weltverlust, Autismus, als Rückschritt, Krankheit und psychische Mangelerscheinung verstanden werden können, sondern, dass sie - aus dem konservativen und repressive Ordnung stabilisierenden Rahmen der heilmedizinischen Betrachtung gesprengt - Möglichkeiten darstellen, jene Erlebnis- und Erfahrungsqualitäten, nun freilich verwandelt und auf der Stufe der Selbstaufklärung ins Bewußtsein zurücktreten zu lassen, die als deren Nachtseite verdrängt und zu sozial 'wertlosen' Leistungen 'kultiviert' worden sind." Solche Regressionen, bzw. die 'Nachtseite', sind dann als 'Pädomorphosen' (Koestler 1978) anzusehen, die eine Hinwendung zum 'Medium der kognitiven Kompetenz' (Holenstein 1980) bedeuten: "Die biologische Evolution ist weitgehend eine Geschichte gelungener Fluchtversuche aus den Sackgassen der übermäßigen Spezialisierung und die Geschichte der Ideen ist eine Reihe gelungener Fluchtversuche aus der Tyrannei geistiger Gewohnheiten und erstarrter Routinemäßigkeiten. In der biologischen Evolution ist die Flucht ein Rückschritt vom Erwachsenen- ins Kindheitsstadium, das anschließend als Ausgangspunkt für eine neue Entwicklungslinie genutzt wird; bei der geistigen Evolution ist sie ein vorübergehender Rückschritt zu primitiveren, ungehemmteren Arten der Vorstellungskraft, gefolgt von einem schöpferischen Sprung nach vorn..." (Koestler 1978:255) Gefährlich wird es nur, wenn diese Prozesse ins Private gedrängt verbleiben. Gerade rigorose und faschistische Systeme haben immer die Tendenz, das AlienneLaval
  • 23. Öffentliche bzw. die Öffentlichkeit zu verhindern und - da fremd und bedrohlich - zu zerstören. Kulturelles Schaffen ist, wie oben gesagt, auf den große Variabilität zulassenden tertiären Codes angesiedelt. Es erhöht damit die Geschwindigkeit der Modifikationen in der Humanevolution.3 Kennzeichnend ist die Reversibilität (s.a. Kramer 1987; Baudrillard 1983) aller Prozesse auf dieser Ebene. Das bedeutet demnach Vorläufigkeit und ein Ablassen von den auf das Finale fixierten Ideologien. Diese Einsicht fällt in Europa, wo wir über Jahrhunderte das Leben in und das Bezogen-Sein auf starre Muster gelernt haben, schwer: "Auf die negativ entropisch wirkende Entregelung, die den Regress ins Chaos wagt und ihre Autorität aus dem vom sozialen Kosmos als Übermacht begriffenen Bereich bezieht, folgt der entropische Wunsch nach Ordnung und der Homogenität eines von einer Macht - und sei sie auch nur strukturales Prinzip - kontrollierten Paradieses." (Uchtmann 1991:169) Eine wirkungsvolle Kulturpädagogik muss aber gerade hier ansetzen. Sie kann nicht umhin, von der Prämisse auszugehen, dass 'Kultur' die treibende Kraft im Prozeß der Humanevolution war und ist. Genau diesen Inhalt müßte sie vermitteln. Die Vorgabe eines Ergebnisses wäre wiederum eine finale Fixierung. Das Individuum ist anzusprechen, das bereit ist Intention/Intellekt zu entwickeln. Eine Quantifizierung der Teilnahme durch großangelegte Entwürfe und Raster schadet dabei der Qualität. 3 z.B.: das Efe/Gelede-Fest der Yoruba hat keinen anderen Sinn, als Geschehnisse der ersten Wirklichkeit mit Hilfe der zweiten reversibel zu machen. Zu Beginn des Festes, das in der Nacht beginnt, wird der Platz durch bestimmte, jenseitige (innere) Kräfte verkörpernde Maskenträger gereinigt und auf die Ankunft der Wesen aus der anderen Welt vorbereitet. Es wird dabei angenommen, dass diese Wesen mit dem Wind kommen und am Ende des Festes mit dem Wind auch wieder gehen. Genauso wird aber davon ausgegangen, dass die realen Unbilden mit dem Wind gekommen sind und am Ende des Festes von den Wesen der anderen Welt mit dem Wind hinfortgenommen werden. Das Ganze ist profanerer Natur als man zunächst denkt: Der 'Wind' bringt Veränderungen ins Land, die verstanden werden müssen, damit mit ihnen umgegangen, damit auf sie reagiert werden kann. Dies sind nicht nur Krankheiten, Mißernten usw., sondern auch die Einfuhr neuartiger Güter, Ideen, Kleidung, Techniken und Arbeitsweisen. Nach der das Fest eröffnenden Efe-Nacht tragen die Tänzer des nächsten Tages (Gelede) auf ihren stereotypen, das Gesicht bedeckenden, Maskenunterteilen Aufbauten, die in symbolischer oder realistischer Manier das Fremde und Neuartige darstellen (so können dort neben traditionellen Motiven der Polizist, die Nähmaschine, der weiße Händler, das Auto, der Heimcomputer etc. auftauchen). Diese Form der Auseinandersetzung ist auf Reversibilität angelegt, die durch den Wind symbolisiert wird. Das Skulpturelle dient der Anschauung, ist aber nicht Mittelpunkt. Der Tanz ist dabei analog dem Wind. Es ist diese hohe Flexibilität, die das Überleben des Sozialen bei gleichzeitiger Transformabliität sichert. AlienneLaval
  • 24. "Ob und wie es möglich wird, kulturelle Repressionen bloß dadurch, dass man sie den Regressionen provokatorisch konfrontiert, rückgängig zu machen, ist keine leichte Frage. Die konkrete Utopie sinnlicher und geistiger Freiheit kann für den Künstler in der unfreien Gesellschaft nur wie in einem Zerrspiegel erscheinen: eben in der häßlichen, negativen Gestalt von Neurosen, Perversionen, von Unfreiheit und Versagung, von Unrecht und Gewalt, die Gegenstand von Konsensaufkündigungen sind." (Gorsen :236f) Kultur meint eben keine reine Ästhetik, keine 'reine Schönheit ohne Wert' (Bataille), sondern ein existentielles Tun, das auf Veränderung ausgerichtet ist. Das Individuum muß hierbei zunächst einen kritischen Zustand durchlaufen, der es außerhalb des Normativen stellt, ihm die 'Kunst' vermittelt, den Sinn von Regeln zu hinterfragen. (s.a. Uchtmann 1991) Selbst eine effektive Gruppendynamik ist auf Individuen, Kritik und Widerspruch, nicht aber auf Allgemeinheit angewiesen; das gemeinsame, soziale Werkeln darf nicht im Vordergrund stehen, nicht zum Inhalt werden. Eine solche Kulturpädagogik setzt bei Betreibern und Teilnehmern die Bereitschaft voraus, grundsätzliche kognitive und damit auch soziale Veränderungen in Kauf zu nehmen. Ein solches Unterfangen wird zwangsläufig den Charakter eines Experiments haben müssen. Experiment bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, von außen steuernd in den Prozeß einzugreifen, sondern gemeinsam zu lernen und zu erfahren, dass existentielle Realitäten gleichzeitig experimentelle Realitäten sind, denn: ohne den Zeichengebrauch auf den tertiären Codes ist das psychische Überleben nicht gesichert. Wer war Jesus? Zur Kultursemiotik eines religiösen Phänomens Die Kultursemiotik ist die Wissenschaft, die sich mit den von den Menschen in der Entwicklung der Kulturen erfundenen Zeichenprozessen - den Semiosen - und Zeichenräumen - den Semiosphären - beschäftigt. Die semiotischen Wurzeln der Kultur finden sich in den Träumen und Spielen, die man bei allen höheren Säugetieren nachweisen kann. Spätestens mit dem Auftauchen der Kultur als originär menschlichem Phänomen kommen psychische Devianzen, Drogengebrauch, Askese, Ekstase und symbolschaffende Aktivitäten, also zeichenhafte Handlungsoperationen, hinzu. Dieses Auftreten des Menschen als Kulturwesen übersteigt die Anforderungen, die eine Organisation des bloß Lebensnotwendigen an das Mensch-Sein stellt. Die ursprüngliche Kultur war die Gesellschaftsformation der Wildbeuter, jener frühen, nur zeitweilig seßhaften Menschengruppen, die vom Jagen und Sammeln lebten. AlienneLaval
  • 25. Die Forschung geht heute davon aus, dass sich hier Schamanen herausbildeten. Die Schamanen machten die Wanderbewegungen ihrer Gruppen nicht nur mit, sondern sie begaben sich darüber hinaus auch auf die Seelenwanderung. Im Zustand der Trance konnten sie so an weit entfernte Orte reisen, die Zukunft erkunden, sich in Himmel und Unterwelt begeben und auch in das Meer hinabtauchen. Die Doppelexistenz, die eigentlich jeder Mensch führt - indem er gleichzeitig Teil der Natur und Teil der Kultur ist -, wird erst mit der zwillingshaften Wahrnehmungsweise der Schamanen offenbar. Der Schamane kann von seinen in der Trance gewonnenen Einsichten ausgehend aber auch gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, Asymmetrien und Hierarchien erkennen, kritisieren und versuchen, Veränderungen durchzusetzen. Dem Schamanen ist dabei klar, dass Welt und Mensch nicht statisch auf bestimmte Formen festgelegt, sondern veränderlich sind. Auch dann, wenn Nahrung gesammelt, gejagt, zerlegt, geteilt, gegessen, verdaut und ausgeschieden oder ein verfallendes Lebewesen bei der Auflösung beobachtet wird, wird eine Metamorphose offenbar, die auch vice versa, als Entfaltung, als Umkehrung - Inversion - des Zerfallsprozesses, denkbar sein müßte. Das Geschehen des Verfalls, der Zerstückelung, wird zur synthetischen Leistung invertiert, die das Zerlegte vor dem Hintergrund einer besonderen Situation in einem Mythos vereinigt und somit den Verfall aufhebt und zumindest partiell - in einer Semiose - umkehrt. Mit dieser Inversion haben wir den kulturgenerierenden Übergang von den rein zergliedernden und zerlegenden Leistungen und Verfahren zur allein synthetisch begründbaren Dimension der Kultur vorliegen. Diese Wahrnehmungsweise wurde als mit den Naturkräften in Verbindung stehend gedacht. Schamanische Fähigkeiten wurden in den Mythen häufig dadurch dargestellt, dass man ihre Erlebnisse als die Abenteuer von Zwillingspaaren tradierte. Claude Lévi-Strauss schreibt, dass Zwillinge neben anderen Gaben über "...die Fähigkeiten verfügten, Kranke zu heilen, günstige Winde zu wecken und über Regen und Wind zu gebieten..." Der eine Zwilling wird in den Mythen häufig als häuslich und sozial gedacht und mit gekochten Nahrungsmitteln ernährt, während der andere in der Wildnis lebt, der Natur nahe ist, sich von rohen Beeren, Bohnen und ähnlichem ernährt und von den Tieren aufgezogen wird. Der wilde Zwilling ist schelmischer und intelligenter als der häusliche und verführt diesen dazu, das eingefriedete Terrain zu verlassen. Nach einigem Hin und Her - unter anderem erlernen die Zwillinge die Kunst, sich gegenseitig AlienneLaval
  • 26. wieder zum Leben zu erwecken - beginnen sie gemeinsame Sache zu machen und begründen neue Verfahrensweisen im Umgang mit den Menschen und den Phänomenen der Welt. Der Religionshistoriker Mircea Eliade gesteht dem Schamanen die Fähigkeiten zu, "...im Dunkeln zu sehen,...mit geschlossenen Augen Finsternisse zu durchschauen und künftige Dinge und Ereignisse, die den anderen Menschen verborgen sind, wahrzunehmen; so kann (...) (der Schamane) ebenso die Zukunft erkennen wie die Geheimnisse der Mitmenschen." Zu dieser Einsichtsfähigkeit und dem vorausschauenden, schlußfolgernden Denken und Handeln gelangt der Schamane, indem er eine Initiation durchläuft, wobei er seine imaginäre Zerstückelung, sein Sterben, die Auferstehung, die Himmelsreise und eine magische Neugestaltung seines Körpers erlebt. Der Ethnologe Joachim Sterly behauptet, dass der Schamane die Gewißheit des Todes als eigenste äußerste Seinsmöglichkeit erfährt, deren verstehende Übernahme in das eigene Dasein die Wurzel des Selbst- und Weltverständnisses der Schamenenexistenz bildet. Das Phänomen der Geisterwelt zeigt sich ihm nicht als ein vorhandenes Jenseits, sondern eher als eine Welt gewesener, zum Dasein gehörender Möglichkeiten. Mit den Geistern kann der Schamane nur verkehren, wenn er - vorlaufend in den Tod - die Freiheit und Macht erlangt, alle vorher gewesenen Möglichkeiten eigens zu erschließen. Für den Kultursemiotiker Ivan Bystrina werden die 'Todesbewußtheit' und damit in ihrer Folge die 'Selbstbewußtheit' zu den die Kultur und damit das Menschsein konstituierenden Faktoren schlechthin. Was bei der Initiation tatsächlich stirbt, ist demnach die alte Weltauffassung des Schamanen, die allein durch sein in Erziehung, Sozialisation und Anpassung geformtes 'Ich' bestimmt war. Forschende und kreative Zugänge zur Welt, wie wir sie noch heute in den Künsten und Wissenschaften finden, haben ihren Ursprung in dem komplexen Zusammenspiel der Zwillinge, das der der Linearität des sozialen Schicksals entgegengesetzt wird. Nach Sigmund Freud soll es daher zwei Formen von Sublimierung geben, die das Wesen eines Menschen verfeinern können, wobei eine das Werk der Erziehung ist und eine andere, 'niedere Form', die selbständig entsteht und deren Beginn in die sexuelle Latenzperiode der Kindheit zu verlegen ist. Im günstigsten Fall bleibt diese Form das ganze Leben hindurch erhalten. Diese niedere Form ist es, die nicht in den Bereich des Sozialen paßt, da sie vom Sozialen aus gesehen zufällig entsteht und nicht kontrollierbar ist. Da diese AlienneLaval
  • 27. Form der Sublimierung aber auch nicht in die Natur gehört, obwohl sie eine wilde Form ist, gilt sie als gefährlich, aber auch als heilig. Die Freuden am Schaffen, die Künstler und Forscher empfinden, sagt Sigmund Freud in seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur, erscheinen uns feiner und höher, da sie diese besondere Qualität haben. Die Initiation, in der der Schamane lernt, seinen wilden Aspekt oder Zwilling mit dem sozialen Aspekt oder Zwilling zusammen zu bringen, vollzieht sich in drei Schritten, deren erster die Trennung vom Sozialen, die Separation, bedeutet. Auf diesen folgt eine Zeit der Absonderung, der Marginalität, die der Initiand alleine in der Wildnis verbringt. Der letzte Schritt, der auch die Initiation öffentlich macht, ist das Auftreten in der neuen Rolle, die Aggregation. Im Falle des Jesus von Nazaret waren dies die Taufe durch Johannes im Jordan, sein Wüstenaufenthalt und die Aufnahme seiner Tätigkeit als Wanderprediger Nach der Darstellung des zeitgenössischen Historikers Josephus verstand Johannes die Taufe nicht als magischen Ritus. Für ihn hatte die Taufe nichts mit der Vergebung der Sünden zu tun, sondern war physisches Symbol einer bereits hergestellten Realität, auf deren Einbruch man nur zu warten brauchte. Diese Realität war für Johannes das Kommen des von den Propheten angekündigten wahren Messias im Verbund mit einem rächenden, apokalyptischen Gott. Die Taufe des Johannes bereitete die Getauften passiv auf das apokalyptisch erwartete und herbeigesehnte Reich Gottes vor, war also kein Initiationsgeschehen. Es befreite die Getauften nicht von ihrem Unwissen, sondern beließ sie in einer passiven Abhängigkeit, wobei hier allerdings die Abhängigkeit von den römischen Besatzern auf das kommende himmlische Reich übertragen wurde. Jesus, der aber als Handelnder auftreten und aktiv in das Geschehen eingreifen wollte, stand gegen die Apokalyptik des Johannes. Im Gegensatz zu ihm, der mit Wasser taufte, wurde die Taufe durch Jesus mit dem Feuer in Verbindung gebracht. Bei dem Taufgeschehen zeigte sich der Geist, der aus dem Himmel kommt, als Taube. In einem Mythos der siberischen Burjaten war es der Adler, der ausgeschickt wurde, um dem ersten Menschen, dem er begegnete, egal welchen Geschlechts, Lebenskraft und Allweisheit zu übermitteln. In diesem Mythos war es eine Frau, der der Adler begegnete und die damit zur ersten Schamanin wurde. Der Adler spielt in vielen Kulturen des nordasiatischen Raumes und Nordamerikas die Rolle des Kulturbringers. Außerdem ist er Beschützer und Leitwesen der in Trance reisenden Schamanen. AlienneLaval
  • 28. Der Adler gilt aber auch als Symbol Christi und es gibt die Vorstellung vom Kampf des Adlers mit der Schlange, als Symbol des Kampfes Christus mit dem Satan, des Lichtes mit der Finsternis. Der Kulturphilosoph Jean Baudrillard hat treffend zusammengefasst, was Jesus in der Wüste durchlebte oder - was ganz allgemein - ein Asket in seiner Abgeschiedenheit eigentlich treibt. Der Initiand, der selber noch nicht frei ist von den gesellschaftlichen und symbolischen Zwängen, versucht dabei, das herrschende Äquivalenzsystem der jenseitigen und diesseitigen Bedrohungen, Strafen und Belohnungen samt seiner Machtverteilung und den geltenden Gottheiten außer Kraft zu setzen. Erst dann kann der Initiierte als Individuum und damit störend in dem auf Ausgleich angelegten Getriebe des Systems wirken. Baudrillard schreibt: "So fordert der Asket, der sich abtötet, Gott heraus, ihm stets das Äquivalent zu geben. Gott tut, was er kann, um es ihm 'hundertfach' zurückzuerstatten, in der Form des Prestiges, der spirituellen Macht und gar der weltlichen Herrschaft. Aber der geheime Traum des Asketen ist der, an einen solchen Punkt der Abtötung zu gelangen, dass sogar Gott die Herausforderung nicht mehr annehmen und seine Schuld tilgen kann. Er wird dann über Gott selbst triumphiert haben, und er wird Gott sein. Deshalb ist der Asket nie weit von der Häresie und dem Sakrileg entfernt und wird als solcher von der Kirche verdammt, die nur dazu da ist, Gott vor diesem symbolischen 'Auge in Auge' zu bewahren, vor dieser tödlichen Herausforderung, in der Gott genötigt wird, zu sterben, sich zu opfern, um die Herausforderung des Sichabtötenden anzunehmen. Zu allen Zeiten wird die Kirche die Aufgabe gehabt haben, diese Art einer (zuerst für sie) katastrophischen Konfrontation zu vermeiden und durch einen geregelten Austausch von Bußen und Belohnungen zu ersetzen, durch ein Äquivalentensystem zwischen Gott und den Menschen, das sie selbst verwalten würde." Baudrillard ist hier misszuverstehen, denn der Asket fordert immer die jeweils herrschende Gottheit, also den Zeitgeist heraus. An anderer Stelle wird deutlicher, was er meint: "Alle Institutionen, alle gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und psychologischen Vermittlungsinstanzen sind nur dazu da, dass nie jemand mehr Geglegenheit bekommt zu dieser symbolischen Herausforderung zum Tode, dieser irreversiblen Gabe, die wie die absolute Selbstabtötung des Asketen über jede Macht triumphieren läßt, wie stark ihr Einfluß auch AlienneLaval
  • 29. wäre. Diese direkte Konfrontation darf niemals...stattfinden. Alles muß ausgehandelt werden." Aus der vor der Initiation unkontrollierten und von außen beeinflußten oder gelenkten Dissoziiertheit, einer Art geistiger Apartheid der zwillingshaften Komponenten, wird in der Initiation die bewußte Bisoziation oder Zusammenschau dieser beiden, vorher getrennten Kontexte. Den Begriff der Bisoziation leitete der Kulturphilosoph Arthur Koestler von dem psychologischen Ausdruck der Assoziation ab, der ihm als zu linear erschien, um das Komplexe des menschlichen Seins zu erfassen. Diese Fertigkeit dient vornehmlich nicht der Einübung von Anpassungen, sondern sie gestattet die Entdeckung und Einführung neuer Praktiken im Umgang mit dem Sozialen und der Umwelt. Um die Zeit von Jesus' Geburt hatte es bereits eine Reihe von Bauernaufständen gegen die römischen Besatzer gegeben. Die Bauern wehrten sich gegen die hohen Steuern und die Schuldknechtschaft, die sie in zunehmende Armut und schließlich zum Verlust ihres Ackerlandes führte. Drei Viertel der Einwohner der Stadt Rom waren Sklaven oder Nachkommen von Sklaven. Nach römischem Recht waren diese Menschen Sachen, die weder das Recht zur Eheschließung, noch das Recht hatten, vor Gericht zu klagen. Das Dorf Nazaret, in dem Jesus aufwuchs, lag an einer der verkehrsreichsten Handelsstraßen Palästinas, sieben Kilometer von der römischen Provinzhauptstadt Sepphoris (Sefforis) entfernt. Sepphoris - mit seinen 30 000 Einwohnern - eine Großstadt, war Gerichtssitz, hatte ein Theater mit 4000 Sitzplätzen, Paläste, Märkte, Archive, eine königliche Bank, ein Zeughaus. Das Weltbild der Bevölkerung Palästinas im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war aber nicht nur von solchen Faktoren geprägt. Der Religionswissenschaftler Morton Smith schreibt: "Über der Erde gab es Himmel, bewohnt von Dämonen, Engeln und Göttern verschiedener Art (die 'vielen Götter', deren Existenz Paulus in 1.Kor.8.5 einräumte und zu denen er den 'Gott dieses Zeitalters' rechnete 2.Kor.4.4). Im höchsten Himmel thronte der oberste Gott, Jahwe, 'Gott' par excellence, der lange zuvor den ganzen Kosmos erschaffen hatte und der im Begriff war, ihn umzuformen oder zu zerstören und zu ersetzen. Unter der Erde existierte eine Unterwelt, zu welcher die meisten der Toten hinabstiegen. Auch dort gab es Dämonen. Zwischen Unterwelt, Erde und Himmel herrschte ein ständiges Kommen und Gehen übernatürlicher Wesen, die sich auf vielerlei Weise in menschliche Angelegenheiten AlienneLaval
  • 30. einmischten. Krankheit, vornehmlich Wahnsinn, Seuchen, Hungersnöte, Erdbeben, Kriege und Katastrophen aller Art hielt man allgemein für das Werk von Dämonen. Wie mit üblen Menschen, besonders mit ausländischen Unterdrückern, lebbten die Bauern Palästinas mit diesen Dämonen in ständiger Feindschaft und gelegentlichem Konflikt, doch die Beziehungen waren komplex. Wie die römische Regierung ihre jüdischen Agenten hatte, von denen einige, vornehmlich die Herodes, lokale Herrscher waren, so hatten die Dämonen ihre menschlichen Agenten, die Wunder verrichten und dadurch viele irreführen konnten. Die niedrigeren Götter waren die Herrscher dieses Zeitalters, und Menschen, die sich darauf verstanden, sie anzurufen, konnten ihre Hilfe für Zwecke aller Art erlangen. So etwa Frauen, deren Gunst sie dadurch belohnt hatten, dass sie ihnen Magie und andere Künste des höheren Lebens beibrachten. Andererseits war oftmals Jahwe, wie die Dämonen, die Ursache von Katastrophen, Krankheiten und dergleichen, die er als Strafen herabschickte. Zuweilen setzte er Engel, zuweilen Dämonen als Agenten seines Zornes ein, und seine menschlichen Agenten, die Propheten, konnten ebenso Schaden zufügen, wie sie helfen konnten. Die meisten Juden waren überzeugt, dass er zuletzt die Welt vernichten oder die gegenwärtige Welt umformen und eine neue Ordnung schaffen werde, in der die Juden oder zumindest diejenigen, die sein Gesetz befolgt hatten, ein besseres Leben hätten. Allerdings herrschte tiefe Uneinigkeit über den Gang der Ereignisse und über die Akteure in der kommenden Katastrophe; eine reichliche Anzahl widersprüchlicher Programme war in Umlauf: mit verschiedenen Rollen für einen oder mehrere 'Messiasse' - Sondervertreter Jahwes -, Antimessiasse und verschiedenartige mythologische Ungeheuer. Wir dürfen vermuten, dass nahezu alle palästinensischen Juden der Zeit Jesu von sich annahmen, sie seien in das mythologische kosmische Drama verwickelt." Jesus wuchs auf in diesem Spannungsfeld zwischen den Herrschenden in den Metropolen, die die Symmetrie und damit Macht und Recht für sich reklamierten und den Beherrschten, die ausgeschlossen von der Teilhabe waren. Nach der Ansicht Morton Smith' hatte Jesus schon früh soziale Schwierigkeiten und zeigte Verhaltensauffälligkeiten. Während die Kunst der Stadtzivilisationen immer weiter zum Statischen, Soliden und Symmetrischen tendierte, zeigte das politische, soziale, mythologische und kosmische Drama Züge, die immer asymmetrischer wurden. Diese Entwicklung deutete sich früh in der Kulturgeschichte mit der Gründung fester Siedlungsplätze und Dörfer an, die häufig in eine untere und eine obere Hälfte unterteilt waren. Die obere Hälfte wurde dann mit den herrschaftlichen AlienneLaval
  • 31. Elementen Himmel und Feuer in Verbindung gesehen, die untere mit den Elementen Erde und Wasser, die auf körperliche Arbeiten, wie Ackerbau und Fischfang, hinwiesen. Bis in die gesellschaftlichen Vorstellungen des dritten Reiches, in der Vernichtung der Juden, Andersdenkender- und empfindender und in den architektonischen Utopien Hitlers, die in dem monumentalen Entwurf eines neuen Berlin, das dann Germania heißen sollte, gipfelten, findet sich diese Aufteilung wieder. Der Religionswissenschaftler John Dominic Crossan hat das Palästina vor und zu der Zeit Jesu als Reich der Mittler beschrieben. Die Mittler waren Anwälte, Günstlinge der Mächtigen, Personen mit gesellschaftlichem oder wirtschaftlichem Ansehen. Die Bevölkerung des römischen Reiches - das galt auch für Palästina - ließ sich in zwei Hauptklassen einteilen: die Ehrwürdigen und die Demütigen. Während die obere Klasse der Herrschenden und Besitzenden sehr klein war, war die untere Klasse der Beherrschten und Besitzlosen außerordentlich groß und wuchs durch die zunehmende Verarmung noch weiter an. Ein direkter Kontakt zwischen beiden Klassen war nicht möglich, sondern mußte von einem Dritten vermittelt werden. Dieses Patronats- und Klientenwesen wirkte aber nicht nur in der Sphäre der sozialen Beziehungen und der politischen Organisation. Auch Himmel, Erde, Unterwelt und ihre Verpflechtungen und Übergänge waren in dieser Weise organisiert. Jeder, der in dieses System eingebunden war, von den Reichen bis hin zu den Armen und Sklaven war auf das symmetrisierende Zentrum bezogen. Freiheit konnte daher theoretisch nur erlangt werden in der bewußten Abkehr und Abwendung von den Verflechtungen, Beziehungen und gesellschaftlichen Hierarchien. Es war das Versagen der realen Vermittler , welches in der Bevölkerung Palästinas ein Vakuum erzeugte, das virtuelle Vermittler, Orakeldeuter, Bezeichner und Interpreten wie Zauberpriester, Wahrsager, Propheten, Apokalyptiker und Messiasse füllen konnten. Diese virtuellen Vermittler nutzten die Gegebenheiten aus und waren in der Regel nicht an der Freiheit ihrer Klienten interessiert. Stattdessen erzeugten sie neue Abhängigkeiten. Jesus hingegen - und das war wohl das Neue - ging es zunächst um die Vermittlung von Würde. AlienneLaval
  • 32. Der entscheidende Widerspruch, den Jesus und seine Anhänger den römischen Zentralisierungs- und Symmetrisierungsbestrebungen entgegensetzten, bestand in ihrer geographischen und demographischen Beweglichkeit. Das entstehende Christentum reagierte auf die Statik mit einer Hirtenmetaphorik, die der früheren bewegungsgebundenen Lebensform der Hirtennomaden wieder näherkam und der jüdischen Religion entlehnt war. Hierdurch kommt der Faktor der Narration - der Erzählung - der für kulturelle Entwicklung besonders wichtig ist, wiederum zum Tragen. Gehen und Schaffen, Wandern und Erzählen sind Formen, die Gemeinsamkeiten haben. Beide finden in der Zeit statt. Im Verlauf der Zeit verändern sich die Landschaften und Geschichten entwickeln sich. Ernst Bloch hat einmal von der Reiseform des Wissens und vom Prozeßcharakter der Materie gesprochen. Auch die Bundeslade, die die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten enthielt und den mosaischen Bund mit Gott repräsentierte, war tragbar. Sie wurde bei der Migration mitgeführt und bei Bedarf in einem speziellen Zelt aufgestellt. Diese 'Reiseform' wird mit der Gründung fester Siedlungen und der Verstädterung einerseits zu einem Moment der Ausgegrenzten und der bis in die Besitzlosigkeit verarmten Unterschichten, andererseits aber auch zum Modus des Wissens und damit der Flexibilität, den sich die in den Städten Herrschenden bewahren, während sie sich hinter den Monumentalbauten verschanzt halten. Die Beweglichkeit der Ausgegrenzten ist aber nur geduldet, so lange sie sich von oben bewegen lassen. Auch die Arbeitsmigration, die im Palästina der römischen Zeit üblich war, gehört zu den erwünschten oder geduldeten Bewegungen. Irregulär und tabuisiert ist die Beweglichkeit dann, wenn die Menschen beginnen, sich selbständig zu bewegen und eine neue Ausdifferenzierung der Gesellschaft fordern. Damit maßen sie sich Wissen an, das ihnen nicht gestattet ist. Aber auch in den großen Religionen - der jüdischen, christlichen, islamischen, zoroastrischen und buddhistischen - die unter seßhaften Völkern gepredigt wurden, die von wandernden Gruppen abstammten und später Hirten-Nomaden waren, blieb dieses Gedankengut erhalten. Ihr Zeremoniell ist immer noch reich an Hirtenmetaphern, ihre Prozessionen und Pilgerreisen sind Nachahmungen von Hirtenwanderungen. Der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin sagte über die nomadischen Kunst, dass sie dazu tendiere, tragbar, asymmetrisch, dissonant, rastlos, entkörperlicht und intuitiv zu sein. Die nomadische Kunst oder nomadisierende, oral vermittelte Texte offenbaren dadurch ein dynamisches Potential, das eine Sprengkraft entwickelt, die auch den Metropolen gefährlich werden kann. AlienneLaval
  • 33. Was Jesus und seine Anhänger machten, kann daher als ein Rückgriff in kulturevolutionär ältere Schichten gesehen werden. Sie bedienten sich archaischer Verfahrensweisen, da nur diese Regression imstande schien, den römischen Staatsapparat auszuhebeln und zu entregeln. Hierbei hatten sie kein Interesse daran, den Machtapparat zu übernehmen. Sie wollten lediglich den Geist aus ihm herausziehen, ihn dazu zwingen, den Geist aufzugeben, um ihn auf diese Weise subversiv auszuhöhlen. Das Leben des wandernden Predigers nahm das Motiv der schamanischen Seelenreisen wieder auf, und die bewegungsgebundene Lebensweise reaktivierte die alte, nomadische, zur Metaphorik gewordene, Weltsicht als selbstbesimmte Lebensmöglichkeit. Hinzu kam eine Wertumkehr, in der er die herrschende Wertehierarchie vollkommen auf den Kopf gestellt und invertiert wurde. Das Verbot von Eheschließungen, das für Sklaven galt, wurde von Jesus als positiv gesetzt. Familienbindungen, die Sklaven sowieso nicht hatten, wurden von ihm als unsinnig erklärt. Die Revolte für das Leben, für welche die frühen Christen Folter und Tod in Kauf nahmen, ist ein jenseitiger Akt, der von Mächten, die außerhalb der Verwaltung stehen, legitimiert wird. Jesus von Nazaret war zu Lebzeiten jenseitig orientiert und konnte erst durch seine Kreuzuigung diesseitig und bildhaft festgesetzt werden. Als nun seßhafter Vermittler sitzt er zur Rechten Gottes, da das, was er einst tat, niemals wieder stattfinden darf. Aber sein anderer Aspekt ersteht mit jedem Menschen wieder auf, der sich gegen Ungerechtigkeiten stemmt, die Gegebenheiten nicht einfach fraglos hinnimmt und sich neugierig und forschend auf das Angebot des wilden Zwillings einläßt. Gerade in individuellen oder kollektiven Krisenzeiten werden die archaischen Verfahren reaktiviert, um Freiheiten wiederzuerlangen, die vorher genommen waren. Eine ausweglose Situation kann so umgangen werden, die Eingleisigkeit des vorherbestimmten Schicksals beseitigt werden. Das schamanische Erleben, das einer statisch und unflexibel gewordenen Ordnung entgegengesetzt wird, die die Menschen an der Entfaltung ihrer Möglichkeiten hindert, wird zeitgemäß bleiben, so lange der dynamische, wilde Aspekt des Menschseins als unerwünscht gilt. Statische Systeme entwickeln sich nicht, haben keine Evolution. Das Dynamische ist unausrottbar, da es eine kardinale Eigenschaft des Lebens ist, die immer wieder auf das Statische einwirken und versuchen wird, es zu verändern. AlienneLaval
  • 34. Wenn diese Einwirkung - sei es nun durch sozialen Druck, mediale Beeinflussung oder Unterdrückung von oben - nicht zugelassen wird, wird sich die Dynamik immer wieder revolutionär entladen. Vision, Prophezeiung und Prognose Von der Utopie zur Zukunft Was das Unerschlossene - wir Modernen sagen: die Zukunft - bringen mag, darüber haben sich die Menschen schon zu allen Zeiten Gedanken gemacht. Dieser Bereich muß sich aber nicht grundsätzlich vor uns in der Zeit, im Morgen oder Übermorgen befinden, es kann sich auch um ein glorifiziertes Gestern, eine goldene Zeit, handeln. Er kann aber auch als weit entfernter Ort im Raum gelegen sein, der nur durch mühselige Reisen und Fahrten zu erreichen ist. Für den Helden Gilgamesch des gleichnamigen sumerisch-babylonischen Epos, dessen älteste Spuren bis in das Jahr 2000 vor unserer Zeitrechnung zurückreichen, lag dieser Ort weit zurück in der Vergangenheit, im Zeitalter der unsterblichen Götter. Gilgamesch hoffte, an diesem Ort Unsterblichkeit für sich und seinen verstorbenen Freund Enkidu zu erlangen, dessen Tod ihn mit Schmerz und Trauer erfüllte. AlienneLaval
  • 35. Enkidu war der wilde, unberechenbare und behaarte Mensch, der noch in Eintracht mit dem Göttlichen in den Wäldern lebte und von der Endlichkeit des Lebens nicht viel wußte. Das Zeitalter dieser Menschen ging mit der Gründung der ersten Stadtzivilisationen im Zweistromland und dem massiven Aufschwung von Ackerbau und Technik zu Ende. Diese Städte waren von Mauern umgeben, die sie wie Inseln vom Umland abgrenzten. Der Preis für diese Änderung des Lebensstils war aber auch die Erkenntnis der Begrenztheit des 'Ich' und damit der eigenen Sterblichkeit. Gilgamesch war ein Mensch dieses neuen Typs und sich deshalb des Todes seines Freundes und der Möglichkeit des eigenen Todes bewußt. Das aufkommende Selbstbewußtsein aber stellte sich mit Gilgamesch gegen das Todesbewußtsein und verlangte das ewige Leben zurück. Hilfe versprach er sich von dem Sintfluthelden Utnapischtim. Utnapishtim entspricht dem Noah der Bibel und hat, ebenso wie dieser, eine Arche gebaut, um die Sintflut zu überleben, als die Mehrzahl der Götter beschlossen hatte, das Menschengeschlecht zu vernichten. Doch ein neuer Himmel tat sich auf, eine neue Welt war im Begriff sich zu bilden und mit ihr kamen neue Götter, denn einige Götter hielten sich nicht an diesen Beschluß und warnten Utnapishtim: "Reiß ab das Haus, erbau ein Schiff, Laß fahren Reichtum, dem Leben jag nach! Besitz gib auf, der Seele erhalt das Leben! Heb hinein allerlei beseelten Samen ins Schiff!" Die Arche, die Utnapishtim baute, war aber kein gewöhnliches Schiff: sie war ein perfekter Würfel mit sieben Ebenen. Der Würfel ist die Arche - also der Ursprung - eines neuen Zeitalters, das unter dem Primat der Berechnung steht und zunächst die Architektur, den Städtebau, die Landvermessung, die Grenzziehung und stehende Heere hervorgebracht hat. Auch unsere Gegenwart steht unter dem Zeichen des Würfels, denn auch die Mathematik und die Technik haben hier ihren Ursprung. Für diese Tat verliehen die Götter Utnapischtim das ewige Leben. Eine weit im Osten gelegene Insel gaben sie ihm und seiner Frau zum Wohnsitz. Um dorthin zu gelangen, mußte Gilgamesch die Wasser der Sintflut, die gleichzeitig die Wasser des Todes sind, durchqueren. Als er angekommen war, gab Utnapishtim Gilgamesch die Empfehlung, sich mit der neuen Zeit zu arrangieren und zum Leben zurückzukehren. Im Gilgamesch-Epos heißt es: "Utnapischtim sprach zu ihm, zu Gilgamesch: 'Warum, Gilgamesch, vermehrst du die Klage, Der du aus Fleisch der Götter und Menschen AlienneLaval
  • 36. herrlich gestaltet bist?'" Utnapischtim erläuterte Gilgamesch, dass er gleichermaßen aus göttlichen und menschlichen Anteilen gemacht sei, dass er genauso physisch wie psychisch existiere. Keinen der beiden Aspekte dürfe er vernachlässigen, da er sonst sein Leben einbüße. Der Geschichtsphilosoph Giambattista Vico, der am Übergang des 17. zum 18. Jahrhundert in Italien lebte, hat versucht den Verlauf der Geschichte anhand derartiger Mythen zu systematisieren und zu bestimmen. Vico nahm die alte, ägyptische Vorstellung von den drei aufeinanderfolgenden Zeitaltern auf - dem der Götter, dem der Helden und dem der Menschen - und erweiterte sie um ein viertes Zeitalter, das des Chaos, in dem wir uns auch heute wieder befinden. Mit der Entwicklung vom göttlichen Zeitalter zu dem des Chaos geht nach Vico ein Verlust der Sprache einher, die sich von der hieroglyphischen oder heiligen Sprache über die symbolische oder figurative Sprache bis hin zur vulgären Sprache verändert, die nur noch Zeichen benutzt, um die alltäglichen Bedürfnisse des Lebens mitzuteilen. Nach Vicos Ansicht werden sich die Verwirrungen des chaotischen Zeitalters, das unter dem Merkmal der Spirale steht, erst in einem neuen Zeitalter der Götter auflösen. Dieses wird als Kennzeichen die Gerade haben, also die Richtungslosigkeit aufheben. Vico begreift die geschichtliche Entwicklung als ein System, das er durch die Wirkungsweise des Menschen zu begründen versucht, dessen Leben als zwischen zwei Polen - Materie und Geist - aufgespannt erscheint. Die Menschwerdung wird Vico zu einem Abstieg in die Materie, der nur in einer Entmenschlichung - also im Chaos - enden kann. Auf die größtmögliche Annäherung an die Materie im Zeitalter des Chaos muß nach der Auffassung Vicos aber der Wiederaufstieg des Geistes im Zeitalter der Götter folgen. Diese Mythen und ihre Interpretationen thematisieren die Angst des Menschen vor dem Verlust der Seele und ihrer möglichen Auflösung in der Materie. Jeder Art von Prophezeiung, vom Johannes der biblischen Offenbarung über Nostradamus bis hin zu Karl Marx, liegt ein derartiges oder ähnliches System der Seelenrettung zugrunde, in das die Wahrnehmungen eingeordnet und in dem sie bewertet werden, denn das Unerschlossene selbst ist für den Menschen unaushaltbar. Der Mensch hat daher immer gehofft, dass dort irgendwo in der Ferne ein Ort sein müsse, der die Widersprüche und Ungerechtigkeiten, die ihm das Leben schon so beschert - vor allem aber den Fluch des Geboren-Seins und die mit AlienneLaval
  • 37. ihm verbundenen Verwicklungen und Komplexe bis hin zum unabwendbaren Sterben -, außer Kraft setzen müsse. Früher gehörte der Umgang mit Leben und Tod in den Bereich der Religion; inzwischen hat sich aber die Wissenschafts-Technik dieser Thematik bemächtigt. Ein wirkungsmächtiger Umgang mit dem Bereich des Unerschlossenen war daher oft ergriffenen und entschlossenen Personen oder religiösen Spezialisten vorbehalten. Von den schamanischen Visionären und den Propheten der Religionen bis hin zu den astrologischen Berechnungen und den modernen Prognosen der Zukunftsforscher läßt sich der Stammbaum der Zukunftsdeuter rekonstruieren. Die Entwicklung von der Vision zur Prognose ist aber verbunden mit einer anderen, nämlich der von der Utopie zur Zukunft, die sich mit der würfelförmigen Arche des Utnapischtim bereits andeutet. Es sind dabei nicht nur alte Begriffe durch moderne ersetzt worden, sondern die neuen Begriffe beschreiben auch ganz andere Haltungen und Erwartungen als die alten. Die Utopie hat zu tun mit den Märchen, Mythen und den Hoffnungen, die sie seit grauer Vorzeit veranschaulichen. Sie ist in Visionen und Träumen entstanden und erlebt worden und hat die Entwicklung des Menschen lange begleitet. In der Regel machen die Helden der Märchen und Mythen lange Reisen, auf denen sie gegen Ungeheuer zu kämpfen und schwere Rätsel zu lösen haben. Diese Reisen finden aber mehr in einem inneren und geistigen Bereich statt als in der realen Außenwelt. Zu diesen Seelenreisen zählen die Fahrten des Gilgamesch und des Odyseeus, die zu den Grundlagen der abendländischen Kultur wurden. Das Epos, das von den Abenteuern des Gilgamesch handelt, beeinflußte die Entwicklung der Kunstform der Literatur bis in unsere Gegenwart. Homers Epos Die Odyssee zählt zu den Gründungsmythen der athenischen Demokratie. Während es sich bei den utopischen Seelenreisen um Visionen handelt, so systematisiert die Prophezeiung das Gesehene, fügt es zu Zyklen und versucht, es berechenbar zu machen und bildet den Übergang von der Vision zu den modernen Verfahren der Zukunftsbestimmung. Die Prognostik, die sich aus der naturwissenschaftlichen Methodik ableitet, wurde im Laufe der Zeit zunehmend auch auf Phänomene der sozialen und ökonomischen Entwicklung angewendet. Die Prognostik will empirisch arbeiten und kommt daher, im Gegensatz zur Vision oder Prophezeiung, ohne die Begriffe 'Geist' oder 'Seele' aus. AlienneLaval
  • 38. Entscheidend ist, dass beide Wahrnehmungsweisen - die visionäre und die prognostische - unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Seins entstammen. Während die erstere ihre Begründung in den Träumen und der Introspektion findet, läßt sich die letztere ableiten von dem Umgang der Menschen mit den Gegebenheiten der Umwelt. Der Mensch existiert demnach in zwei Wirklichkeitsbereichen. Das sind zum einen der Bereich des Alltagsbewußtseins und des Gebrauchsverhaltens - der das physische Überleben sichert - und zum anderen der Bereich des Kulturverhaltens, der das psychische und seelische Überleben garantiert. Die Gegensätzlichkeit dieser Wirklichkeitsbereiche - und das wußte schon Utnapischtim - macht den Effekt aus, den wir Realität nennen. Bei allem was wir tun, müssen wir also immer beide Wirklichkeitsbereiche mitberücksichtigen. Doch hierbei ergibt sich ein Problem, denn Vision und Prophezeiung haben, wie auch die Prognose, die Tendenz, diesen Effekt einseitig aufzuheben. Während Vision und Prophezeiung Utopien entwerfen, die letztendlich die physische Realität negieren und zur Verleugnung alles Körperlichen führen können, versucht die Prognose das Kulturelle und Psychische außer Kraft zu setzen, um die Zukunft in eine bestehende Gegenwart einzugemeinden. Beide Absichten führen in ihren extremen Ausprägungen zur Bildung von Ideologien, formulieren also Machtansprüche und gehen - im individuellen oder kollektiven Fall - der Realität verlustig. Wir vertrauen heute eher den Prognosen als den Visionen und Prophezeiungen, da wir an ein naturwissenschaftliches Weltbild gewöhnt sind. Unsere Zukunft erscheint uns als allein mit unserem Gebrauchsverhalten und Alltagsbewußtsein angehbar und machbar. Die Schlüssel zur Zukunft sind - so glauben wir - nüchterne Überlegung und Planung, die uns einen geregelten Übergang ermöglichen werden. Diese Planung ist nicht nur das Kennzeichen technologischer oder ökonomischer Ansätze, sondern auch von fortschrittlich-ökologischen Bemühungen, die zwar der klassischen Ökonomie entgegenstehen, sich aber dennoch von ihr ableiten und eine Gegenrechung aufmachen. Bislang ist es nicht gelungen, Seele oder Psyche im Labor zu isolieren, und das bedeutet, dass sie u-topisch - also nicht-örtlich - und keineswegs empirisch sind: sie zeigen sich uns nur in Form von Wirkungen. Die Wirkungen haben Textcharakter: hierzu gehören Märchen, Mythen, Kunstwerke, Literatur, Tanz, Theater, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwürfe, Religionen und Philosophien. Umgekehrt sind es diese Texte, die Menschen zur Seelenhaftigkeit anregen oder ihre Seelen beflügeln. AlienneLaval
  • 39. Die Ortlosigkeit der Seele wird in der empirischen und quantitativen Forschung durch ihre Nicht-Existenz begründet. In den einschlägigen Erklärungen wird die Seele zur Funktion und durch biologische und psycho-soziale Zusammenhänge ersetzt, die gestört oder ungestört ablaufen können. Die Entindividualisierung und der Seelenverlust, die sich im Geleit dieser Entwicklung ergeben, führen zu Verhaltensunsicherheit, Mißtrauen, Angst und zu einem Verlust charakterlicher Merkmale, der deshalb so unauffällig ist, da er heute fast alle Menschen betrifft. In der Regel ist nicht Kritikfähigkeit die Folge dieses Geschehens, sondern die Konkurrenz unter Gleichen und die gegenseitige Kontrolle des Lebensstils, der Einstellungen und des Verhaltens. Obwohl die Menschen unter dieser Art der Gestaltung des Lebens leiden, müssen die Selbstkritik und die Kritik von außen ausgeschaltet bleiben, damit sie ungestört an diesem Rausch teilhaben können. Da die Psyche eine Utopie ist, kann sie in diesen Systemen, die nichts anderes als ihre Unterdrückung und Austreibung im Schilde führen, auch nicht mehr auftauchen; ebenso ergeht es den Texten, in denen sie sich entäußert. Kulturelle Texte werden zunehmend abgelöst durch Bedienungsanleitungen und reine Gebrauchstexte, die an der sozialen Realität kleben und niemanden mehr dazu erheben, über den Tellerrand zu gucken. Das Tagesgeschehen und die Gespräche handeln hauptsächlich von der Organisation des Banalen. Die Verrichtungen, um die sich alles dreht, sind Essen, Trinken, Fernsehen, Bekleidung, Kinderaufzucht, Sport und Arbeit. Es gibt keinen Sinn mehr hinter diesen Funktionen; sie finden ihre Begründung nur noch in sich selbst. Ihr Ziel ist der reine Selbsterhalt dieser Tätigkeiten und ihre Vererbung von der einen Generation auf die nächste; es gibt keine Utopie mehr. Jede Leistung oder Handlung, die wir erbringen, bleibt jedoch auf die Utopie geworfen, wenn sie einen Sinn haben soll. Wie ein System beschaffen ist, das beiden Wirklichkeiten Rechnung trägt, kann am Beispiel des Kula-Ring-Tausches der Bewohner der melanesischen Trobriand-Inseln verdeutlicht werden. Das Kula war eine Form des symbolischen Tauschhandels zwischen den Bevölkerungen eines großen Gebietes, die einen weiten Ring von Inseln im Norden und Osten der Ostspitze Neuguineas und auch Dörfer am Ostkap Neuguineas bewohnten. Die Trobriander veranstalteten noch in diesem Jahrhundert alljährliche Seefahrten, bei denen werttragende Halsketten aus roten Muschelscheiben im Ring der Kula-Inseln in der einen Richtung fortgegeben wurden, um sie dann aus der anderen Richtung im Tausch gegen ebenso wertvolle Armreifen aus weißen Muscheln wieder zurückzubekommen. AlienneLaval
  • 40. Während die Muschelketten im Urzeigersinn im Ring der Inseln weitergegeben wurden, wanderten die Armreifen in entgegengesetzter Richtung, so dass jeder dieser Gegenstände auf seiner Reise in dem geschlossenen Kreislauf auf Gegenstände der anderen Art traf und ständig gegen diese getauscht wurde. Bei den Fahrten ging es aber in erster Linie nicht um den materiellen Wert der Gegenstände, die getauscht wurden. Ihr Wert war ideeller Natur, denn sie waren Ausdruck und Überbringer einer bestimmten Seelenhaftigkeit, die in Form von Geschichten, Mythen und Ritualen weitergegeben wurde. Es gibt Indizien dafür, dass die Kula-Unternehmungen die Kopfjagd abgelöst und in ihrer Funktion ersetzt haben. Mit den Kula-Unternehmungen wurde der Kopfjagd ein utopisches Bild des Mensch-Seins als alternatives Projekt entgegengesetzt, das als eine durch die Seefahrten aufrechterhaltene Beziehung gelebt wurde. Durch die alljährliche Wiederholung der Reisen entstand daher eine neue Tradition, die das alte Verfahren allmählich überlagerte. Die in diesem Kula-Bündnis zusammengeschlossenen Inseln hatten sich damit gegenseitig auf ein Menschenbild verpflichtet, in dem die Kopfjagd abgelehnt wurde. Die Muschelketten und Armreifen waren im Kula so etwas wie permanente Archen, deren Weitergabe das Bündnis erneuerte. Die riskanten Seereisen zwangen die Teilnehmer nicht nur zur Auseinandersetzung mit den Elementen Wasser und Wind, sondern auch zur Beschäftigung mit ihren Vorstellungswelten. Die Vorstellungen und Gedanken, die die Teilnehmer das ganze Jahr über beschäftigt hatten, wurden nun vor dem Hintergrund dieser besonderen Situation in Geschichten, in die auch die Erzählungen früherer Reisen einflossen, bewältigt. Dabei konnten die Reisenden Kannibalen, Zauberern, fliegenden Hexen, springenden Steinen, Inseln männerloser Frauen und fliegenden Kanus begegnen; jedoch konnte keiner der Teilnehmer von vornherein wissen, welchen Erscheinungen sie im Einzelnen begegnen würden. Die Kula-Unternehmungen waren nur grob skizziert und im Voraus nicht genau planbar; hierin unterschieden sie sich von den Tätigkeiten, die mit dem Gebrauchsverhalten zu tun hatten. Der Ethnologe Bronislav Malinowski hat seine Monographie über die Bewohner der Trobriand-Inseln auf drei Bände angelegt. Den ersten Band, der sich mit dem Kula-Ring und dem symbolischen Tausch beschäftigt, nannte er - in Anlehnung an die Argofahrt des Odysseus - Argonauten des westlichen Pazifik. AlienneLaval