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Schwerpunkt
Über surfende Patienten und das Lernen
in der Cloud
Paradigmenwechsel im Verhältnis Laien – Experten
Patientinnen und Patienten überprüfen ihre Diagnosen vermehrt
online und sprechen ihren Arzt auf die gewonnenen Informationen
an. Und: Das Wissen aus dem Netz verändert ihr Verhalten.
Das Thema dieser QUER-Ausgabe ist hochaktu-
ell, denn in unserer zunehmend vernetzten Ge-
sellschaft erhält das Lernen eine neue Dynamik
– auch in Bezug auf den Umgang mit Gesund-
heit und Krankheit.
Mehr Mobilgeräte als Menschen
Wir sind in der Tat umfassend vernetzt: In der
Schweiz haben 85 Prozent der Gesamtbevöl-
kerung Zugang zum Internet, rund drei Vier-
tel davon sind in mindestens einem sozialen
Netzwerk aktiv oder zumindest registriert. Fast
3 Millionen Schweizerinnen und Schweizer –
rund 37 Prozent der Bevölkerung – nutzten Fa-
cebook. Bei den unter 30-Jährigen sind es sogar
96 Prozent. 3,2 Millionen Schweizerinnen und
Schweizer und die Hälfte der 9- bis 16-Jährigen
Jugendlichen greifen mobil via Smartphone
und Tablets auf das Web zu.
Seit Ende 2013 gibt es weltweit erstmals mehr
Mobilgeräte als Menschen und wir sind die
erste Generation, die überall kosten- und draht-
losen Internetzugang erwartet.
Die daraus entstehende umfassendeVernetzung
bedeutet auch, dass wir heute Zugang zu fast
allem Wissen der Welt haben: das Internet als
Realisierung der antiken Vision der Bibliothek
von Alexandria. Wer etwas wissen will, «fragt»
bei Google nach. In zehn Sekunden ist möglich,
was früher eines Gangs zur Bibliothek bedurfte.
Das Bildungsangebot ist im Netz omnipräsent.
Die Digitalisierung der behandlungsrelevanten Daten eröffnet neue
Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Arzt und Patientin.
5
Ein gutes Beispiel für Online-Bildung sind die
sogenannten MOOC. Das Akronym steht für
«Massive Open Online Courses». Und genau das
sind sie auch: riesige, kostenlose, frei zugäng-
liche, partizipative Lerngefässe für selbstorga-
nisiertes Lernen. «Crowdsourced learning net-
works» für eine Welt, in der Information und
Wissen überall zugänglich ist. MOOCs sind
Lernevents, an denen alle mitmachen können,
die sich für das Thema interessieren, bei denen
Wissen gemeinsam erarbeitet wird und nach-
haltige Wissensnetzwerke entstehen.
Wissen teilen, Wissen erweitern
Ausgehend von einem Thema und einem Zeit-
Digitalisierte Patientendaten: Kanton
Aargau ist aktiv
Immer mehr Patientinnen und Patienten
fragen vor oder nach dem Arztebesuch
auch Dr. Google. Sie managen ihre Ge-
sundheit aktiv und verhalten sich ent-
sprechend – auch beim Arzt. Parallel dazu
automatisieren die Leistungserbringer im
Gesundheitswesen immer mehr Kommu-
nikationsprozesse untereinander. Wenn
Kommunikationsprozesse im Gesund-
heitswesen technisch und inhaltlich stan-
dardisiert werden und die Patientinnen
und Patienten auf dieser Grundlage
Zugriff auf ihre behandlungsrelevanten
Daten haben, sprechen wir von ‹Electronic
Healthcare› oder von eHealth. Der Kanton
Aargau hat 2012 ein Programm lanciert,
das sich dieserThematik bis Ende 2015
intensiv widmet.
Zum Programm gehört auch die Unter-
stützung von Aktivitäten, die in einem
erweiterten eHealth-Kontext den Bürge-
rinnen und Bürgern direkt zugute kom-
men. Dazu gehören ein Angebot zum
elektronischen Impfdossier im Rahmen
der Schulimpfungen oder die elektro-
nische Patientenverfügung: 1000 Aargau-
erinnen und Aargauer profitieren von
einem um 10 Franken ermässigten Preis,
wenn sie hre Vorsorgedokumente – zum
Beispiel die Patientenverfügung – auf der
Grundlage eines Angebots der Pro Senec-
tute Aargau – «Docupass» – erstellen und
digitalisieren. Der Vorteil der Digitalisie-
rung der Patientenverfügung liegt darin,
dass sie im Bedarfsfall jederzeit und von
überall her online zugänglich ist.
Informationen zum «Docupass» erteilt die
Pro Senectute Aargau: www.docupass.ch.
Informationen zum eImpfdossier im
Rahmen der Schulimpfungen erteilt die
Lungenliga Aargau: www.llag.ch.
Enrico Kopatz, stv. Leiter
Kommunikation und Pro-
jektleiter vom ‚Programm
eHealth Aargau 2015‘
6
Kuratoren und Coaches werden zum Thema.
Und es stellt sich die Frage, wie Kompetenz-
entwicklung in einer Welt fühlender Compu-
ter, kluger Wolken (Clouds) und sinnsuchender
Netze aussehen mag.
Ganz Ähnliches geschieht auch im Gesund-
heitswesen. Überhaupt haben diese zwei Sys-
teme Bildung und Gesundheit vieles gemein-
sam: beide sind von vitaler gesellschaftlicher
Bedeutung, verschlingen Unmengen an Geld,
sind konstituiert durch traditionell ritualisier-
te, aber sich gegenwärtig verändernde Laien-
Experten-Gefüge und beide Systeme kämpfen
in ihrer verstaatlichten Ausprägungsform mit
gesellschaftlichem Status und unentwegten Re-
formansprüchen.
Dr. Google und Dr. med. – Vom Patienten
zum ePatienten
Dass Gesundheitsinformationen zunehmend
via Internet erschlossen werden, ist nicht neu.
Über 80 Prozent der Internetnutzerinnen und
-nutzer recherchieren im Web zu gesundheits-
bezogenen Themen. Patientinnen und Patienten
überprüfen ihre Diagnosen online und sprechen
ihre Ärztin oder ihren Arzt auf die Informatio-
nen aus dem Netz an. Und lassen sich von die-
sem Zusatzwissen leiten: Mehr als ein Drittel
der «Onliner» hat aufgrund eigener Internetre-
plan, stellen die Kursanbieter von MOOCs the-
matische Ressourcen wie Texte oder Videos
zur Verfügung. Die Teilnehmenden entscheiden
selbst, ob und in welcher Weise sie sich enga-
gieren. Sie können selber aktiv werden und wei-
tere Materialien kreieren: Blogbeiträge, Tweets,
Videos oder Podcasts. Sie stellen Verbindungen
zwischen Ideen und Materialien her, die ande-
re Teilnehmende einsehen, diskutieren oder er-
weitern können. Was zählt ist das Engagement
im Lernprozess, das weit über den eigentlichen
Kurs hinausgeht.
Paradigmenwechsel im Verhältnis Laien –
Experten
Damit ergibt sich ein Paradigmenwechsel in den
Rollen von Lernenden und Lehrenden: das Aus-
wendiglernen von in Büchern festgehaltenen
Fakten hat ausgedient, das interaktive Lernen
im Diskurs ist angesagt. Die meisten MOOC-
Angebote sind kostenlos und stehen allen offen.
Und sie werden genutzt. Es gibt Kurse, die tau-
sende von Teilnehmenden haben, und es gibt
tausende mögliche Kurse; ein Ikea-Katalog der
Bildung. Traditionelle Bildungsinstitutionen
reiben sich verwundert die Augen.
Das Bildungswesen verändert sich: informelles
und selbstgesteuertes Lernen, vernetzte Lern-
Communities und Lehrpersonen als Content-
Das Papier-Aktenarchiv ist in naher Zukunft wegzudenken, neue, standardisierte Technologiuen lassen Pati-
enten an ihren Patientendaten teilhaben.
7
cherchen bereits einen Arzttermin vereinbart
oder abgesagt oder die Einnahme von Medi-
kamenten geändert. Auch die Anbieter zur pri-
mären Prävention kommen heute ohne das Netz
nicht mehr aus.
Patientinnen und Patienten sind heute aber
nicht nur digital informiert, sondern zuneh-
mend auch digital vernetzt. Sogenannte «Online
Health Communities», in denen sich Patienten
organisieren, austauschen und moralisch un-
terstützen, weisen enorme Wachstumszahlen
auf. Allein die Parkinson-Patientencommunity
auf PatientsLikeMe (www.patientslikeme.com)
hat heute über 8‘000 Mitglieder.
Umgang mit Gesundheit und Krankheit
als vernetzter Lernprozess
Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit ge-
schieht heute nicht mehr isoliert zwischen Arzt
und Patient, zwischen Health Professional und
Gesundheitskonsument, sondern ist zu einem
zusammenhängenden Gebilde geworden, das
sich über verschiedene Orte, Zeiten, Technolo-
gien und soziale Settings, formell oder informell
Prof. Dr. Andréa Belliger (*1970) ist
Prorektorin der Pädagogischen Hoch-
schule Luzern und Co-Leiterin des
Instituts für Kommunikation & Füh-
rung (ikf).
Andréa Belliger leitet unter anderem den Studiengang CAS
eHealth – Gesundheit digital (Weitere Informationen unter
www.ikf.ch).
hinwegbewegt. Und wie die Lernenden im Bil-
dungswesen, so fordern die heutigen ePatienten
vom traditionellen System und seinen Akteuren
zunehmend Kommunikation, Transparenz und
Partizipation.
Das Lernen verändert sich, unser Umgang mit
Gesundheit und Krankheit verändert sich. Als
Gesellschaft müssen wir uns der Frage stellen,
was wir vom Bildungs- und Gesundheitswe-
sen unter diesen sich verändernden Vorzeichen
eigentlich erwarten. Eines ist klar: In beiden
Bereichen benötigen wir Personen mit neuen
Kompetenzen, mit Media Literacy und Health
Literacy. Menschen, die als Lernende oder Pa-
tienten, als Lehrpersonen oder Health Professi-
onals fähig sind sich zu vernetzen, gemeinsam
Ideen zu entwickeln, sich an Veränderungen an-
zupassen … – und die in erster Linie fähig sind,
den Umgang mit Gesundheit und Krankheit als
vernetzten Lernprozess zu verstehen.
Text: Andréa Belliger
Fotos: Keystone, zVg, Rahel Meier, DGS
Schon heute lassen sich behandlungsrelevante Daten
im Netz speichern und über Smartphone abrufen.

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Über surfende Patienten und das Lernen in der Cloud

  • 1. 4 Schwerpunkt Über surfende Patienten und das Lernen in der Cloud Paradigmenwechsel im Verhältnis Laien – Experten Patientinnen und Patienten überprüfen ihre Diagnosen vermehrt online und sprechen ihren Arzt auf die gewonnenen Informationen an. Und: Das Wissen aus dem Netz verändert ihr Verhalten. Das Thema dieser QUER-Ausgabe ist hochaktu- ell, denn in unserer zunehmend vernetzten Ge- sellschaft erhält das Lernen eine neue Dynamik – auch in Bezug auf den Umgang mit Gesund- heit und Krankheit. Mehr Mobilgeräte als Menschen Wir sind in der Tat umfassend vernetzt: In der Schweiz haben 85 Prozent der Gesamtbevöl- kerung Zugang zum Internet, rund drei Vier- tel davon sind in mindestens einem sozialen Netzwerk aktiv oder zumindest registriert. Fast 3 Millionen Schweizerinnen und Schweizer – rund 37 Prozent der Bevölkerung – nutzten Fa- cebook. Bei den unter 30-Jährigen sind es sogar 96 Prozent. 3,2 Millionen Schweizerinnen und Schweizer und die Hälfte der 9- bis 16-Jährigen Jugendlichen greifen mobil via Smartphone und Tablets auf das Web zu. Seit Ende 2013 gibt es weltweit erstmals mehr Mobilgeräte als Menschen und wir sind die erste Generation, die überall kosten- und draht- losen Internetzugang erwartet. Die daraus entstehende umfassendeVernetzung bedeutet auch, dass wir heute Zugang zu fast allem Wissen der Welt haben: das Internet als Realisierung der antiken Vision der Bibliothek von Alexandria. Wer etwas wissen will, «fragt» bei Google nach. In zehn Sekunden ist möglich, was früher eines Gangs zur Bibliothek bedurfte. Das Bildungsangebot ist im Netz omnipräsent. Die Digitalisierung der behandlungsrelevanten Daten eröffnet neue Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Arzt und Patientin.
  • 2. 5 Ein gutes Beispiel für Online-Bildung sind die sogenannten MOOC. Das Akronym steht für «Massive Open Online Courses». Und genau das sind sie auch: riesige, kostenlose, frei zugäng- liche, partizipative Lerngefässe für selbstorga- nisiertes Lernen. «Crowdsourced learning net- works» für eine Welt, in der Information und Wissen überall zugänglich ist. MOOCs sind Lernevents, an denen alle mitmachen können, die sich für das Thema interessieren, bei denen Wissen gemeinsam erarbeitet wird und nach- haltige Wissensnetzwerke entstehen. Wissen teilen, Wissen erweitern Ausgehend von einem Thema und einem Zeit- Digitalisierte Patientendaten: Kanton Aargau ist aktiv Immer mehr Patientinnen und Patienten fragen vor oder nach dem Arztebesuch auch Dr. Google. Sie managen ihre Ge- sundheit aktiv und verhalten sich ent- sprechend – auch beim Arzt. Parallel dazu automatisieren die Leistungserbringer im Gesundheitswesen immer mehr Kommu- nikationsprozesse untereinander. Wenn Kommunikationsprozesse im Gesund- heitswesen technisch und inhaltlich stan- dardisiert werden und die Patientinnen und Patienten auf dieser Grundlage Zugriff auf ihre behandlungsrelevanten Daten haben, sprechen wir von ‹Electronic Healthcare› oder von eHealth. Der Kanton Aargau hat 2012 ein Programm lanciert, das sich dieserThematik bis Ende 2015 intensiv widmet. Zum Programm gehört auch die Unter- stützung von Aktivitäten, die in einem erweiterten eHealth-Kontext den Bürge- rinnen und Bürgern direkt zugute kom- men. Dazu gehören ein Angebot zum elektronischen Impfdossier im Rahmen der Schulimpfungen oder die elektro- nische Patientenverfügung: 1000 Aargau- erinnen und Aargauer profitieren von einem um 10 Franken ermässigten Preis, wenn sie hre Vorsorgedokumente – zum Beispiel die Patientenverfügung – auf der Grundlage eines Angebots der Pro Senec- tute Aargau – «Docupass» – erstellen und digitalisieren. Der Vorteil der Digitalisie- rung der Patientenverfügung liegt darin, dass sie im Bedarfsfall jederzeit und von überall her online zugänglich ist. Informationen zum «Docupass» erteilt die Pro Senectute Aargau: www.docupass.ch. Informationen zum eImpfdossier im Rahmen der Schulimpfungen erteilt die Lungenliga Aargau: www.llag.ch. Enrico Kopatz, stv. Leiter Kommunikation und Pro- jektleiter vom ‚Programm eHealth Aargau 2015‘
  • 3. 6 Kuratoren und Coaches werden zum Thema. Und es stellt sich die Frage, wie Kompetenz- entwicklung in einer Welt fühlender Compu- ter, kluger Wolken (Clouds) und sinnsuchender Netze aussehen mag. Ganz Ähnliches geschieht auch im Gesund- heitswesen. Überhaupt haben diese zwei Sys- teme Bildung und Gesundheit vieles gemein- sam: beide sind von vitaler gesellschaftlicher Bedeutung, verschlingen Unmengen an Geld, sind konstituiert durch traditionell ritualisier- te, aber sich gegenwärtig verändernde Laien- Experten-Gefüge und beide Systeme kämpfen in ihrer verstaatlichten Ausprägungsform mit gesellschaftlichem Status und unentwegten Re- formansprüchen. Dr. Google und Dr. med. – Vom Patienten zum ePatienten Dass Gesundheitsinformationen zunehmend via Internet erschlossen werden, ist nicht neu. Über 80 Prozent der Internetnutzerinnen und -nutzer recherchieren im Web zu gesundheits- bezogenen Themen. Patientinnen und Patienten überprüfen ihre Diagnosen online und sprechen ihre Ärztin oder ihren Arzt auf die Informatio- nen aus dem Netz an. Und lassen sich von die- sem Zusatzwissen leiten: Mehr als ein Drittel der «Onliner» hat aufgrund eigener Internetre- plan, stellen die Kursanbieter von MOOCs the- matische Ressourcen wie Texte oder Videos zur Verfügung. Die Teilnehmenden entscheiden selbst, ob und in welcher Weise sie sich enga- gieren. Sie können selber aktiv werden und wei- tere Materialien kreieren: Blogbeiträge, Tweets, Videos oder Podcasts. Sie stellen Verbindungen zwischen Ideen und Materialien her, die ande- re Teilnehmende einsehen, diskutieren oder er- weitern können. Was zählt ist das Engagement im Lernprozess, das weit über den eigentlichen Kurs hinausgeht. Paradigmenwechsel im Verhältnis Laien – Experten Damit ergibt sich ein Paradigmenwechsel in den Rollen von Lernenden und Lehrenden: das Aus- wendiglernen von in Büchern festgehaltenen Fakten hat ausgedient, das interaktive Lernen im Diskurs ist angesagt. Die meisten MOOC- Angebote sind kostenlos und stehen allen offen. Und sie werden genutzt. Es gibt Kurse, die tau- sende von Teilnehmenden haben, und es gibt tausende mögliche Kurse; ein Ikea-Katalog der Bildung. Traditionelle Bildungsinstitutionen reiben sich verwundert die Augen. Das Bildungswesen verändert sich: informelles und selbstgesteuertes Lernen, vernetzte Lern- Communities und Lehrpersonen als Content- Das Papier-Aktenarchiv ist in naher Zukunft wegzudenken, neue, standardisierte Technologiuen lassen Pati- enten an ihren Patientendaten teilhaben.
  • 4. 7 cherchen bereits einen Arzttermin vereinbart oder abgesagt oder die Einnahme von Medi- kamenten geändert. Auch die Anbieter zur pri- mären Prävention kommen heute ohne das Netz nicht mehr aus. Patientinnen und Patienten sind heute aber nicht nur digital informiert, sondern zuneh- mend auch digital vernetzt. Sogenannte «Online Health Communities», in denen sich Patienten organisieren, austauschen und moralisch un- terstützen, weisen enorme Wachstumszahlen auf. Allein die Parkinson-Patientencommunity auf PatientsLikeMe (www.patientslikeme.com) hat heute über 8‘000 Mitglieder. Umgang mit Gesundheit und Krankheit als vernetzter Lernprozess Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit ge- schieht heute nicht mehr isoliert zwischen Arzt und Patient, zwischen Health Professional und Gesundheitskonsument, sondern ist zu einem zusammenhängenden Gebilde geworden, das sich über verschiedene Orte, Zeiten, Technolo- gien und soziale Settings, formell oder informell Prof. Dr. Andréa Belliger (*1970) ist Prorektorin der Pädagogischen Hoch- schule Luzern und Co-Leiterin des Instituts für Kommunikation & Füh- rung (ikf). Andréa Belliger leitet unter anderem den Studiengang CAS eHealth – Gesundheit digital (Weitere Informationen unter www.ikf.ch). hinwegbewegt. Und wie die Lernenden im Bil- dungswesen, so fordern die heutigen ePatienten vom traditionellen System und seinen Akteuren zunehmend Kommunikation, Transparenz und Partizipation. Das Lernen verändert sich, unser Umgang mit Gesundheit und Krankheit verändert sich. Als Gesellschaft müssen wir uns der Frage stellen, was wir vom Bildungs- und Gesundheitswe- sen unter diesen sich verändernden Vorzeichen eigentlich erwarten. Eines ist klar: In beiden Bereichen benötigen wir Personen mit neuen Kompetenzen, mit Media Literacy und Health Literacy. Menschen, die als Lernende oder Pa- tienten, als Lehrpersonen oder Health Professi- onals fähig sind sich zu vernetzen, gemeinsam Ideen zu entwickeln, sich an Veränderungen an- zupassen … – und die in erster Linie fähig sind, den Umgang mit Gesundheit und Krankheit als vernetzten Lernprozess zu verstehen. Text: Andréa Belliger Fotos: Keystone, zVg, Rahel Meier, DGS Schon heute lassen sich behandlungsrelevante Daten im Netz speichern und über Smartphone abrufen.