1. Seit 250 Jahren stehen bei Christie’s die
Auktionatoren im Rampenlicht. Was
als Haushaltsauflösung im 18. Jahrhundert
begann, ist zum globalen Kunst-Business
der Gegenwart geworden. Doch immer noch
hat der Auktionator den Hammer in der
Hand und nimmt Gebote
aus dem Publikum
entgegen. Ist seine Arbeit
ein Handwerk,
das man lernen kann?
Lisa Zeitz wagte einen Selbstversuch an der
Londoner Traditionsadresse
FOTOS
A LEX ANDER COGGIN
Der Moment
der
Wahrheit
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issen Sie was? Ich habe schon lange davon ge-
träumt, einmal selbst am Auktionspult zu ste-
hen, selbst den Hammer in der Hand zu halten
und mit lautem, trockenem Knall aufs Pult zu
schlagen. »Den Moment der Wahrheit« nennen In-
sider diesen Schlag. Ich habe schon viele Auktionen
vom Saal aus beobachtet, die meisten während mei-
ner New Yorker Jahre, in denen ich als Kunstmarktkorres-
pondentin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung gearbei-
tet habe. Damals habe ich den distinguierten Stil des
englischen Auktionators Christopher Burge bei Christie’s
bewundert und zu dem deutschen Tobias Meyer aufgeblickt,
dessen tänzerische Bewegungen das Publikum bei
Sotheby’s hypnotisierten. Auch Simon de Pury, da-
mals bei Phillips, habe ich in Aktion erlebt, wie er
mühelos zwischen zig verschiedenen Sprachen hin-
und hersprang, um Gebote aus den Sammlern heraus-
zukitzeln, mal drängelnd, mal charmant, mal mit
Humor. Jede Auktion hat ihre eigene Spannung, an
jedem Los hängen Hoffnungen, oft Illusionen, zudem
Logistik und Verträge – und manchmal sehr viel Geld.
Besonders ist mir der Abend im Jahr 2004 in Er-
innerung, als Picassos melancholischer »Garçon à la
pipe« von 1905 aus der Sammlung von John Hay Whit-
ney bei Sotheby’s versteigert wurde. Die Schätzung
belief sich auf 70 Millionen Dollar. Zwei Plätze neben
mir im Saal saß der mächtige, wortkarge, silberhaa-
rige Kunsthändler Larry Gagosian, der durch sein
Mobiltelefon mit einem Sammler verbunden war und
W
seine Gebote in zweistelliger Millionenhöhe durch unauffäl-
liges Kopfnicken anzeigte. Tobias Meyer registrierte sie mit
seinen Adleraugen vom Auktionspult aus. Doch dann gab
es ein Problem mit Gagosians Mobiltelefon, und er musste
sich in Windeseile das seiner Begleiterin ausleihen, das je-
doch ebenfalls keine Verbindung zustandebrachte. Die Se-
kunden müssen für den Auktionator zäh wie Stunden gewe-
sen sein und für Gagosian auch – »I can wait«, sagte Meyer
– dann endlich ging es mit dem dritten Telefon weiter, und
die Gebote kletterten bis auf einen Hammerpreis von 93 Mil-
lionen Dollar. Den Zuschlag erhielt schließlich nicht Gago-
sian, sondern ein anonymer Bieter. Mit Aufgeld hatte er
104 Millionen Dollar zu zahlen. Ein historischer Moment für
den Kunstmarkt: Zum ersten Mal war die Hundertmillio-
nendollarmarke geknackt.
Dieser Rekord ist schon lange überboten: Im Novem-
ber vergangenen Jahres habe ich bei Christie’s, in den gla-
mourösen, immer eisgekühlten Räumen am Rockefeller
Center in New York miterlebt, wie der finnische Auktiona-
tor Jussi Pylkkänen Amedeo Modiglianis verführerischen
Akt »Nu couché« für 170,4 Millionen Dollar (inklusive Auf-
geld) versteigerte. Das war zwar eine Sensation, aber die Zu-
schauer hatten sich fast schon an die hohen Preise gewöhnt.
Als Käufer gab sich gleich darauf der chinesische Milliardär
Liu Yiqian zu erkennen. Er bezahlte mit seiner American-
Express-Karte und verdiente damit genug Meilen, um für den
Rest seines Lebens erster Klasse zu fliegen. Verrückte Welt!
Modigliani hält nur den zweithöchsten Auktionspreis der
Welt. Im Mai 2015 hatte Christie’s für Picassos Spätwerk »Les
femmes d’Alger« 179,4 Millionen Dollar erzielt – bis heute
das teuerste Werk, das je bei einer Auktion verkauft wurde.
All das geht mir durch den Kopf, als ich an einem reg-
nerischen Herbsttag durch Londons eleganten Stadtteil St.
James an Kunsthandlungen und Galerien vorbeilaufe. Ich
bin auf dem Weg zur altehrwürdigen Adresse von Christie’s,
King Street Nummer 8. Nun ist es so weit – ich bin tatsäch-
lich zu einem Auktionatoren-Workshop angemeldet. In ei-
ner halben Stunde soll es losgehen.
Der uniformierte Doorman Colin Kemp, seit vielen
Jahren an dieser Stelle und schon eine Berühmtheit für sich,
grüßt am Eingang freundlich, dann treffe ich die immer pro-
fessionelle Stephanie Manstein von der Presseabteilung und
3. Geburtstag eines
Giganten
Im Dezember 1766 ließ James Christie seinen ersten
Katalog drucken. Jetzt macht das Auktionshaus
Milliardenumsätze und blickt auf ein Vierteljahrtausend
denkwürdige Kunstmarkt-Geschichte zurück
1766Eine fünftägige Haushaltsauflösung mit
Juwelen, Möbeln, Geschirr und einigen
Flaschen Madeira: So begann der
damals 36-jährige James Christie an
seiner ersten festen Geschäftsadresse
in London, Pall Mall, seinen Aufstieg als
Auktionator und Unternehmer.
Viele einzigartige Meisterwerke der Kunstgeschichte sind im Lauf der
Jahrhunderte bei Christie’s verkauft worden und bestücken bis heute
die großen Museen der Welt. Im 19. Jahrhundert wurde Botticelli
wiederentdeckt: Die Londoner National Gallery konnte sein Gemälde
»Venus und Mars« aus der Zeit um 1485 für 1050 Pfund ersteigern.
Den Auktionssaal an der King Street Nr. 8, bis
heute Hauptsitz von Christie’s, weihte James
Christie, der gleichnamige Sohn des Gründers,
ein. Die erste Versteigerung galt einer
Bibliothek: Damit forderte er den älteren, auf
Bücher spezialisierten Rivalen Sotheby’s heraus.
1874
1823
1941
Die originale Auktionskanzel,
eine Kreation von Thomas
Chippendale, ging im
deutschen Bombenhagel
verloren, als das Hauptquar-
tier von Christie’s ausbrannte.
Heute sind Nachbildungen
des berühmten Mahagoni-
Möbels überall in Benutzung,
wo Christie’s Auktionen
abhält, von New York,
Paris und Dubai bis
Schanghai.
Bilder:Christie’sImagesLtd.2016(3);TheNationalGallery,London
4. 1998
1990
1987
2015
Zu den denkwürdigsten
Auktionen aller Zeiten gehört der
umfangreiche »Yves Saint
Laurent Sale« in Paris, der den
ganzen Kosmos des Modeschöp-
fers abbildet: Eileen Grays
»Fauteuil aux Dragons« erzielte
knapp 22 Millionen Euro. Im
selben Jahr verdoppelt in
London Raffaels Zeichnung einer
Muse ihre Schätzung und landet
bei 29,2 Millionen Pfund.
Der Luxusmarken-Milliardär François
Pinault kauft Christie’s – und muss im Jahr
darauf erleben, wie ein Skandal um illegale
Preisabsprachen zwischen Christie’s und
Sotheby’s die Kunstwelt erschüttert.
Rekord! Van Goghs »Sonnenblumen« von 1889 erzielen in London 24,75
Millionen Pfund, den höchsten Preis, der bis dahin je bei einer Kunstauktion
gezahlt wurde. Der Auktionator Charles Allsopp, Christie’s Chairman, gibt der
japanischen Versicherungsgesellschaft Yasuda den Zuschlag. Heute
ist das Stillleben im Sompo Japan Nipponkoa Museum in Tokio zu sehen.
Das Badminton-Kabinett macht zweimal
Furore: 1990, als es mit 8,6 Millionen Pfund
den damaligen Rekord für ein Möbel setzt
– und 2004, als der Fürst von Liechtenstein
es für 19 Millionen Pfund ersteigert.
Christie’s hält den Rekord für das teuerste
Kunstwerk, das je versteigert wurde: Unter den
Geboten globaler Megasammler klettert
Picassos Hommage an Delacroix, »Les femmes
d’Alger (Version O)« von 1955, in New York bis
auf atemberaubende 179,4 Millionen Dollar.
2009
35
Bilder:Christie’sImagesLtd.2016(5)/VGBild-Kunst,Bonn2016;MatteoDeFina-2011
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komme in den Genuss einer Führung hinter den Kulissen.
Unglaublich, wie viele Kunstwerke hier bestens gesichert la-
gern. Wie viele Stile, Epochen, Materialien, Provenienzen,
Werte, kleine und große. Auch für einen Blick ins Archiv ist
noch Zeit. Es war ein Glück, dass die teilweise jahrhunderte-
alten Dokumente den Bombenkrieg in ihrem tiefen Gewöl-
be überstanden haben – anders als das Gebäude, das 1941
über ihnen ausbrannte.
Eine Handvoll internationaler Teilnehmer findet sich
für unseren Kurs im zweitgrößten der Londoner Auktions-
säle ein, der, wie mir jetzt auffällt, genauso kalt ist, wie ich
es von New York in Erinnerung habe. Vor einer der dunkel-
grauen Wände stehen Thermoskannen mit Kaffee und Tee,
Shortbread und anderem süßem Gebäck. Der Auktionator
Nick Finch ist schon seit knapp 35 Jahren bei Christie’s – er
ist mit der Talentsuche innerhalb des eigenen Hauses betraut
und bildet Auktionatoren aus. Nun steht er hier im dunkel-
grauen Anzug und lachsfarbener Krawatte, seriös und doch
ganz Showman. »Kennen Sie den Kinderreim ›Humpty
Dumpty Sat on a Wall‹?«, will er wissen. Zur Auflockerung
des Mundraumes sollen wir das Gedicht aufsagen, während
wir – Finch macht es beeindruckend vor – die Zunge heraus-
strecken, so weit wir können. Es klingt fürchterlich, aber da-
mit machen wir uns warm wie Sportler: Auch die Schultern
und die Wirbelsäule lockern wir. Bevor wir bereit sind, einer
nach dem anderen, auf das Auktionspult zu steigen und je-
weils vier Lose zu versteigern, gibt es natürlich auch noch
einen theoretischen Teil. Was macht einen guten Auktiona-
tor aus? Finch und sein Kollege Jussi Pylkkänen, der einige
der wichtigsten Auktionen der letzten Jahre bei Christie’s
durchgeführt hat, haben die »5 P’s« definiert: Poise (Auftre-
ten), Pace (Tempo), Panache (Ausdrucks-
kraft), Passion und Preparation.
Zur Vorbereitung bekommen wir
Blätter, auf denen Lose und ihre Schät-
zungen verzeichnet sind, aber auch die
Angaben, die nicht im Auktionskatalog
stehen: Wo liegt das Limit, das heißt, mit
welchem Minimum würde sich der Ein-
lieferer zufriedengeben? Welche schriftli-
chen Gebote liegen vor?
Finch demonstriert, wie man den
Hammer hält. Er hat ein paar Originale
aus der Praxis mitgebracht. Ein Exemplar
aus Ebenholz mit silberner Fassung nennt
er den »Milliarden-Dollar-Hammer«, weil
mit ihm mindestens so viel Geld umgesetzt wurde, unter an-
derem für Picassos »Les femmes d’Alger«. Der Hammer fühlt
sich zierlich, kühl und glatt an, irgendwie präzise. Man kann
den Stiel oder direkt den Kopf in die Hand nehmen, je nach
dramatischem Effekt. Je unauffälliger der Hammer in der
Hand liegt, desto weniger glaubt das Publikum, einer Ge-
richtsverhandlung beizuwohnen, erklärt uns Nick Finch.
Aber eine gewisse Strenge kann auch bewusst eingesetzt
werden. Zu den fünf P’s würde ich noch ein sechstes hinzu-
fügen: Psychologie.
Die Mahagonikanzel mit den geschwungenen Beinen
kennt jeder, der schon einmal in einem Auktionssaal bei
Christie’s war, egal ob in Amsterdam, Hongkong, Dubai,
Schanghai, Genf oder Zürich. Das Original von Thomas
Chippendale ging im Zweiten Weltkrieg leider verloren.
250 JAHRE CHRISTIE’S
6. Jetzt werden Repliken in sämtlichen zwölf Städten benutzt, in
denen Christie’s seine Auktionen durchführt.
Ich soll beginnen und steige die drei Stufen hinauf. Die
Kanzel hat hinten eine Tür, die verriegelt wird, damit kein Auk-
tionator bei einem besonders hitzigen Bietgefecht herunterfällt.
»Good evening, Ladies and Gentlemen, welcome to Christie’s«,
beginne ich und imitiere dabei den routinierten Tonfall, den
ich schon so oft gehört habe. Wie war das noch? Meine kurze
Liste mit Losen trägt lauter Notizen, die der Auktionator im
Kopf behalten muss. Ein Beispiel: Für eine Fotoarbeit von
Douglas Huebler, deren Limit bei 10 000 Pfund liegt, sind drei
Telefonbieter angemeldet, außerdem liegen schriftliche Gebote
von 3000, 10 000 und 14 000 Pfund vor. Nick Finch sitzt jetzt im
Saal, um zu bieten, außerdem muss ich den Bildschirm im Blick
behalten, auf dem Onlinegebote auftauchen können – immer
wieder leuchten in Lila Gebote eines Kunden aus Florida auf.
Meine Berechnungen: Wenn kein weiteres Gebot auf-
taucht, soll das Los für 10 Prozent mehr als das zweithöchste
schriftliche Gebot an den Höchstbietenden gehen. Doch im
Saal und auf dem Bildschirm ist nun so viel (gespieltes) Interesse,
dass ich schließlich Mister Finch den Zuschlag für 14 000 Pfund
gebe und mit lautem Knall den Hammer aufs Holz sausen las-
se. »Oh, oh,« sagt Finch nun, »jetzt hätten Sie ein Problem!« Lag
mir nicht ein schriftliches Gebot von 14 000 Pfund vor? Der er-
fahrene Auktionator erklärt, dass der Kunde nun sehr verärgert
wäre, denn ich hätte ihm, nicht dem Saalbieter, den Zuschlag
geben sollen. Man muss als Auktionator höllisch aufpassen.
Das Problem hätte
ich vermeiden kön-
nen, indem ich kurz
vor dem kritischen
Betrag den regulären
Schritt von zehn Pro-
zent halbiert hätte:
Anstatt »13 000« hätte
ich sagen sollen:
»12 500«, dann hätte
der Saalbieter »13 000«
geboten, woraufhin
ich im Auftrag des
schriftlichen Gebots »14 000« erwidert hätte. Die Schritte übri-
gens muss der Auktionator absolut verinnerlicht haben: von
50 bis 1000 in Fünfzigerschritten, dann bis 2000 in Hunderter-
schritten, dann in Zweihunderterschritten, schließlich 3000,
3200, 3500, 3800, 4000 usw. Natürlich kann der Auktionator im
Einzelfall entscheiden, aber diese Folge ist der Standard und
muss ganz automatisch aus ihm herausfließen.
Beim nächsten Los bin ich noch konzentrierter auf die
Zahlen und mache alle Schritte richtig – doch Nick Finch ist
nicht zufrieden. Anscheinend sehe ich vor lauter Anstrengung
so verbissen aus, dass jedem Interessenten die Lust zum Bieten
gleich vergehen würde. »Smile!«, ruft er und deutet auf seinen
Mund. Er hat noch einen Tipp: »Körpersprache ist gut, aber bit-
te nicht mit dem Zeigefinger auf die Saalbieter deuten! Öffnen
Sie Ihre Hand, offene Gesten wirken besser«, sagt er. Nach drei
Losen wird mir heiß. Mathematik und Performance unter ei-
nen Hut zu bringen ist eine Leistung, zu der ich noch viel
Übung brauche. Das vierte Los, eine Skulptur von Allan McCol-
lum, verkaufe ich erfolgreich lächelnd an den treuen Onlinebie-
ter aus Florida. Das Auktionsfieber hat mich gepackt. Vielleicht
übe ich weiter. Der Hammer fühlt sich gut an in meiner Hand.×