3. Hausmitteilung
16. April 2012 Betr.: Piraten, Mormonen, Springer, Disney
I st die Frage, ob ich einen Song oder einen Film aus dem Internet kostenlos her-
unterladen darf, eine politische Frage? Ja, sie ist es geworden, spätestens mit
dem Aufstieg der Piratenpartei, welche die Freiheit zum Klick fordert und damit
die anderen politischen Parteien herausfordert. Die Download-Debatte ist Teil
einer großen Diskussion; die Gretchenfrage an unsere digitale Gesellschaft lautet:
Wie hast du’s mit dem Internet? Es ist eine Frage nach der Freiheit und ihren Gren-
zen, der sich der SPIEGEL in dieser Ausgabe dreifach nähert. Autor Dirk Kurbju-
weit, 49, warnt in einem Essay vor neuer Barbarei; ein Team von Kollegen be-
schreibt den Widerstand von Künstlern gegen den laxen Umgang mit geistigem Ei-
gentum; und in einem Streitgespräch zoffen sich der Musiker Jan Delay, 35, und
der Berliner Piratenpartei-Abgeordnete Christopher Lauer, 27 (Seiten 20, 24, 116).
W ie es einer mit der Religion hält, spielt heutzutage in der politischen Ausein-
andersetzung in Deutschland normalerweise keine Rolle. Anders in den
USA, wo gerade über den Republikaner Mitt Romney, 65, und seinen Glauben dis-
kutiert wird. Romney – voraussichtlich Herausforderer von Präsi-
dent Barack Obama, 50 – ist Mormone. SPIEGEL-Redakteur Ger-
hard Spörl, 62, recherchierte die Geschichte dieser Religion. In
GEORGE FREY / DER SPIEGEL
Salt Lake City traf er Richard Hinckley, 70, der in den sechziger
Jahren im Ruhrgebiet missioniert hatte. Zu Spörls Verblüffung
zückte Hinckley triumphierend eine SPIEGEL-Ausgabe von 1994.
Unter der Titelzeile „Die Ego-Gesellschaft“ hatte der SPIEGEL
die Abkehr Deutschlands von der Solidargemeinschaft beschrie-
ben – eine Entwicklung, die Mormonen beklagen (Seite 96). Hinckley
A xel Sven Springer war 19 Jahre alt, als er aus dem Internat entführt wurde –
seither ist der Enkel des Verlegers Axel Cäsar Springer (1912 bis 1985) im Um-
gang mit fremden Menschen vorsichtig. Jetzt, mehr als ein Vierteljahrhundert später,
gab Springer, 46, sein erstes Interview. „Das brennt sich ein, das ist immer da“, so
beschrieb er die Folgen des Kidnappings im Gespräch mit den SPIEGEL-Redakteu-
rinnen Susanne Beyer, 42, und Isabell Hülsen, 38. Als er fotografiert wurde, schien
es Beyer, „als prüfe Springer seine Umgebung auf versteckte Gefahren“. Gelassen
hingegen sprach er über sein Leben und auch den Rechtsstreit mit Friede Springer,
69, der fünften Ehefrau seines Großvaters und mächtigsten Frau im Konzern. Dort
wird sich der Enkel mit seinen Aussagen nicht beliebt machen (Seite 140).
D er Löwe, den Regisseur Alastair Fothergill, 52, in der kenianischen Masai Mara
bei der Jagd filmen wollte, hatte wenig Appetit. Gemächlich umkreiste der
Hauptdarsteller der Kinoproduktion „Im Reich der Raubkatzen“ den Jeep des Auf-
nahmeteams und markierte dann sein Territorium, indem
er sich an dem Fahrzeug erleichterte. SPIEGEL-Redakteur
Martin Wolf, 37, wurde Zeuge der Unwägbarkeiten der
Tierfilmerei, als er Fothergill, der als Bester seiner Zunft
gilt, bei den Dreharbeiten für zwei Dokumentationen des
Disney-Konzerns begleitete: jene über Großkatzen, die
MARTIN WOLF / DER SPIEGEL
diese Woche in deutschen Kinos anläuft, und eine über
Schimpansen. Die wiederum waren am Drehort im Ur-
wald in Uganda aktiver, als dem Team lieb war – sie ko-
pulierten. Die Szene wird fürs Kino herausgeschnitten:
„Die Zielgruppe sind Familien“, sagt Wolf, „die möchte
Fothergill, Wolf der Disney-Konzern nicht verstören“ (Seite 122).
Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2 3
4. In diesem Heft
Titel
Wenn Kollegen Feinde sind – rund zwei
Millionen Deutsche leiden unter Mobbing ..... 56
Deutschland
Panorama: Spitzengespräch über Atom-
endlagerung / Diskussion um Steuersenkungen
neu entfacht / Bußgeldverfahren
gegen Fluggesellschaften häufen sich ............. 15
Parteien: Künstler und Intellektuelle
machen gegen die Piraten mobil .................... 20
Essay: Wird das Internet zu einer Schule
der neuen Barbarei? ....................................... 24
SPD: Im SPIEGEL-Gespräch verteidigt
Parteichef Sigmar Gabriel Günter Grass ........ 26
CSU: Horst Seehofer plant den
Befreiungsschlag gegen die Kanzlerin ............ 31
Nahverkehr: Tübingen will als erste deutsche
Stadt Busfahren zum Nulltarif einführen ....... 32
Regierung: Schäubles Steuerabkommen mit der
Schweiz wäscht Schwarzgeldkonten weiß ...... 34
FDP: Generalsekretär Patrick Döring klagt
Piraten im Shitstorm Seite 20
MICHAEL LATZ / DDP IMAGES / DAPD
im Interview über Anfeindungen aus dem
Piraten-Milieu ................................................ 36 Deutschlands Kreative verbünden sich gegen die Piratenpartei.
Prozesse: Hat der Staat einen Angeklagten
zum Drogenhandel angestiftet? ..................... 38 Intellektuelle und Künstler fürchten um ihre Existenzgrundlage. Erst-
Internet: US-Regierung überholt Deutschland mals geraten die Piraten ins Visier eines einflussreichen Gegners –
beim Schutz persönlicher Daten .................... 40 und offenbaren die Schwächen ihres basisdemokratischen Modells.
Migranten: Gutausgebildete junge Griechen
suchen ihr Heil in Berlin – und scheitern ....... 41
Geheimdienste: Der neue BND-Chef
Gerhard Schindler fordert mehr Risikofreude
von seinen Agenten ....................................... 43
Kriminalität: Die Aussage eines
Machtkampf im IWF
Auftragskillers brachte drei mutmaßliche
Mafiosi in Hagen vor Gericht ......................... 44 Seite 68
Gesellschaft Die Schwellenländer wollen der Euro-Zone nur Hilfe gewähren, wenn sie
Szene: Trainingsanzug für Pferde / Interview im Gegenzug mehr Einfluss auf den Internationalen Währungsfonds (IWF)
über die Nachteile der Pendlerpauschale und bekommen. Ende der Woche kommt es in Washington zum Showdown.
moderne Mobilität ......................................... 48
Eine Meldung und ihre Geschichte –
ein Sexshop für Christen und seine
theologische Begründung ............................... 49
Das Ende der Party
Migration: Wie ein mexikanischer Boxer in
den USA sein Aufstiegsmärchen erlebt .......... 50
Ortstermin: In Hildesheim kämpft ein
Seite 84
Ehemann um seine Anerkennung als Opfer Italien, Spanien, Portugal und Griechenland suchen nach Auswegen aus
häuslicher Gewalt .......................................... 55 der Schuldenkrise und reformieren ihre Arbeitsmärkte. Taugen Gerhard
Schröders Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze als Vorbild?
Wirtschaft
Trends: Fragwürdige Ökofonds der
Postbank / Conergy-Chef wehrt sich gegen
Vorwurf der Kapitalvernichtung /
Aufsteiger aus
Einreiseverbot für Überraschungseier ............ 66
Weltwirtschaft: Im IWF verlangen die
Schwellenländer endlich mehr Macht ............ 68
Internet: Was wird das nächste große Geschäft
nach Facebooks Instagram-Deal? ................... 71
Veterinäre: Wie Deutschlands Tierärzte zu
Mexiko Seite 50
Handlangern der Agrarindustrie wurden ....... 74
Gesundheit: Apotheker wollen mit Als Kind illegaler Einwan-
eigener Firma noch mehr Reibach bei derer in Los Angeles suchte
Krebsmedikamenten machen ......................... 78 er sich sein Essen im Müll,
Rabattprogramme: Strafanzeige gegen pflegte Umgang mit Latino-
die Lufthansa wegen Miles & More- Gangs, wurde dann doch
Unstimmigkeiten ............................................ 79 kein Krimineller, sondern
TODD BIGELOW / NOVUS SELECT
Schifffahrt: Weltweit wurden die Reeder Weltmeister im Bantam-
Opfer des eigenen Größenwahns ................... 80
gewicht. Der mexikanische
Ausland Boxer Abner Mares lebt
Panorama: Die Oppositionelle Sainab den amerikanischen
al-Chawadscha über die Proteste gegen die Traum – und glaubt nicht
Formel 1 in Bahrain / Zerwürfnis zwischen daran.
Vatikan und irischen Katholiken ..................... 82
4 D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2
5. Schuldenkrise: Vorbild Deutschland – wie
Italiener, Spanier, Portugiesen und Griechen
ihre Arbeitsmärkte reformieren ..................... 84
Debatte: Timothy Garton Ash über den
wachsenden Machtanspruch der Türken ........ 90
Israel: Auf nach Berlin! .................................. 92
Frankreich: Wahlkampf der Versprechungen
und Illusionen ................................................ 94
USA: Der Präsidentschaftsbewerber
Mitt Romney und seine Religion .................... 96
China: Der tiefe Fall der Gu Kailai ............... 100
Global Village: Wie zwei Deutsche in
Abu Dhabi Kamele retten wollen ................. 103
Wissenschaft · Technik
Prisma: Rosmarinduft verbessert die
Denkleistung / War der Mars immer schon
ein Wüstenplanet? ........................................ 104
Psychologie: Wie die Überlebenden des
Massakers von Utøya gegen ihr Trauma
Grass, Israel und ein Gedicht
kämpfen ....................................................... 106
Automobile: Gehört die Zukunft den
Seiten 26, 92, 126 Plastikautos? ................................................. 110
Die Debatte um das Israel-Gedicht von Günter Grass geht weiter: SPD- Innovationen: Software-Patente als Waffen ... 111
Chef Gabriel nimmt den Dichter im SPIEGEL in Schutz; junge Israelis Lifestyle: Leiden unter dem Outfit – eine
US-Therapeutin behandelt Patienten mit
blicken entspannt auf Deutsche; der Schriftsteller Michael Kleeberg Kleiderschrank-Depressionen ....................... 112
erklärt das Verhältnis zwischen Israel, dem Islam und Deutschland.
Kultur
AFP
Szene: Martin Roth, Chef des Victoria and
Albert Museum in London, über eine
Street-Art-Ausstellung in Libyen /
Martin Walsers Essay über das Thema
Rechtfertigung .............................................. 114
Sturz eines roten Prinzen Seite 100
Urheberrecht: SPIEGEL-Streitgespräch
zwischen dem Pop-Musiker Jan Delay und
dem Piraten-Politiker Christopher Lauer über
Peking hat Bo Xilai, den populären Parteichef von Chongqing, entmachtet. den Wert der Kunst im digitalen Zeitalter .... 116
Wurde er Opfer der Richtungskämpfe in der KP, oder hat sich seine Familie Kino: Der Disney-Konzern setzt wieder auf
bereichert – und schreckte sie nicht einmal vor einem Mord zurück? Tierfilme mit Löwen und Schimpansen ........ 122
Bestseller ..................................................... 125
Essay: Der Schriftsteller Michael
Kleeberg über das Verhältnis der Deutschen
zu Israel und zum Islam ................................ 126
Das Trauma der Überlebenden Seite 106
Denkmalschutz: In Italien überlässt der Staat
Konzernen den Erhalt von Kulturstätten ...... 130
Filmkritik: „My Week with Marilyn“ erzählt
Mit Fahrten auf die Todesinsel versuchen die Überlebenden des Massakers charmant ein wahres Märchen
von Utøya, ihr Trauma zu bekämpfen. Ob die Therapie hilft, wird sich auch über eine Diva und ihren Verehrer ............... 132
vor Gericht zeigen, wenn die Patienten dem Attentäter wiederbegegnen.
Sport
Szene: Pekings olympische Sportstätten
verkommen / Der Sportarzt Martin Brustmann
– ein Pionier des Dopings im Jahr 1912 ........ 133
Der wahre König Fußball: Wie die Bunkermentalität des Trainers
José Mourinho Real Madrid verändert hat ... 134
Motorradrennen: Superstar Valentino Rossi
der Löwen Seite 122 und sein Rennstall Ducati – eine italienische
Beziehungskrise ............................................ 137
Der britische Regisseur Medien
Alastair Fothergill („Unsere Trends: Thomas Gottschalk zieht Quotenbilanz
Erde“) dreht für den Disney- der ARD nach unten / Neue Runde
Konzern Tierfilme über im Streit um ProSiebenSat.1-Verkauf ............ 139
Raubkatzen und Schim- Verlage: SPIEGEL-Gespräch mit Axel Sven
Springer über seinen Großvater Axel Cäsar
pansen – kindgerechte Doku- und seinen Erbstreit mit dem Konzern ......... 140
mentationen, die Disneys
Zeichentrick-Klassiker „Der Briefe ............................................................... 8
König der Löwen“ nach- Impressum, Leserservice .............................. 148
eifern. Das Vorhaben erfor-
DISNEY FILM
Register ........................................................ 150
dert Kompromisse: Sex im Personalien ................................................... 152
Tierreich ist tabu. Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 154
Titelbild: Foto Axel Martens für den SPIEGEL
D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2 5
6.
7.
8. Briefe
den auf einer Eisenbahnbrücke im wei-
ßen Rauch gestanden. Dort haben wir
gierig den „Duft“ der Lok eingesogen
„Heimat ist, wo mit wenig und immer wieder die Schelte unserer
Mütter hingenommen, so schön fanden
Worten viel gesagt werden wir das Schauspiel! Dies noch einmal rie-
kann und der Dialekt chen zu können, was wäre ich glücklich!
CHRISTEL KRAMER, FERNWALD (HESSEN)
so derb daherkommt,
Sie fragten: „Warum kann man nicht nach
wie der Boden steinig ist.“ Herzenslust Heimat sagen, Heimat lie-
ben, Heimat vermissen?“ Dazu gibt es
eine bewegende Aussage des Mannhei-
SPIEGEL-Titel 15/2012, Ausgabe Bayern KARL WEIS, HOLZGERLINGEN (BAD.-WÜRTT.) mer Juristen Ernst Stiefel, den das Nazi-
Reich zwangsweise nach Amerika ver-
schlagen hat: „Man kann einen Menschen
Nr. 15/2012, Was ist Heimat? – aus seiner Heimat vertreiben, aber nicht
Eine Spurensuche in Deutschland die Heimat aus dem Menschen.“
BERND SCHULTZ, BERLIN
Urige Eingeborene Heimat ist da, wo meine Familie und
Selten zuvor hat mich ein SPIEGEL-Bei- Freunde sind: in Bad Wörishofen, wo ich
trag emotional so berührt. Geboren in die Schule besuchte, in München, wo ich
Datteln (Kreis Recklinghausen) und auf- studierte und arbeitete, in Tirol, wo ich
gewachsen in Dortmund, habe ich meine jahrzehntelang Ferien machte, in Nicara-
MICHAEL TRIPPEL / DER SPIEGEL
Heimat vor drei Jahren studienbedingt gua, das ich in mein Herz geschlossen habe!
verlassen und seitdem phasenweise in DR. HORST ENGLER-HAMM, MÜNCHEN
Mannheim, Frankfurt am Main und Sofia
(Bulgarien) gewohnt. Ich habe die regel-
mäßigen Wechsel meines Wohnorts im- Nr. 14/2012, Gespräch mit Daniel
mer als spannend empfunden. Und eines Cohn-Bendit über das Altern der 68er
habe ich dabei gelernt: Wohnort ist Dortmunder Lokalpatriot vor Hochofen
Wohnort, und Heimat bleibt Heimat.
TOBIAS OHLENHOLZ, MANNHEIM Einer der schönsten Sprüche zur Heimat
Dicke Eier
findet sich bei Tacitus: „Wer hätte auch Mit welcher Nonchalance Cohn-Bendit
Zwölf interessante Landschafts- und Stim- Germanien aufsuchen wollen, landschaft- befindet, Fischer (Siemens) hätte im Ge-
mungsbilder. Und dann ein Brauchtums- lich ohne Reiz, rau im Klima, trostlos für gensatz zu Schröder (Gazprom) nie eine
bild. Und das soll Bayern repräsentieren? den Bebauer wie für den Beschauer, es Grenze überschritten! Als gäbe es einen
Für einen Franken ein starkes Stück und müsste denn seine Heimat sein?“ Unterschied zwischen Räuber und Bandit.
garantiert kein Bild meiner Region. EBERHARD FOTH, WALDBRONN (BAD.-WÜRTT.) Beiden würde ich heute die Hand nicht
ANDREAS GEISLER, NÜRNBERG reichen.
Danke dafür, dass ihr uns urigen Einge- GODRAM MOHR, RAVENSBURG
Mich wundert nicht, dass im Artikel die borenen am Weißwurstäquator durch das
Millionen Heimatvertriebenen nicht er- Titelbild für die Region Bayern klarge- Mein Gott, SPIEGEL! Was interessieren
wähnt wurden: politisch unkorrekt! In un- macht habt, was unsere Heimat ist: die mich die dicken Eier von Daniel Cohn-
serem Großfamilienhaus hinter den Dü- Bühne des Tegernseer Bauerntheaters, Bendit? Angesichts der Aussage: „Mein
nen an der Ostsee leben seit 1945 Polen. wo wir Jodelheinis in der Lederhosn Holz ständiger Flirt mit allen Kindern nahm
Ist uns recht geschehen, wir waren ja alle hacken für die „preißischen“ Gäste und bald erotische Züge an“, kann man ja nur
Nazis, auch ich, das Kind, auch meine wo die Jungs nicht das Smartphone, son- hoffen, dass der Grüne Bendit seinen
alte Großmutter. Pardon, aber nicht einen dern den Sepplhut am Ohr haben. Phallus nur selbst im Griff hatte, auch
Tag vergesse ich meine verlorene Heimat. MAXIMILIAN APFELBÖCK, SCHWABACH (BAYERN) ohne Viagra. Ja, auch ich habe Angst vor
Die Deutschtürkin Selçuk hat zumindest dem Tod. Was mich aber jetzt am meisten
die Möglichkeit, nach Istanbul zurück- In meiner Heimatstadt Gießen, geschun- ängstigt, ist ein solcher Aufmacher in ei-
zukehren. den nach dem Krieg, zu 80 Prozent in nem Nachrichten-Magazin.
DAGMAR GALIN-BROCKSIEN, Schutt und Asche gelegt, habe ich als THOMAS BÖWER, HAMBURG
SAINT BONNET DE BELLAC (FRANKREICH) Kind täglich mit Geschwistern und Freun- VIZEPRÄS. DEUTSCHER FAMILIENVERBAND
Wie man es auch dreht und wendet: Die
Gewissheit, eine Heimat (gefunden) zu
haben, ist das Resultat intensiver Selbst-
Diskutieren Sie im Internet
findung, ganz unabhängig von irgendwel- www.spiegel.de/forum und www.facebook.com/DerSpiegel
chen geografischen Koordinaten.
MATTHIAS KAISER, HAUSACH (BAD.-WÜRTT.) ‣ Titel Was können Unternehmen gegen Mobbing tun?
Heimat ist ein weiter Raum mit Traditio- ‣ Umwelt Sollte Busfahren kostenlos sein?
nen, die wir zu pflegen haben. Das kann
nicht bloß konservativ-folkloristisch, son- ‣ Internet Schluss mit der Anonymität in Blogs
dern muss sehr zeitbezogen sein. und Foren?
RUDOLF PRIEMER, GRIMMA (SACHSEN)
8 D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2
9.
10. Briefe
Nr. 14/2012, Wie Rumänen ihr Dorf nach ihrerseits abverlangt, zum Beispiel die
Berlin verlegen Kinder rechtzeitig zu Bett zu bringen und
rechtzeitig zu wecken, wird nicht mit der
In Gottes Hand? nötigen Selbstdisziplin angenommen. Sie
ziehen es vor, ihre Zukunft in Gottes
Das Geld schenkt Mama Angela? Die So- Hand zu legen.
zialhilfe der Staat? Mit dieser Lebenslüge JOSEFINE NEUMANN UND HELGA METTERNICH,
halten wir erwachsene Menschen ein Le- BERLIN
ben lang infantil. Denn das alles bezahlen
Busfahrer, Putzfrauen, Verkäuferinnen, Nr. 14/2012, Mangelnde Kontrolle
Lehrer und viele andere Menschen, die im Organspendewesen
von morgens bis abends arbeiten. Von ih-
rem Monatslohn wird das Geld abgezo-
gen. Hier ist das Gleichgewicht zwischen
Handfestes Geschäft
Geben und Nehmen gestört. So wird das Der gutrecherchierte Beitrag macht deut-
Sozialhilfe-Nomadentum gefördert. Be- lich, dass es bei der Transplantations-
ten für Angela ist gut. Gerechter wäre es medizin keineswegs nur um den humanen
aber, wenn die erste Frage der Angekom- Aspekt der sogenannten Organspende
menen lauten würde: Und was können
wir für euch tun?
DR. BOGLARKA HADINGER, TÜBINGEN
Ein Stück, eine Beschreibung, die dem
Leser die Chance lässt, seine eigenen
Schlüsse zu ziehen – diese unaufgeregte,
kurze und doch sehr spannende Repor-
tage von Özlem Gezer ist einfach gut ge-
machter Journalismus.
EPD
RALF SCHEMEL, LEIPZIG
Organtransplantation, Transportbox
Bleibt zu hoffen, dass die volkswirtschaft-
liche Chance, die Kinder der beschriebe- geht, sondern auch um ein handfestes Ge-
nen Familien gut auszubilden und durch schäft, im Übrigen auf der Basis einer
beruflichen Erfolg zu Einzahlern in unser vorsätzlichen Täuschung. Denn die
Sozialsystem werden zu lassen, nicht „Spender“ sind weder tot noch Spender,
durch ordnungspolitisches Handeln ver- soweit sie keinen Organspenderausweis
tan wird. unterschrieben haben. Wenn Angehörige
MARTIN RAUNER, WUPPERTAL ihre Zustimmung geben, spenden sie et-
was, das ihnen nicht gehört.
Wir haben in ehrenamtlicher Arbeit mit RICHARD FUCHS, DÜSSELDORF
den Neuköllner Roma-Familien tiefe Ein-
sichten in deren Welt gewonnen. Auf- Es erinnert mich an das Drückergebaren
übler Verkäufer an der Haustür, wenn die
Krankenkassen offizielle Formulare der
Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
klärung an ihre Mitglieder versenden, den
Organspendeausweis. Das von mir so
empfundene Täuschungsmanöver bestä-
tigt leider meine große Skepsis gegenüber
der Organspende in der BRD.
REGINA WINSMANN, WEDEMARK (NIEDERS.)
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL
Korrekturen
zu Heft 13/2012
Seite 117, „Falscher Abschied“: Die
vermeintlich letzten Worte „Wehe
Roma-Unterkunft in Berlin mir, ich glaube, ich habe mich be-
schissen“ wurden nicht dem römi-
grund ihrer Religion stehlen die Neuköll- schen Kaiser Tiberius zugeschrieben,
ner Roma nicht, sie schlagen ihre Frauen sondern Kaiser Claudius.
nicht, sie trinken keinen Alkohol, sie flu-
chen nicht, sie rauchen nicht einmal. Zum zu Heft 14/2012
anderen aber haben sie sehr große Seite 54, „it(wert1==wert2){“: Die in
Schwierigkeiten damit, die Wichtigkeit der Überschrift und später auch im
der zahlreichen Integrationsangebote ein- Text genannte Anweisung muss mit
zusehen, vor allem für ihre Kinder. Alles, if anstelle von it beginnen.
was auch nur die geringste Anstrengung
10 D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2
11.
12. Briefe
Nr. 14/2012, Der Versuch, mit Mathematik Ganz ohne die von Ihnen thematisierten te ich, dann sagte ich meinem Sohn:
Menschen zusammenzubringen „Kopfstandhocker“ und „Klangschalen“ „Kümmer dich in Zukunft selbst um deine
besuchen wir seit mehreren Jahren mit Schulsachen, wenn du Hilfe brauchst, bin
Werk des Zufalls großem persönlichen Gewinn unseren ich da!“ Das funktioniert seit drei Mona-
„Yogakurs für den gesunden Rücken“. ten, seine Noten haben sich nicht verän-
Kostenpflichtige Partnerbörsen im Inter- Wir wagen zu behaupten, dass durch die-
net haben oft den Nachteil, dass sich die sen Yoga-Kurs und die davon ins tägliche
Nutzungsverträge automatisch verlän- Leben übernommenen Anregungen auf
gern. Auch ich habe meine Partnerin über Dauer weniger Besuche beim Orthopä-
das Internet kennengelernt, allerdings in den und Bitten um die rar gewordene Ver-
einer kostenlosen Single-Börse, ganz ohne schreibung von Krankengymnastik und
Fragebögen, Liebesformel und Psycho- Massage nötig sind.
THOMAS KOEHLER / PHOTOTHEK
tests. BEATE ERDMANN UND IDA PANKRAZ, BONN
FRANK SCHULZE, HAMBURG
Als Entspannungsmethode wäre Autoge-
Nach knapp zwei Jahren Parship komme nes Training tatsächlich einfacher und bil-
ich zu folgendem Resümee: Auch noch liger. Yoga kann aber durchaus körperlich
so ausgeklügelte Charakterformeln än- und psychisch wirksame Prävention be-
dern nichts daran, dass alles ein Werk des inhalten. Dazu müsste berücksichtigt wer- Junge Gymnasiasten
Zufalls bleibt. Der emotionale Einsatz ist den, dass Menschen in der westlichen Kul-
hoch, das Ergebnis oft enttäuschend. Bei tur anders sozialisiert werden als in In- dert. Er schreibt Dreien und Vieren, das
Parship muss Mann – erst recht, wenn er dien. Deswegen sollte Yoga hier in der ist total okay, so fällt er nicht durch und
der Generation 60plus angehört – stark Regel mit psychologischer Selbsterfah- schafft das Abi. Was will ich denn mehr
bleiben. rung ergänzt werden, anstatt solche er- von ihm?
RAINER RUTZ, MÜNCHEN setzen zu wollen. Leider handelt es sich SANDRA CAPRARELLA, STUTTGART
oft wirklich nur um indische Folklore. Die
Das größte Problem vieler Menschen ist, westliche Yoga-Szene scheint weniger auf Wer heutzutage in der letzten Reihe sitzt,
dass sie zu hohe Ansprüche an einen et- Qualität als auf Quantität zu setzen. schwätzt, hinter dem Heft mit dem
waigen Partner stellen. Die Verweige- DR. BRIGITTE HALEWITSCH, KÖLN Handy spielt und sich sonst nicht am Un-
YOGA-LEHRERIN terricht beteiligen mag, bekommt bei den
meisten Lehrern noch eine Vier. Vier, das
heißt wörtlich „ausreichend“ und gilt als
JÖRG MÜLLER / AG. FOCUS / DER SPIEGEL
Nr. 14/2012, Warum es falsch ist, aus bestanden. Mit Strebertum und chinesi-
unseren Kindern Streber zu machen schen Verhältnissen hat die Realität an
deutschen Schulen nichts zu tun.
Im Takt des Zeitkorsetts MICHAEL KIND-LUNDT, GUMMERSBACH (NRW)
SCHÜLER
Der Artikel trifft unsere Situation genau.
Nichts ist „unserem“ Schulalltag ferner Dieser Artikel hetzt die Gesellschaft ge-
als Gelassenheit. Kinder, Eltern und Leh- gen Schüler auf, die gern mehr für den
Diagramm aktiver Parship-User rer sind gehetzt, gestresst und nie mit Unterricht tun. Es irritiert mich, wie El-
der Arbeit fertig. Jedes Vertiefen, Aus- tern, deren Kinder lieber „Musik hören
rung, Menschen näher kennenzulernen, probieren, jede Hingabe an ein Thema oder Fußball spielen oder einfach gar
die nicht den Wunschvorstellungen ent- bringt „unser“ Zeitkorsett aus dem Takt. nichts tun“, die Schüler, die freiwillig ihre
sprechen, hat vielleicht zur Folge, dass Angesichts des immer offensichtlicher Zeit in Schulaufgaben stecken, nicht re-
es keinen zweiten Blick „hinter die Ku- werdenden Wahnsinns entscheiden „wir“ spektieren und diese lieber als Produkt
lissen“ gibt. Dieser würde aber vielleicht uns immer häufiger für die frische Luft ehrgeiziger Mittelschichtler darstellen.
doch einen Menschen enthüllen, mit dem anstelle des Schreibtischs. Solche Diskriminierung wird von diesen
man sein Leben verbringen möchte. KATHRIN UND ELMAR KRASKA, DUISBURG Eltern an ihre Kinder weitergegeben.
FRAUKE SCHÖNHOFF, BOCHUM A. ORBEN, FRANKFURT AM MAIN
Nach einem Schlüsselerlebnis muss ich SCHÜLERIN
nicht mehr büffeln: Ein Bekannter sagte
mir, es sei doch normal, dass mein Sohn, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
Nr. 14/2012, Teuer und gefährlich – Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
die Schattenseiten des Yoga-Booms 11, keine Verantwortung für die Schule tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
übernehmen wolle. Ein paar Tage grübel- leserbriefe@spiegel.de
Ganz ohne Klangschalen
Zwar habe ich Yoga selbst nie betrieben,
aber ich habe einen Arbeitskollegen, der
angibt, durch regelmäßiges Yoga keine
Aus der SPIEGEL-Redaktion
Rückenbeschwerden mehr zu haben. Geschichte und Politik, Kultur und Religion – zu diesen Themen
Wahrscheinlich ist es so, dass man mit hat der SPIEGEL im vergangenen Jahr große Wissenstests
Yoga gesundheitlichen Problemen besser veröffentlicht, die Taschenbuchreihe „Wie gut ist Ihre Allgemein-
begegnen kann, als die Pharma-Industrie bildung?“ fand Hunderttausende Leser. Auf all die schweren
(und der SPIEGEL) es zugeben will. Wie- Stoffe folgt nun ein Test zum Thema Fußball, der unwichtigsten
so sollten die Krankenkassen nicht auf Hauptsache der Welt. Das Buch enthält 150 Fragen zu bekann-
diese Weise in die Gesundheit ihrer Ver- ten Ereignissen, berühmten Spielern und mancher Skurrilität,
sicherten investieren? dazu Interviews mit den Stürmern Uwe Seeler und Mario Gomez.
GORDINA STECKERT, KÖLN Es erscheint am 19. April.
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13.
14.
15. Panorama Deutschland
DANIEL ROSENTHAL / LAIF
Salzstock Gorleben
AT O M M Ü L L
das nach Jahre dauerndem Streit eine
Grundlage für eine geordnete Suche
Einigung über Endlagergespräche
nach einem Atomendlager bieten soll.
Ein ursprünglich für den 11. März ge-
plantes Treffen war wegen Unstimmig-
keiten geplatzt. Umstritten ist vor allem,
Die Verhandlungen über ein Gesetz zur weltminister Norbert Röttgen (CDU), ob und wie der Salzstock Gorleben mit
Endlagersuche stehen anscheinend vor die Ministerpräsidenten von Nieder- anderen potentiellen Standorten vergli-
einem Durchbruch. Nach wochenlan- sachsen und Baden-Württemberg, Da- chen werden soll. Jetzt rechnet Röttgen
gem Ringen haben sich Vertreter von vid McAllister (CDU) und Winfried offenbar mit einer Einigung. „Ziel ist
Regierung und Opposition auf den 24. Kretschmann (Grüne), teilnehmen so- es, den jahrzehntelangen Kampf um
April als Termin für ein Spitzen- wie SPD-Chef Sigmar Gabriel und der diese Frage endlich zu beenden und bis
gespräch zum sogenannten Standort- Grünen-Fraktionschef im Bundestag zum Sommer ein Rahmengesetz über
auswahlgesetz geeinigt. An dem Tref- Jürgen Trittin. Bund und Länder bera- die einzelnen Verfahrensschritte zu be-
fen sollen unter anderem Bundesum- ten seit fünf Monaten über ein Gesetz, schließen“, sagt er.
RECHTSTERRORISMUS
serie mit einem Sprengstoffanschlag schen den Radfahrern. In ihrem Be-
des NSU in Köln untersucht, bei dem richt fasste die Soko „Bosporus“ im
Zwei Männer auf im Juni 2004 22 Menschen teils lebens-
gefährlich verletzt wurden: Auch hier
Mai 2008 zusammen: „Aufgrund der
Opferauswahl (Türken)“ und „der Ver-
Fahrrädern waren zwei Männer mit Mountain-
bikes gesehen und von einer Video-
kamera gefilmt worden. Die Ermittler
wendung von Fahrrädern“ könne „ein
Zusammenhang nicht ausgeschlossen
werden“. Sogar im Fall der 2007 in
Bayerische Ermittler waren den Terro- zeigten einer Zeugin des dritten Nürn- Heilbronn ermordeten Polizistin Mi-
risten des „Nationalsozialistisches Un- berger Mordes die Aufnahmen: Die chèle Kiesewetter gab es Hinweise auf
tergrunds“ (NSU) offenbar dichter auf Frau erkannte Ähnlichkeiten zwi- verdächtige Radler: Gleisarbeiter der
der Spur als bislang bekannt. Wie aus Bahn hatten damals zwei Mountain-
einem vertraulichen Bericht der Son- bike-Fahrer beobachtet, die in unmit-
derkommission „Bosporus“ hervor- telbarer Nähe des Tatorts miteinander
geht, war den Fahndern bereits früh diskutierten. Wenig später seien
ein außergewöhnliches Muster im Ver- Schüsse gefallen. Warum der Radfah-
halten der Täter aufgefallen: In vier rer-Spur letztlich keine größere Be-
von neun Mordfällen der sogenannten deutung beigemessen wurde, ist un-
Ceska-Serie hatten Zeugen jeweils klar.
zwei Männer auf Fahrrädern beobach- Ein weiteres potentielles Opfer des
tet, die sich in Tatortnähe aufhielten. braunen Terrorkommandos war offen-
Die detaillierten Personenbeschrei- bar der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl.
bungen passen teilweise exakt auf die Durch einen Anruf des Bundeskrimi-
NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und nalamts erfuhr der Bundestagsabge-
Uwe Mundlos, die im November nach ordnete nach dem Tod der Terroristen,
einem Banküberfall in Eisenach er- dass Mundlos und Böhnhardt ihn of-
schossen gefunden wurden. Das ver- fenbar bereits ausgespäht hatten.
dächtige Radfahrer-Duo war dem Er- „Sehr gute Lage, Zugang im Garten“,
mittlungsbericht zufolge zuerst im hatten sie auf einer Liste notiert. Uhls
September 2000 gesichtet worden, als Wahlkreisbüro gehört zu einer Reihe
in Nürnberg ein türkischer Blumen- von Adressen von Prominenten, Ver-
POLIZEI KÖLN / DPA
händler ermordet wurde. Dann tauch- einen und Politikern, die Ermittler am
te es 2001 (München), 2005 (Nürnberg) Wohnsitz der Terrortruppe in der
und 2006 (Dortmund) an Tatorten auf. Zwickauer Frühlingsstraße fanden und
Überdies hatte die bayerische Polizei die sie für eine mögliche Todesliste
eine mögliche Verbindung der Mord- Fahndungsfoto nach Kölner Anschlag 2004 halten.
D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2 15
16. Panorama
L U F T FA H R T
line, kann der Passagier zwar beim LBA
einen Verstoß anmelden, die Ausgleichs-
Entschädigung gleich ausbezahlen
zahlung muss er aber vor Gericht er-
streiten. Neuerdings gibt es sogar eigene
Service-Unternehmen wie EUclaim, die
anbieten, die Ansprüche für die Pas-
Die Zahl der Bußgeldverfahren gegen ein Bußgeld, das bis zu 25 000 Euro be- sagiere einzufordern. „Die Regierung
Fluggesellschaften wegen verspäteter trug. Insgesamt über 2,3 Millionen Euro muss die Airlines endlich zwingen, eine
oder annullierter Flüge steigt sprunghaft mussten die Airlines seit Einführung Schlichtungsstelle zu akzeptieren“, sagt
an. Im vergangenen Jahr ermittelte das neuer Fluggastrechte im Jahr 2005 zah- Tressel. Das Bundesverkehrsministe-
Luftfahrtbundesamt (LBA) bei 1787 Be- len. „Trotzdem kontrolliert die Bundes- rium bestätigte dem Parlamenta-
schwerden von Passagieren. Sie hatten regierung immer noch nicht ausreichend rier indes, was viele Passagie-
insbesondere darüber geklagt, dass ih- die Durchsetzung der Fluggastrechte“, re nicht wissen: Die Air-
nen die Airlines den bei Verspätungen kritisiert der Grünen-Abgeordnete Mar- lines müssen die Ent- 1787
ab drei Stunden zustehenden Ausgleich kus Tressel, der eine parlamentarische schädigung noch
von mindestens 250 Euro nicht auszahl- Anfrage zu diesem Thema im Bundes- am Flughafen
ten. In 161 Fällen verhängte das LBA tag gestellt hatte. Weigert sich die Air- auszahlen. 1222
Bußgeldverfahren gegen 942 11616
696 stark verspätete*
Fluggesellschaften und annullierte
Flüge deutscher
seit Einführung neuer Fluggastrechte Fluggesellschaften
2005, deutsche und internationale 2011
Fluggesellschaften 243
1 37 * ab 3 Stunden Verspätung
Quelle: Bundesverkehrs-
ministerium, EUclaim 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011
FINANZPOLITI K
wird sie sich im Wahlkampf dafür ver- profitieren. SPD und Grüne wollen
antworten müssen“, sagt CSU-Gene- das Gesetz im Bundesrat ablehnen.
Steuern runter, ralsekretär Alexander Dobrindt. Ähn-
lich äußerte sich Unionsfraktionsvize
„Wir bleiben bei unserem Nein, weil
die Koalition die falschen Prioritäten
Schulden rauf? Michael Meister (CDU): „Die Koali-
tion hat ihre Hausaufgaben gemacht,
jetzt sind andere gefordert, ihren Bei-
setzt“, sagt die finanzpolitische Spre-
cherin der SPD-Bundestagsfraktion,
Nicolette Kressl. Schuldenabbau und
Die steigende finanzielle Last der Bun- trag zur Entlastung der Arbeitnehmer Bildungsinvestitionen hätten Vorrang
desbürger hat die Debatte über die zu leisten.“ Die schwarz-gelbe Koali- vor einer Entlastung der Bürger. „So-
Steuerpolitik neu angefacht. Führende tion hatte Ende März ein Gesetz im lange der Bundeshaushalt ein riesiges
Unionspolitiker warnten SPD und Bundestag verabschiedet, mit dem die Defizit aufweist, können wir uns Min-
Grüne davor, die von der Koalition ge- sogenannte kalte Progression abgemil- dereinnahmen nicht leisten“, sagt auch
planten Steuersenkungen zu verhin- dert werden soll. Diese ist dafür ver- Grünen-Finanzexperte Gerhard
dern. „Wenn die SPD die Entlastung antwortlich, dass Arbeitnehmer von Schick. Zudem seien die schwarz-gel-
der Bürger im Bundesrat blockiert, Lohnerhöhungen real vielfach nicht ben Reformpläne „sozial ungerecht“.
LINKE
als falsche Strategie. Im Hinblick auf hängigkeit von Lafontaines Entschei-
die Wahlkämpfe müsse zügig geklärt dung für fatal: „Eine Partei muss dafür
Die Wut wächst werden, mit wem die Partei in die Zu-
kunft gehen wolle. Auch der Landes-
vorsitzende von Mecklenburg-Vorpom-
sorgen, dass sie eigenständig agiert
und nicht darauf wartet, was einer
sagt.“ Bockhahn wendet sich gegen
Nach dem Rücktritt der Vorsitzenden mern, Steffen Bockhahn, hält die Ab- eine Rückkehr Lafontaines: „Wir brau-
Gesine Lötzsch wächst in der Linken chen keinen Erlöser.“ Die Linke solle
die Wut über das Schweigen von Os- „jetzt schon an übermorgen denken“
kar Lafontaine. Der saarländische und sich „auf etwas jüngere Leute kon-
Fraktionschef will erst nach der Land- zentrieren“. Matthias Höhn, Landes-
tagswahl in Nordrhein-Westfalen am chef in Sachsen-Anhalt, fordert ein
13. Mai erklären, ob er im Juni wieder Ende des „Wettrennens um den spa-
für den Vorsitz der Linken kandidie- ßigsten Personalvorschlag“. Eine soli-
BECKERBREDEL
ren wird. Die Vize-Vorsitzende Katja de Vorbereitung des Bundesparteitags
Kipping kritisierte das in einer Tele- Lafontaine Anfang Juni in Göttingen sehe anders
fonkonferenz der linken Landeschefs aus.
16 D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2
17. Deutschland
MARIO VEDDER / DAPD
Verteilung von Gratis-Koranen an einem Stand in Offenbach
SALAFISTEN
„dass in der Vergangenheit Geldströme
von der Arabischen Halbinsel an das
Dubiose Finanzströme salafistische Netzwerk in Deutschland
geflossen sind.“ Laut der Vereinigung
werden die Kosten durch den Verkauf
Verfassungsschützer rätseln über die von Koranen an Muslime und Spenden
Finanzierung der umstrittenen Aktion finanziert.
salafistischer Prediger, die kostenlose
Korane in deutschen Innenstädten ver-
teilen. „Ich gehe davon aus, dass es
externe Geldgeber gibt“, sagt Hans- ZAHL DER WOCHE
Werner Wargel, Chef des niedersächsi-
schen Landesamts für Verfassungs-
schutz. Die als extremistisch eingestuf-
te salafistische Vereinigung „Die wahre
Religion“ ließ bei der Ulmer Druckerei
Etwa 500 000 Bibeln
Ebner & Spiegel in sechs Tranchen ins- der Deutschen Bibelgesellschaft wur-
gesamt 300 000 Exemplare des Korans den laut United Bible Societies in
in deutscher Sprache drucken. Die Kos- deutscher Sprache 2010 verkauft
ten in Höhe von rund 300 000 Euro oder verschenkt. Nicht nur Privatper-
überwiesen die Salafisten vorab. Mögli- sonen erhalten die Heilige Schrift,
che Geldgeber für das Projekt vermu- sondern auch Hotels, Kreuzfahrtschif-
tet der niedersächsische Verfassungs- fe, Altersheime, Schulen oder Kran-
schutz in Saudi-Arabien oder Katar. kenhäuser nehmen die Bibeln ab.
„Wir haben Erkenntnisse“, so Wargel,
P L AG I AT E
schen Denkens in den USA und
Europa“ promoviert. Der Promotions-
Ohne Dr. kein Prof. ausschuss hat bereits empfohlen, den
Titel zu entziehen. Die Technische Uni-
versität Braunschweig will eine beste-
Der FDP-Politikerin und Unternehme- hende Honorarprofessur widerrufen,
rin Margarita Mathiopoulos droht der falls die Universität Bonn Mathiopou-
Verlust ihrer beiden Honorarprofessu- los den Doktorgrad rechtskräftig ab-
ren. Grund ist die anstehende Entschei- erkennen sollte. Das gleiche Vorgehen
dung des Bonner Fakultätsrats, der die- hat die Universität Potsdam angedeu-
se Woche klären soll, ob die Politikerin tet. Eine Sprecherin der TU Braun-
in ihrer Doktorarbeit plagiiert hat oder schweig erklärte, die Hochschule bestel-
nicht. Darüber wird seit mehr als 20 le „nur solche Personen zu Honorarpro-
Jahren gestritten. 1986 hatte Mathio- fessorinnen oder Honorarprofessoren,
poulos an der Philosophischen Fakultät die nach ihren wissenschaftlichen Leis-
Bonn über den „Vergleich des politi- tungen den Anforderungen genügen“.
D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2 17
18. Deutschland Panorama
JOERG SARBACH
Pferderennsport-Veranstaltung im Watt vor Cuxhaven
GLÜCKSSPIEL
Kraft treten soll, sei nicht europarechts- stimmung erwartet. Dürr begründet den
konform und zu restriktiv für die Sport- Umschwung damit, dass die EU-Kom-
FDP lenkt ein
wettenanbieter. In mehreren Ländern mission in einem Schreiben anders als
drohte deshalb eine Ratifizierung an erwartet keine grundlegenden Beden-
einem Veto der Liberalen zu scheitern. ken gegen den Vertrag geäußert habe.
Nun aber kündigt etwa der niedersäch- In der Partei heißt es aber auch, die Ent-
Die Freien Demokraten geben ihren Wi- sische FDP-Fraktionsvorsitzende Chris- scheidung sei eine Kompensation dafür,
derstand gegen einen neuen Glücks- tian Dürr an: „Wir stimmen zu.“ Auch dass sich die CDU in Niedersachsen, wie
spielstaatsvertrag der Länder auf. Bis- die Freien Demokraten in Bayern wol- von den Liberalen gewünscht, gegen
lang hatten die Liberalen stets kritisiert, len das Vorhaben nicht weiter behin- eine Transfergesellschaft für die Schle-
die Vereinbarung, die zum 1. Juli in dern. In Hessen wird ebenfalls eine Zu- cker-Mitarbeiter ausgesprochen habe.
ORDEN N O R D R H E I N -W E S T FA L E N V O R R AT S DAT E N
Ehrt Gauck Klarsfeld? Sprechblase geplatzt Frostige Zeiten
Bundespräsident Joachim Gauck be- Die Wahlkämpferinnen Hannelore Kurz vor Ablauf der ultimativen EU-
kommt einen heiklen Fall auf den Kraft (SPD) und Sylvia Löhrmann Aufforderung, die Richtlinie zur soge-
Tisch – die Ordensangelegenheit Beate (Grüne) müssen ihre vielbeschworene nannten Vorratsdatenspeicherung um-
Klarsfeld. Er wird dazu gedrängt, sei- Frauenfreundschaft einer Belastungs- zusetzen, steuert der Dauerkonflikt
ner Gegenkandidatin und weltweit an- probe unterziehen. Anlass ist eine Pla- zwischen FDP und Union auf eine Es-
erkannten Nazi-Jägerin das Bundesver- katidee der Grünen, die der Regie- kalation zu. Obwohl Bundeskanzlerin
dienstkreuz zu verleihen. Entsprechen- rungschefin Kraft zu weit geht. Das Angela Merkel die Hauptkontrahenten
de Schreiben der Linkspartei und des vergangene Woche präsentierte Wahl- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Initiativkreises Deportationsausstel- plakat zeigt die beiden Frauen auf (FDP) und Hans-Peter Friedrich (CSU)
lung Bielefeld sind im Bundespräsidial- grünem Grund mit der Überschrift Ende März ermahnt hatte, sich zu ver-
amt eingetroffen. Außerdem befürwor- „Schön, wenn Frauen wieder den ständigen, bleiben die Fronten verhär-
tet auch das Land Berlin weiterhin den Haushalt machen – Grün macht den tet. Die Justizministerin hatte nach
Vorschlag, Klarsfeld zu ehren. Gaucks Unterschied“. Eine knallige Sprechbla- dem Gespräch mit der Kanzlerin ihren
Behörde versucht, den Vorgang auf se legt Kraft eine Zweitstimmenkam- Alternativvorschlag eines sogenannten
dem Amtsweg zu erledigen. Sie be- pagne für die Grünen in den Mund. Quick-Freeze-Modells zur Abstim-
streitet, dass Berlin für die Beurteilung Das Plakat musste auf ihr Betreiben mung an die beteiligten Ministerien ge-
der „Ordenswürdigkeit“ zuständig sei. hin eingestampft und ohne Sprechbla- schickt. Danach sollen vorhandene
Nach Ansicht des Präsidialamts ist für se neu gedruckt werden. Die beiden Telefonverbindungsdaten nur in kon-
die in Paris lebende Klarsfeld das Aus- Frauen regieren Nordrhein-Westfalen kreten Verdachtsfällen aufbewahrt
wärtige Amt verantwortlich, das be- und wollen das Bündnis auch nach der werden. Für Internetdaten schlägt sie
reits mehrmals gegen die Auszeich- Neuwahl am 13. Mai fortsetzen. Bis da- eine anlasslose Speicherung vor, aller-
nung votiert hat. Klarsfeld ist im Besitz hin gehen sie vorerst als Rivalinnen dings lediglich für eine Woche. Minis-
eines deutschen Reisepasses. Außer- auf Stimmenfang. ter Friedrich bleibt demgegenüber bei
dem hat sie einen Personalausweis seiner Auffassung, dass dieses Modell
vom Einwohneramt der Hauptstadt mit nicht den Vorgaben der EU-Richtlinie
heimischer Adresse. Deshalb rekla- entspreche und deshalb auch nicht das
miert Berlin die Prüfungskompetenz drohende Verfahren vor dem Europäi-
für sich. Eine Ehrung war schon etliche schen Gerichtshof verhindern könne.
Male abgelehnt worden, offenbar weil Dafür sei eine anlasslose, sechsmonati-
Klarsfeld 1968 Kanzler Kurt Georg Kie- ge Speicherung aller Verbindungs-
singer wegen dessen NSDAP-Mitglied- daten notwendig. Vor diesem Hinter-
schaft geohrfeigt hatte. Aus dem Präsi- grund dürften Union und FDP nur
dialamt heißt es nun, Gauck werde schwer noch vor Ablauf der Frist aus
sich persönlich eine Meinung bilden Brüssel zu einem gemeinsamen Ergeb-
und „zu gegebener Zeit“ entscheiden. Wahlplakat mit strittiger Sprechblase nis kommen.
18 D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2
19.
20. GORDON WELTERS / STERN / LAIF
Treffen der Jungen Piraten in Berlin: Sie treibt keine Idee an, sondern der Glaube an die Macht der Technik
PA R T E I E N
Aufstand der Autoren
Bislang schien der Aufstieg der Piratenpartei unaufhaltsam, nun formiert sich Wider-
stand. Künstler und Intellektuelle erklären ihren Protest gegen den laxen
Umgang mit geistigem Eigentum. Die Piraten haben Mühe, Antworten zu finden.
W
enn es um revolutionäre Bewe- er den Grünen die Daumen gedrückt, bei nichts. Es ist sogar überraschend spieß-
gungen geht, ist Hans Magnus ihrem Marsch durch die Parlamente. bürgerlich. Wie bei unseren Großeltern,
Enzensberger, 82, ein idealer Am Donnerstag vergangener Woche die sich gefreut haben, wenn es was um-
Auskunftgeber. Der Essayist, Dichter und packt er in seiner Wohnung in München sonst gab.“
Schriftsteller war zunächst als Beteiligter, seinen Koffer. Am folgenden Tag wird er Pause. Kurzes Gegrummel. Dann noch
dann als Zaungast und Chronist bei je- in Belfast erwartet, wo sein Oratorium zwei Sätze, bevor es wieder ans Packen
dem politischen Aufbruch dabei, der in „Untergang der Titanic“ zur Aufführung geht.
den vergangenen fünf Jahrzehnten in die kommt; aber bevor er sich auf den Weg „Ich frag mich, warum die nicht zum
Zukunft führen sollte. macht, will er doch noch ein paar Worte Bäcker gehen und da sagen, dass sie lie-
Er hat an der Wiege der 68er gestan- zur Piratenpartei sagen, der neuen Hoff- ber nicht bezahlen wollen. Warum muss
den, da war er noch Marxist. Er hat mit nung am politischen Firmament. das immer gegen uns Autoren gehen?“
den Sozialdemokraten gefiebert, als es „Politisch? Nein, politisch ist da eine Die Piratenpartei hat in ihrer kurzen
gegen Franz Josef Strauß und später ge- Leerstelle“, knurrt Enzensberger durchs Karriere schon einige bemerkenswerte
gen Helmut Kohl ging. Und natürlich hat Telefon. „Revolutionär ist da erst recht Rekorde aufgestellt. Keine andere Partei
20 D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2
21. Deutschland
hat in so kurzer Zeit einen so steilen Es hat ein wenig gedauert, bis sich der Die Piraten müssen nun sogar mit dem
Höhenflug erlebt, seit der Berlin-Wahl Widerstand formierte. Mehr Demokratie Vorwurf leben, die Axt an die deutsche
im September vergangenen Jahres mar- zu wagen ist ein Versprechen, das bei Ver- Kulturnation zu legen.
schierten sie in den Umfragen auf jetzt tretern der Geisteswelt immer auf Zustim- Zum ersten Mal steht die Partei einem
13 Prozent. Keine andere Partei hat mehr mung stößt. Aber je genauer die Autoren harten Kontrahenten gegenüber, der
Zulauf. 25 000 Mitglieder meldete die Par- und Künstler hinsehen, desto weniger nicht im Verdacht steht, Parteipolitik zu
teiführung vergangene Woche, damit ist gefällt ihnen das, was sie entdecken. betreiben. Die Künstler fordern die Pira-
die junge Formation schon jetzt fast halb Mit dem Aufstieg der Piratenpartei hat ten auf, eine Lösung anzubieten, wie
so groß wie die 32 Jahre alte Partei der auch ihre Kernforderung nach einer Re- Kreative Geld verdienen können, wenn
Grünen. Nun kommt eine weitere Pre- form des Urheberrechts Konjunktur. Was ihre Werke im Internet von anderen kos-
miere hinzu: Die Piraten sind die erste sie dazu an Ideen formulieren, berührt tenlos bereitgestellt werden.
Partei links der Mitte, die einen Gutteil die Existenzgrundlage vieler Künstler. So Doch genau dazu sind die Piraten nicht
der Intellektuellen nicht für, sondern ge- wollen die Piraten das Recht auf die in der Lage, und das nicht nur, weil ihr
gen sich hat. „nichtkommerzielle Vervielfältigung“ Programm so lückenhaft ist. Das Prinzip
Wenn es um die gute Sache geht, den festschreiben. Künftig wären nur noch der radikalen Basisdemokratie führt da-
Einsatz für mehr Demokratie und Gerech- Unternehmungen verboten, die mit dem zu, dass die Partei in Krisensituationen
tigkeit, dann ist auf die Künstler eigent- illegalen Angebot von Musik, Büchern nicht wirklich sprechfähig ist. Jede Äu-
lich immer Verlass. Seit Günter Grass vor oder Filmen im Internet ihr Geschäft be- ßerung eines führenden Mitglieds muss
40 Jahren für Willy Brandt und die SPD treiben. Das Kopieren und Downloaden zuvor mit den einfachen Piraten abge-
trommelte, versammelt sich das intellek- urheberrechtlich geschützter Inhalte hin- sprochen werden, das verlangsamt die
tuelle Deutschland auf der Seite des Fort- gegen wäre erlaubt. Reaktionszeiten. Die größte Last aber ist
schritts. Im Zweifel links zu sein gehört Vielen Kreativen, die sich im linken La- der egalitäre Anspruch der neuen Bewe-
in diesem Milieu zum guten Ton; an der ger beheimatet fühlen, fällt beim zweiten gung. Weil die Piraten jeder Form von
Spitze des Zeitgeists zu marschieren gilt Blick auch auf, dass die Erfolge der Pira- Autorität misstrauen, geraten alle in Ver-
hier als innere Verpflichtung. ten zu Lasten von Grünen und Sozialde- dacht, die der jungen Partei nach außen
Im Fall der Piraten ist die Liebe erkal- mokraten gehen. In Nordrhein-Westfalen Gesicht und Stimme geben. Wer trotz des
tet, bevor sie richtig beginnen konnte. muss Hannelore Kraft schon um den Sieg Gleichheitspostulats aufsteigen will, tut
Reihenweise melden sich in diesen Tagen fürchten. Dass die SPD als stärkste Partei gut daran, sich als bescheidener Diener
Künstler zu Wort, die ihr Unbehagen durchs Ziel gehen wird, scheint ausge- der Partei zu empfehlen. Die Versuche
über die Forderungen der Bewegung nach macht, ob es am Ende für Rot-Grün rei- des Berliner Abgeordneten Lauer, bei
Freigabe aller digitalen Inhalte äußern. chen wird, ist hingegen wieder fraglich. den Piraten weiter nach oben zu kom-
Seit der Musiker und Autor Sven Regener Auch im Bund könnten sich die Gewich- men, scheitern auch deshalb, weil ihm
vor fast vier Wochen im Bayerischen te verschieben. Sollten die Piraten den viele seine mediale Präsenz neiden.
Rundfunk seinem Ärger freien Lauf ließ, Sprung in den Bundestag schaffen, wird Zurzeit hat nicht mal der Vorstand Pro-
reißt der Protest nicht mehr ab. es für die Sozialdemokraten schwer, eine kura, die Partei nach außen zu vertreten.
Es ist eine breite Allianz, die in ver- Regierungsmehrheit gegen die Union zu- Als Parteichef Sebastian Nerz und sein
schiedenen Medien zusammenkommt, sie sammenzubekommen. „Natürlich freuen Stellvertreter Bernd Schlömer vergange-
versammelt bekannte Namen wie die wir uns über den Erfolg der Piraten. Man ne Woche offen darüber sinnierten, ob
Regisseurin Doris Dörrie, den Hanser-Ver- darf es nur nicht laut sagen“, sagt ein en- es zu bestimmten Themen wie dem Ur-
leger Michael Krüger, die Autorin Julia ger Gefolgsmann der Kanzlerin. heberrecht nicht „feste Ansprechpartner“
Franck. „Ich glaube, ich muss euch Pira- Der Aufstand der Autoren bringt die brauchte, ging sofort einer der gefürch-
ten dringend mal ein paar Dinge erklären. Piratenpartei in eine schwierige Lage. teten „Shitstorms“ los.
Vieles, was du sagst, ist hart gefährliches Musiker und Schriftsteller sind einfluss- Bei Twitter hagelte es Aufrufe, die zwei
Halbwissen“, sagt der Musiker Jan Delay reiche Leute. Wer wortgewaltige Intel- auf dem Parteitag Ende April ihrer Ämter
im SPIEGEL-Streitgespräch mit dem Pira- lektuelle auf seiner Seite hat, besitzt im zu entheben. Der Berliner Abgeordnete
ten Christopher Lauer (siehe Seite 116). politischen Meinungskampf einen Vorteil. Oliver Höfinghoff forderte die „lieben
Künstler gegen Piraten
PRO.MEDIA KOMMUNIKATION / OBS
TORSTEN SILZ / DAPD
ENNIO LEANZA / AP
HANS M. ENZENSBERGER, 82 JAN DELAY, 35 SVEN REGENER, 51
Schriftsteller, lebt in München Musiker, lebt in Hamburg Musiker und Autor, lebt in Berlin
D E R S P I E G E L 1 6 / 2 0 1 2 21
22. Deutschland
Piraten“ über den Kurznachrichtendienst an die Kraft der Technik. Sie sind mit
auf, den Grundsätzen der Partei treu zu dem Internet aufgewachsen, und nun
bleiben und die „gehypten Kandidaten wollen sie die Regeln der digitalen Welt
nach hinten“ zu verbannen. auf die reale übertragen. Ihr Gründungs-
Nerz ist ein Mann mit einer stabilen mythos ist nicht die Angst vor dem Atom-
Konstitution, auch deshalb wird er partei- tod; ihnen liegt eher am Herzen, dass
intern öfter mit Helmut Kohl verglichen. man sie weiter ungestört „Counterstrike“
Aber die Dauerangriffe machen selbst ihn spielen lässt. Zu den ersten Kampagnen
langsam mürbe. Bei Twitter gibt es Nut- der Partei in Deutschland gehörte nicht
zer, die sich einen Scherz daraus machen, der Protest gegen Krieg und soziale Un-
ebenfalls als Sebastian Nerz aufzutreten. gerechtigkeit, sondern der Widerstand
Im Namen des „Bundes Nerzilein“ hin- gegen das Verbot von Killerspielen.
terlassen sie sarkastische Kommentare. Bislang haben die alteingesessenen
„Mein Nervenkostüm ist dünner gewor- Kräfte im linken Lager mit einer Mi-
den“, bekennt Nerz. Anfang des Jahres schung aus Angst und Ehrfurcht auf die
habe er daran gedacht, alles hinzuwerfen. neue Konkurrenz geblickt. Die Spitze der
Auch wenn er sich letztlich dagegen ent- Grünen in Person von Renate Künast hat
schied, erfüllt ihn bis heute eine „gewisse schon eilfertig erklärt, ihre Partei halte
Grundgereiztheit“. das Urheberrecht ebenfalls für dringend
Die Angst vor den Attacken aus den reformbedürftig. Es zirkuliert die Idee
eigenen Reihen führt inzwischen dazu, einer Kultur-Flatrate, auch wenn bislang
dass sich viele Piraten nicht mehr ins
Fernsehen trauen. Die Berliner Piratin
Julia Schramm kandidiert auf dem anste-
henden Bundesparteitag für den Partei-
vorsitz. Andernorts wäre es normal,
wenn sie sich jetzt auch über die Medien
bekannt machen würde – Schramm sagt
seit einiger Zeit alle Auftritte ab. Erst vor
kurzem hatte sie eine Einladung zu der
Talkshow von Maybrit Illner, ohne lange
nachzudenken, ausgeschlagen, um ihre
Chancen nicht zu gefährden.
Ringt sich ein Parteimitglied doch zum
Interview durch, muss es stets darauf
bedacht sein, nicht zu weit von der Partei-
linie abzuweichen. „Wenn man nicht an-
eckt, bleibt es im besten Fall ruhig“, sagt
Schramm. „Wenn man Mist baut, bricht
die Hölle los.“
Es ist auch der raue Ton im Netz, der
nun viele abschreckt, gerade im Milieu
der Künstler. Wie jede neue Kraft links
der Mitte waren die Piraten von den
HCP
Intellektuellen erst einmal freundlich in
die Arme genommen worden. Man Piratin Schramm
schätzte an ihnen das Unkonventionelle Nur nicht anecken
und Freche; wie einst die Grünen bargen
sie das Versprechen, die verkrusteten niemand so recht erklären kann, wie die
Rituale der Politik aufzubrechen. eigentlich funktionieren soll.
Jetzt zeigt sich, dass die Welt der Nach dem ersten Schrecken fragen sich
Künstler und die der Nerds nicht viel ge- nun die ersten Vertreter, ob es wirklich
mein haben. Wer im Intelligenzmilieu so schlau ist, den Positionen der Piraten
kann schon jemanden ernst nehmen, der hinterherzulaufen. „Es kann nicht sein,
seine freie Zeit mit Rollenspielen ver- dass geistiges Eigentum einfach ver-
bringt und J. R. R. Tolkiens Roman „Herr schleudert wird“, sagt Agnes Krumwiede,
der Ringe“ für die Krone der Literatur die kulturpolitische Sprecherin der Grü-
hält? Mit etwas Verspätung wird vielen nen im Bundestag.
klar, dass der Pirat ein Politiker neuen Krumwiede hat Klavier studiert, sie
Typs ist. Die Grünen rekrutierten ihr Per- kennt die finanziellen Nöte vieler Künst-
sonal aus den geistes- und sozialwissen- ler und ihre Furcht vor der Netzgemein-
schaftlichen Fakultäten des Landes, ein de. „Ich halte es für einen unhaltbaren
typischer Berufsabschluss war hier das Zustand, wenn Musiker sich nicht mehr
abgebrochene Soziologiestudium. Sie zo- trauen, öffentlich für ihre Interessen ein-
gen Leute an, die an die Macht der Idee zutreten, nur weil einige sich daran ge-
glaubten und aus ihrer Verachtung für wöhnt haben, alles umsonst aus dem Netz
alles Technische keinen Hehl machten. zu ziehen.“
Bei den Piraten ist es umgekehrt, sie SVEN BECKER, JAN FLEISCHHAUER,
treibt keine Idee an, sondern der Glaube RENÉ PFISTER
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