1. ISSN 1682-6833 Erscheinungsort: Wien; Verlagspostamt: A-8600 Bruck/Mur Jahrgang 21, Ausgabe 5/17
Choosing Wisely • PPI in der Intensivmedizin • Ernährung bei Intensivpatienten
40 Jahre kontinuierliche Nierenersatztherapie • Angiotensin II bei vasodilatatorischem Schock?
Nierenersatztherapie bei Leberzirrhose? • Kongresse und Veranstaltungen
www.intensivmedizin.at | www.dgiin.de | www.sepsis-gesellschaft.de | Archiv: www.medicom.cc
Durch die Verzögerung sinnvoller Be-
schränkungen lebenserhaltender Therapie
werden Patienten „nutzlosen“ sowie für sie
leidvollen Behandlungen ausgesetzt. Dass
die Wahrnehmung nutzloser Intensivthe-
rapie jedoch auch für die Ärzte und Pflege-
kräfte einer Intensivstation mit hohen Be-
lastungen einhergeht, fand bisher zu ge-
ringe Aufmerksamkeit.
Ein aktueller Call for Action aller US-ame-
rikanischen intensivmedizinischen Gesell-
schaften rückt das Problem des Burnouts
bei intensivmedizinischem Personal in
den Fokus (Moss M; Am J Crit Care 2016;
25:368). Perceived delivery of inappropriate
care – also die Wahrnehmung unangemes-
sener Versorgung – wird dort als zentra-
ler Risikofaktor für die Entstehung von
Burnout deutlich benannt.
Begriffsbestimmung und Häufigkeit von
Übertherapie auf Intensivstationen
Vermutlich können sich alle Leser an eine
konkrete Situation erinnern, in der eine
intensivmedizinische Behandlung aus ih-
rer Sicht dem Wohl des Patienten nicht
nützte oder sogar schadete. Die Wahrneh-
mung unangemessener Versorgung von
Patienten ist unter intensivmedizinischem
Personal häufig, in 90% der Fälle wird da-
bei ein „zu viel“ an Therapie (Überthe-
rapie) wahrgenommen (Piers RD; JAMA
2011; 306:2694). Das Konzept Überthe-
rapie wurde in der angloamerikanischen
Literatur unter dem Label Medical Futi
lity seit Mitte der 80er Jahre teils sehr kon
trovers mit dem Fokus auf die Allokation
medizinischer Ressourcen diskutiert.
Übertherapie kann vorliegen, wenn
a) für eine Behandlung nicht mit ausrei-
chender Wahrscheinlichkeit ein phy-
siologischer Effekt erwartet werden
kann oder
b) eine Behandlung keinen Nutzen für
den Patienten – etwa im Sinne einer
erstrebenswerten Lebensqualität – er-
zielen kann bzw. dem Patientenwillen
nicht entspricht (Truog RD; N Engl J
Med 1992; 326:1560).
Versuche einer Definition von Überthe-
rapie über objektivierbare Kriterien schei-
terten, sodass die Bewertung einer Be-
handlung durch Ärzte und Pflegekräfte
als „nutzlos“ als – zwar professionelles –
doch stets subjektives Werturteil angese-
hen werden muss (Schleger HA; Klinische
Ethik – METAP 2012) („Ich kann nicht
genau sagen, was es ist, aber wenn ich es
sehe, erkenne ich es“).
INHALT
„Eine Erosion der Seele“
Übertherapie führt zu Burnout bei Ärzten und Pflegekräften
www.pixabay.com
2. Nr. 5, 2017 3
Burnout bei Übertherapie
Beinahe alle befragten Intensivmedizi-
ner und -pflegekräfte gaben an, dass auf
ihrer Station regelmäßig Übertherapie
vorkomme (Palda VA; J Crit Care 2005;
20:207), und für bis zu 20% der Inten-
sivpatienten nahmen behandelnde Ärzte
sicher oder möglicherweise Überthera-
pie wahr (Huynh TN; JAMA Intern Med
2012; 173:1887).
Folgen wahrgenommener Übertherapie
für das Team der Intensivstation
In einer aktuellen Studie haben wir
erstmals einen Zusammenhang zwi-
schen der Häufigkeit der Wahrneh-
mung von Übertherapie und dem Kern
aspekt von Burnout – der emotionalen
Erschöpfung, also dem Gefühl des Aus-
gebrannt-Seins – für Intensivmediziner
und -pflegekräfte belegt (SchwarzkopfD;
Crit Care Med 2017; 45:e265).
Burnout ist eine langfristige Arbeits-
stressfolge, die sich neben emotiona-
ler Erschöpfung auch durch negative
Einstellungen zur Arbeit und zu den
betreuten Patienten und geminder-
te Leistungsfähigkeit auszeichnet. Der
Zusammenhang zur wahrgenomme-
nen Übertherapie lässt sich durch das
in der Pflegeethik entwickelte Konzept
des Moral Distress erklären. Dies be-
schreibt die emotionale Belastung und
Gewissensnot, die entsteht, wenn ein
Behandler dem Patienten nicht die Ver-
sorgung zukommen lassen kann, die er
für moralisch geboten hält (Corley MC;
Nurs Ethics 2002; 9:636).
Die Wahrnehmung von Überthera-
pie wird durch ITS-Mitarbeiter als
häufigster Anlass von Moral Distress
benannt (Hamric AB; Crit Care Med
2007; 35:422). Führende Experten ha-
ben Burnout beschrieben als „[…] Zei
chen für die Spaltung zwischen dem, was
ein Mensch [im Inneren] ist und dem, was
er tun muss […] ein Zeichen für eine Ero
sion der Werte, der Würde, des Geistes, und
desWillens–eineErosiondermenschlichen
Seele.“ (eigene Übersetzung) (Maslach C;
The truth about burnout 1997).
Die Wahrnehmung von Versorgung,
die nicht dem Wohle des Patienten
dient und ihn leidvollen Maßnahmen
aussetzt, stellt vermutlich den zentra-
len Wertekonflikt und Burnout-Risiko-
faktor für Intensivmediziner und -pfle-
gekräfte dar. Die Folgen für das Team
können gravierend sein. So sind Zusam-
menhänge zwischen Burnout und ernst-
haften psychischen Erkrankungen der
Mitarbeiter und geminderter Qualität
der Patientenversorgung belegt (Moss
M; Am J Crit Care 2016; 25:368).
Die Wahrnehmung von Übertherapie
und Burnout erhöhen auch die Kün-
digungsabsicht von ITS-Mitarbei-
tern (Piers RD; JAMA 2011; 306:2694;
Schwarzkopf D; Crit Care Med 2017;
45:e265). Dies gefährdet gerade vor dem
drohenden – oder auch vielerorts bereits
bestehenden – Mangel an Fachkräften
langfristig den ökonomischen Erfolg
vieler Krankenhäuser und die Qualität
der Patientenversorgung.
Gründe für die Wahrnehmung
von Übertherapie
Prognose und Eruierung des Patien-
tenwillens: Die frühzeitige Prognose
Perceived nonbeneficial treatment of patients, burnout, and intention to leave
the job among ICU nurses, junior and senior physicians
Schwarzkopf D, Rüddel H, Thomas-Rüddel DO, Felfe J, Poidinger B, Matthäus-Krämer CT, et al. Crit Care Med 2017; 45:e265-e273
OBJECTIVE: Perceiving nonbeneficial treatment is stressful for ICU
staff and may be associated with burnout. We aimed to investigate
predictors and consequences of perceived nonbeneficial treatment
and to compare nurses, junior and senior physicians.
DESIGN: Cross-sectional, multicenter paper pencil survey on per-
sonal and work-related characteristics, perceived nonbeneficial treat-
ment, burnout, and intention to leave the job.
SETTING: Convenience sample of 23 German ICUs.
PARTICIPANTS: ICU nurses and physicians.
MEASUREMENTS AND MAIN RESULTS: Overall 847 question-
naires were returned (51% response); 778 had complete data for final
multivariate analyses. Nonbeneficial treatment was in median per-
ceived “sometimes”. Adjusted for covariates, nonbeneficial treatment
was perceived more often by nurses and junior physicians (both p
≤ 0.001 in comparison to senior physicians) while emotional exhaus-
tionwashighestinjuniorphysicians(p≤0.015incomparisontosenior
physicians and nurses) who also had a higher intention to leave than
nurses (p = 0.024). Nonbeneficial treatment was predicted by high
workload and low quality collaboration with other departments (both
p ≤ 0.001). Poor nurse-physician collaboration predicted perception
of nonbeneficial treatment among junior physicians and nurses (both
p ≤ 0.001) but not among senior physicians (p = 0.753). Nonbenefi-
cial treatment was independently associated with the core burnout
dimension emotional exhaustion (p ≤ 0.001), which significantly
mediated the effect between nonbeneficial treatment and intention
to leave (indirect effect: 0.11 [95% confidence interval: 0.06, 0.18]).
CONCLUSIONS: Perception of nonbeneficial treatment is related
to burnout and may increase intention to leave. Efforts to reduce per-
ception of nonbeneficial treatment should improve the work environ-
ment tailored to the different roles and experiences of nurses, junior
and senior physicians.
3. Nr. 5, 20174
Burnout bei Übertherapie
des Überlebens oder des funktionellen
Status nach Intensivbehandlung ist äu-
ßerst schwierig. Dementsprechend gibt
es erhebliche Unterschiede in prognos-
tischen Einschätzungen zwischen ver-
schiedenen Ärzten oder Ärzten und
Pflegekräften (Frick S; Crit Care Med
2003; 31:456).
Hinzu kommt, dass Patientenverfü-
gungen häufig nicht vorliegen, ihre An-
wendbarkeit auf die Intensivsituation
unklar ist, und Ärzte untereinander so-
wie Ärzte und Angehörige nur geringe
Übereinstimmung in der Bewertung der
Anwendbarkeit zeigen (Leder N; Dtsch
Arztebl Int 2015; 112:723).
Konflikte über die Bewertung des Nut-
zensintensivmedizinischerMaßnahmen
im Team und mit Angehörigen sind so-
mit häufig (Breen CM; J Gen Intern Med
2001;16:283). Prognostische Unsicher-
heit wurde von Intensivärzten als häu-
figster Grund für Übertherapie angege-
ben (PaldaVA;JCritCare2005;20:207).
InteraktionmitPatientenangehörigen:
Für Patientenangehörige stellt die In-
volvierung in Entscheidungen – vor al-
lem in Entscheidungen zur Therapiebe-
grenzung – eine erhebliche psychische
Belastung dar (Azoulay E; Am J Respir
Crit Care Med 2005; 171:987).
Die Bewältigung des nahen Verlustes
eines geliebten Menschen ist schwierig
und der – aus dieser Sicht verständliche
– Wunsch der Angehörigen nach weite-
rer Therapie ist dementsprechend häu-
figer Anlass für als nutzlos empfundene
FortführunglebenserhaltenderMaßnah-
men(PaldaVA;JCritCare2005;20:207).
Interaktion im Behandlungsteam: Die
Qualität der interprofessionellen Zu-
sammenarbeit zwischen den an der Be-
handlung beteiligten Berufsgruppen und
Fachdisziplinen wird als Schlüssel zur
Erreichung einer patientenzentrierten
End-of-life Care angesehen (Connor SR;
Am Behav Sci 2002; 46:340; Puntillo KA;
Crit Care Med 2006; 34:S332).
Pflegekräfte fühlen sich jedoch zu häu-
fig nicht an Entscheidungsprozessen be-
teiligt und bewerten die Interaktion im
Team negativ (Jensen HI; Intensive Care
Med 2011; 37:1696). In unserer Studie
konnten wir zeigen, dass die Häufigkeit
derWahrnehmungvonÜbertherapieso-
wohl bei Pflegekräften als auch bei As-
sistenzärzten stark durch eine als nega-
tiv bewertete Arzt-Pflege-Kooperation
auf der ITS beeinflusst wurde (Abbil-
dung1A)(CritCareMed2017;45:e265).
Pflegekräfte und Assistenzärzte gaben
häufiger an, Übertherapie wahrzuneh-
men als Oberärzte. Sowohl Pflegekräf-
te als auch Assistenzärzte sind von den
Entscheidungen verantwortlicher Fach-
bzw. Oberärzte abhängig und berich-
ten gleichermaßen von Gefühlen der
Machtlosigkeit auf Entscheidungen
Einfluss zu nehmen (Dzeng E; J. Gen.
Intern Med 2016; 31:93; Oberle K; J Adv.
Nurs 2001; 33:707).
In unserer Studie zeigte sich weiterhin
ein Zusammenhang von negativ bewer-
teter Kooperation mit anderen Abtei-
lungen und Übertherapie. Hinter die-
sem Zusammenhang könnten vor allem
gemeinsame Entscheidungsprozesse
mit den das Grundleiden behandeln-
den Fachdisziplinen – wie Chirurgen in
der operativen Intensivmedizin – stehen.
Diese Entscheidungsprozesse werden
durch Mitarbeiter der ITS weit negati-
ver bewertet als durch die involvierten
Grundbehandler (Jensen HI; Intensive
Care Med 2011; 37:1696). Dementspre-
chend ist einer der durch Intensivärzte
und -pflegekräfte am häufigsten ange-
gebenen Gründe für Übertherapie der
Wunsch nach Fortsetzung der Thera-
pie durch mitbehandelnde Ärzte (Anstey
MH; Crit Care 2015; 19:51).
Interventionsstrategien
IneinerStudieimVorher-Nachher-De-
sign auf einer französischen ITS konn-
te durch ein Bündel von Maßnahmen
zur Verbesserung der Kommunikation
im End-of-Life-Kontext das Ausmaß
an Burnout signifikant gesenkt werden
(Quenot JP; Intensive Care Med 2012;
38:55). Die Wahrnehmung von Über-
therapie wurde in dieser Studie nicht
erfasst, jedoch zeigten sich auch Ef-
fekte auf die Häufigkeit von Therapie-
beschränkungen und die Zeit bis zum
Aussprechen von Therapiebeschrän-
kungen (Quenot JP; Intensive Care Med
2012; 38:145). Ein Teil des Interventi-
onseffektes könnte darum konkret durch
die Senkung der Wahrnehmung von
Übertherapie eingetreten sein.
Tabelle 1 gibt einen Überblick über
mögliche Interventionen zur Senkung
von wahrgenommener Übertherapie
und Burnout. Konkrete Interventions-
Abb.1A:BeihoherQualitätderArzt-Pflege-KooperationnehmenPflegekräfteundAssistenzärzte
deutlich seltener Übertherapie für Patienten wahr (Visualisierung eines hierarchischen linearen
ModellsaufBasiseinerMitarbeiterbefragungauf23Intensivstationen)(modifiziertnachSchwarzkopf
D; Crit Care Med 2017: 45:e265).
Abb.1B:DiemittlereHäufigkeitderWahrnehmungvonÜbertherapieunterscheidetsichdeutlich
und signifikant (p ≤ 0,001) zwischen den 23 Intensivstationen. Diese Unterschiede sind hoch
korreliert mit den mittleren Unterschieden in der Qualität der Arzt-Pflege-Kooperation.
4. Nr. 5, 2017 5
Burnout bei Übertherapie
strategien sollten unter enger Einbezie-
hung der betroffenen Ärzte und Pflege-
kräfte erarbeitet werden. Mitarbeiterbe-
fragungen ermöglichen Benchmarking
zwischen verschiedenen Intensivstatio
nen (Abbildung 1B), sowie auch die
Evaluation von Interventionen. Frage-
bogenskalen, die zu diesem Zweck im
Rahmen des Projektes End-of-life de
cision making in patients with sepsis-re
lated organ failure (EIDECS) am Cen
ter for Sepsis Control and Care entwickelt
wurden, können beim Autor angefragt
werden. Über weitere mögliche Quali-
tätsindikatoren mit Bezug auf Patienten
und Angehörige gibt die Literatur Aus-
kunft (Curtis JR; Crit. Care Med 2006;
34:S341).
Zusammenfassung und Ausblick
Die Konflikte und das Belastungserle-
ben im Kontext der Wahrnehmung von
Übertherapie könnten ein Hauptfaktor
bei der Entstehung von Burnout bei
Intensivärzten und -pflegekräften sein.
Die Qualität der Zusammenarbeit und
Kommunikation im Behandlungsteam
ist stark mit der Wahrnehmung von
Übertherapie verknüpft und es existie-
ren Befragungsinstrumente und Inter-
ventionsstrategien, die Grundlage für
Verbesserungen sein können.
Die Zusammenarbeit mit grundbehan-
delnden Ärzten – vor allem Chirurgen
– ist in diesem Kontext bisher jedoch
kaum beleuchtet. Studien belegen das
hohe Interesse, das auch auf Seiten der
Chirurgie an ethischen Aspekten der
Behandlungsplanung besteht (Pecanac
KE; Ann Surg 2014; 259:58).
Gemeinsame Forschungsprojekte sowie
auch Interventionsstrategien, die Inten-
sivmediziner, Chirurgen, Sozialwissen-
schaftler und Ethiker involvieren, sind
nötig. Hierbei sollte der gesamte Be-
handlungsprozess von einem struktu-
rierten Advance Care Planning vor risi-
koreichen Eingriffen bis hin zum part-
nerschaftlichen, offenen Dialog – auch
unter Einbeziehung der Pflegekräfte –
über die Einstellung nicht mehr sinn-
voller lebenserhaltender Therapie be-
rücksichtigt werden.
Tabelle: Auswahl an Interventionsstrategien
zur Prävention von Übertherapie und Burnout
Organisationale Veränderungen:
Implementation von Leitlinien für Entscheidungen zu Therapiebegrenzungen
mit Definition von Kriterien, Abläufen und Rollen der Beteiligten
(Jox RJ; Dtsch Med Wochenschr 2012; 137:829)
Besonderer Raum für Angehörigengespräche (Curtis JR; Crit Care Med 2001; 29:N26;
Quenot JP; Intensive Care Med 2012; 38:55)
Unterstützung der Familienkommunikation durch speziell weitergebildete Mitarbeiter
(Curtis JR; Am J Respir Crit Care Med 2016; 193:154)
Integration eines Psychologen in das ITS-Team für Unterstützung, Beratung, Intervision,
Weiterbildung (Teufert S; Die Intensivmedizin 2015; 21)
Veränderungen der alltäglichen Praxis:
Proaktive, kriteriengeleitete Vorausplanung von Angehörigengesprächen
(Lilly CM; Am J Med 2000; 109:469)
Tägliche Besprechung der Therapiestrategie im Behandlungsteam
(Quenot JP; Intensive Care Med 2012; 38:55)
Strukturierte Einbeziehung von Pflegekräften und Assistenzärzten in Angehörigenge-
spräche (Curtis JR; Crit Care Med 2001; 29:N26)
Standardisierte Verordnungsform für Therapiebegrenzungen und Symptomkontrolle
(Treece PD; Crit Care Med 2004; 32:1141)
Spezielle Dokumentation ethisch relevanter Gespräche und Entscheidungen
(Quenot JP; Intensive Care Med 2012; 38:55)
Strukturierte Terminplanung für Angehörigengespräche ohne Unterbrechungen
(Curtis JR; Crit Care Med 2001; 29:N26)
Strukturierte interprofessionelle Besprechungen ethischer Probleme bei Bedarf
(Meyer-Zehnder B; Anaesthesist 2014; 63:477)
Moderierte Gesprächsrunden für das Behandlungsteam zu emotional belastenden Fällen
(Kantner-Rumpelmair W; Intensivmedizin und Notfallmedizin 2009; 46:330)
Schulungsmaßnahmen:
Training von Oberärzten zur Führung des klinischen Teams und Visitengestaltung
(Ten Have ECM; Intensive Care Med 2013; 39:1800)
Workshops zur Konfliktprävention (Quenot JP; Intensive Care Med 2012; 38:55)
Trainings zur Kommunikation mit Angehörigen (Dorner L; Intensive Care Med 2015; 41:162)
Trainings zur Stressbewältigung mit Methoden der Achtsamkeitsmeditation und
Erfahrungsaustausch (West CP; JAMA Intern Med 2014; 174:527)
Dipl.-Psych. Daniel Schwarzkopf
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Center for Sepsis Control and Care
Universitätsklinikum Jena
daniel.schwarzkopf@med.uni-jena.de
Interessenkonflikte: Keine
Die Ausführungen beruhen zu weiten Teilen
auf der Dissertationsschrift des Autors.
5. Nr. 5, 20176
Choosing Wisely
„Klug entscheiden“
Empfehlungen in der internistischen Intensivmedizin
EinederzentralenAufgabeneinesArz-
tes ist es, die richtige Indikation für dia
gnostische und therapeutische Maß-
nahmen zu stellen. Dabei kann es sein,
dass eine nach evidenzbasierten Kriteri-
enindizierteMaßnahmezuseltenange-
wendet wird (= Unterversorgung) oder
eine nicht evidenzbasierte Maßnahme
zu häufig angewendet wird ( = Überver-
sorgung). Ausgehend von diesen Über-
legungen haben in den USA im Rah-
men der „Choosing Wisely“-Kampag-
ne 70 medizinische Fachgesellschaften
insgesamt 450 Empfehlungen formu-
liert, die sich primär dem Problem der
Überversorgung widmen (www.choo
singwisely.org).
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Me
dizin (DGIM) hat diese Anregungen
aufgegriffen und im Rahmen der In-
itiative „Klug entscheiden“ gemeinsam
mit zwölf weiteren Fachgesellschaften
für jeden Bereich der Inneren Medi-
zin jeweils fünf Positivempfehlungen
zur Vermeidung einer Unterversor-
gung und fünf Negativempfehlungen
zur Vermeidung einer Überversorgung
erarbeitet.
Die Deutsche Gesellschaft für Inter-
nistische Intensivmedizin und Notfall-
medizin (DGIIN) hat diese Aufga-
be für die Internistische Intensivme-
dizin mit ihrem erweiterten Vorstand
übernommen (Riessen R; Dtsch Ärz
tebl 2016,113:A-1493; Riessen R; In
ternist 2017; 58:550). Die gesammel-
ten Empfehlungen wurden sowohl im
Deutschen Ärzteblatt (www.aerzte
blatt.de/dae-plus/serie/49/Klug-entschei
den) wie auch im Internisten (Internist
2017; 58:525) veröffentlicht.
Für die internistische Intensivmedi-
zin haben wir versucht, Empfehlun-
gen auszusprechen, die häufige kli-
nische Situationen adressieren und
möglichst gut durch wissenschaftli-
che Evidenz und Leitlinien unterlegt
sind. Die nach diesen Kriterien for-
mulierten Empfehlungen sind unter-
teilt in Positivempfehlungen (P1-P5)
und Negativempfehlungen (N1-N5)
(Tabelle) und lassen sich zumeist mit
der Anwendung des Prinzips „Weniger
ist mehr“ umschreiben. Bereits ande-
re Autoren haben darauf hingewiesen,
dass zahlreiche Fortschritte in der In-
tensivmedizin in den letzten Jahrzehn-
ten auf die Anwendung dieses Prinzips
zurückgeführt werden können (KoxM;
JAMA Intern Med, 2013, 173:1369).
Besonders deutlich ist diese Evidenz
bei der Anwendung kleinerer physio-
logischer Atemzugvolumina im Rah-
men einer sogenannten lungenprotek-
tiven Beatmung (P1) oder der Vermei-
dung einer zu tiefen Sedierung (N2).
Bei anderen Empfehlungen zur nicht-
invasiven Beatmung (P2) oder entera-
len Ernährung (P3) steht der frühzei-
tige Einsatz nicht-invasiver Maßnah-
men im Vordergrund, um den Einsatz
invasiverer Maßnahmen zu vermeiden.
Auf die Gabe von Bluttransfusionen
bei einer Anämie (N1) kann innerhalb
gewisser Grenzen ganz verzichtet wer-
den. Der Zusatznutzen kolloidaler Vo-
lumenersatzmittel bei Volumenman-
gel im Vergleich zu kristalloiden Lö-
sungen ist unzureichend belegt (N5),
ebenso wie die Wertigkeit des zentra-
len Venendrucks im Rahmen des Vo-
lumenmanagements (N3).
Zwei Empfehlungen adressieren die
Antibiotikatherapie bei Sepsis: Als vor-
dringliche und effektivste Maßnahme
wird die rasche Einleitung einer kal-
kulierten hochdosierten Antibiotika-
therapie zum Zeitpunkt der Diagno-
sestellung empfohlen (P5). Anderer-
seits sollte eine Antibiotikatherapie bei
Therapieansprechen auch nicht unnö-
tig lange fortgeführt werden (N4).
Im erläuternden Text haben wir jedoch
bei vielen Empfehlungen ausgeführt,
dass es Ausnahmen von diesen Regeln
gibt und diese im individuellen Kontext
betrachtet werden müssen. Die Indivi-
dualisierung der Intensivtherapie steht
auch im Mittelpunkt der Empfehlung
P4 zur Ethik und Therapiezielfindung
bei Intensivpatienten. Hier gilt es, be-
reits frühzeitig die medizinische Indi-
kation für eine Intensivtherapie und
den Patientenwillen zu eruieren, um
ggf. auf fundierter Basis auch inten-
sivmedizinische Maßnahmen zu un-
terlassen und z. B. eine palliativmedi-
zinische Therapie einzuleiten.
Insgesamt sind die Empfehlungen der
verschiedenen Fachgesellschaften gut
angenommen worden und auf nur we-
nig Kritik gestoßen. Die Vorstellung
und Diskussion der Empfehlungen
nahm auf den Kongressen der DGIM
2016 und 2017 einen breiten Raum ein
6. Nr. 5, 2017 7
Choosing Wisely
und stieß auf sehr großes Interesse ge-
rade bei jüngeren Kollegen.
Ziel dieser Initiative war es aber, nicht
nur die medizinische Fachwelt, son-
dern auch die breite Öffentlichkeit an-
zusprechen. Es sollte deutlich gemacht
werden, dass die medizinischen Fach-
gesellschaften selbstkritisch mit dem
Thema Über- und Unterversorgung
umgehen und entsprechende Maß-
nahmen zur Verbesserung der Behand-
lungsqualität ergreifen. Die Resonanz
in den Medien darauf kann als positiv
bezeichnet werden.
Eine weitere Arbeitsgruppe entwickelt
zur Zeit Konzepte für den Einsatz der
„Klugentscheiden“ Empfehlungen in der
Lehre und setzt diese auch in moder-
nen Prüfungsformaten, sogenannten
Key-Feature-Fragen, um (Goldmann
M; Dtsch Arztebl 2016; 113:A-2149).
Wie geht es weiter mit der
„Klug entscheiden“ Initiative?
Derzeit erarbeiten die internistischen
Fachgesellschaften unter Federführung
der DGIIN einen Satz von Empfeh-
lungen für die internistische Notfall-
medizin. Ziel dieser Empfehlungen ist
es, in der Notaufnahme tätigen Ärz-
ten fundierte Entscheidungshilfen für
die Diagnostik und Therapie bei Pa-
tienten mit internistischen Leitsymp-
tomen und Verdachtsdiagnosen an die
Hand zu geben und auch auf diesem
Weg das Engagement der Internisten
für die klinische Notfall- und Akutme-
dizin zu demonstrieren.
Tabelle: „Klug entscheiden“
Positiv- und Negativempfehlungen in der Internistischen Intensivmedizin
Thema Empfehlung
Positivempfehlungen
P1 Invasive Beatmung Zur Prophylaxe und Behandlung des akuten Lungenversa-
gens beim Erwachsenen (ARDS) soll eine lungenprotektive
Beatmung angewandt werden.
P2 Nicht-invasive Beatmung Bei schwerer exazerbierter, chronisch obstruktiver Lungen
erkrankung (COPD) und kardialem Lungenödem soll
frühzeitig eine nicht-invasive Atemunterstützung (NIV
bzw. CPAP) eingesetzt werden.
P3 Ernährung Bei Intensivpatienten soll frühzeitig mit einer bevorzugt
enteralen Ernährung begonnen werden.
P4 Ethik Bei Intensivpatienten sollen frühzeitig das Therapieziel,
die medizinische Indikation sowie der Patientenwillen
evaluiert werden.
P5 Antibiotika bei Sepsis Bei der schweren Sepsis und beim septischen Schock
soll rasch eine kalkulierte und hochdosierte Antibiotika
therapie begonnen werden.
Negativempfehlungen
N1 Anämie und
Transfusionen
Kardiorespiratorisch stabile, nicht-blutende Intensiv
patienten mit einer Hämoglobin-Konzentration von
> 7 g/dl sollen in der Regel keine Bluttransfusionen
erhalten.
N2 Sedierung Beatmete Intensivpatienten sollen ohne spezifische
Indikation keine tiefe Sedierung erhalten.
N3 Volumenmanagement Der zentrale Venendruck (ZVD) soll nicht als primärer
Parameter zur Diagnose eines Volumenmangels und
Steuerung einer Volumentherapie eingesetzt werden.
N4 Dauer Antibiotikatherapie Auf eine unnötig lange Antibiotikatherapie soll verzichtet
werden.
N5 Volumenersatztherapie Synthetische Kolloide wie z. B. Hydroxyäthylstärke (HAES)
sollen bei Volumenmangelzuständen, insbesondere bei
der Sepsis, nicht als Erstlinientherapie im Rahmen der
Volumenersatztherapie eingesetzt werden.
Prof. Dr. Reimer Riessen
Internistische Intensivstation 93
Universitätsklinikum Tübingen
reimer.riessen@med.uni-tuebingen.de
Prof. Dr. Martin Möckel
Notfallmedizin / Zentrale
Notaufnahmen Campus
Virchow-Klinikum und Mitte
Charité - Universitätsmedizin Berlin
martin.moeckel@charite.de
7. Nr. 5, 2017 9
PPI in der Intensivmedizin
Braucht jeder Intensivpatient
einen Protonenpumpenhemmer?
Die Entwicklung der Protonenpum-
penhemmer (PPI) stellt eine Erfolgs-
geschichte ohnegleichen in der Behand-
lung Säure-assoziierter Erkrankungen
des oberen Gastrointestinaltrakts dar.
Die Mortalität und Morbidität von Säu-
re-assoziierten Erkrankungen hat damit
dramatisch abgenommen.
Innerhalb von knapp 30 Jahren wurde
der „Magenschutz“ daher zu einem der
umsatzstärksten und meistverschriebe-
nen Medikamente. PPI wirken schnell
und zuverlässig und weisen ein günsti-
ges Nebenwirkungsprofil auf. So gibt es
auch in der Intensivmedizin klare Indi-
kationen für die Verwendung von PPI:
Zum einen präemptiv bei oberer gas
trointestinaler Blutung noch vor Beginn
der Endoskopie, zum anderen therapeu-
tisch bei Ulcusblutung und Refluxöso-
phagitis und prophylaktisch bei dualer
Thrombozytenaggregationshemmung
und Vorliegen von Risikofaktoren.
Dennoch gilt: „Wenn behauptet wird,
dass eine Substanz keine Nebenwirkun-
genhat,bestehtderdringendeVerdacht,
dass sie auch keine Hauptwirkung hat“
(G.Kuschinsky).ImUmkehrschlusskann
man daraus ableiten, dass ein Medika-
ment, das eine eindeutig nachweisba-
re Wirkung hat, auch Nebenwirkungen
habenwird.Aufgrunddergeringenbzw.
kaum nachweisbaren Nebenwirkungen
wurden PPI auch außerhalb der klar
Säure-assoziierten Erkrankungen wie
dem peptischen Ulcus und der Reflux-
ösophagitis eingesetzt. So auch in der
Intensivmedizin, wo die Stress-Gastritis
bzw. das Stress-Ulcus gefürchtete Kom-
plikationen darstellen.
Die Studien zur Prävention von Stress-
assoziierten Mukosablutungen im obe-
Withholding Pantoprazole for stress ulcer prophylaxis in critically ill patients:
A pilot randomized clinical trial and meta-analysis.
Alhazzani W, Guyatt G, Alshahrani M, Deane AM, Marshall JC, Hall R, Muscedere J, et al. Crit Care Med 2017; 45:1121-1129
INTRODUCTION: A decreased frequency of upper gastrointestinal
bleeding and a possible association of proton pump inhibitor use with
Clostridium difficile and ventilator-associated pneumonia have raised
concerns recently. The Reevaluating the Inhibition of Stress Erosions
Pilot Trial determined the feasibility of undertaking a larger trial inves-
tigating the efficacy and safety of withholding proton pump inhibitors
in critically ill patients.
METHODS: In 10 ICUs, we randomized adult ICU patients antici-
pated to be mechanically ventilated for greater than or equal to 48
hours to receive 40 mg of IV pantoprazole daily or placebo. We ex-
cluded patients who had acute or recent gastrointestinal bleed, used
dual antiplatelet agents, had a medical condition requiring proton
pump inhibitor treatment, or had already received more than one dose
of acid suppression daily. Patients, families, clinicians, and research
staff were blinded. We conducted a systematic review and meta-
analysis of similar trials.
MAIN RESULTS: Ninety-one patients (49 pantoprazole and 42
placebo) from 10 centers in Canada, Saudi Arabia, and Australia were
enrolled. All feasibility goals were met:
1) recruitment rate was 2.6 patients per month;
2) consent rate was 77.8%; and
3) protocol adherence was 97.7%. Upper gastrointestinal bleed-
ing developed in 6.1% of patients in the pantoprazole group
and 4.8% in the placebo group (p = 1.0). Ventilator-associated
pneumonia developed in 20.4% of patients in the pantoprazole
group and 14.3% in the placebo group (p = 0.58). C. difficile was
identified in 4.1% pantoprazole patients and in 2.4% placebo
patients (p = 1.0). We meta-analyzed five trials (604 patients) of pro-
ton pump inhibitors versus placebo; there was no statistically signifi-
cant difference in the risk of upper gastrointestinal bleeding, infec-
tions, or mortality.
CONCLUSIONS: Our results support the feasibility of a larger trial
toevaluatethesafetyofwithholdingstressulcerprophylaxis.Although
the results are imprecise, there was no alarming increase in the risk of
uppergastrointestinalbleeding;theeffectofprotonpumpinhibitorson
ventilator-associated pneumonia and C. difficile remain unclear.
8. Nr. 5, 201710
PPI in der Intensivmedizin
ren Gastrointestinaltrakt stammen
großteils aus den 80er Jahren und wur-
den mit „alten“ Therapien zur Säure
blockade durchgeführt – seither hat sich
sowohl die Intensivmedizin als auch die
Therapie Säure-assoziierter Erkran-
kungen natürlich weiterentwickelt.
Die Inzidenz von Mukosaschädigun-
gen scheint älteren Studien zufolge sehr
hoch (75-100%) zu sein, allerdings tre-
ten Blutungen seltener (5-25% okkulte
Blutungen) und Ulzerationen noch sel-
tener in nur ca 1.5% der kritisch Kran-
ken auf (Cook DJ; N Engl J Med 1994;
330:377).
Obwohl die meisten Studien zur Stress
Ulkus-Prophylaxe nicht mit PPI durch-
geführt wurden, und die Magensäure
in der Pathogenese gegenüber der Is-
chämie und Reperfusionsschäden eine
untergeordnete Rolle spielt, dominiert
heutzutage die Verwendung von PPI
sowohl in der klinischen Praxis als auch
in den entsprechenden Fach-Leitlinien.
Das geht soweit, dass sogar aufwendi-
ge Feasibility-Studien notwendig sind,
um festzustellen, ob es überhaupt gelin-
gen könnte, im Rahmen einer Studie
bei ICU-Patienten keine PPI zu ver-
wenden (Alhazzani W; Crit Care Med
2017; 45:1121).
Die Datenlage zur Verwendung von
PPI ist allerdings aktuell noch schwach.
Die bisher publizierten randomisierten
kontrollierten Studien hatten eine rela-
tiv kleine Fallzahl, waren teilweise mo-
nozentrische Studien und konnten in
der Zusammenschau nicht beweisen,
dass PPI besser wirksam wären als H2-
Blocker oder Placebo.
Die Tabelle fasst die Ergebnisse der
Metaanalysen zu diesem Thema zusam-
men. Große Studien zu diesem The-
ma sind daher sehr wichtig und wer-
den aktuell auch durchgeführt: z. B. die
SUP-ICU-Studie mit 3350 geplanten
Patienten in Europa (Krag M; Trials
2016; 17:205). Im Herbst 2016 wur-
de die POP-UP-Studie publiziert, die
an 214 beatmeten PatientInnen keinen
Vorteil, aber auch keinen Nachteil ei-
ner PPI-Gabe im Vergleich zu Placebo
feststellen konnte (Selvanderan SP; Crit
Care Med 2016; 44:1842). Es stellt sich
daher die Frage, ob und wie PPI bei kri-
tisch Kranken schädlich sein könnten,
zumal der Einsatz ja meistens nur recht
kurz (unter 30 Tage) notwendig sein
wird und wirklich gravierende Folgen,
wie zum Beispiel eine erhöhte Morta-
lität erst nach 1-2 Jahren PPI-Einnah-
me relevant werden (Xi Y.; BMJ Open
2017; 7:e015735).
Protonenpumpenhemmer hemmen die
H+/K+ P-Typ ATPase im Magen und
erhöhen damit rasch und effizient den
pH-Wert im Magen. Dadurch wer-
den Mikroorganismen, die wir zum
Beispiel mit der Nahrung aufnehmen,
nicht mehr so effektiv abgetötet. Außer-
dem besitzen manche Bakterien eben-
falls diese ATPase und dadurch können
PPI die Zusammensetzung unseres Mi-
krobioms beeinflussen.
Daten von Freiwilligen, die PPI ein-
nahmen, sowie von PatientInnen un-
ter Langzeit-PPI-Therapie zeigen,
dass sich das Mikrobiom in seiner Zu-
sammensetzung ändert. Die Gesamt-
Keimzahl im Darm scheint anzustei-
gen, während die Diversität abnimmt.
In der taxonomischen Zusammenset-
zung kommt es zu einer Vermehrung
von potentiell pathogenen Keimen so-
wie zu einer „Oralisierung“, d. h. man
findet typische Mundkeime vermehrt
im Darm. Rezent konnte gezeigt wer-
den, dass die PPI-Einnahme das Mi
krobiomfunktionellverändertundGene
der bakteriellen Invasion vermehrt vor-
kommen (FreedbergDE;Gastroenterolo
gy 2015; 149:883).
Die direkten Folgen dieser Mikro-
biomveränderungen sind noch nicht
vollkommen entschlüsselt. Meine Ar-
beitsgruppe konnte rezent zeigen, dass
diese Mikrobiomveränderungen bei Le-
berzirrhose mit einer erhöhten Darm-
permeabilität, vermehrter intestinaler
und Leber-Inflammation, vermehrter
bakterieller Translokation, einer hö-
heren Komplikationsrate und einer er-
höhten Mortalität einhergehen (Hor
Tabelle: Metaanalysen zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen
von PPIs bei Intensivpatienten
Zitat Vergleich Studien-
anzahl
Patienten-
zahl
Ergebnis
Alshamsi F, et al.;
Crit Care 2016;
20:120
PPI versus
Placebo
6 713 Kein Unterschied in der Rate von klinisch
signifikanten Blutungen, kein Unterschied in
der Rate Ventilator-assoziierter Pneumonien
Liu B, et al.;
Crit Care 2015; 19:409
PPI (2 Studien)
oder H2-Blocker
(6 Studien)
8 829 Stressulkusprophylaxe verhindert obere
GI-Blutungen und senkt die Mortalität,
keine Erhöhung des Risikos für
nosokomiale Pneumonien
Messori A, et al.;
Int J Clin Pharmacol
Ther 2014; 52:825
PPI versus
H2-Blocker
8 851 Pantoprazol und Omeprazol
sind gleichwertig
Krag M, et al.;
Intensive Care Med
2014; 40:11
PPI versus
Placebo oder
keine
Prophylaxe
20 1971 Kein Unterschied in Bezug auf Mortalität
und Pneumonie-Rate; der Effekt auf
Blutungsereignisse statistisch nicht robust,
daher unklar
Alhazzani W, et al.;
Crit Care Med 2013;
41:693
PPI versus
H2-Blocker
14 1720 PPI effektiver in der Prävention von oberen
gastrointestinalen Blutungen; kein
Unterschied bezüglich Pneumonien
Alhazzani W, et al.;
Crit Care Med 2017;
45:1121
PI versus
Placebo
7 713 Keine Unterschiede in der Rate an gastro-
intestinalen Blutungen und Ventilator-
assoziierten Pneumonien
9. Nr. 5, 2017 11
PPI in der Intensivmedizin
vath A; under review). Das Infektions-
und Komplikationsrisiko scheint vor
allem bei vulnerablen Patientengrup-
pen, zum Beispiel bei Leberzirrho-
se, erhöht zu sein. Zahlreiche Studi-
en zeigen aber auch generell einen Zu-
sammenhang von PPI-Einnahme mit
Infektionen. Am besten belegt ist der
Zusammenhang mit Clostridium diffi
cile-Infektionen. Die „number needed
to harm“ liegt da bei 1:3125/Jahr.
Das klingt zwar jetzt wenig bedroh-
lich, allerdings muss die hohe Anzahl
an Verschreibungen berücksichtigt wer-
den (zum Beispiel wurden 2014 bei der
Wiener Gebietskrankenkasse über 1.5
Millionen Packungen verordnet, da
sind aber Privatrezepte, Präparate, de-
ren Preis unter dem der Rezeptgebühr
lag, sowie Selbstmedikationen noch gar
nicht eingerechnet).
Als Ursache dafür wird eine verminder-
te Diversität, insbesondere der Fami-
lie der Clostridiaceae, sowie die verän-
derte Funktion des Mikrobioms durch
PPI vermutet (Abbildung). Auch an-
dere Darminfektionen sind unter PPI-
Einnahme häufiger, besonders das Ri-
siko für die Entwicklung einer Reise-
diarrhoe mit einer Odds-Ratio von 6,9
deutlich erhöht. Diesbezüglich gibt es
aber bisher deutlich weniger Studien als
zur Clostridium difficile-Infektion.
Ebenso wurde generell über ein erhöh-
tes Pneumonie-Risiko unter PPI-Ein-
nahme berichtet, bei genauer Betrach-
tung der Studien fällt aber auf, dass die
meisten Pneumonien innerhalb der ers-
ten 30 Tage der PPI-Einnahme ver-
zeichnet werden. Daher könnte ein
Bias vorliegen, indem Pneumonie-Be-
schwerden als Refluxsymptome fehlge-
deutet wurden.
Auch bei kritisch Kranken gibt es Hin-
weise, dass die Rate an nosokomialen
Pneumonien erhöht ist, wobei auch
nicht alle Studien und Meta-Analysen
zu diesem Schluss kommen. Eine re-
zente Analyse von Daten von 24.774
Intensivpatienten zeigte kein erhöhtes
Risiko für das Auftreten von Infektio-
nen mit positiven Blutkulturen (Cohen
ME; Clin Gastroenterol Hepatol 2017;
15:1030). Als Ursache für das erhöhte
Pneumonie-Risiko werden eine höhere
Keimzahl im oberen Gastrointestinal-
trakt durch die ph-Wert-Erhöhung in
Zusammenhang mit Mikroaspiration
diskutiert. Möglicherweise gibt es auch
direkte Effekte der PPI auf den Respi-
rationstrakt bzw. das Mikrobiom des
Respirationstrakts.
Weniger beachtet, aber gerade in der
Intensivmedizin wichtig, ist das mögli-
cherweise erhöhte Risiko von Pilzinfek-
tionen unter PPI-Therapie. Erschwe-
rend kommt noch dazu, dass zumindest
invitroArzneimittelinteraktionendurch
PPI nachgewiesen wurden, die die Ef-
fektivität der antifungalen Medikamen-
te einschränken können (z. B. zwischen
Omeprazol und Fluconazol).
Zusammenfassend wissen wir heute, dass
stress-bedingte Mukosaschäden bei kri-
tisch Kranken häufig vorkommen, aller-
dings die Gefahr des Stress-Ulkus und
der Blutung als eher gering einzustufen
ist. Ob eine Säuresuppression dieses Ri-
siko senkt, ist noch nicht mit letzter Si-
cherheit geklärt. Ebenso ist nach wie vor
unklar, ob PPI, die eine rasche und ef-
fektive Säuresuppression erreichen, bes-
ser geeignet sind als andere Strategien,
die stress-bedingten Mukosaschäden zu
verhindern.
Nachdem PPI aber das Darm-Mikro-
biom beeinflussen können und eventu-
ell mit einem erhöhten Infektionsrisi-
ko einhergehen, ist Nutzen/Risiko-Be-
wertung von PPI bei kritisch Kranken
noch nicht abschließend durchführbar.
Zusätzlich muss auch der Kostenfaktor
in die Überlegungen einbezogen wer-
den, denn trotz deutlicher Preissenkun-
gen der PPI nach Auslaufen der Paten-
te sind PPI noch immer teurer als bei-
spielsweise H2-Blocker.
Nachdem nosokomiale Infektionen eine
der häufigsten Komplikationen bei kri-
tisch Kranken sind und einen großen
Beitrag zur Morbidität und Morta-
lität leisten, sollte der Aspekt des er-
höhten Infektionsrisikos unbedingt ge-
nauer untersucht werden, bevor bei feh-
lender Daten im Analogieschluss PPI
flächendeckend zur Stressulkus-Pro-
phylaxe eingesetzt werden. Die SUP-
ICU-Studie tut dies in einer ausrei-
chend großen Patientenkohorte, die
auch ausgezeichnet rekrutiert – aktu-
ell (16.10.2017) sind bereits 3.318 von
3.350 PatientInnen inkludiert. Es bleibt
also abzuwarten, zu welchem Ergebnis
diese Studie kommt.
Interessenkonflikte: Keine
Assoz. Prof. Dr. Vanessa Stadlbauer
Universitätsklinik für Innere Medizin
Abteilung für Gastroenterologie
und Hepatologie
Medizinische Universität Graz
vanessa.stadlbauer@medunigraz.at
Abb.:MöglicherMechanismus,wiePPIdurchMikrobiomveränderungendasRisikofürClostridium
difficile Infektionen erhöhen können (Quelle Foto: Wikimedia Commons by Olek Remesz)
PPI
Clostridien
Enterokokken
Streptokokken
Bakterielle Invasion
Renin-Angiotensin-
System
Andere Mechanismen?
Mögliche therapeutische
Interventionen:
• Prä/Probiotika
• Diät
• Antibiotika
• Impfungen
• Enzyminhibitoren
• Stuhltransplantation
10. Nr. 5, 201712
Ernährung bei Intensivpatienten
Ernährung des Intensivpatienten ist und
bleibt ein kontrovers diskutiertes The-
ma. Evidenz-basierte Aussagen sind
nur in wenigen Bereichen möglich. Zu
den umstrittenen Problemen gehören
die Fragen, wie rasch eine Ernährung
begonnen und gesteigert („early“) und
welches Ernährungsziel (Energie/Pro-
tein) („goal“) angestrebt werden sollte.
Nunmehr ist die EAT-ICU-Studie er-
schienen, von der wir uns versprochen
haben, Antworten auf diese grundsätz-
lichen Fragen zu erhalten (Allingstrup
M; Intensive Care Med 2017; e-pub Sep
22). Dabei handelt es sich um eine mo-
nozentrische, randomisiert-kontrollier-
te Studie (RCT) an künstlich beatme-
ten Intensivpatienten, wobei eine „Earl
Goal Directed Nutrition“ (EGDN) mit
einer „Standard-Care“ Gruppe vergli-
chen wurde.
InderEGDN-GruppewurdederEner-
gieumsatz zu Studienbeginn und dann
jeden zweiten Tag gemessen und der
Proteinkatabolismus täglich durch die
Harn-Harnstoffausscheidung abge-
schätzt. Die Patienten erhielten dann
vom ersten Tag an 100% des gemes-
senen Energiebedarfes und des ge-
schätzten Proteinverlustes, jedenfalls
aber mehr als 1.5 g/kg/Tag an Prote-
inen/Aminosäuren. Wenn die Zufuhr
mit einer enteralen Ernährung nicht er-
reicht werden konnte, wurde zusätzlich
eine parenterale Ernährung verabfolgt.
In der Standard-Behandlungsgruppe
wurde eine Zufuhr von 25 kcal/kg/Tag
mit einer enteralen Ernährung über ei-
nen langsamen Ernährungsaufbau an-
gestrebt. Wenn diese bis zum Tag 7
nicht erreicht wurde, wurde eine sup-
plementierende parenterale Ernährung
verabreicht.
Der primäre Studienendpunkt war der
Teil „körperliche Funktionsfähigkeit“
(physical component score, PCS) des
SF-36 zur Messung der Lebensqualität
nach 6 Monaten. Zu den zahlreichen se-
kundären Studienendpunkten gehörten
die 28-Tage-, 60-Tage- und 6-Mona-
te-Mortalität, das psychische Wohlbe-
finden (mental component summary)
nach SF-36 nach 6 Monaten, die Auf-
enthaltsdauer in der Intensivstation und
im Krankenhaus, neue Organversagen
sowie Organversagen-freie Tage.
Schließlich wurden 199 Intensivpatien-
ten ausgewertet, von denen 95% proto-
kollgerecht ernährt wurden. In der EG-
DN-Gruppe wurden die Ernährungs-
ziele weitgehend erreicht, wohingegen
in der Standard-Ernährungsgruppe ein
sehr langsamer Ernährungsaufbau be-
obachtet wurde (z. B. 1.47 g Protein/
kg/Tag gegenüber 1.16 g/kg/Tag über
den gesamten Behandlungszeitraum).
Die Ergebnisse waren wohl sehr enttäu-
schend. Weder im primären Studien
endpunkt noch in den meisten sekun-
dären Endpunkten war ein Unterschied
zwischen den beiden Behandlungsgrup-
pen zu sehen. Erwartungsgemäß wa-
ren lediglich die Rate an Hyperglykä-
mien und der Bedarf an Insulin in der
EGDN-Gruppe höher.
EAT-ICU:
Wissen wir jetzt, wieviel Nahrung
der Intensivpatient bekommen sollte?
Early goal-directed nutrition versus standard of care in adult intensive care
patients: The single-centre, randomised, outcome assessor-blinded EAT-ICU trial.
Allingstrup MJ, Kondrup J, Wiis J, Claudius C, Pedersen UG, Hein-Rasmussen R, et al. Intensive Care Med 2017 [Epub ahead of print]
Early exposure to recommended calorie delivery in the intensive care unit is associated
with increased mortality in patients with acute respiratory distress syndrome.
Peterson SJ, Lateef OB, Freels S, McKeever L, Fantuzzi G, Braunschweig CA JPEN J Parenter Enteral Nutr 2017 [Epub ahead of print]
11. Nr. 5, 2017 13
Ernährung bei Intensivpatienten
Was können wir aus dieser neuen
Studie folgern?
Erstens ist mit dieser Studie wohl end-
gültig das Ende der „Early Goal Di-
rected Nutrition“ eingeläutet. Dieses
Konzept besagt, dass ein Intensivpati-
ent möglichst schon am ersten Tag nach
seiner Aufnahme 100% des errechneten
bzw. gemessenen Energiebedarfes bzw.
Proteinbedarfes erhalten sollte.
Diese Empfehlung beruht auf Beobach-
tungen einer größeren Zahl von retro-
spektiven Kohortenanalysen, dass ein
„Energiedefizit“ in der ersten Behand-
lungswoche mit einer erhöhten Rate an
Komplikationen und einer schlechteren
Prognose assoziiert ist (Beispiele: Villet
S; Clin Nutr 2005; 24:502; Dvir D, Clin
Nutr 2006; 25:37).
Dieses „Energiedefizit“ besteht in der
Differenz zwischen dem berechneten/
gemessenen Bedarf und dem, was der
Patient tatsächlich erhalten hatte. In
diesen retrospektiven Analysen wurde
wohl Ursache mit Wirkung verwechselt:
Je schwerer krank ein Patient ist, desto
schwieriger ist auch der Ernährungsauf-
bau in der Frühphase der Erkrankung
und umso höher die Mortalität.
Dieses zugegebenermaßen auch von
mir verfochtene Konzept einer forsier-
ten Frühernährung (EGDN) wurde in
mehreren prospektiven, randomisiert-
kontrollierten Studien widerlegt (Bei-
spiele: EPaNIC, PEPaNIC, EDEN,
PermiT, INTACT) und ist daher ob-
solet – das haben wir schon vorher ge-
wusst, dafür brauchen wir kein EAT-
ICU-Trial.
Der andere Punkt ist der, welche Ener-
gie- und Proteinzufuhr bei Intensivpati-
enten NACH dieser Frühphase (in der
eben eine volle Ernährung nicht er-
zwungen werden darf) angestrebt wer-
den sollte. Die Autoren haben ja die
Ernährungsziele (Proteinzufuhr nach
Katabolismus, jedenfalls aber > 1.5 g/
kg KG/Tag, die Energiezufuhr gemes-
sen oder 25 kcal/kg KG/Tag) über den
gesamten Behandlungszeitraum bis zur
Extubation oder Entlassung vorgenom-
men (= „normokalorische Ernährung“).
Wegen möglicher negativer Auswir-
kungen der hohen Ernährungszufuhr
in der Frühphase kann über die optima-
le Zufuhr im weiteren Verlauf in die-
ser neuen Studie keinerlei Aussage ge-
macht werden. Wegen des ungünstigen
Studiendesigns, das unbeabsichtigt lei-
der zwei Variablen inkludiert hat („ear-
ly“ und „goal“) bleibt diese Frage weiter
unbeantwortet.
Klinische Schlussfolgerung:
Die klinischen Implikationen die-
ser neuen Studie sind daher sehr limi-
tiert. Sicherlich ist sehr schade, dass
so viel Engagement, Arbeit, Zeit und
auch Geld in eine aufwendige, sehr gut
durchgeführte Studie investiert wurden,
die keine unserer Fragen beantwortet
und keinerlei Konsequenzen für die kli-
nische Praxis hat.
Wenn auch hier weiterhin kontrover-
se Meinungen vorliegen (Patel JJ; JPEN
2017, e-pub June 29), ist doch heu-
te weitgehend anerkannt, dass in der
Akutphase einer Erkrankung die Er-
nährung eines Kritisch-Kranken nicht
rasch, sondern langsam, an die individu-
elle (gastrointestinale und metabolische)
Toleranz angepasst, aufgebaut werden
sollte. Dies als „permissive Unterernäh-
rung“ zu bezeichnen, ist nicht ganz rich-
tig. In der Frühphase einer Erkrankung
werden endogen Substrate freigesetzt.
Eine„normokalorische“exogeneErnäh-
rung würde in dieser Phase zu einer en-
dogenen Überernährung führen.
Eine neue retrospektive Auswertung
des INTACT-Trials (BraunschweigCA;
JPEN2015;39:13)illustriert,wiewirdie
künstliche Ernährung von Intensivpati-
enten vornehmen sollten (Abbildung)
(Peterson SJ; JPEN 2017, e-pub June 29):
In der Frühphase verschlechtert, in der
darauf folgenden Stabilisierungs- und
Reparationsphase jedoch verbessert eine
„volle“ Ernährung die Prognose.
Welche Ernährung nach der Frühpha-
se vorgenommen werden sollte, wenn
der Patient sich stabilisiert, keine Kate-
cholamine mehr benötigt, wenn Organ-
dysfunktionen rückläufig sind, ist zwar
nicht untersucht, hier ist wohl ein „nor-
mokalorischer“ Ansatz mit einer Prote-
inzufuhr von etwa 1.5 g/kg KH/Tag zu
empfehlen.
Im Gegensatz zum heutigen Paradig-
ma in der Infusionstherapie („early li-
beral – late conservative“) könnte das
neue Paradigma der Ernährungsthera-
pie bei Intensivpatienten „early conser-
vative – late liberal“ lauten.
Interessenkonflikte: Der Autor hat von verschiedenen
ErnährungsfirmenForschungsunterstützungundReferen-
tenhonorare erhalten.
ArtikelistinmodifizierterFormauchinNutrition-Newserschienen.
Abb.: Mediane Kalorienzufuhr (kcal/kg KG/Tag) in den ersten 14 ICU-Tagen.
* Signifikanter Unterschied in der Kalorienzufuhr zwischen Intensivpatienten, die verstarben
oder lebend entlassen wurden (modifiziert nach Peterson SJ; JPEN 2017; e-pub, June 29).
Kalorienzufuhr(kcal/kgKG/Tag)
ICU-Tag
median kcal/kg lebend
median kcal/kg tot
Prof. Dr. Wilfred Druml
Abteilung für Nephrologie
Medizinische Universität
Wien
wilfred.druml@meduniwien.ac.at
12. Nr. 5, 2017 15
40 Jahre kontinuierliche Nierenersatztherapie
Happy Birthday: 40 Jahre
kontinuierliche Nierenersatztherapie
für das akute Nierenversagen
Im Jahr 1977 berichtete Peter Kra-
mer erstmalig über eine kontinuierli-
che Nierenersatztherapie, die kontinu-
ierlich arterio-venöse Hämofiltration
(CAVH) (Kramer P; Klin Wochenschr
1977; 55:1121). Kramer stellte nach
akzidenteller Punktion der Arteria fe-
moralis fest, dass der arterielle Druck
ausreichte, um an einem zwischenge-
schalteten Hämofilter ohne jede Pum-
penunterstützung ein Ultrafiltrat zu
erzeugen. Zur kontinuierlichen Appli-
kation benötigte sie neben dem Filter
lediglich einen arteriellen und venösen
Zugang (Abbildung). Eine solche The-
rapieform war hoch attraktiv. Das ein-
fache Handling führte dazu, dass sich
dieses Verfahren rasch in der Intensiv-
therapie zur Behandlung des akuten
Nierenversagens (ANV) etablierte.
Dabei hatte Kramer, der sich der gerin-
gen Effektivität dieses Verfahrens be-
zogen auf die Elimination von Stoff-
wechselendprodukten bewusst war, den
Einsatz beim ANV nicht propagiert. Er
sah es als eine Ergänzung der konven
tionellen diuretischen Therapie bei re-
nal und kardial kompromittierten Pa-
tienten an. „Arterial venous hemofil
tration: a new and simple method for
treatment of overhydrated patients re-
sistant to diuretics“ lautete entsprechend
der Titel seiner bahnbrechenden Arbeit.
Entscheidende Kraft für die Ultrafiltra-
tion war der mittlere arterielle Druck.
Auf Grund der geringen Möglichkei-
ten der Einflussnahme auf dieses Sys-
tem zeigte sich bald, dass die CAVH bei
kritisch Kranken selten in der Lage war,
eine ausreichende Stoffelimination zu
erzielen (Kierdorf HP; Contrib Nephrol
1991; 93:1). Auch die Etablierung von
ähnlichen Verfahren wie die arterio-ve-
nöse Hämodialyse (CAVHD) oder Hä-
modiafiltration (CAVHDF) verbesserte
dieses Problem nur unwesentlich.
Veno-venöse pumpenunterstützte
Verfahren (CVVH, CVVHD, CVVHDF)
Dies führte in den frühen 80iger Jahren
zur Entwicklung von Behandlungsme-
thoden, welche die Vorteile der Kon-
tinuität mit einer höheren Effektivität
verbinden sollten. Gleichzeitig wurde
durch diese veno-venösen, pumpen-
unterstützten Verfahren die arterielle
Punktion vermieden (Mehta RL; Semin
Dial 1996; 9:469). In die Behandlung
eingeführt wurden die kontinuierliche
veno-venöse Hämofiltration (CVVH),
die Hämodialyse (CVVHD) und die
Hämodiafiltration (CVVHDF).
Diese Verfahren waren deutlich effek-
tiver und ermöglichten eine suffiziente
Behandlung auch bei hämodynamisch
instabilen, hyperkatabolen Patienten.
Problembereiche der kontinuierlichen
Nierenersatztherapie in den letzten
40 Jahren
Gefäßanschlüsse:
Die Langzeitkanülierung der Arteria
femoralis mit einer Komplikationsrate
von mehr als 10% (Blutung, Thromben,
etc.) war die Schwachstelle der CAVH.
Veno-venöse Therapieverfahren hinge-
gen werden nach Punktion einer großen
Vene mittels eines Doppellumenkathe-
ters durchgeführt. Heute wird in der
Regel die obere Hohlvene via Vena ju-
gularis kanüliert, da die Langzeitkanü-
lierung der Vena femoralis und der Vena
subclavia mit einer erhöhten Throm-
boserate, einer erhöhten Infektionsge-
fahr sowie der Gefahr des Abknickens
der Katheter bei gewollten oder spon-
tanen Mobilisationsversuchen der Pa-
tienten einhergeht (KDIGO, Kidney Int
2012; Suppl 2; 1).
Bilanzierung:
Die initial vorgenommene manuelle
Bilanzierung von CAVH und CVVH
führtehäufigzuFlüssigkeitsimbalanzen.
Es gab daher eine Reihe von Ansätzen,
diese Problematik durch automatische
Bilanzierungshilfen zu verbessern, die
- vom heutigen Standpunkt gesehen –
eher experimentellen Charakter hatten.
Nachdem von fast allen großen Herstel-
lern moderne Geräte für die kontinuier-
liche Therapie entwickelt wurden, hat
sich diese Problematik erübrigt.
Substitutionslösungen:
Mit Steigerung der Austauschmenge
bei der kontinuierlichen Nierenersatz-
therapie kamen den Substitutionslösun-
gen zunehmend Bedeutung zu. Initial
wurden im Übrigen Austauschlösungen
verwendet, die entweder für die Perito-
nealdialyse oder für die intermittierende
Hämofiltration konzipiert waren. Initial
enthielten die Infusionslösungen Laktat
als Pufferlösung. Erst seit 10-15 Jahren
stehen Bikarbonat-gepufferte Lösun-
gen von allen Anbietern zur Verfügung.
Antikoagulation:
Grundsätzlich benötigen alle Thera-
pieverfahren eine Antikoagulation zur
Vermeidung der Aktivierung der Blut-
gerinnung im extrakorporalen Kreis-
lauf. In der frühen Phase der CAVH
13. Nr. 5, 201716
40 Jahre kontinuierliche Nierenersatztherapie
wurden hierdurch blutungsgefährde-
te, kritisch kranke Patienten einem er-
heblichen Antikoagulantien-beding-
ten Morbiditätsrisiko ausgesetzt. Selbst
unter niedrigdosierter Heparinisierung
(10.000-15.000 IU/Tag) traten Blu-
tungskomplikationen mit einer Häu-
figkeit von 10-50% auf (Frank RD; In
tensivmed 2003; 40:382).
Heutzutage existieren für verschiedene
klinische Situationen Strategien, die-
ses Risiko für die Patienten durch den
Einsatz spezieller Antikoagulationsver-
fahren, insbesondere der lokalen Zitrat
antikoagulation, deutlich zu reduzie-
ren. Die Zitratantikoagulation mit der
auf den extrakorporalen Kreislauf be-
schränkten Gerinnungshemmung hat
die Filterlaufzeiten deutlich verlängert
und Antikoagulations-bedingte Kom-
plikationen erheblich vermindert und
ist damit für die kontinuierliche Nie-
renersatztherapie zum Standardverfah-
ren geworden.
Dosis und Zielkriterien der
kontinuierlichen extrakorporalen
Therapie
Ältere Daten zeigen, dass bei einer kon-
tinuierlichen Therapie mit sehr nied-
riger Dosis ein eindeutiger Zusam-
menhang zwischen Hämofiltratmenge
und Letalität besteht (Storck M; Lan
cet 1991;337:452). Darüber hinaus er
fordert das Ausmaß der im ANV vor-
liegenden metabolischen Verände-
rungen eine Mindestdosis, die bei der
CVVH bei einem Austausch von ca.
1,2-1,5 L/h liegt (Brause M; Crit Care
Med 2003; 31:841).
Erste Empfehlungen für die Dosis der
kontinuierlichen Therapie beruhten
seit 2000 auf einer prospektiv rando-
misierten Studie (Ronco C; Lancet 2000;
355:26). Ein Austausch bei der CVVH
von 35 oder 45 ml/kg KG/h steigerte die
Überlebenschancesignifikantgegenüber
einem Austausch von 20 ml/kg KG/h.
In den Jahren 2008 und 2009 zeigten
drei große Untersuchungen, dass eine
lineareDosis-Wirkungsbeziehungnicht
besteht. Eine CVVHD mit einem Um-
satz von 35 ml/kg KG/h zeigte keine
Verbesserung des Überlebens, vergli-
chen mit einem Austausch von 20 ml/
kg KG/h (Tolwani AJ; J Am Soc Neph
rol 2008; 19:1233).
Die beiden anderen Studien (ATN und
RENAL Trial) kamen ebenfalls zu dem
Ergebnis, dass eine Steigerung der Do-
sis der extrakorporalen Therapie über
ein Basisvolumen hinaus das Überle-
ben der Patienten nicht verbessert. Im
ATN-Trial wurde eine CVVHD mit
20 ml/kg KG/h verglichen mit einer
Dosis von 35 ml/kg KG/h, während
das Austauschvolumen im australischen
RENAL-Trial CVVHD 25 versus 40
ml/kg KG/h betrug (Palevsky PM; N
Engl J Med 2008; 359:7, Bellomo R; N
Engl J Med 2009; 361:1627).
Dementsprechend darf man sich ganz
allgemein in der Intensivtherapie des
ANV von der grundsätzlichen These
verabschieden, dass „viel Dialysedosis
jedem Patienten zu jedem Zeitpunkt
immer viel hilft“.
Erfreulicherweise zeigten diese drei Un-
tersuchungen eine im Vergleich zu äl-
teren Daten zur Letalität Schwerkran-
ker mit ANV eine deutlich verbesser-
te Überlebensrate. Hintergrund ist am
ehesten die Tatsache, dass in allen Un-
tersuchungen schon in der Niedrigdo-
sis-Gruppe Austauschmengen erreicht
wurden, die in der täglichen Praxis auf
der Intensivstation nicht erzielt wurden
(Kellum JA, Ronco C; Nat Rev Nephrol
2010; 6:191). Zuletzt wurde schließlich
gezeigt, dass auch mit einer Hochvo-
lumen-Hämofiltration keine Verbes-
serung der Prognose der Patienten er-
zielt werden kann (Joannes-Boyou O;
Intensive Care Med 2013; 33:724; Com
bes A; Am J Resp Crit Care Med 2016;
192:1179).
Stellenwert der
kontinuierlichen Therapie
Hämodynamik und Flüssigkeitshaushalt:
Eine hämodynamische Instabilität bei
Patienten mit multiplem Organversa-
gen (MOV) ist eine der Hauptindika-
tionen für den Einsatz kontinuierlicher
Verfahren, obwohl einige prospektive
Studien eine vergleichbare hämody-
namische Stabilität verglichen mit der
Dialyse zeigen (Misset B; Intensive Care
Med 1996; 22:742).
Allerdings bleibt die Einschätzung
von Nephrologen und Intensivmedi-
zinern bestehen, dass es eine Grup-
pe von Schwerkranken mit ausgeprägt
schlechter Prognose gibt, die aufgrund
ihrer Instabilität nicht mit einem inter-
mittierenden Verfahren behandelt wer-
den können (Lameire N; Lancet 2005;
365:417). Unbestritten ist, dass es bei
der intermittierenden Dialyse zu ra-
schen Flüssigkeits- und Natriumver-
schiebungen kommen kann, welche als
die wesentliche Ursache zerebraler Be-
gleiterscheinungen bei dieser Behand-
lung gelten und wahrscheinlich für die
Tatsache verantwortlich sind, dass kon-
tinuierliche Verfahren bezogen auf die
Entwicklung eines Hirnödems signifi-
kante Vorteile haben (Ronco C; J Neph
rol 1999; 12:173).
Therapieverfahren und Letalität:
Neben einer Reihe von anderen Fak-
toren ist die Prognose von Patienten
im ANV möglicherweise auch von der
Art des Niereneratzverfahrens abhän-
gig. Seit der Einführung der kontinu-
ierlichen Therapieverfahren Ende der
70iger Jahre konnte allerdings in di-
versen Studien kein genereller Über-
Abb.: Schematische Darstellung der CAVH
aus der Originalpublikation von Peter
Kramer et al. (mod. nach Klin Wochenschr
1977; 55:1121)
Controlled
Infusion fluid
Arterial line
HemofilterVenous
line
14. Nr. 5, 2017 17
40 Jahre kontinuierliche Nierenersatztherapie
lebensvorteil für die kontinuierliche
Therapie für die gesamte, heterogene
Gruppe von Patienten mit ANV nach-
gewiesen werden. Exemplarisch zeigte
die größte prospektive Analyse aus dem
Jahr 2006 (Vinsonneau C; Lancet 006;
368:379)keinen Vorteil bezogen auf die
Überlebenschancen der Patienten, was
verschiedene Metaanalysen bestätigten
(RabindranathK;CochraneDatabaseSyst
Rev2007;CD003773,SchneiderAG;In
tensive Care Med 2013; 39:987).
Kontinuierliche Therapie:
Mehr als Nierenersatz?
Auch heute ist die Frage, ob Patienten
im ANV und MOV, insbesondere mit
begleitender schwerer Sepsis, im Rah-
men der kontinuierlichen Therapie von
der begleitenden kontinuierlichen Eli-
mination proinflammatorischer Media
toren profitieren. CVVH oder CVVH-
DF alleine ist hier allerdings nicht der
Ansatz, da bei unverändert kritischer
klinischer Situation die Serumkonzen-
trationen der proinflammatorischen
Mediatoren weitgehend unverändert
bleiben. Selbst unter einer Hochvolu-
men-Hämofiltration konnte keine Ab-
senkung der Plasmakonzentrationen er-
zielt werden (Joannes-BoyouO;Intensive
Care Med 2013; 33:724).
Ein Grund hierfür ist sicher die hohe
Gesamtkörperclearance dieser Media
toren mit extrem kurzer Halbwertszeit
(Sieberth HG, Kierdorf HP; Kidney Int
1999; 56:S79). Eine entscheidendere
Rolle in der Elimination dieser Subs-
tanzen könnte in Zukunft die Kombi-
nation einer Filtrationstechnik mit ei-
ner Adsorption haben (Ronco C; Blood
Purif 2013, 21:409; Honore PM, ASA
IO J 2013; 59:99).
In den letzten Jahren hatte die Arbeits-
gruppe in Nürnberg die kontinuierli-
che Nierenersatztherapie mit einem in
Serie geschalteten Gasaustauscher zur
CO2-Elimination kombiniert (Forster
C; Crit Care 2013; 17: R154). Mit die-
ser Technik kann gemeinsam mit der
Nierenersatztherapie eine „Lungen-
unterstützung“ bei dekompensierten
COPD-Patienten erzielt und auch eine
„ultraprotektive“ Beatmung unterstützt
werden. Wegen der zu niedrigen Blut-
flussraten kann mit dieser Kombination,
die jetzt auch von der Industrie ange-
boten wird, zwar eine klinisch durchaus
relevante Elimination von CO2, jedoch
keine Verbesserung der Oxygenierung
erreicht werden.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Einführung der kontinuierlichen
Nierenersatztherapie auf der Intensiv-
station hat die Behandlung des ANV in
den letzten 40 Jahren erheblich verän-
dert und schlussendlich seine Prognose
verbessert. Nicht alle der Hoffnungen,
die man an einen kontinuierlichen Er-
satz eines Vitalorgans geknüpft hatte,
haben sich erfüllt, so findet sich trotz der
Faszination der Kontinuität kein gene-
reller Vorteil für alle Patienten.
Generelle Therapieempfehlungen für
die gesamte, heterogene Gruppe von
Patienten mit ANV im internistischen
und chirurgischen Bereich sind somit
in Kenntnis der Datenlage 2017 obso-
let. Kontinuierliche und intermittieren-
de Nierenersatzverfahren ermöglichen
es, die Therapie den individuellen Be-
dürfnissen des Einzelnen anzupassen
(Tabelle).
Meine persönliche Überzeugung ist,
dass es auf den Intensivstationen im-
mer noch eine kleine Gruppe von Pa-
tienten (ca. 10% aller ANV) gibt, die
aufgrund ihrer hämodynamischen In-
stabilität ausschließlich mit der konti-
nuierlichen Nierenersatztherapie be-
handelt werden kann.
Spezifische Indikationen für kontinu-
ierliche Therapieverfahren sind das
Vorliegen einer akuten/chronischen
Leberinsuffizienz sowie die Notwen-
digkeit, intrakranielle Drucksteigerun-
gen zu vermeiden, wie bei Patienten mit
Schädel-Hirn-Traumen oder drohen-
dem Hirnödem.
Der 40. Geburtstag dieses Verfahrens
ist Anlass zur Gratulation und Ansporn
zugleich. Ziel der nächsten Jahre wird
es sein, die differenzierten Möglichkei-
ten der Nierenersatztherapie im Kon-
text mit den individuellen Bedürfnissen
der Schwerkranken mit MOV zu eva-
luieren und die Behandlung stetig wei-
ter zu individualisieren.
Interessenkonflikte: Keine
Prof. Dr. Horst P. Kierdorf
Kliniken der Stadt Köln
kierdorfh@kliniken-koeln.de
Tabelle: Indikationen für die verschiedenen extrakorporalen
Therapieverfahren in der Intensivmedizin
(modifiziert nach Kierdorf HP; Nephrologe 2011; 6:135)
Intermittierende
Therapieverfahren
Kontinuierliche
Therapieverfahren
Alleiniger Flüssigkeitsentzug – – ++
Unkompliziertes (alleiniges) ANV ++ – –
ANV im Multiorganversagen (–) / + ++
ANV und Hirndruckerhöhung – – ++
ANV und Leberversagen (–) ++
ANV in der Mobilisationsphase + – –
Rasche Elektrolytkorrektur (z. B. K+) ++ – –
Intoxikation ++ (–)
15. Fachkurzinformation
Bezeichnung des Arzneimittels: Rapibloc 300 mg Pulver zur Herstellung einer Infusionslösung
Qualitative und quantitative Zusammensetzung:
EineDurchstechflascheenthält300mgLandiololhydrochloridentsprechend280mgLandiolol.NachRekonstitution
von1Durchstechflaschemit50mleinerderfolgendenLösungen:NaCl9mg/ml(0,9%)LösungoderRingerlösungoder
laktathaltiger Ringerlösung, enthalten 1ml 6mg Landiololhydrochlorid. Liste der sonstigen Bestandteile: Mannitol
(Ph. Eur.), Natriumhydroxid (zur pH-Wert Einstellung)
Anwendungsgebiete:
SupraventrikuläreTachykardieundwenneineschnelleKontrollederKammerfrequenzbeiPatientenmitVorhofflim-
mern oder Vorhofflattern perioperativ, postoperativ oder unter anderen Bedingungen erwünscht ist und eine kurz-
dauerndeKontrollederKammerfrequenzmiteinerkurzwirksamenSubstanzangebrachtist.Nicht-kompensatorische
Sinustachykardie wenn nach dem Urteil des Arztes die hohe Herzfrequenz eine besondere Intervention erfordert.
Landiolol eignet sich nicht zur Behandlung von chronischen Erkrankungen.
Gegenanzeigen:
ÜberempfindlichkeitgegendenWirkstoffodereinenderinAbschnitt6.1genanntensonstigenBestandteile.Schwere
Bradykardie(wenigerals50SchlägeproMinute)Sinusknotensyndrom.SchwereStörungenderatrioventrikulären
(AV)-Knotenleitung(ohneHerzschrittmacher):AV-Block2.oder3.Grades.KardiogenerSchock.SchwereHypotonie.
DekompensierteHerzinsuffizienz.PulmonaleHypertonie.UnbehandeltesPhäochromozytom.AkuterAsthmaanfall.
Schwere, unkorrigierbare metabolische Azidose.
Nebenwirkungen:
Infektionen und parasitaere Erkrankungen: gelegentlich: Pneumonie, selten: Mediastinitis.
Erkrankungen des Blutes und des Lymphsystems: selten: Thrombozytopenie, Thrombozytenfunktionsstörung.
Stoffwechsel- und Ernährungsstörungen: gelegentlich: Hyponaträmie, selten: Hyperglykämie.
ErkrankungendesNervensystems:gelegentlich:ZerebraleIschämie,Kopfschmerzen,selten:Hirninfarkt,Schlaganfall,
Krampfanfall.
Herzerkrankungen:häufig:Bradykardie,gelegentlich:Herzstillstand,Sinusarrest,Tachykardie,selten:Myokardinfarkt,
ventrikuläreTachykardie,Vorhofflimmern,Low-cardiac-output-Syndrom,Atrioventrikularblock,Rechtsschenkelblock,
supraventrikuläre Extrasystole, ventrikuläre Extrasystole.
Gefäßerkrankungen: häufig: Hypotonie, gelegentlich: Hypertonie, selten: Schock, Hitzewallungen.
ErkrankungenderAtemwege,desBrustraumsundMediastinums:gelegentlich:Lungenödem,selten:Asthma,Atemnot,
Atemwegserkrankung, Bronchospasmus, Dyspnoe, Hypoxie.
Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts: gelegentlich: Erbrechen, Übelkeit,selten: Abdominalbeschwerden, Abson-
derung im Mund, Mundgeruch.
Leber- und Gallenerkrankungen: gelegentlich: Lebererkrankungen, selten: Hyperbilirubinämie.
Erkankungen der Haut und des Unterhautzellgewebes: selten: Erythem, kalter Schweiß.
Skelettmuskulatur-, Bindegewebs- und Knochenerkrankungen: selten: Muskelspasmen.
Erkrankungen der Nieren und Harnwege: selten: Niereninsuffizienz, akutes Nierenversagen, Oligurie.
Allgemeine Erkrankungen und Beschwerden am Verabreichungsort: selten: Fieber, Schüttelfrost, Beklemmungen in
der Brust, Schmerzen an der Verabreichungsstelle, nicht bekannt: Schmerzen an der Anwendungsstelle, Reaktion
an der Injektionsstelle, Druckgefühl.
Untersuchungen: häufig: Niedrigerer Blutdruck,gelegentlich: Elektrokardiogramm ST-Strecken-Senkung, Herzindex
abnormal,Alanin-Aminotransferase(ALT/GPT)abnormal,Aspartat-Aminotransferase(AST/GOT)abnormal,Bilirubin
imBlutabnormal,Leukozytenzahlabnormal,Erythrozytenzahlabnormal,Hämoglobinabnormal,Hämatokritabnor-
mal, Thrombozytenzahl abnormal, Laktatdehydrogenase im Blut abnormal, Harnstoff im Blut abnormal, Kreatinin
im Blut erhöht, Kreatinphosphokinase im Blut abnormal, Gesamtprotein abnormal, Albumin im Blut abnormal,
Natrium im Blut abnormal, Kalium im Blut abnormal, Cholesterin im Blut abnormal, Triglyceride im Blut abnormal,
EiweißimUrinvorhandenselten:ErhöhterBlutdruck,ElektrokardiogrammT-Welleninversion,Elektrokardiogramm:
verlängerteDauerdesKammerkomplexes,Herzfrequenzvermindert,Pulmonalarteriendruckerhöht,PO2 vermindert,
Zahl der Neutrophilen abnormal, alkalische Phosphatase im Blut abnormal, alkalische Leukozytenphosphatase,
freie Fettsäuren abnormal, Chlorid im Blut abnormal, Glukose im Urin.
Inhaber der Zulassung: Amomed Pharma GmbH, Storchengasse 1, 1150 Wien, Österreich
Zulassungsnummer: DE: 94094.00.00 ; AT: 137584
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16. Nr. 5, 2017 19
Angiotensin II bei vasodilatatorischem Schock?
Angiotensin II zur Therapie des
vasodilatatorischen Schocks?
Der Schock stellt die Maximalvariante
einer Dysregulation der fein aufeinander
abgestimmten Regelsysteme des Orga-
nismus als Reaktion auf ein initial schä-
digendes Ereignis dar. Schock ist defi-
niert als unzureichende Durchblutung
vitaler Organsysteme unterschiedlicher
Ausprägung mit nachfolgender Gewe-
behypoxie als Ausdruck des Missver-
hältnisses zwischen Sauerstofftransport
(DO2) und Sauerstoffaufnahme (VO2).
Dabei beruht die kritische Abnahme
der Durchblutung unabhängig von der
Ätiologie entweder auf einem absolut
oder relativ verminderten Herzminu-
tenvolumen, vermindertem intravasa-
lem Blutvolumen, einer Verteilungs-
störung des Blutflusses in der Peri-
pherie oder einer Kombination dieser
Störungen (Janssens U; Internist 2004;
45:258). Die klassische Einteilung der
Schockformen erfolgt in vier Kategori-
en (Hinshaw LB; 1972):
1) kardiogener Schock,
2) distributiver Schock,
3) obstruktiver Schock und
4) hypovolämischer Schock.
Beim distributiven Schock liegt in der
Regel ein pathologischer Anstieg der
Gefäßkapazität als Folge einer Vaso-
dilatation vor. Typische Beispiele sind
der septische, anaphylaktische und der
seltene neurogene Schock.
Es kommt zu einer progressiven Ge-
webehypoxie mit dem Verlust der zel-
lulären Membranintegrität. Schließlich
versagt die mitochondriale Energiepro-
duktion. Nach der Phase der Multior-
gandysfunktion schließt sich das Mul-
tiorganversagen (MOV) an.
Dieses MOV, ein gleichzeitiger oder in
kurzen Abständen aufeinanderfolgen-
der Ausfall von Organsystemen, stellt
bei den Patienten, die den Schockzu-
stand überlebt haben, immer noch die
Haupttodesursache dar (Janssens; U In
ternist 2004; 45:258).
Bei 1679 Schockpatienten fand sich am
häufigsten ein septischer Schock bei
62% der Patienten gefolgt vom kardio-
Angiotensin II for the treatment of vasodilatory shock.
Khanna A, English SW, Wang XS, Ham K, Tumlin J, Szerlip H, Busse LW, Altaweel L, et al. N Engl J Med 2017; 377:419-430
ABSTRACT: Vasodilatory shock that does not respond to high-
dose vasopressors is associated with high mortality. We investigated
the effectiveness of angiotensin II for the treatment of patients with
this condition.
METHODS: We randomly assigned patients with vasodilatory
shock who were receiving more than 0.2 μg of norepinephrine per
kilogram of body weight per minute or the equivalent dose of another
vasopressor to receive infusions of either angiotensin II or placebo.
The primary end point was a response with respect to mean arterial
pressure at hour 3 after the start of infusion, with response defined
as an increase from baseline of at least 10 mm Hg or an increase to
at least 75 mm Hg, without an increase in the dose of background
vasopressors.
RESULTS: A total of 344 patients were assigned to one of the two
regimens; 321 received a study intervention (163 received angioten-
sin II, and 158 received placebo) and were included in the analysis.
The primary end point was reached by more patients in the angioten-
sin II group (114 of 163 patients, 69.9%) than in the placebo group
(37 of 158 patients, 23.4%) (odds ratio, 7.95; 95% confidence interval
[CI], 4.76 to 13.3; P<0.001). At 48 hours, the mean improvement
in the cardiovascular Sequential Organ Failure Assessment (SOFA)
score (scores range from 0 to 4, with higher scores indicating more
severedysfunction)wasgreaterintheangiotensinIIgroupthaninthe
placebo group (-1.75 vs. -1.28, P=0.01). Serious adverse events were
reported in 60.7% of the patients in the angiotensin II group and in
67.1% in the placebo group. Death by day 28 occurred in 75 of 163
patients (46%) in the angiotensin II group and in 85 of 158 patients
(54%) in the placebo group (hazard ratio, 0.78; 95% CI, 0.57 to 1.07;
P=0.12).
CONCLUSIONS: Angiotensin II effectively increased blood pres-
sure in patients with vasodilatory shock that did not respond to high
doses of conventional vasopressors.
17. Nr. 5, 201720
Angiotensin II bei vasodilatatorischem Schock?
genen bzw. hypovolämischem Schock
mit jeweils 16%. Ein neurogener bzw.
anaphylaktischer Schock als Sonder-
form des distributiven fand sich bei 4%
und der seltene obstruktive Schock bei
2% der Patienten (De Backer D N; Engl
J Med 2010; 362:779).
Die möglichst frühe Behandlung einer
kritischen arteriellen Hypotonie mit
nachfolgender Gewebehypoxie ist eine
der Kernaufgaben der Notfall- und In-
tensivmedizin. Dabei wird zunächst mit
einer gezielten Volumentherapie ver-
sucht, den Blutdruck zu stabilisieren.
Bei kritisch kranken Patienten gelingt
es aber häufig nicht, hierunter einen ad-
äquaten Perfusionsdruck wiederherzu-
stellen und der Einsatz von Vasopres-
soren ist unvermeidlich.
Katecholamine und hier vor allem das
Noradrenalin werden dabei am häufigs-
ten verwendet. Katecholamine verfü-
gen aber über relevante Nebenwirkun-
gen wie zum Beispiel einen erhöhten
myokardialen Sauerstoffverbrauch und
Provokation von relevanten Tachykar-
dien/Arrhythmien bzw. Ischämien, die
trotz scheinbarer positiver hämodyna-
mischer Effekte die Prognose von Pa-
tienten potenziell verschlechtern (Ries
sen R; Med Klin Intensivmed Notfmed
2016; 111:37).
In der späten Phase eines Schocks kann
es als Folge einer Desensibilisierung
von Katecholaminrezeptoren, Verän-
derung der Stickoxid-Signalwege oder
Öffnung der ATP-sensitiven Kalium-
kanäle zu einer katecholaminrefraktä-
ren hämodynamisch bedrohlichen Si-
tuation kommen (Belletti A; PLoS One
2015; 10:e0142605).
Daher wurden in den vergangenen Jah-
ren katecholaminsparende Substanzen
für den klinischen Einsatz bei vasodila-
tatorischem Schock entwickelt; wie das
Vasopressin, das Terlipressin oder das
Methylenblau (Bassi E; Crit Care Res
Pract 2013; 2013:654708, Landry DW;
N Engl J Med 2001; 345:588, Russell JA
N; Engl J Med 2008; 358:877).
Im manifesten Schock kommt es re-
gelhaft zu einer Aktivierung des Re-
nin-Angiotensin-Aldosteron-Systems
(RAAS). Das Angiotensin II (Ang
II) besteht aus acht Aminosäuren und
nimmt im RAAS eine Schlüsselrolle für
die Aufrechterhaltung des Blutdrucks
und des Wasserhaushalts ein. In den
juxtaglomerulären Zellen der Vas affe-
rens der Nieren wird Renin als Ant-
wort auf einen Volumenmangel und/
oder Abfall des Blutdrucks gebildet und
freigesetzt. In der Leber spaltet Renin
aus dem Angiotensinogen das Deka-
peptid Angiotensin I ab; das Angioten-
sin-konvertierende Enzym (ACE) kon-
vertiert Angiotensin I schnell in Ang
II, welches über ausgeprägte vasokons
triktorische Effekte verfügt (CorreaTD;
Crit Care 2015; 19:98).
Die wesentlichen physiologischen Ak-
tivitäten werden über den Angioten-
sin-1-Rezeptor (AT-1) vermittelt. Es
kommt unter anderem zu einem Blut-
druckanstieg, einer Aldosteronfreiset-
zung aus der Zona glomerulosa der Ne-
bennieren, einer Natrium-und Wasser-
rückresorption in den Nieren und einer
Vasopressinsekretion.
Schon Anfang der Sechzigerjahre wurde
bovines Ang II im refraktären Schock
eingesetzt (Del Greco F; JAMA 1961;
178:994, Derrick JR; Ann Surg 1962;
156:214). Eine kleine, placebokont-
rollierte, randomisierte Pilotstudie un-
tersuchte kürzlich humanes Ang II bei
20 Patienten mit distributivem Schock
(Chawla LS; Crit Care 2014; 18:534).
Aufgrund dieser Studienergebnisse
wurde eine „Phase 3 Angiotensin II for
the Treatment of High-Output Shock
(ATHOS-3) Studie“ durchgeführt, um
zu überprüfen, ob die zusätzliche Gabe
von Ang II neben einer Therapie mit
konventionellen Vasopressoren den
Blutdruck bei Patienten mit Katecho-
lamin-refraktärem vasodilatatorischen
Schock verbessert (Khanna A; N Engl J
Med 2017; 377:419).
Das Protokoll der vorliegenden Studie
wurde gemeinsam mit dem Sponsor (La
Jolla Pharmaceutical, San Diego Kalifor
nien) erstellt. Patienten ≥ 18 Jahre mit
einem vasodilatatorischen Schock trotz
intravenöser Volumengabe mit mindes-
tens 25 ml/kg Körpergewicht über die
letzten 24 Stunden und gleichzeiti-
ger Therapie mit hochdosierten Vaso-
pressoren konnten in die Studie einge-
schlossen werden.
Ein vasodilatatorischer Schock war de-
finiert als Herzindex > 2,3 l/min/m2
oder zentralvenöse Sauerstoffsättigung
(ScvO2)>70%gekoppeltmiteinemzen-
tralvenösen Druck (ZVD) > 8 mmHg.
Der MAD musste zwischen 55 und 70
mmHg liegen. Eine hochdosierte Va-
sopressoren-Therapie war definiert als
eineApplikationvonNoradrenalin(oder
einer äquivalenten Dosis anderer Vaso-
pressoren) mit einer Laufrate > 0,2 µg/
kg/min für mindestens 6 h. Andere Va-
sopressoren waren Adrenalin, Phenyl
ephrin, Dopamin und Vasopressin.
Nach einer zentral durchgeführten Ran-
domisierung wurden die Patienten in ei-
ner 1:1 Ratio der Therapie mit huma-
nem Ang II (LJPC-501) oder Placebo
zugewiesen. Innerhalb der ersten drei
Stunden wurde Ang II mit einer Lauf
rate von 20 ng/kg/min gestartet, um ei-
nen MAD von mindestens 75 mmHg
zu erreichen. Während dieser Anpas-
sungsphase wurden parallellaufende Va-
sopressoren möglichst konstant gehal-
ten. Die maximale erlaubte Dosis von
Ang II innerhalb der ersten drei Stun-
den betrug 200 ng/kg/min.
Musste die Dosis der Prüfsubstanz er-
höht werden, wurde dies als fehlender
Effekt bewertet. Nach drei Stunden und
15 Minuten wurden die Prüfsubstanz
bzw. Placebo und die Vasopressoren an
einen Zielblutdruckwert zwischen 65
und 75 mm angepasst. Ang II konnte
in dieser Phase bis 48 Stunden mit ei-
ner Laufrate von 1,25 - 40 ng/kg/min
appliziert werden.
Nach 48 Stunden wurden die Prüfsubs
tanzen protokollgesteuert ausgeschli-
chen und beendet. Lag die Noradrena-
lindosis über 0,1 µg/kg/min oder blieb
der Patient instabil, konnte die Studien-
medikation bis zu 7 Tagen weiter fort-
geführt werden.
Als primärer Wirksamkeitsendpunkt
wurde der Verlauf des MAD 3 Stun-
den nach Beginn der Therapie bewertet.
Als positive Reaktion wurde ein MAD
18. Nr. 5, 2017 21
Angiotensin II bei vasodilatatorischem Schock?
≥ 75 mmHg bzw. ein Anstieg des MAD
≥ 10 mmHg vom Ausgangswert fest-
gelegt. Sekundäre Wirksamkeitsend-
punkte waren unter anderem die Ver-
änderungen des kardiovaskulären SO-
FA-Scores bzw. des gesamten SOFA
nach 48 Stunden.
Die Studie wurde in 75 Intensivsta
tionen von neun Ländern in Nordame
rika, Australien/Neuseeland und Euro-
pa durchgeführt. Von 321 behandelten
Patienten erhielten 163 Patienten Ang
II und 158 Patienten Placebo. Das me-
diane Alter lag bei 64 Jahren, 25,9% der
Patienten waren älter als 74 Jahre. Als
UrsachedesvasodilatatorischenSchocks
lag in der Regel eine Sepsis (80,7%)
vor, ein ARDS fand sich bei 28,4% der
Patienten.
Unter Ang II wurde nach drei Stunden
signifikant häufiger ein positiver Effekt
auf den MAD gemessen, der MAD
stieg im Vergleich zur Placebogrup-
pe (PG) signifikant deutlicher an (12,5
mmHg vs. 2,9 mmHg, p<0,001) (Ab-
bildung). Während der ersten 48 Stun-
den lag die Dosierung der begleitenden
Vasopressoren in der Ang-II-Gruppe
signifikant niedriger (Abbildung).
Ebenfalls fiel der kardiovaskuläre SO-
FA-Score nach 48 Stunden in der Ang-
II-Gruppe deutlicher ab (-1,75 versus
-1,28 Punkte, p = 0,01). In den übrigen
Komponenten des SOFA-Scores zeigte
sich keine relevante Veränderung zwi-
schen beiden Gruppen.
Bei den Nebenwirkungen fanden sich
zwischen Ang II und Placebo keine Un-
terschiede, insbesondere galt das für
Tachyarrhythmien, distale Ischämien,
ventrikuläre Arrhythmien oder Vorhof-
flimmern. Die Sterblichkeit an Tag 28
betrug in der Ang-II-Gruppe 46% und
in der PG 53,8% (p = 0,12).
DasErgebnisderATHOS-3überrascht
wenig. Es wäre schon sehr erstaunlich
gewesen, wenn ein potenter Vasokons
triktor wie das Ang II keinen physio-
logischen Effekt im Vergleich zu Pla-
cebo hervorrufen würde. Zunächst ein-
mal ist das Ergebnis vielversprechend,
da Intensivmediziner weltweit nach
Alternativen für die potenziell schäd-
lichen Katecholamine suchen. Immer-
hin konnten in der ATHOS-3-Studie
unter der Therapie mit Ang II niedri-
gere Dosierungen von den begleitenden
Vasopressoren eingesetzt und somit ein
katecholaminsparender Effekt nachge-
wiesen werden.
Die Studie untersuchte jedoch kei-
ne harten klinischen Endpunkte wie
Sterblichkeit an Tag 28. Um einen si-
gnifikanten Effekt auf die Sterblichkeit
nachzuweisen (α = 0,05, Power 80%),
müsste bei Reduktion der Sterblichkeit
Abb.:(A)PrimärerWirksamkeitsendpunkt–VeränderungdesmittlerenarteriellenBlutdrucks(MAD)nach3Stunden(AnstiegMADummindestens
10mmHgoderAnstiegMADüber75mmHg)inderAngiotensin-II-Gruppebzw.Placebo-Gruppe.(B)VerlaufdesMADderAngiotensin-II-Gruppeversus
Placebo-Gruppe.(C)ReduktionderVasopressorendosisinderAngiotensin-II-GruppeversusPlacebo-Gruppe(nachKhannaA;NEnglJMed2017;377:419).
19. Nr. 5, 201722
Angiotensin II bei vasodilatatorischem Schock?
von 7,8% durch eine Prüfsubstanz (wie
in der ATHOS-3-Studie) die Grup-
pengröße bei 644 Patienten pro Stu-
dienarm liegen.
Ebenfalls konnte aufgrund der kleinen
Studienpopulation kein Effekt auf die
Organdysfunktion nachgewiesen wer-
den, der gesamte SOFA-Score zeigte
nach 48 Stunden keinen Unterschied.
Was den Leser aber erstaunt zurück-
lässt, ist die Tatsache, dass die Autoren
im Zusammenhang mit dem Schockge-
schehen keine Laktatbestimmung we-
der zu Beginn noch im Verlauf durch-
führten. Immerhin ist das Laktat eine
der wenigen Parameter, welcher einen
Einfluss auf die Minderperfusion der
Gewebe nachweist. Dies gilt insbeson-
dere für die Laktat-Clearance zur Über-
prüfung einer effektiven Therapie.
Gerade angesichts der Tatsache, dass
unter der Therapie mit einem potenten
Vasokonstriktor es zu Einschränkungen
im regionalen Blutfluss mit Verschlech-
terung der Gewebeperfusion kommen
kann, bleibt es unverständlich, dass
nicht zuletzt unter Sicherheitsaspek-
ten kein Laktat bestimmt wurde.
Dies muss als große Schwachstelle der
vorliegenden Daten gewertet werden.
Immerhin wird von einer hochrangi-
gen europäischen Expertengruppe in al-
len Schockformen die Diagnostik und
Überwachung mittels Laktatbestim-
mung gefordert (Cecconi M; Intensive
Care Med 2014; 40:1795).
In die gleiche Richtung gehen auch die
aktuellen Empfehlungen der Surviving
Sepsis Campaign, die als Therapieziel in
der initialen Behandlung des septischen
Schocks eine Normalisierung der er-
höhten Laktatwerte empfehlen (Rho
des A; Intensive Care Med 2017; 43:304).
Auch bei der Definition des therapie-
refraktären vasodilatatorischen Schocks
ergeben sich wichtige Fragen. In der Li-
teratur gibt es keine Übereinstimmung,
ab welcher Dosierung von Noradrena-
lin von einer „therapierefraktären“ Si-
tuation gesprochen werden kann. Der
Cutoff-Wert der ATHOS-Studie von
Noradrenalin > 0,2 µg/kg/min ist im
Vergleich zu anderen Studien sehr nied-
rig gewählt. Die meisten Studien legen
Infusionsraten des Noradrenalins von
> 0,5µg/kg/min fest (Bassi E; Crit Care
ResPract2013;2013:654708). Auch die
weiteren hämodynamischen Kriterien
(Herzindex, ScvO2 gekoppelt mit einem
ZVD) erscheinen nicht gut validiert.
Als hämodynamischer Zielwert für die
Therapie mit dem zusätzlichen Vaso-
konstriktor Ang II wurde für die ers-
ten drei Stunden ein MAD ≥ 75 mmHg
festgelegt. Dies erscheint angesichts der
bekannten Empfehlungen als relativ
hoch und als möglicherweise nicht an-
gemessen. Die schon zitierte europäi-
sche Expertenempfehlung schlägt einen
MAD-Zielwert von ≥ 65 mmHg vor
(Cecconi M; Intensive Care Med 2014;
40:1795), das gleiche gilt für die aktu-
elle Sepsisleitlinie (Rhodes A; Intensive
Care Med 2017; 43:304).
Ebenfalls ist es außerordentlich bedau-
erlich, dass die Patienten nicht genauer
bezüglich der Komorbiditäten charakte-
risiert sind. Noch viel problematischer
erscheint aber die Tatsache, dass in ei-
ner so hochrangig publizierten Studie
keinerlei bettseitige bildgebende Ver-
fahren wie die Sonographie oder Echo-
kardiographie zum Einsatz kamen. Es
ist sehr wohl bekannt, dass gerade bei
älteren Patienten – und in dieser Stu-
die waren ¼ der Patienten über 75 Jahre
alt – ein hoher Grad an relevanten Ko-
morbiditäten gerade im kardiovaskulä-
ren Bereich vorliegt.
Es erscheint unverständlich, dass in
Unkenntnis der myokardialen Pump-
funktion ein potenter Vasokonstriktor
wie das Ang II in einer Schocksituation
zusätzlich zum Einsatz gebracht wur-
de. Unabhängig von der Tatsache, dass
möglicherweise eine ischämische Kar-
diomyopathie oder dilatative Kardio-
myopathie bei einigen Patienten vor-
lag, ist es wohl bekannt, dass es auch
im Rahmen einer Sepsis zu einer myo-
kardialen, nicht unbedeutenden Pump-
funktionseinschränkung kommen kann.
Die konsekutive Nachlasterhöhung
durch Ang II könnte bei diesen Pati-
enten die Hämodynamik eher aggra-
vieren als verbessern. Aus diesem Grun-
de muss man die vorliegenden Daten
äußerst kritisch bewerten und einfor-
dern, dass zukünftige Studien an kri-
tisch kranken Patienten mit hämodyna-
misch hocheffektiven Substanzen unter
genauerer Charakterisierung des Pa-
tentkollektivs mit einem entsprechen-
den metabolischen Monitoring durch-
geführt werden.
Es bleibt zu hoffen, dass der Einfluss des
Sponsors bei der Erstellung des Studi-
enprotokolls der aktuellen und zukünf-
tigen Studien möglichst gering war und
sein wird. Es darf nicht sein, dass durch
die Hintertür neue, nicht validierte De-
finitionen und Therapieziele durch ein
Studienprotokoll eingeführt werden.
Unabhängig davon sind wir dringend
auf gut geplante und durchgeführte Stu-
dien bei diesen schwer kranken Patien-
ten angewiesen.
Nach Jahrzehnten der Intensivthera-
pie von Patienten mit Schockzustän-
den jedweder Ursache sind die thera-
peutischen Konzepte bis zum jetzigen
Tage nahezu unverändert. Das muss
sich dringend ändern. Wir benötigen
validierte hämodynamische Therapie-
ziele und randomisierte Studien, die mit
einer ausreichenden statistischen Power
klinisch relevante Fragen beantworten.
„Wissenschaft“ (wie man sie heute übt) ist der
Versuch, für alle Erscheinungen eine gemeinsame
Zeichensprachezuschaffen,zumZweckederleich-
terenBerechenbarkeitundfolglichBeherrschbarkeit
derNatur.DieseZeichensprache,welcheallebeob-
achteten „Gesetze“ zusammenbringt, erklärt aber
nichts — es ist nur eine Art kürzester (abgekürztes-
ter) Beschreibung des Geschehens.
Friedrich Wilhelm Nietzsche
(1844-1900)dt. Philosoph,Essayist,LyrikerundSchriftsteller
Interessenkonflikte: Keine
Prof. Dr. Uwe Janssens
Chefarzt Klinik für Innere Medizin
und Intensivmedizin
St. Antonius Hospital
Eschweiler
uwe.janssens@sah-eschweiler.de
20. Nr. 5, 2017 23
Nierenersatztherapie bei Leberzirrhose?
Nierenersatztherapie bei akut-auf-chronischem
Leberversagen – gerechtfertigt?
Bis zu 20 Prozent der Patienten mit
Leberzirrhose, die stationär aufgenom-
men werden, haben oder entwickeln
während des Aufenthaltes eine akute
Nierenfunktionsbeeinträchtigung. Das
Nierenversagen ist noch vor der Leber-
funktionsbeeinträchtigung das häufigs-
te Organversagen bei Patienten mit Le-
berzirrhose und akut-auf-chronischem
Leberversagen (Moreau R; Gastroente
rology 2013; 144:2361).
Abgesehen von der klinischen Häufig-
keit ist das Vorhandensein eines Nie-
renversagens bei Leberzirrhose mit ei-
ner erhöhten Mortalität in Abhän-
gigkeit von der zugrundeliegenden
Ursache verbunden. So ist das Über-
leben bei Patienten mit Leberzirrho-
se und vorbestehendem chronischem
Nierenversagen deutlich besser als bei
Patienten mit akutem Nierenversagen
infolge eines hypovolämen oder septi-
schen Ereignisses; am höchsten ist die
Mortalität bei Patienten mit einem
hepatorenalen Syndrom (Martin-Lla
hi M; Gastroenterology 2011; 140:488).
In der aktuellen Studie wurde der Ein-
fluss von Nierenversagen und der Not-
wendigkeit von Nierenersatzverfahren
auf das Überleben bei Patienten mit
Leberzirrhose an der Intensivstation
analysiert (Staufer K, Liver Int 2017;
37:843). Hierbei wurden post-hoc 242
Patienten, die konsekutiv innerhalb von
7 Jahren an der Intensivstation aufge-
nommen wurden, untersucht.
Zwei Drittel der Patienten hatten eine
akute Nierenschädigung und rund ein
Drittel der Patienten erhielt während
des Aufenthaltes ein Nierenersatzver-
fahren. In dieser Gruppe war die Mor-
talität mit 83 Prozent innerhalb von 28
Tagen beziehungsweise 92 Prozent in-
nerhalb eines Jahres dramatisch erhöht
verglichen zu 30 Prozent beziehungs-
weise 50 Prozent nach 28 Tagen oder
einem Jahr bei Patienten ohne extrakor-
porale Therapienotwendigkeit.
Patienten mit Nierenversagen und ex-
trakorporaler Therapie hatten als Auf-
nahmediagnose signifikant häufiger ei-
nen septischen Schock (> 50 Prozent)
und benötigten öfters Vasopressoren
sowie Beatmung. Der CLIF-C-Score
als Marker für die Schwere der Erkran-
kung war im Gegensatz zu MELD-
und SOFA-Score sowie Child-Pugh-
Score interessanterweise nicht höher
verglichen zu Patienten ohne Notwen-
digkeit einer Nierenersatztherapie.
Kein Patient, der ein 5 oder mehr Or-
ganversagen bereits bei Aufnahme hat-
te, überlebte mehr als 28 Tage. Der
Renal replacement therapy in critically ill liver cirrhotic patients-outcome
and clinical implications.
Staufer K, Roedl K, Kivaranovic D, Drolz A, Horvatits T, Rasoul-Rockenschaub S, et al. Liver Int 2017; 37:843-850
BACKGROUND & AIMS: Current guidelines discourage renal re-
placement therapy (RRT) in critically ill cirrhotics in the lack of liver
transplant (LT) options. This study aimed to identify patients who ben-
efit from RRT in the short and long-term.
METHODS: Critically ill cirrhotics were included over a time period
of 6 years and followed for at least 1 year. CLIF-C ACLF, CLIF-SOFA,
SOFA and MELD scores on admission, 24 h prior to RRT, 24 and 48
hours after start of RRT were analysed for their predictive value of
ICU-mortality. Additionally, long-term renal recovery and successful
bridging to LT was assessed.
RESULTS: In total, 40% (78/193) of patients required RRT. ICU-,
28 days-, 90 days-, and 1 year-mortality was 71%, 83%, 91%, and
92%, respectively, and was significantly higher than in patients with-
out need for RRT (4%, 30%, 43%, and 50%), P<.001. CLIF-C ACLF
and CLIF - SOFA scores within 24 hours prior to RRT showed good
discriminant power to predict ICU-mortality. CLIF-C ACLF calculated
48 hours after commencing RRT was the most suitable predictor of
ICU-mortality in RRT-patients irrespective of LT options (AUC: 0.866).
In patients with ≥5 organ failure assessed by CLIF-SOFA at any
time point showed 100% ICU-mortality. 13% of patients with RRT
showed renal recovery; 14% of patients could be bridged to LT.
CONCLUSIONS: Mortality in critically ill cirrhotics with need for
RRT is substantially high independent of LT options. Only a small pro-
portion showed renal recovery after ICU discharge. CLIF-C ACLF and
CLIF-SOFA scores may assist in identifying patients who would not
benefit from RRT.
21. Nr. 5, 2017 25
Nierenersatztherapie bei Leberzirrhose?
Score mit der stärksten Prädiktion für
Mortalität an der Intensivstation bei
Patienten mit Nierenersatztherapie war
der CLIF-C-Score 48 Stunden nach
Aufnahme an der Intensivstation.
Im längerfristigen Verlauf scheint das
Wiedererlangen der Nierenfunktion
beim kritisch kranken Patienten mit
Leberzirrhose von zentraler Bedeutung
zu sein: 92 Prozent der Patienten, die
nach Entlassung von der Intensivstati-
on noch immer eine Nierenersatzthe-
rapie benötigten, verstarben innerhalb
eines Jahres. Im Gegensatz dazu waren
70 Prozent der Patienten, deren Nie-
renfunktion sich während, beziehungs-
weise nach dem Aufenthalt an der In-
tensivstation wieder erholte, auch ein
Jahr später noch am Leben. Es bestand
kein Unterschied des Überlebens zwi-
schen Patienten, die vor Aufnahme an
der Intensivstation Lebertransplantati-
onskandidaten waren oder nicht.
Der Einsatz von extrakorporalen The-
rapien bei leberkranken Patienten, ins-
besondere bei Patienten mit Leberzir-
rhose, ist ein kontroverses Thema. Dies
liegt einerseits daran, dass hierbei un-
terschiedliche Verfahrensmodalitäten
(einerseits klassische Nierenersatzver-
fahren wie Hämofiltration, Hämodia-
filtration sowie Hämodialyse, ande-
rerseits Albumindialyseverfahren wie
MARS oder Plasmaseparationsver-
fahren wie Prometheus oder gar Plas-
maaustausch) mit unterschiedlich gu-
ter Evidenz in der Anwendung in Ver-
wendung sind.
Die meiste wissenschaftliche Evidenz
gibt es hierbei für die sogenannten arti-
fiziellen Leberunterstützungsverfahren,
von denen wir aus multiplen, randomi-
siert kontrollierten Studien wissen, dass
sie bei Leberkranken sicher in der An-
wendung sind und Verbesserungen in
Hinblick auf Hämodynamik, hepati-
sche Enzephalopathie, Cholestase und
Pruritus bringen. Zu Nierenersatzver-
fahren bei Leberzirrhose gibt es überra-
schenderweise keine randomisierte kli-
nische Studie (Jarczak D; Med Klin In
tensivmed Notfallmed 2017; 112:444).
In der aktuellen Studie zeigte sich eine
vergleichbar hohe Mortalität bei Pa-
tienten, die ein kontinuierliches oder
intermittierendes Verfahren erhielten,
wobei der Großteil der Patienten (73%)
ein kontinuierliches Verfahren erhielt.
Andererseits ist die Kurzzeitmorta-
lität bei Patienten mit Leberzirrho-
se und Organversagen – und hierbei
insbesondere bei Nierenbeeinträchti-
gungen – exzessiv erhöht. Dies führ-
te dazu, dass eine internationale Kon-
sensuskonferenz nahezu sämtlicher
großer westlicher intensivmedizini-
scher Gesellschaften (unter anderem
europäische intensivmedizinische Gesell
schaft – ESICM; amerikanische inten
sivmedizinische Gesellschaft – SCCM)
empfielt, bei Patienten mit Leberver-
sagen und akuter Nierenschädigung
keine extrakorporale Therapie zu be-
ginnen, solange der Patient kein Kan-
didat für eine Lebertransplantation ist
(Brochard L; Am J Respir Crit Care Med
2010; 182:526).
Im Gegensatz dazu konnte die aktu-
elle Studie zeigen, dass das Überleben
von kritisch kranken Patienten mit Le-
berzirrhose und Notwendigkeit einer
Nierenersatztherapie unabhängig vom
Transplantationslistungsstatus ist. Als
wesentliche Prädiktoren für das Über-
leben erschienen die Schwere der aku-
ten Erkrankung (klassifiziert anhand
der Anzahl an Organversagen), deren
Dynamik im Rahmen der ersten Stun-
den und Tage (bester Prädiktor für das
Überleben war der CLIF-C-ACLF-
Score, ein Score für die Schwere des
Organversagens bei Leberzirrhose und
akut-auf-chronischem Leberversagen -
48 Stunden nach Aufnahme) sowie die
Erholung der Nierenfunktion.
In der aktuellen Studie wurde festge-
stellt, dass eine fortgesetzte Notwen-
digkeit eines Nierenersatzverfahrens
bei Patienten mit Leberzirrhose mit
Nierenversagen, die den Intensivauf-
enthalt überlebt haben, mit einer na-
hezu hundertprozentigen Mortalität
innerhalb der darauffolgenden Mona-
te einhergeht.
Die Studie hat verschiedene Limita-
tionen. Neben dem monozentrischen
Charakter sind infolge des relativ über-
schaubaren Patientenkollektivs (ledig-
lich 78 Patienten mit Nierenersatzthe-
rapie) Untersuchungen zu verschiede-
nen Subkollektiven leider nicht möglich
gewesen. So war es beispielsweise nicht
22. Nr. 5, 201726
Nierenersatztherapie bei Leberzirrhose?
möglich zu evaluieren, ob durch den
Einsatz von extrakorporalen Verfah-
ren aus Patienten, die zum Zeitpunkt
des Intensivaufenthaltes nicht für eine
Lebertransplantation gelistet waren,
im Verlauf Kandidaten für eine Le-
bertransplantation wurden.
Umgekehrt bringt diese Studie erst-
mals Licht ins Dunkel hinsichtlich des
Einsatzes von Nierenersatzverfahren
bei Patienten mit Leberzirrhose und
akut-auf-chronischem Leberversagen.
Man kann also festhalten, dass Pati-
enten mit Leberzirrhose und akut-auf-
chronischem Leberversagen mit Not-
wendigkeit von Nierenersatzverfahren
eine exzessiv hohe 28-Tages-Mortali-
tät haben, unabhängig vom Transplan-
tationslistungsstatus.
Dies sollte jedoch nicht dazu führen,
den betroffenen Patienten die Auf-
nahme an die Intensivstation sowie
entsprechende Nierenersatzverfahren
komplett vorzuenthalten. Im Gegenteil
sollte eine möglichst frühzeitige Auf-
nahme auf die Intensivstation zwecks
Durchführung eines Therapieversuches
einschließlich extrakorporaler Verfah-
ren den Patienten mit Leberzirrhose
und akut-auf-chronischem Leberver-
sagen auch ohne aktive Listung für eine
Lebertransplantation nicht vorenthal-
ten werden, da ein Fortschreiten des
Mehrorganversagens mit einem weite-
ren Mortalitätsanstieg einhergeht.
Im Falle einer Reversibilität des Nie-
renversagens bei Patienten mit akut-
auf-chronischem Leberversagen ist das
mittelfristige Überleben akzeptabel.
Nichtdestotrotz ist eine wiederhol-
te Abschätzung hinsichtlich des best-
möglichen weiteren Vorgehens im Sin-
ne des Patienten auf Basis der individu-
ellen akuten Schwere der Erkrankung
sowie deren kurzfristiger Dynamik (Re-
versibilität, unveränderter Status quo
oder Progression), weiterführenden
therapeutischen Optionen (wie bei-
spielsweise Lebertransplantation), der
individuellen klinischen Einschätzung
sowie des mutmaßlichen oder aktiv ge-
äußerten Patientenwunsches nötig.
Klinische Scores können zweifelsohne
hilfreiche Unterstützung in der Ent-
scheidungsfindungbieten,dürfenjedoch
nicht das einzige Fundament des klini-
schen Entscheidungsprozesses bei End-
of-Life-Entscheidungen bieten.
WelchesextrakorporaleVerfahren(Nieren-
ersatzverfahren,Leberunterstützungsver-
fahren oder andere erweiterte Verfahren)
soll nun bei Patienten mit akut-auf-chroni-
schemLeberversageneingesetztwerden?
Ich denke, Intensivmediziner sollten
im klinischen Alltag jenes Verfahren
bei Patienten mit akut-auf-chroni-
schem Leberversagen anwenden, mit
dem im gesamten ärztlichen und pfle-
gerischen Team regelmäßige Erfah-
rungswerte bestehen und welches sich
im klinischen Alltag als umsetzbar er-
wiesen hat.
Es erscheint nicht sinnvoll, alle paar
Monate ein Verfahren aus dem hinters-
ten Eck der Intensivstation hervorzu-
zaubern, und dem gesamten Team an
der Intensivstation zur Rettung für „den
einen speziellen Patienten“ zu servie-
ren. Die Wahrscheinlichkeit, dass das
Verfahren infolge eines Anwenderfeh-
lers nicht effektiv eingesetzt wird, ist in
solchen Fällen extrem hoch.
Umgekehrt sollte in der individuellen
Abwägung, welches Verfahren zum
Einsatz kommen soll, nicht vernach-
lässigt werden, dass die Evidenz des
Einsatzes erweiterter Dialyseverfah-
ren (artifizielle Leberunterstützungs-
verfahren) aus randomisiert-kontrol-
lierten Studien besser (zwar kein Über-
lebensvorteil, jedoch Verbesserung der
Hämodynamik, Enzephalopathie, si-
cher in der Anwendung) als der Ein-
satz konventioneller Nierenersatzver-
Abb.:Kaplan-Meier-Kurvefürdie28-Tage-MortalitätvonPatienten,dieeineNierenersatztherapie
(RRT=renalreplacementtherapy)benötigenimVergleichzujenenohneRRT(nachStauferK;Liver
Int 2017; 37:843).
0 5 10 15 20 25 30
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0
RRT -
RRT +
KumulativesÜberleben
Tage
23. Nr. 5, 2017 27
Nierenersatztherapie bei Leberzirrhose?
fahren bei Patienten mit akut-auf-chro-
nischem Leberversagen ist.
Zusätzlich konnte in einer weiteren ak-
tuellen retrospektiven Studie beobach-
tet werden, dass durch den Einsatz ei-
nes Albumindialyseverfahrens (MARS)
das Kurzzeit-Überleben bei Patienten
mit akut-auf-chronischem Leberver-
sagen verglichen zu einer großen in-
ternationalen Kohorte von vergleichbar
kranken Patienten ohne zusätzlichen
Einsatz eines Albumindialyseverfah-
rens verbessert wurde (Gerth H; Crit
Care Med 2017; Epub ahead of print).
Unabhängig davon erscheint vom klini-
schen Verständnis der Einsatz von kon-
tinuierlichen Verfahren bei Patienten
mit Leberzirrhose unter Berücksichti-
gung der häufig bestehenden Hypoto-
nie sowie der Gefahr der hepatischen
Enzephalopathie gegenüber einem in-
termittierenden Verfahren vorteilhaf-
ter. Interessant ist sicherlich gerade bei
Patienten mit refraktärem Aszites auch
der Einsatz von Peritonealdialyse, je-
doch bleibt dies zur Zeit häufig infolge
des massiv erhöhten Infektrisikos (ins-
besondere spontan bakterielle Perito-
nitis) und Anwenderschwierigkeiten
(z. B. infolge hepatischer Enzephalo-
pathie) bei Patienten mit Leberzirrhose
lediglich eine theoretische Überlegung.
Zusammenfassendbeobachtetedieaktu-
elle Studie, dass 4 von 5 Patienten mit
akut-auf-chronischem Leberversagen
und Nierenersatztherapie unabhängig
vom Transplantationslistungsstatus 28
Tage nach Aufnahme an der Intensiv-
station nicht mehr am Leben sind. Ein
Therapieversuch mit extrakorporalen
Verfahren sollte diesen Patienten nicht
vorenthalten werden, da im Falle einer
Reversibilität des Nierenversagens ein
akzeptables 1-Jahresüberleben erreicht
werden kann.
Eine regelmäßige Reevaluation des
Ausmaßes (und hoffentlich der Rück-
bildung) des akut-auf-chronischen
Leberversagens und der Nierenfunk-
tion einschließlich des Abwägens der
Sinnhaftigkeit der extrakorporalen so-
wie auch anderer intensivmedizinischer
Therapiemaßnahmen ist während des
weiteren intensivmedizinischen Auf-
enthaltes von zentraler Bedeutung.
Zukünftige Studien sollten in größe-
ren Kollektiven den Stellenwert von ex
trakorporalen Therapien bei akut-auf-
chronischem Leberversagen sowie auch
bei anderen Formen von Leberversagen
untersuchen und insbesondere den Ef-
fekt verschiedener Verfahren unterein
ander vergleichen.
Interessenkonflikte: Keine
PD Dr. Valentin Fuhrmann
Klinik für Intensivmedizin
Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf
v.fuhrmann@uke.de
SCHENKEN SIE EIN
KINDERLACHEN.