Personbezogene Faktoren - ein leeres Blatt oder “Blackbox”?
Vortrag auf der Tagung "Die ICF im Kontext von Bildung und Gesundheit" und 4. ICF-CY Anwendertagung am 10. Juni 2016 an der Pädagogischen Hochschule Zürich
Fundamentos da Competencia de Profissionais da Saúde no Século XXI
Personbezogene Faktoren
1. Personbezogene Faktoren - ein
leeres Blatt oder “Blackbox”?
Olaf Kraus de Camargo
Twitter: @DevPeds
10. Juni 2016
PH Zürich
http://tinyurl.com/PFactors
2. Alter - Geschmack - Religion - Gesundheit
Gesundheitszustand,
Umweltfaktoren oder
Personbezogene
Faktoren?
3. Gliederung
• Personbezogene Faktoren in der praktischen Arbeit
• Entwicklung der Personbezogenen Faktoren in der ICF
• Definitionen von Person
• Datenerfassung von Personbezogenen Faktoren
• Fazit
4. Personbezogene Faktoren und
Evidence Based Practice
Beste
wissenschaftliche
Evidenz
Beste
klinische
Erfahrung
Persönliche
Werte und
Wünsche
Guyatt G, Rennie D, Meade MO, Cook DJ (2008)
5. Personbezogene Faktoren und
Evidence Based Medicine
Beste
wissenschaftliche
Evidenz
Beste
klinische
Erfahrung
Persönliche
Werte und
Wünsche
EBM
Guyatt G, Rennie D, Meade MO, Cook DJ (2008)
7. Kategorien der ICF
• neutral
• universell
• eindeutig
“Die Einheiten der ICF sind Kategorien in Gesundheits-
und verwandten Domänen. Die ICF klassifiziert
physiologische (incl. psychologischer) Funktionen,
anatomische Strukturen, Aktionen, Aufgaben,
Lebensbereiche und externe Einflussfaktoren. Die ICF
klassifiziert Funktionsfähigkeit und Behinderung - NICHT
Personen und es ist nicht möglich, Personen einzelnen
Kategorien der ICF zuzuordnen.
Die ICF stellt ein Rahmenkonzept zur Beschreibung von
Funktionsfähigkeit und Behinderung zur Verfügung, um
diese Informationen dokumentieren, organisieren und
analysieren zu können.”
World Health Organization How to use the ICF: A practical manual, in press, WHO, Geneva
http://www.who.int/classifications/drafticfpracticalmanual.pdf
8. Personbezogene Faktoren dokumentieren?
• Die ICF stellt keine Kategorien für Personbezogene Faktoren zur Verfügung,
sie stellen jedoch wichtige Informationen für das Funktionsprofil dar.
• Geschlecht, Rasse, Ethnie, sozialer und Bildungshintergrund, vergangene
und aktuelle Erfahrungen und Lebenssituationen, Charaktereigenschaften,
Verhaltensweisen und psychische Stärken sind alle den Personbezogenen
Faktoren zuzuordnen und können die Funktionsfähigkeit beeinflussen.
• Relevante Personbezogene Faktoren können als Freitext notiert werden,
wenn dies die Situation erfordert oder mit anderen vorhandenen
Klassifikationen dargestellt werden.
World Health Organization How to use the ICF: A practical manual, in press, WHO, Geneva
http://www.who.int/classifications/drafticfpracticalmanual.pdf
9.
10. Vorschläge für Kategorien der PF
• Kapitel 1 - Allgemeine Merkmale einer Person (z.B. psychosoziales Alter)
• Kapitel 2 - Physische Faktoren (z.B. Körpergröße)
• Kapitel 3 - Mentale Faktoren (z.B. Umgänglichkeit)
• Kapitel 4 - Einstellungen, Grundkompetenzen und Verhaltensgewohnheiten
(z.B. Einstellung zur Arbeit)
• Kapitel 5 - Lebenslage und sozioökonomische/kulturelle Faktoren (z.B.
Bildungsstand)
• Kapitel 6 - Andere Gesundheitsfaktoren (z.B. zurückliegende Krankheiten)
Grotkamp S, Cibis W, Behrens J, et al (2010)
11. Zielsetzung - Begutachtung
• Transparenz: “Die Akzeptanz der Betroffenen für die systematische
Berücksichtigung relevanter personbezogener Faktoren
(insbesondere auch in sensiblen Lebens- und
Persönlichkeitsbereichen) ist nur zu erreichen, wenn die Betroffenen
sehen, dass dadurch Transparenz im Entscheidungsprozess der
Leistungsträger hergestellt werden kann.”
• Nachvollziehbarkeit: “Sie trägt damit entscheidend dazu bei, dass
Beschreibungen nicht mehr zufällig von den erhebenden Personen
abhängen.”
Grotkamp S, Cibis W, Behrens J, et al (2010)
14. Rehabilitationsbedürftigkeit
• “Ob Rehabilitationsbedürftigkeit und Rehabilitationsfähigkeit besteht,
ergibt sich aus den mit der ICIDH beschreibbaren, nicht nur
vorübergehenden Fähigkeitsstörungen und den drohenden oder
manifesten Beeinträchtigungen.”
Nüchtern E (2001)
15. Personbezogene Faktoren und ICIDH
• “Alter, Geschlecht und Kultur sind nicht intrinsischer Teil einer
Störung oder Behinderung und können daher ebenfalls als externe
Faktoren betrachtet werden. Die Definition von Handicap nach der
ICIDH sieht dieses jedoch klar in der Abhängigkeit von den
Erwartungen an die Person bezogen auf ihr Alter, Geschlecht sowie
soziale und kulturelle Faktoren.”
Badley EM (1995)
21. Person
• Maske für eine bestimmte Rolle
• “Person” hinter der “Person”
• Unterschiedliche Definitionen:
Fähigkeit, einen eigenen Willen auszudrücken
Vernunftfähigkeit
Synonym für “Mensch"
Potential zum Menschsein
22. Person - Besonderheit
“Die Kriterien für eine Person...sind so
geschaffen, dass sie jene Attribute beinhalten,
die das Subjekt unserer menschlichen
Betroffenheit mit uns selbst und die Quelle
dessen sind, was wir als das Bedeutendste und
Problematischste in unserem Leben ansehen.”
(Harry Frankfurt, 1971)
23. Person - Lebensspanne
“Die Geschichte eines jeden Einzelnen ist die
eines Individuums auf dem Weg zur Person. Was
uns zur Person macht, ist nicht der
Personalausweis. Was uns zur Person macht, ist
das wofür auf dem Personalausweis kein Platz ist.
Was uns zu Personen macht, ist die Art wie wir
denken, wie wir träumen, wie wir Andere sind.”
(Mia Couto, 2011)
28. Person und Selbst
Deleuze & Guattari
• Identität erwächst aus dem Zusammenspiel zwischen sozialem Kontext und
einem kreativen, engagierten Experimentieren eines lebendigen Körpers
• Die Möglichkeiten und Grenzen einer Identität entstehen aus dem Kontext und
dem, was ein Körper in diesem Kontext vermag
• Identitäten sind fluide, abhängig von Beziehungen, Gefühlen und
unterschiedlichen “Montagen”
Fox NJ, Ward KJ (2008)
29. Montagen des Selbst
Gibson BE, Carnevale FA, King G (2012)
Mimi: 12 Jahre alt, hat eine
seltene neuromuskuläre
Erkrankung, wird über ein
Tracheostoma beatmet und
über eine Sonde ernährt.
Sie lebt mit ihren Eltern in
einem Apartment.
30. Montage mit Rollstuhl
Gibson BE, Carnevale FA, King G (2012)
Mimi hat einen Powerrolli
und bewegt sich selbständig
damit fort. Sie sagt dazu: “Er
ist ein Teil von mir.” “Das bin
ich.”
31. Montage mit Hilfsperson
Gibson BE, Carnevale FA, King G (2012)
Mimi wird von ihrer Mutter
gebadet und gepflegt. Im
Interview sprechen beide
und vervollständigen ihre
Aussagen.
Mimi’s “Selbst” ist ein
Kontinuum zwischen
größerer und geringerer
Abhängigkeit, eine Serie
an Montagen zwischen
Körper, Technik und
anderen Personen.
32.
33. Datenerfassung mit der ICF
Ethische Leitlinien ICF
• Datenschutz
• Die betroffene Person muss
eingebunden sein
• Vermeidung von
Diskriminierung
Gründe für Diskriminierung
• Rasse und ethnische Herkunft
• räumliche Herkunft
• Geschlecht
• Religion und Weltanschauung
• Behinderung
• Alter (jedes Lebensalter)
• sexuelle Identität
Art. 3 Grundgesetz, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
34. ICF - Diskriminierung
Rasse und ethnische Herkunft
räumliche Herkunft
Geschlecht
Religion und Weltanschauung
Behinderung
Alter
sexuelle Identität
35. Ist eine “blackbox” die Lösung?
• sammelt alle Flugdaten
• weder Passagiere noch
Piloten haben Zugang
• Kann nur von autorisierten
Behörden gelesen werden
36. Blackbox der ICF
• Sammelt alle Patientendaten
• Weder Patienten noch Behandler dürfen Daten eigenmächtig
verändern
• Im Falle von einer notwendigen Begutachtung werden die Daten von
zuständigen Behörden ausgelesen
• Ziel ist Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen
37. Probleme
• Definition von Behinderung - mit der ICF nicht in absolute und
nachvollziehbare Kategorien zu fassen - resultiert aus der Interaktion
zwischen Person und Umwelt
• Rehabilitationsbedürftigkeit und -ziele sind nicht von bestimmten
Kodes abzuleiten
• Definition von Personbezogenen Faktoren - abhängig von der
Lebenssituation und Umfeld. Eine eindeutige Zuordnung von
Eigenschaften zu Personbezogenen Faktoren ist nicht möglich.
38. Lösungsversuch
• Kennenlernen der Person mit allen relevanten Aspekten, die für die
Unterstützung und Entwicklung von Bedeutung sind
• sorgfältige und individualisierte Erfassung aller Aspekte und Situationen,
die zu Behinderung/Einschränkung der Funktionsfähigkeit führen
• Erarbeitung von gemeinsamen Zielen und Lösungen, angepasst an die
Werte und Wünsche der Personen und Familien
• Klassifizierung und Dokumentation der Funktionsfähigkeit mit relevanten
Kodes, die für die Gesundheits-, Bildungs- und Sozialplanung benötigt
werden
39. Zusammenfassung
• Personbezogene Faktoren sind ein wesentlicher und wichtiger Teil der
Erfassung der Funktionsfähigkeit und Behinderung
• Personbezogene Faktoren sind individuell und können wortgleich mit
anderen Faktoren der ICF sein
• Menschen mit den gleichen Eigenschaften können diese unterschiedlich
als Personbezogene Faktoren einordnen
• Die Speicherung und Analyse Personbezogener Faktoren erlaubt keine
eindeutigen Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen, erhöht aber das
Risiko von Diskriminierungen
40. Literatur
• Guyatt G, Rennie D, Meade MO, Cook DJ (2008) Users’s Guide to the Medical Literature: A Manual for Evidence-Based Clinical Practice, 2nd Aufl. JAMAevidence, McGraw
Hill
• World Health Organization (in press) How to use the ICF: A practical manual for using the International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). WHO, Geneva
- http://www.who.int/classifications/drafticfpracticalmanual.pdf
• Grotkamp S, Cibis W, Behrens J, et al (2010) Personbezogene Faktoren der ICF – Entwurf der AG „ ICF “ des Fachbereichs II der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin
und Prävention. Gesundheitswesen 72:908–916. doi: 10.1055/s-0030-1268459
• Fougeyrollas P (1995) Documenting environmental factors for preventing the handicap creation process: Quebec contributions relating to ICIDH and social participation of
people with functional differences. Disabil Rehabil 17:145–53. doi: 10.3109/09638289509166709
• Nüchtern E (2001) Die Anwendung der ICIDH in der sozialmedizinischen Begutachtung. Gesundheitswesen 63:542–547.
• Badley EM (1995) The genesis of handicap: definition, models of disablement, and role of external factors . DisabilRehabil 17 :53–62. doi: 10.3109/09638289509166628
• Fougeyrollas P, Noreau L, Boschen KA (2002) Interaction of Environment with Individual Characteristics and Social Participation: Theoretical Perspectives and Applications in
Persons with Spinal Cord Injury. Top Spinal Cord Inj Rehabil 7:1–16.
• Gray DB, Hendershot GE (2000) The ICIDH-2: Developments for a new era of outcomes research. Arch Phys Med Rehabil 81:10–14. doi: 10.1053/apmr.2000.20616
• Frankfurt HG (1971) Freedom of the Will and the Concept of a Person. J Philos 68:5–20.
• Couto M (2011) E Se Obama Fosse Africano? Companhia das Letras, São Paulo, Brasil
• Fox NJ, Ward KJ (2008) What are health identities and how may we study them? Sociol Heal Illn 30:1007–1021. doi: 10.1111/j.1467-9566.2008.01093.x
• Gibson BE, Carnevale FA, King G (2012) “This is my way”: reimagining disability, in/dependence and interconnectedness of persons and assistive technologies. Disabil Rehabil
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• Leonardi M, Sykes C, Madden RC, et al (2015) Do we really need to open a classification box on personal factors in ICF? Disabil Rehabil. doi:
10.3109/09638288.2015.1089604