Die Migrationserfahrung ist für viele MigrantInnen ein einschneidendes Erlebnis und unabhängig von den Ursachen und der Motivation einer der prägendsten Lebensabschnitte in ihrer Biografie. Das Verlassen der Heimat und das Ankommen in einer neuen Gesellschaft erfordern oft die Überwindung vorgegebener Barrieren und die emotionale Bewältigung von neuen Herausforderungen. Die Verarbeitung der damit verbundenen Trauer- und Loslöseprozesse verlangt von ihnen viel Kraft und hat entsprechend Einfluss auf ihre körperliche, emotionale und psychische Gesundheit.
Neben der Verarbeitung der Migrationserfahrungen sind weitere Faktoren wie die sozio-ökonomische Position, die ethnisch-kulturellen und geschlechtsspezifischen Einstellungen und Erfahrungen wichtig für ihre Gesundheit. Denn die Erfahrungen von sozialer Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung greifen in den körperlichen und seelischen Nahbereich des Menschen ein und beschränken seine Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung und gesellschaftlichen Partizipation.
Gesundheit und der gleichberechtigte Zugang zum Gesundheitssystem sind entscheidende Schlüssel für gesellschaftliche Inklusion. Bereits 1946 wurde das Recht auf höchstmögliche körperliche und geistige Gesundheit sowie auf Zugang zu medizinischer Versorgung als individuelles Menschenrecht anerkannt. Eine Gesellschaft, die sich für die gesellschaftliche Inklusion und Teilhabe aller BürgerInnen, auch der Minderheiten, entscheidet, hat diese menschenrechtlichen Standards bei der Gesundheitsversorgung der MigrantInnen (unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status) einzuhalten.
Gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem bedeutet vor allem eine Gewährleistung des allgemeinen Standards, aber auch eine adäquate Versorgung, die eine interkulturell kompetente Betreuung gewährleistet. Um dies zu erreichen und das Verständnis für die besonderen Bedürfnisse der PatientInnen aus anderen Kulturkreisen zu entwickeln, ist die interkulturelle Sensibilisierung des Fachpersonals im Gesundheitswesen unerlässlich. Zur interkulturellen Öffnung des Systems gehören auch die Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote sowie die verstärkte Einbeziehung von Fachkräften mit Migrationserfahrung.
In diesem Dossier werden die Belastungs- und Risikofaktoren, die die Gesundheit von MigrantInnen beeinflussen sowie die besonderen Bedürfnisse und die Versorgungssituation verschiedener in Deutschland lebender MigrantInnengruppen analysiert. Besonderer Schwerpunkt wird auf das Selbstverständnis der trans- bzw. interkulturellen Psychiatrie und Psychologie gelegt, die im Umgang mit psychisch Kranken aus anderen Kulturkreisen besonders herausgefordert sind. Schließlich werden Projekte der Gesundheitsförderung und -prävention für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund vorgestellt.
2. Impressum
Herausgeber
Heinrich-Böll-Stiftung
Schumannstraße 8
10117 Berlin
www.boell.de
Das Online-Dossier wurde veröffentlicht auf www.migration-boell.de im April 2009.
Direktlink: http://www.migration-boell.de/web/integration/47_2075.asp
V.i.S.d.P. Olga Drossou, MID-Redaktion, Heinrich-Böll-Stiftung
Redaktion: Dr. Martha Escalona-Zerpa
Dr. Martha Escalona Zerpa wurde 1993 an der Humboldt Universität zu Berlin im Bereich der
Kreativitätspsychologie promoviert. 2004 gewann sie den „ISA-Innovationspreis“ für das Partizipationsprojekt für
Kinder- und Jugendliche „Das Berliner Stadtforum“, 2006 führte sie als wissenschaftliche Stipendiatin im Rahmen
eines Frauenförderungsprogramms der Humboldt Universität zu Berlin eine qualitative empirische Studie zum
Thema „Sexuelle Diversität, lesbische Identität und Migration“ durch. Sie arbeitet als selbständige Journalistin,
freiberufliche Trainerin und Referentin in der Erwachsenenbildung
Titelbild: Ipek Mursaloglu (Istanbul)
Das gesamte Dossier und die einzelnen Beiträge stehen unter einer Creative Commons
Lizenz. Sie dürfen verbreitet, vervielfältigt oder öffentlich zugänglich gemacht werden unter folgenden
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DOSSIER Migration & Gesundheit
3. Inhalt
Vorwort 4
I Risiken, Bedürfnisse & Gesundheitsversorgung 5
NIVEDITA PRASAD
Gewalt und Rassismus als Risikofaktoren für die Gesundheit von Migrantinnen 6
GABRIELE DENNERT
Gesundheit und Gesundheitsversorgung lesbischer und schwuler MigrantInnen in Deutschland 10
JOSEPHINE JENSSEN UND ELÈNE MISBACH
Gesundheitsversorgung Illegalisierter. Integration in die Regelversorgung
statt Entwicklung weiterer Parallelsysteme 15
ROSALINE M’BAYO
Die Gesundheitsversorgung afrikanischer MigrantInnen Über die Arbeit von Afrikaherz 18
FEYZA PALECEK
Ältere Migrantinnen - Soziale Lage und Gesundheit 22
II Seelische Gesundheit & interkulturelle Psychologie/Psychiatrie 26
WIELANT MACHLEIDT
Interkulturelle Psychiatrie/Psychotherapie und Integration psychisch kranker MigrantInnen 27
ISAAC BERMEJO UND ALESSA VON WOLFF
Gesundheitliche Versorgung von MigrantInnen und transkulturelle Psychologie 34
ELIF DUYGU CINDIK
Migration, psychische Gesundheit und transkulturelle Psychiatrie 38
JAN ILHAN KIZILHAN
Subjektive Krankheitswahrnehmung bei MigrantInnen aus familienorientieren Gesellschaften 42
III Gesundheitsförderung & Projekte 48
INGRID PAPIES-WINKLER
Kinderbeteiligung für eine gesunde und zukunftsfähige Stadt
Kinder mit Migrationshintergrund als Kiezdetektive unterwegs 49
RÜDIGER SCHMOLKE
Konsumkompetenzen stärken! Konsum- und Suchtverhalten
junger Menschen mit Migrationshintergrund und Präventionstrategien 54
SABINE OLDAG
Die Relevanz der Dolmetscherdienste in der Gesundheitsversorgung: Der Gemeindedolmetschdienst Berlin 60
Linkliste zum Thema Migration und Gesundheit 64
DOSSIER Migration & Gesundheit 3
4. Vorwort
Die Migrationserfahrung ist für viele MigrantInnen ein Minderheiten, entscheidet, hat diese menschenrechtli-
einschneidendes Erlebnis und unabhängig von den chen Standards bei der Gesundheitsversorgung der
Ursachen und der Motivation einer der prägendsten MigrantInnen (unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtli-
Lebensabschnitte in ihrer Biografie. Das Verlassen der chen Status) einzuhalten.
Heimat und das Ankommen in einer neuen Gesell-
schaft erfordern oft die Überwindung vorgegebener Gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem
Barrieren und die emotionale Bewältigung von neuen bedeutet vor allem eine Gewährleistung des allgemei-
Herausforderungen. Die Verarbeitung der damit ver- nen Standards, aber auch eine adäquate Versorgung,
bundenen Trauer- und Loslöseprozesse verlangt von die eine interkulturell kompetente Betreuung gewährleis-
ihnen viel Kraft und hat entsprechend Einfluss auf ihre tet. Um dies zu erreichen und das Verständnis für die
körperliche, emotionale und psychische Gesundheit. besonderen Bedürfnisse der PatientInnen aus anderen
Kulturkreisen zu entwickeln, ist die interkulturelle Sensi-
Neben der Verarbeitung der Migrationserfahrungen bilisierung des Fachpersonals im Gesundheitswesen
sind weitere Faktoren wie die sozio-ökonomische Posi- unerlässlich. Zur interkulturellen Öffnung des Systems
tion, die ethnisch-kulturellen und geschlechtsspezifi- gehören auch die Entwicklung zielgruppenspezifischer
schen Einstellungen und Erfahrungen wichtig für ihre Angebote sowie die verstärkte Einbeziehung von Fach-
Gesundheit. Denn die Erfahrungen von sozialer Un- kräften mit Migrationserfahrung.
gleichheit, Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskrimi-
nierung greifen in den körperlichen und seelischen In diesem Dossier werden die Belastungs- und Risiko-
Nahbereich des Menschen ein und beschränken seine faktoren, die die Gesundheit von MigrantInnen beein-
Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung und flussen sowie die besonderen Bedürfnisse und die Ver-
gesellschaftlichen Partizipation. sorgungssituation verschiedener in Deutschland leben-
der MigrantInnengruppen analysiert. Besonderer
Gesundheit und der gleichberechtigte Zugang zum Schwerpunkt wird auf das Selbstverständnis der trans-
Gesundheitssystem sind entscheidende Schlüssel für bzw. interkulturellen Psychiatrie und Psychologie gelegt,
gesellschaftliche Inklusion. Bereits 1946 wurde das die im Umgang mit psychisch Kranken aus anderen
Recht auf höchstmögliche körperliche und geistige Kulturkreisen besonders herausgefordert sind. Schließ-
Gesundheit sowie auf Zugang zu medizinischer Ver- lich werden Projekte der Gesundheitsförderung und -
sorgung als individuelles Menschenrecht anerkannt. prävention für Kinder und Jugendliche mit Migrationshin-
Eine Gesellschaft, die sich für die gesellschaftliche tergrund vorgestellt.
Inklusion und Teilhabe aller BürgerInnen, auch der
Olga Drossou Dr. Martha Escalona Zerpa
MID-Redaktion Dossier-Redakteurin
Heinrich-Böll-Stiftung
4 DOSSIER Migration & Gesundheit
5. I Risiken, Bedürfnisse & Gesundheitsversorgung
Gewalt, Rassismus oder gesellschaftliche Ausgren- gesellschaftlich wenig wahrgenommen und erforscht
zung sind für die Gesundheit wichtige Faktoren, die in werden.
den meisten Analysen außer Acht gelassen werden.
Sie spielen zweifellos eine wichtige Rolle bei Migrant- • Eléne Misbach und Josephine Jenssen beschäfti-
Innengruppen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung, gen sich mit der schwierigen Aufgabe der medizini-
einer Erkrankung an HIV und AIDS, ungeklärtem recht- schen Versorgung illegalisierter Menschen, die kei-
lichen Aufenthaltsstatus oder ihrem Alter besonderer nen Zugang auf Bildung, Arbeit und Gesundheitswe-
gesellschaftlicher Diskriminierung und Ausgrenzung sen in Deutschland haben.
ausgesetzt sind.
• Rosaline M’bajo berichtet über ihre Erfahrungen als
• Nivedita Prassad analysiert den Einfluss von Ge- Gesundheits- und Sozialberaterin und die besonde-
walterfahrungen, Rassismus und anderen Diskrimi- ren Probleme an HIV- und AIDS erkrankter afrikani-
nierungsformen sowie ausländerrechtlicher Ein- scher MigrantInnen.
schränkungen auf das Wohlbefinden und die Ge-
sundheit von MigrantInnen. • Feyza Palacek erläutert die verschiedenen Erforder-
nisse, die in der Altenhilfe bei der Betreuung und im
• Gabriele Dennert befasst sich mit der Gesund- Falle der Pflegebedürftigkeit älterer MigrantInnen zu
heitsversorgung von homosexuellen MigrantInnen, beachten sind.
die gesellschaftlich wenig wahrgenommen und er-
DOSSIER Migration & Gesundheit 5
6. Nivedita Prasad
Gewalt und Rassismus als Risikofaktoren für die Gesundheit von
Migrantinnen
Über die gesundheitliche Versorgung von Migrantinnen sowie dem Gefühl der Scham umgehen.“ (Ferreira
ist in den vergangenen Jahren sehr viel geschrieben, 2004)
diskutiert und geforscht worden. Während manche
Arbeiten schon in Titeln wie „Macht Migration krank?“ So untersucht Ferreira in diesem Text u.a. die Be-
Migration an sich pathologisieren, konzentrieren sich schimpfung mit dem Wort "Neger" als eine Form von
andere auf tatsächliche oder konstruierte Unterschiede Trauma. Sie geht von der ursprünglichen Bedeutung
zwischen Frauen mit und ohne Migrationshintergrund. des Wortes Trauma aus, was soviel wie 'Wunde' oder
Die Unterschiede werden in der Regel als „kulturelle“ 'Verletzung' bedeutet. Ferreira macht deutlich,
analysiert.
„dass in der Psychoanalyse ein Trauma durch sei-
Viele AutorInnen verlieren sich in „kulturspezifischen ne Intensität, die es unmöglich macht, adäquat zu
Betrachtungen“ mit entsprechenden Handlungsemp- reagieren, definiert wird. Es beinhaltet die Idee ei-
fehlungen oder Anleitungen im Umgang mit dem kon- nes gewalttätigen Schocks, der plötzlich die Be-
struierten Anderen (zum Beispiel die Website ziehung mit anderen und mit der Gesellschaft aus-
www.kultur-gesundheit.de). Im Gegensatz hierzu sind einander reißt. Ebenso ist es die Idee einer unbe-
„Erkrankungen durch psychosoziale Belastungen infol- schreiblichen Wunde, auf die man/frau keine Wor-
ge der Trennung von der Familie oder politischer Ver- te und Symbole zum Reagieren hat. Es hinterlässt
folgung im Herkunftsland“ (Razum/Zeeb/Schenk 2008), psychologische Narben in Form von Ängsten, Alb-
der Einfluss von ausländerrechtlichen Rahmenbedin- träumen und 'Flashbacks' oder hat zusätzliche
gungen und Rassismus als gesundheitlicher Risikofak- körperliche Auswirkungen.“ (Ferreira 2004)
tor weniger häufiger thematisiert.
Die fortdauernde Begegnung mit solchen sprachlichen
und anderen rassistischen Entgleisungen, die Schwie-
Rassismus als Trauma?
rigkeit der „angemessenen“ Reaktion und vor allen Din-
Dass Rassismus und andere Diskriminierungsformen
gen der nachhaltige Einfluss dieser Konfrontationen auf
das Leben von MigrantInnen maßgeblich beeinflussen
Migrantinnen lassen das Konzept von Rassismus als
können, ist bekannt. Viele MigrantInnen und andere
traumatisierend und damit auch als krankmachend
People of Color erleben Rassismus in all seinen vielfäl-
durchaus als realistisch erscheinen.
tigen alltäglichen Ausprägungen und haben unter-
schiedlichste Formen des Umgangs hiermit gefunden.
Dies deckt sich mit den Untersuchungen der amerikani-
Diese Erlebnisse jedoch als möglicherweise traumati-
schen Professorin Nancy Krieger die einen eindeutigen
sierend zu analysieren, ist vergleichsweise jung und
Zusammenhang zwischen Rassismus und einer erhöh-
nicht ganz unumstritten. Eine der wenigen, die dieses
ten gesundheitlichen „Vulnerabilität“ (Anfälligkeit) fest-
Konzept sehr überzeugend darstellt, ist die Psycholo-
gestellt hat
gin Grada Kilomba Ferreira, die davon ausgeht, dass
„die Absenz der Benennung von Rassismus als Gewalt gegen Migrantinnen
Trauma daran liegt, dass die Geschichte der ras- Neben dem tatsächlichen Erleben von Diskriminierung
sistischen Unterdrückung und deren psychologi- kann die Angst, Rassismus zu schüren, zu besonders
schen Auswirkungen innerhalb des westlichen fatalen Situationen führen; dies betrifft u.a. Migrantin-
Diskurses bisher vernachlässigt wurden. Men- nen, die innerethnische Gewalt erlebt haben (siehe
schen der Afrikanischen Diaspora sind damit je- hierzu auch Prasad 2006). Eine neuere Studie des Bun-
doch tagtäglich konfrontiert. Sie müssen nicht nur desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
auf einer individuellen Ebene, sondern auch auf gend Gesundheit-Gewalt-Migration von 2009 zur Häu-
einer historischen und kollektiven Ebene mit den figkeit von Gewalterlebnissen bei Frauen mit und ohne
Traumata der Sklaverei und des Kolonialismus Migrationshintergrund bestätigt dies. Sie weist darauf
6 DOSSIER Migration & Gesundheit
7. hin, dass Migrantinnen „sich schwer aus Gewaltsituati- ständlich und für die Praxis fatal, denn im Leben von
onen lösen können, weil sie durch soziale und psychi- MigrantInnen sind die Regelungen im Aufenthaltsgesetz
sche Diskriminierung in Deutschland geschwächt und entscheidend für den Zugang zum Hilfesystem, zu Sozi-
beeinträchtigt werden.“ alleistungen etc. Der Aufenthaltstatus kann variieren
zwischen keinem vorhandenen Status und einer Nieder-
Das Thema „Gewalt gegen Migrantinnen“ ist von be- lassungserlaubnis; entsprechend unterschiedlich sind
sonderer politischer Brisanz. In der öffentlichen Wahr- auch die verschiedenen Interventionsmöglichkeiten bzw.
nehmung entsteht der Eindruck, es handele sich hier- die Möglichkeit der Inanspruchnahme von gesundheitli-
bei ausschließlich um innerethnische Gewalt in Com- chen Leistungen. Dies hat natürlich einen direkten Ein-
munities, die als muslimisch konstruiert werden. Inter- fluss auf den tatsächlichen Gesundheitszustand.
ethnische Gewalt, insbesondere die Beteiligung deut-
scher Männer ohne Migrationshintergrund an Gewalt „Personen ohne rechtlich gesicherten Aufenthaltsstatus
an Migrantinnen, wird dagegen vernachlässigt. Diese sind besonders vulnerabel, über ihre gesundheitliche
einseitige Sicht bietet die Möglichkeit der politischen Situation sind aber kaum belastbare Daten verfügbar.“
Instrumentalisierung des Themas, um Einwande- ((Razum/Zeeb/Schenk 2008). Die einzige mir bekannte
rungsmöglichkeiten zu beschränken. deutschsprachige Studie zu diesem Thema ist bezeich-
nenderweise keine deutsche, sondern eine Schweizer
Besonders deutlich wurde dies bei der letzten Ver- Studie von 2004, die eindeutig feststellte, dass
schärfung des Aufenthaltsgesetzes im August 2007.
Hier wurden mit der Begründung, Gewalt gegen „die Mehrheit der Migrantinnen ihren unsicheren
Migrantinnen – insbesondere Zwangsheirat – verhin- Aufenthaltstatus als ihre psychosoziale Gesund-
dern zu wollen, sehr diskriminierende Maßnahmen heit beeinträchtigend wahrnehmen. Der negative
verabschiedet, die die Migration von HeiratsmigrantIn- Einfluss eines unsicheren Status auf Gesundheit
nen maßgeblich erschwert haben. ist umso größer, je weniger externe Ressourcen
einer Migrantin zur Verfügung stehen. Eine unsi-
Die überproportionale Präsenz von Migrantinnen in chere Aufenthaltssituation ist mit so vielen Schwie-
Frauenhäusern spielte in dieser Hinsicht eine wichtige rigkeiten verbunden, dass die vorhandenen inter-
Rolle. Je nach politischem Hintergrund kann diese nen Ressourcen nicht als Schutz für die Gesund-
statistisch belegte Realität unterschiedlich gewertet heit eingesetzt werde können“ (Hunkeler/Müller
werden. Häufig werden jedoch auch hier kulturalisie- 2004 S. 6).
rende Deutungen präferiert, mit denen suggeriert wird,
dass es sich bei Gewalt um eine kulturell akzeptierte Im Einzelnen kommen die Autorinnen zu dem Ergebnis,
Normalität handele. Stefan Gaitanides beispielsweise dass „Menschen in einer unsicheren Aufenthaltssituation
trägt mit seiner Analyse zu einer neuen Deutung dieser Menschen in sicheren Aufenthaltsverhältnissen auf allen
statistischen Tatsache bei. Er weist daraufhin, “dass Ebenen der Lebensgestaltung unterlegen sind.“ (ebd.
mit der Überrepräsentation in den ‚Endstationen’ der S.166). Sie stellen auch fest, dass es einen Zusammen-
sozialen Arbeit – wie zum Beispiel in Frauenhäusern – hang zwischen einer unsicheren Aufenthaltserlaubnis
eine Unterrepräsentation von Migranten vor allem in und der Wohn- bzw. Arbeitssituation gibt (ebd. S. 172).
den präventiven Bereichen der sozialen Dienste ein- Besonders deutlich dürfte dies werden, wenn wir uns die
hergeht.“ (Gaitanides 2007, S. 38). Gewalt gegen Lebensbedingungen von Menschen ohne Papiere
Migrantinnen und der Einfluss von Rassismus, der u.a. (PICUM), Flüchtlingen (Flüchtlingsrat Berlin) und Betrof-
dafür sorgt, dass Migrantinnen in gewalttätigen Situati- fenen des Menschenhandels (Ban-Ying) vor Augen
onen verbleiben, sind Faktoren, die sich negativ auf die führen.
Gesundheit von Migrantinnen auswirken.
Aber auch andere Gruppen von Migrantinnen sind auf-
enthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen unterworfen,
Aufenthaltsstatus und Gesundheit
die der körperlichen wie psychischen Gesundheit nicht
Der Aspekt der strukturellen Diskriminierung – insbe-
zuträglich sein dürften. Ein eklatantes Beispiel hierfür
sondere der Einfluss der aufenthaltsgesetzlichen
bietet § 31 Aufenthaltsgesetz. Dieser sieht vor, dass
Rahmenbedingungen –, der das Leben von MigrantIn-
nichtdeutsche EhepartnerInnen mindestens 2 Jahre
nen maßgeblich beeinflusst, wird in Studien manchmal
nach Ausstellung ihres – von der Ehe abhängigen –
erwähnt, aber häufig nur am Rande. Dies ist unver-
Aufenthaltsstatus mit dem deutschen Ehepartner zu-
DOSSIER Migration & Gesundheit 7
8. sammenleben müssen. Diese Ehebestandszeit von 2 flüchtlingen, die unter schweren posttraumatischen
Jahren muss im Zweifel nachgewiesen werden. Sollte Belastungsstörungen leiden (siehe hierzu auch Veran-
die Ehe vor Ablauf dieser Zeit scheitern, müssen die staltungsdokumentation Krankheit als Abschiebehinder-
nicht-deutschen EhepartnerInnen und ihre nicht- nis). Eine Genesung in solchen Fällen hat notgedrungen
deutschen Kinder ausreisen. Wenn die Fortsetzung der die Abschiebung zur Folge. Gesundheit in solchen Fäl-
Ehe „eine besondere Härte“ bedeutet, ist es theore- len wieder herzustellen, ist meiner Ansicht nach nicht
tisch möglich, vor Ablauf dieser 2 Jahre einen eigen- nur nicht leistbar; vielmehr erscheint eine solche Rege-
ständigen Aufenthaltsstatus zu erhalten. So kann Ge- lung besonders geeignet, den Gesundheitszustand
walt in der Ehe als Härte anerkannt werden, sofern weiter zu verschlechtern. Auch dies deckt sich mit den
diese nachgewiesen werden kann, was in der Praxis Ergebnissen von Hunkeler/Müller, die darauf hinweisen,
allerdings sehr schwierig ist. Das Gesetz ist natürlich dass „die Unsicherheit des Aufenthaltsstatus sich zuerst
geschlechtsneutral formuliert, aber wenn es um Gewalt auf der psychischen, später auf der physischen Ebene
in der Ehe geht, sind in der Regel die Frauen die Leid- zeigt.“ (Hunkeler/Müller 2004, S. 172).
tragenden, sodass dieses Gesetz, welches – zwar
unintentional –Frauen überproportional betrifft.
Ausblick
Gesundheit wird von der WHO definiert als „ein Zustand
Die Regelungen des § 31 AufenthaltG machen es
des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen
vielen Migrantinnen beispielsweise unmöglich, vom
Wohlergehens und nicht nur als das Fehlen von Krank-
Gewaltschutzgesetz zu profitieren. Dieses Gesetz
heit und Gebrechen“ (WHO 1946). Das Recht auf Ge-
ermöglicht es u.a., dass der Gewalttäter – zumindest
sundheit im Sinne der WHO ist in vielen Menschen-
vorübergehend – der gemeinsamen Wohnung verwie-
rechtsdokumenten festgeschrieben – so auch in Artikel
sen wird. Diese Wegweisung und damit auch eine –
12 des UN-Sozialpakts, wo das Recht auf höchstmögli-
zumindest vorübergehende – Trennung des Ehepaa-
che körperliche und geistige Gesundheit sowie das
res sind damit aktenkundig. Dies hat zur Folge, dass
Recht auf medizinische Versorgung für jeden Menschen
die Mindestehebestandszeit als nicht erfüllt gilt und der
bestimmt ist.
nicht-deutsche Ehepartner in der Regel die Aufent-
haltserlaubnis verliert.
Nach der Auslegung des UN Ausschusses für wirtschaft-
liche, soziale und kulturelle Rechte beinhaltet dieses
In einer besonders schwierigen Situation sind Kinder
Recht nicht nur die Verfügbarkeit von quantitativ ausrei-
von Migrantinnen, die vom deutschen Stiefvater sexu-
chenden und qualitativ genügenden öffentlichen Ge-
ell missbraucht wurden. Zwar ist sexueller Missbrauch
sundheitseinrichtungen, sondern auch den diskriminie-
von Kindern explizit als Härtefall genannt – aber auch
rungsfreien Zugang zu den vorhandenen Gesundheits-
dieser muss nachgewiesen werden. Es entsteht also
einrichtungen (Allgemeine Erklärung General Comment
die fatale Situation, dass die betroffenen Kinder ge-
Nr. 14 des Ausschusses für WSK-Rechte) .
zwungen werden, über sexuelle Gewalt zu sprechen,
um den eigenen Aufenthaltstitel und den der Mutter
Es stellt sich also die Frage, ob MigrantInnen in
nicht zu gefährden. Die Folge dieser Regelung ist,
Deutschland in den Genuss dieser – ihnen zustehenden
dass viele von Gewalt betroffene Migrantinnen sich
– Menschenrechte kommen oder nicht. Bei undokumen-
entschließen, die Gewalt in Kauf zu nehmen, bis sie
tierten MigrantInnen dürfte die Verneinung dieser Ant-
den Anspruch auf einen eigenständigen Aufenthalts-
wort leicht fallen, ebenso bei Asylsuchenden und Betrof-
status haben. Auf diese spezifische Vulnerabilität wei-
fenen des Menschenhandels, die per Gesetz (§ 4 Asyl-
sen auch Hunkeler/Müller hin, die zudem davon aus-
bewerberleistungsgesetz) nur einen Anspruch auf limi-
gehen, dass „diese Vulnerabilität auch für die Anfällig-
tierte gesundheitliche Leistungen haben. Bei anderen
keit für physische und psychische Beeinträchtigungen
Gruppen von MigrantInnen ist es schwerer, diese Frage
gilt.“ (Hunkeler/Müller 2004, S. 166).
zu beantworten.
Die absurdeste Verknüpfung zwischen einem Aufent-
Natürlich kann der Staat für die rassistische Diskriminie-
haltsstatus und dem Gesundheitszustand eines Men-
rung einzelner privater AkteurInnen nur sehr begrenzt
schen wird hergestellt, wenn der Aufenthaltsstatus
verantwortlich gemacht werden. Dennoch bin ich der
eines Migranten bzw. einer Migrantin auf einer ernst-
Ansicht, dass hierzulande von einem diskriminierungs-
haften Erkrankung und/oder Traumatisierung basiert,
freien Zugang zu vorhandenen Gesundheitseinrichtun-
wie zum Beispiel im Fall von bosnischen Bürgerkriegs-
8 DOSSIER Migration & Gesundheit
9. gen keine Rede sein kann. Auch die weitgehende schiedliche Risiken, in Deutsches Ärzteblatt 2008
Ignoranz von Rassismus als krankmachenden Aspekt http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=heft&
id=62423
ist in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar.
Hunkeler, Brigitte & Müller, Eva: Aufenthaltsstatus und
Gesundheit, Lizentiatsarbeit der Universitär Zürich,
Am schwersten ist aber vorstellbar, dass Migrantinnen
Forschungsbericht im Auftrag des Bundesamtes für
mit ungesichertem Aufenthaltsstatus bzw. einem Auf-
Gesundheit Verfügung Nr. 03.001058, September 2004.
enthaltsstatus, der sich beispielsweise direkt von ei-
Gaitanides, Stefan 2007: „’Interkulturelle Öffnung der
nem Ehemann ableitet, sich in einem Zustand des
sozialen Dienste’ – Visionen und Stolpersteine“ in:
vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Rommelspacher, Birgit & Kollack, Ingrid (Hrsg.): Interkul-
Wohlergehens befinden. Vielmehr wurde hier eine turelle Perspektiven für das Sozial- und Gesundheitswe-
Situation geschaffen, in der von Gewalt betroffene sen. Frankfurt. S. 35-58.
Migrantinnen in Lebensbedingungen ausharren, die Prasad, Nivedita 2006: „Migrantinnen und sexualisierte
ihnen physisch wie psychisch Schaden zufügen. Für Gewalt“ in: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Poli-
diese Regelung hingegen kann der Staat verantwort- tik, Heft 24/06. Zürich. S. 39–49.
lich gemacht werden, sodass die Frage nach dem Dies. 2008: „Gewalt gegen Migrantinnen und die Gefahr
Genuss des Menschenrechts auf Gesundheit für viele ihrer Instrumentalisierung im Kontext von Migrations-
Gruppen von Migrantinnen verneint werden muss. beschränkung.“
Dr. Nivedita Prasad ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
Literatur bei Ban-Ying - Beratungs- und Koordinationsstelle ge-
Grada Kilomba Ferreira 2004: Don´t You Call Me gen Menschenhandel und arbeitet als Dozentin für ver-
Neger schiedene Unis zu den Themen wie Rassismus, Migrati-
on, Diskriminierung und Menschenrechte. 2008 wurde
Razum, Oliver; Zeeb, Hajo; Schenk, Liane 2008: Mig- sie zum Thema „Gewalt gegen Migrantinnen“ promo-
ration und Gesundheit: Ähnliche Krankheiten, unter- viert.
DOSSIER Migration & Gesundheit 9
10. Gabriele Dennert
Gesundheit und Gesundheitsversorgung lesbischer und schwuler
MigrantInnen in Deutschland
Migration bedeutet mehr als die Überwindung von migrantischen Familien – über die Hälfte sind deutsche
Landesgrenzen. Der Prozess des Ankommens in der Staatsangehörige. Hinzu kommen noch Lesben und
neuen Gesellschaft setzt die Überwindung etlicher Schwule, die als sog. irreguläre MigrantInnen mangels
weiterer Barrieren voraus. Sowohl aus der Sicht der Aufenthaltstitel in den Statistiken nicht geführt werden.
Gesellschaft als auch aus der Perspektive des migrier-
ten Individuums spielt die Frage der „Gesundheit“ Aufgrund der Marginalisierung lesbischer und schwuler
dabei eine wesentliche Rolle: Zum einen haben Migra- Lebensweisen und von MigrantInnen, werden die Anlie-
tionserfahrungen Auswirkungen auf die persönliche gen und Bedürfnisse von migrierten Lesben und Schwu-
körperliche und psychische Gesundheit, zum anderen len gesellschaftlich kaum wahrgenommen und diskutiert.
ist der gleiche Zugang zur Gesundheitsversorgung für Dabei kommt Fragen der gesellschaftlichen Inklusion
alle BürgerInnen eine zentrale Frage gesellschaftlicher und Partizipation in Zeiten der kulturellen Pluralisierung
Ein- und Ausschlüsse. Dies wird besonders wichtig, – sei es durch Migrationsprozesse oder die Diversifizie-
wenn es um die Situation von MigrantInnen geht, die rung von sexuellen Lebensweisen und Geschlechterrol-
als Lesben und Schwule einer weiteren Minderheit len – eine große Bedeutung für soziale Gerechtigkeit
angehören. und Kohäsion einer Gesellschaft zu. Das Gesundheits-
wesen ist hierfür ein zentraler Ort: „Gesundheitssysteme
und all ihre beteiligten Personen und Kräfte können
Recht auf Gesundheitsversorgung ohne Dis-
genauso analysiert werden im Hinblick auf deren Aus-
kriminierung
wirkung auf die Würde des Menschen, Gleichheit und
Im Artikel 35 der „Charta der Grundrechte der Europäi-
Freiheit wie im Hinblick auf die Fähigkeit, Krankheiten zu
schen Union“ heißt es: „Jede Person hat das Recht auf
verhindern und zu behandeln.“ (Fabeni & Miller, 2007,
Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche
93; Übersetzung G.D.)
Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen
Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ (Europäische
Union 2000, 16). Gleichberechtigter Zugang zu einer Lesben und Schwule im Migrationsprozess
fachgerechten Gesundheitsversorgung soll die Grund- Migration und das nachfolgende Ankommen in der neu-
lage für gute Gesundheit aller BürgerInnen schaffen, en Gesellschaft sind wichtige Erfahrungen in der per-
die als eine Voraussetzung für die Teilhabe am sozia- sönlichen Biographie und eröffnen neue Lebensmög-
len, wirtschaftlichen und politischen Leben angesehen lichkeiten, die geschlechtsspezifisch geprägt sind
wird. Artikel 21 derselben EU-Grundrechtecharta ver- (Espin, 1997). Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten,
bietet folgerichtig die Diskriminierung, unter anderem Berufstätigkeit und die Anforderungen an die persönli-
aufgrund von Geschlecht, ethnischer oder sozialer che Rolle im öffentlichen wie privaten Raum verändern
Herkunft und auch der sexuellen Orientierung. sich. Das Coming-out als Lesbe oder Schwule mag vor
der Migration geschehen oder danach erlebt worden
sein oder sogar die treibende Kraft hinter dem Migrati-
Lesben und Schwule mit Migrationshin-
onswunsch gewesen sein. Immer ist eine Integration
tergrund
von verschiedenen Erfahrungen, gesellschaftlichen,
Lesbische und bisexuelle Frauen, schwule und bisexu-
familiären und sozialen Anforderungen im persönlichen
elle Männer sind Teil der weltweiten Migrationsbewe-
Lebensentwurf nötig.
gungen. Unter den 15,3 Millionen Menschen mit Migra-
tionshintergrund in Deutschland (Mikrozensus 2005,
Dabei sehen sich lesbische Migrantinnen und schwule
vgl. Berens, Spalek, & Razum, 2008) befinden sich,
Migranten einerseits von fördernden Einflüssen – z.B.
wenn man die übliche Schätzung von 5% Homosexuel-
möglicherweise verbesserten Bildungschancen für Mäd-
ler zugrunde legt, ungefähr 765.000 Lesben und
chen, der Möglichkeiten einer eigenständigen Berufstä-
Schwule. Zwei Drittel der 15,3 Millionen MigrantInnen
tigkeit für Frauen oder das Vorhandensein einer les-
sind selbst eingewandert, ein Drittel stammt aus
bisch/schwulen Subkultur – unterstützt. Anderseits wer-
10 DOSSIER Migration & Gesundheit
11. den sie auch durch Diskriminierung in Form von Ras- Homosexualität bekannt wird, riskieren sie ablehnen-
sismus, Sexismus oder Ablehnung gegenüber Homo- de Reaktionen und sozialen Ausschluss.
sexuellen behindert. • Die Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften, teilwei-
se in Mehrbettzimmern, setzt Schwule und Lesben in
Die Situation verfolgter Lesben und Schwuler im Asyl- hohem Maße dem Risiko von Gewalt durch andere
verfahren BewohnerInnen und auch das Personal aus (zum
Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Perso-
Die wenigsten Lesben und Schwulen, die nach
nal vgl. Link http://thevoiceforum.org/node/1075 ).
Deutschland einwandern, migrieren auf der Flucht vor
• Die Anforderung des Asylverfahrens, in Asylantrag
Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung.
und Anhörungsverfahren stimmige und offene Anga-
Aufgrund ihrer besonderen rechtlichen und sozialen
ben zu ihrer Verfolgungsgeschichte machen zu kön-
Lage stellen Lesben und Schwule im und nach dem
nen, stellt eine große Barriere dar für Menschen, die
Asylverfahren jedoch eine Gruppe dar, bei der hoher
oft selbst ihre sexuelle Identität aufgrund der erlebten
Bedarf für Verbesserungen der Lebenssituation be-
gesellschaftlichen Ausgrenzung nicht akzeptieren
steht.
können. Zudem setzt sie ein Konzept von homosexu-
eller Identität voraus, das zwar in Mitteleuropa ver-
Häufig Verfolgung – selten Asyl
breitet ist, jedoch nicht mit Selbstkonzepten und Iden-
Prinzipiell besteht die Möglichkeit, dass verfolgten titäten der Ursprungskultur übereinstimmen muss (del
Lesben und Schwulen in Deutschland Asyl gewährt Mar Castro Varela, 1999).
wird – sie also einen Aufenthaltsstatus erlangen kön- • Für Frauen sind weltweit die Möglichkeiten für ein
nen. Eine kleine Anfrage im Bundestag im Jahr 2006 unabhängiges Leben außerhalb einer Ehe mit einem
hat ergeben, dass beim Bundesamt für Migration und Mann und das Selbstbestimmungsrecht über ihren
Flüchtlinge (BAMF) keine Statistik geführt wird, Homo- Körper und ihre Sexualität eingeschränkt (Rothschild,
sexualität nach Einschätzung des BAMF “eher selten“ 2005). Viele Menschenrechtsverletzungen an Lesben
im Asylverfahren als Begründung vorgebracht wird – von der Psychiatrisierung, dem Ausschluss vom
(Bundesregierung, 2006). Erwerbsleben, über familiäre Gewalt bis zur Zwangs-
verheiratung durch die Familie – bleiben undokumen-
Leider ist dies kein Hinweis darauf, dass die Verfol- tiert und werden nicht als solche anerkannt.
gung aufgrund der sexuellen Orientierung und Le-
bensweise weltweit nur selten auftritt: In 7 Ländern und
Problematische Rolle der Sexualmedizin: „Irre-
Regionen wird männliche und/oder weibliche Homose-
versible“ Homosexualität
xualität mit der Todesstrafe bestraft, in weiteren 92
Ländern strafrechtlich verfolgt (ILGA, 2008). Hinzu Spezifisch für Männer und Frauen, die Asyl wegen Ver-
kommen Verfolgung und Gewalt durch nicht-staatliche folgung aufgrund ihrer homosexuellen Orientierung
Gruppierungen bis hin zur eigenen Familie, deren beantragen, ist das Begutachtungsverfahren zur
Ausmaß teilweise enorm ist: So gaben in einer südafri- „Glaubhaftmachung“ des Fluchtgrundes. Sie können nur
kanischen Befragung 10% der Schwarzen und 4% der dann Asyl erhalten, wenn ihre Homosexualität „irreversi-
weißen Lesben an, alleine im Zweijahreszeitraum bel“ ist eine „unentrinnbare schicksalhafte Festlegung
2002/03 sexuelle Gewalt erlebt zu haben (ILGA, 2006). auf homosexuelles Verhalten bzw. Triebbefriedigung“
vorliegt (LSVD 2009). Oft werden deshalb sexualmedi-
zinische Gutachten vom Bundesamt für Migration und
Barrieren für Lesben und Schwule auf der Flucht
Flüchtlinge eingefordert, die Asylbewerberinnen selbst
Die bekannten Hürden, denen sich Frauen, Männer,
bezahlen müssen (Frank, 2009).
Jugendliche und Kinder auf der Flucht und im Asylver-
fahren gegenüber sehen, nehmen für Lesben und
Das Medizinsystem nimmt hier – bei gleichzeitig fehlen-
Schwule eine spezifische Gestalt an:
dem Zugang zu einer psychotraumatologischen Versor-
gung – für Lesben und Schwule im Asylverfahren eine
• Menschen im Asylverfahren sind auf die Zusam-
höchst problematische Position ein.
menarbeit und die Unterstützung durch Mitflüchtlin-
ge angewiesen, um an Informationen zu gelangen
und sozialer Isolation entgegenzuwirken. Wenn ihre
DOSSIER Migration & Gesundheit 11
12. Migration – sexuelle Orientierung – Gesund- durch eine Migrationserfahrung und deren Auswirkun-
heit gen – vermittelt. Diese Ebenen sind (1) Erfahrungen von
Soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten haben Diskriminierung und Gewalt, (2) die Befürchtung von
direkte Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen Diskriminierungs- und Gewalterlebnissen, (3) das Ver-
und Männern und greifen damit in den körperlichen bergen der eigenen sexuellen Orientierung und Le-
und seelischen Nahbereich von Menschen ein. Dies bensweise und (4) die Verinnerlichung negativer gesell-
beeinflusst wiederum ihre Möglichkeiten zur individuel- schaftlicher Bewertungen über lesbische und schwule
len Lebensgestaltung und auch gesellschaftlichen Lebensweisen.
Partizipation. Lesben und Schwule sind in etlichen
Studien und Veröffentlichungen als unter- und fehlver- Psychosoziale Situation von lesbischen und
sorgte Gruppe im Gesundheitswesen identifiziert wor- schwulen MigrantInnen
den mit erhöhten Gesundheitsrisiken, insbesondere im
Für Lesben und Schwule mit Migrationshintergrund kann
Bereich psychischer Gesundheit und Suchterkrankun-
dies bedeuten, dass sie für ihre unterschiedlichen Le-
gen, und einem speziellen Versorgungsbedarf z.B. in
benszusammenhänge verschiedene Formen von Bewäl-
der HIV-Prävention und Therapie. Auch werden Les-
tigungshandeln entwickeln müssen, die sich auch wider-
ben und Schwule von Präventions- und Früherken-
sprechen können: So kann eine lesbische Frau sich in
nungsangeboten in der Regel weniger erreicht – sei es
ihrer migrantischen Community entscheiden, ihre Le-
durch Nichtraucherkampagnen oder der Krebsfrüher-
bensweise nicht zu thematisieren und damit unsichtbar
kennung. (Gay and Lesbian Medical Association,
zu bleiben, während sie in der – von der Mehrheitskultur
2001).
dominierten – Lesben-Community darum kämpfen
muss, als Migrantin und Lesbe wahr- und ernst genom-
Nancy Krieger hat beschrieben, wie soziale Ungleich-
men zu werden.
heiten in den Körper und die Psyche „eingeschrieben“
werden und Krankheit sowie Gesundheit von Gruppen
Auf der anderen Seite kann ein Migrationsprozess eine
und Individuen beeinflussen (Krieger, 2005). Ethnizität,
starke Ressource für ein erfolgreiches Coming-out sein
Migrationserfahrung, sozioökonomische Position und
(Escalona Zerpa, 2007) – und damit zur körperlichen
Geschlecht interagieren als soziale Determinanten von
und psychischen Gesundheit beitragen (Wolf, 2004).
Gesundheit – und in der Folge findet sich ein deutlicher
Gradient im Gesundheitszustand zwischen gesell-
Saideh Saadat (Saadat, 2001) hat als migrantinnenspe-
schaftlich privilegierten und marginalisierten Gruppen
zifisches Thema in der Lesbenberatung einerseits
(Davey Smith, 2003).
Schwierigkeiten mit dem Coming-out in der Herkunfts-
familie – mit möglichen Folgen wie soziale Isolation –
Minoritäten-Stress durch Homophobie und andererseits die Suche nach Kontakt zu lesbischen
Für Lesben, Schwule und andere sexuelle Minderhei- Migrantinnen und einem Ort für einen Austausch inner-
ten liegt mit dem Minoritäten-Stress-Modell (Meyer, halb der Ursprungskultur beschrieben.
2007) ein theoretisches Verständnis vor, wie Diskrimi-
nierung und Vorurteile gegen Menschen mit einer Daten zur Gesundheitslage von lesbischen und
nicht-heterosexuellen Orientierung als Stressoren auf schwulen MigrantInnen
die psychische Gesundheit von Lesben und Schwulen
MigrantInnen stellen international innerhalb der wach-
wirken. Stressoren sind Herausforderungen an Einzel-
senden Forschungslandschaft zu Lesben- und Schwu-
ne, die kurzzeitig oder dauerhaft sein können, und
lengesundheit eine bisher vernachlässigte Gruppe dar
einen Energieaufwand bei der Bewältigung erfordern –
(Gay and Lesbian Medical Association, 2001). In einer
oder auch die persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten
US-amerikanischen Studie von Mays (Mays, Yancey,
überfordern können. Minoritätenstress erfordert dem-
Cochran, Weber, & Fielding, 2002) zeigte sich z.B., dass
nach dauerhaft eine höhere Bewältigungsleistung von
Lesben innerhalb ethnischer Minoritäten und migranti-
Lesben und Schwulen mit möglichen negativen Folgen
scher Gruppen mehr gesundheitliches Risikoverhalten
für die psychische und körperliche Gesundheit.
zeigten und weniger von Vorsorgeprogrammen erreicht
wurden als heterosexuelle Frauen dieser Minderheiten.
Die von Meyer konzeptualisierten Ebenen des Minori-
tätenstresses für Lesben und Schwule werden wesent-
lich durch das soziale Umfeld – und damit z.B. auch
12 DOSSIER Migration & Gesundheit
13. Nur wenige Forschungsergebnisse für Deutschland fasster HIV-Infektion ihrem Anteil an der Gesamtbevöl-
An der einzigen bisher verfügbaren Befragung lesbi- kerung, jedoch unterscheidet sich die Verteilung der
scher Frauen in Deutschland zu ihrer Gesundheitssitu- Herkunftsländer davon. Nichtdeutsche, HIV-infizierte
ation (Dennert, 2005) nahmen auch 8% Migrantinnen MSM stammen bevorzugt aus westeuropäischen Län-
der ersten und zweiten Generation teil (44 von 578 dern, Nord- und Südamerika (Robert-Koch-Institut,
Befragten). Sie unterschieden sich in psychischer und 2006).
körperlicher Gesundheit, Inanspruchnahme der Ge-
sundheitsversorgung oder Gesundheitsverhalten nicht Forderungen an eine akzeptierende Gesund-
von den Frauen ohne Migrationserfahrung. Aufgrund heitsversorgung
der Studienmethodik können keine Aussagen getroffen
Diskriminierungsfreie Versorgung
werden, ob und inwiefern die Lebenssituation als lesbi-
Lesben und Schwule sehen sich etlichen Barrieren im
sche Migrantin einen Einfluss auf die psychische oder
Gesundheitswesen gegenüber, die ihren Versorgungs-
körperliche Gesundheit hat. Aber es ist festzuhalten,
zugang behindern. Insbesondere mangelndes Fachwis-
dass es offensichtlich etliche lesbische Migrantinnen
sen zu lesben- und schwulenspezifischen Fragestellun-
gibt, die Zugang zur lesbischen Community und zu
gen, Diskriminierung und Homophobie seitens der Me-
Ressourcen für ihre Gesundheitsförderung und -
dizinerInnen und eine Unterversorgung mit akzeptieren-
aufrechterhalten gefunden haben. Es wäre spannend
den Versorgungsangeboten wurden als Probleme identi-
und bedarf weiterer Forschung, zu erfahren, wie ihnen
fiziert (Dennert & Wolf, 2009). Lesben und Schwule
dies in einer Situation der mehrfachen Marginalisierung
verhandeln und entscheiden deshalb – soweit möglich –
gelingt.
in Situationen, in denen sie besonders verletzlich sind,
ob und wie sie sich outen – und die Situation, in einer
Die Migrantinnen in der Lesbenbefragung hatten ge-
gesundheitlich bedürftigen Lage und auf Versorgung
nauso häufig Diskriminierung und Gewalt im Gesund-
angewiesen zu sein, ist eine solche.
heitswesen erlebt und ihre Zufriedenheit mit ÄrztInnen
war ähnlich groß wie bei den Nicht-Migrantinnen. Ins-
Die oben dargestellten Ergebnisse unterstützen die
gesamt outeten sie sich weniger häufig als nicht-
Annahme, dass bei lesbischen und schwulen MigrantIn-
migrantische Lesben – und sahen sich in der Folge
nen dieser Aushandlungsprozess spezifisch verläuft: Die
auch tendenziell weniger aufgrund ihrer sexuellen
Bedenken, sich zu outen sind größer – Versorgungssi-
Orientierung in der Gesundheitsversorgung diskrimi-
tuationen müssten für sie also erkennbar sicher vor
niert. Lesben mit Migrationshintergrund gaben für alle
homophoben und rassistischen Diskriminierungen sein,
Bereiche – der Herkunftsfamilie, den Arbeitsplatz und
um ein offenes Auftreten und damit den Zugang zu einer
die Gesundheitsversorgung vom Hausarzt bis zur
adäquaten Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.
Psychotherapeutin – an, weniger offen als Lesben
aufzutreten. Sie gaben auch mehr Gründe an, die sie
von einem offenen Auftreten im Gesundheitswesen Fachwissen und –kompetenz fördern
abhielten, insbesondere die Befürchtung, Dritte könn- Um lesbische und schwule MigrantInnen nicht-
ten von Ihrer Homosexualität erfahren. Obwohl die diskriminierend und qualitativ hochwertig medizinisch
befragten Migrantinnen genauso viel sexuelle Erfah- und psychotherapeutisch zu versorgen, bedarf es eines
rungen mit Frauen und sogar etwas weniger mit Män- spezifischen Fachwissens und kommunikativer und
nern hatten als die nicht-migrierten Frauen, bezeichne- interpersoneller Kompetenz bei BehandlerInnen. Hierzu
ten sie sich selbst doppelt so häufig als bisexuell. erscheint es sinnvoll, bereits in Ausbildungsgänge und
Studiengänge die notwendigen Kenntnisse und Fertig-
Männer, die Sex mit Männern haben, und HIV keiten zu vermitteln.
Differentielle Einflüsse von Migrationserfahrung und
Lebensweise auf die Gesundheit werden auch bei Zielgruppenspezifische Angebote ausbauen
schwulen Männern deutlich. Hier liegen Daten vor Für lesbische und schwule MigrantInnen gibt es kaum
allem für den Bereich der HIV/Aids vor. Die neuerfass- zielgruppenspezifische Angebote. Die Lesbenberatung
ten Infektionen mit HIV steigen seit 2001 wieder an, Berlin erhielt auf 55 Anfragen bei MigrantInnenprojekten
überproportional bei Männern, die Sex mit Männern in Berlin zu Beratungsmöglichkeiten für Lesben nur 2
haben (MSM). Laut Robert-Koch-Institut entspricht Antworten und konstatierte: „Lesbische Migrantinnen
zwar der Anteil von nichtdeutschen MSM mit neuer- werden in unserem psychosozialen Versorgungssystem
DOSSIER Migration & Gesundheit 13
14. nicht mitgedacht.“ (Saadat, 2001). Auch die Online- (Ed.), Ethnic and cultural diversity amond lesbians and
Plattform der Deutschen Aids-Hilfe zur HIV-Prävention gay men , 191-215. Thousand Oaks: Sage.
bei Männern, die Sex mit Männern haben, entbehrt Europäische Union: Charta der Grundrechte der Euro-
gegenwärtig noch Rollenmodelle mit Migrationshin- päischen Union (2000). (2000/C 364/01).
tergrund. Fabeni, S. & Miller, A. M. (2007). The Importance of
Being Perverse: Troubling Law, Identities, Health and
Neben der Berücksichtigung von lesbischen und Rights in Search of Global Justice. In I.H.Meyer & M. E.
Northridge (Eds.), The Health of Sexual Minorities. Pub-
schwulen MigrantInnen den bestehenden Versor-
lic Health Perspectives on Lesbian, Gay, Bisexual and
gungsstrukturen bedarf es eines Ausbaus spezialisier- Transgender Populations. 93-129. New York: Springer.
ter Angebote. Dies nicht nur eine Förderung von ziel-
Frank, Charlotte: Immer auf der Flucht. Süddeutsche
gruppenspezifischen Angeboten, sondern auch eine
Zeitung, 16.1.2009, 3.
verstärkte interkulturelle Öffnung des Gesundheitssys-
Gay and Lesbian Medical Association (GLMA): Healthy
tems für Fachkräfte mit Migrationshintergrund. Son-
people 2010. Companion document for lesbian, gay,
derbedarfszulassungen für PsychotherapeutInnen mit bisexual, and transgender health (2001). San Francisco
verschiedenen Sprachkenntnissen und einer Qualifizie-
ILGA: Lesbian and bisexual women´s health: Common
rung für lesbische und schwule Belange erscheinen als
concerns, local issues (2006). Geneva
eine mögliche und sinnvolle Maßnahme.
ILGA: ILGA publishes State-sponsored Homophobia
report. (2008)
Literatur Krieger, Nancy (Hrsg.): Embodying Inequality (2005).
Berens, E., Spalek, J., & Razum, O. (2008). Amityville: Baywood Publishing.
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Höll, Sevim Dagdelen, Karin Binder, weiterer Abgeord-
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Berlin: Querverlag. Dr. Gabriele Dennert ist promovierte Ärztin und Master
of science (Public Health). Sie arbeitet als wissenschaft-
Espin, O. M. (1997). Crossing borders and boundaries: liche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Biologische Krebs-
The narratives of immigrant lesbians. In B.Greene therapie in Nürnberg und administriert die Internetplatt-
form www.lesbengesundheit.de/.
14 DOSSIER Migration & Gesundheit
15. Josephine Jenssen und Elène Misbach
Gesundheitsversorgung Illegalisierter. Integration in die
Regelversorgung statt Entwicklung weiterer Parallelsysteme
Zwischen 500.000 und einer Millionen Menschen leben dadurch Abschiebehaft und letztlich Abschiebung dro-
in Deutschland ohne geregelten Aufenthaltsstatus, hen. Aus Angst vor Aufdeckung, Inhaftierung und Ab-
davon etwa 100.000 in Berlin. Ihre Migrationsgründe, schiebung nehmen Illegalisierte die ihnen zustehenden
insbesondere die Gründe für ein Leben in der Illegali- Leistungen nach AsylbLG faktisch kaum in Anspruch;
tät, sind sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen, ÄrztInnen werden meist erst aufgesucht, wenn dies
dass sie durch die bestehende Gesetzeslage im Alltag aufgrund von Komplikationen und Chronifizierungen
vom regulären Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesund- unvermeidbar geworden ist.
heitsversorgung ausgeschlossen werden. In Berlin wird
derzeit gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Ge- Die Chance für eine frühzeitige Diagnose und Therapie
sundheit durch die geplante Einführung anonymisierter wird dadurch vertan. Der Verlauf einer Krankheit droht
Krankenscheine an einer strukturellen Verbesserung schwerer zu werden. Infektionskrankheiten werden nicht
der medizinischen Versorgung gearbeitet. ausreichend therapiert, Krebserkrankungen zu spät
erkannt, bei chronischen Leiden entstehen Folgeschä-
den an anderen Organen, Impfungen und Vorsorgeun-
Recht auf Gesundheit
tersuchungen werden nicht in Anspruch genommen.
Bereits Mitte der 1990er Jahre wurden in Hamburg und
Illegalisierte kommen so in gesundheitsschädliche oder
Berlin die ersten Büros für medizinische Flüchtlingshil-
sogar lebensbedrohliche Situationen, die an sich ver-
fe (www.medibuero.de) gegründet, um dem Problem
meidbar wären.
zu begegnen, dass eine wachsende Zahl von Men-
schen ohne Aufenthaltsstatus – im Folgenden Illegali-
sierte – in Deutschland äußerst unzureichenden Zu- Parallelstrukturen sind keine Lösung
gang zu medizinischer Versorgung hatte. Mittlerweile Seit Jahren ermöglichen in Berlin – ähnlich auch in an-
gibt es in den meisten größeren Städten medizinische deren Städten – das Büro für medizinische Flüchtlings-
Flüchtlingshilfen sowie in einigen Städten Anlaufstellen hilfe (Medibüro) und die Malteser Migranten Medizin mit
der Malteser Migranten Medizin. den jeweils kooperierenden Netzwerken eine anonyme
und kostenlose oder kostengünstige Gesundheitsver-
An der rechtlichen Situation hat sich seither allerdings sorgung ohne Datenweitergabe an die Behörden. Beide
nichts geändert, das dringliche Problem des Aus- Unterstützungsstrukturen basieren – beim Medibüro
schlusses von Illegalisierten aus der regulären Ge- vollständig, bei der Malteser Migranten Medizin in Teilen
sundheitsversorgung besteht weiterhin. Auf dem Pa- – auf der unentgeltlichen Arbeit der MitarbeiterInnen),
pier steht ihnen medizinische Versorgung nach dem privaten Spendengeldern und der Kooperation mit vielen
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu. Die §§ 4 ÄrztInnen, Hebammen und anderen Fachleuten im Ge-
und 6 AsylbLG ermöglichen allerdings nur Behandlun- sundheitsbereich, die bereit sind, Illegalisierte kostenlos
gen bei akuten und schmerzhaften Erkrankungen so- zu behandeln, sowie der Zusammenarbeit mit engagier-
wie Leistungen, die zur Aufrechterhaltung der Gesund- ten Krankenhäusern, die stationäre Therapien zu redu-
heit unerlässlich sind. zierten Sätzen ermöglichen.
Gefahrlos können Illegalisierte ihr Recht jedoch nicht in Diese Parallelstrukturen sind inzwischen von offiziellen
Anspruch nehmen: Um die eingeschränkten Leistun- Stellen anerkannt und hoch gelobt, können jedoch keine
gen überhaupt wahrnehmen zu können, müssen sie Lösung sein. Zum einen wird die Einlösung des Men-
sich für die Kostenübernahme an das zuständige Sozi- schenrechts auf Gesundheit in Deutschland zivilgesell-
alamt wenden. Das Sozialamt ist als öffentliche Stelle schaftlichen Initiativen und der kostenlosen Arbeit von
nach § 87 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verpflichtet, ÄrztInnen übertragen. Der Staat und die öffentliche
die Ausländerbehörde über die Kenntnis vom uner- Hand entziehen sich elegant ihrer Verantwortung. Zu-
laubten Aufenthalt einer Person zu unterrichten und die dem besteht innerhalb solcher Parallelstrukturen kein
Personendaten zu übermitteln. Den Betroffenen kann individueller Rechtsanspruch auf angemessene und
DOSSIER Migration & Gesundheit 15
16. nachhaltige Gesundheitsversorgung. Die Betroffenen schen ohne Papiere in Deutschland (...) defizitär“ und
sind letztlich von den Beteiligten in den Netzwerken weder aus medizinischer noch aus menschenrechtlicher
abhängig. Sicht zu verantworten ist. Als eine zentrale Handlungs-
empfehlung wird die Einschränkung der Übermittlungs-
Zum anderen sind Parallelstrukturen trotz des hohen pflicht nach § 87 AufenthG hervorgehoben. Dadurch
Engagements der beteiligten MitarbeiterInnen und könnten Illegalisierte ohne Angst vor Abschiebung die
Fachkräfte strukturell nicht in der Lage, in allen Fällen ihnen rechtlich zustehenden Leitungen nach dem
eine ausreichende Prävention, Diagnostik und Thera- AsylbLG wahrnehmen (vgl. Pressemitteilung DIMR).
pie zu erbringen. Die finanziellen und fachlichen Res-
sourcen sind begrenzt, eine der Regelversorgung
In Berlin bewegt sich was…
gleichwertige medizinische Versorgung ist nicht ge-
Nachdem die Politik das Problem der Gesundheitsver-
währleistet.
sorgung jahrelang ignoriert oder negiert, im „besten Fall“
durch die Würdigung der Arbeit von Medibüros und
Politisches und öffentliches Interesse steigt Malteser Migranten Medizin als gelöst wahrgenommen
Das öffentliche Interesse und politische Bewusstsein hat, wird in Berlin endlich gehandelt. Im
für die Lebenssituation von Illegalisierten haben sich in Integrationskonzept des Berliner Senats von 2007 wer-
den letzten Jahren deutlich erhöht. So lassen sich den Illegalisierte das erste Mal explizit als Zielgruppe
beispielsweise bezüglich der arbeitsrechtlichen Situati- benannt. Die Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher
on von Illegalisierten erste Erfolge mit der Einrichtung hat sich die strukturelle Verbesserung der medizinischen
von zwei Anlauf- und Beratungsstellen für „undoku- Versorgung Illegalisierter zu Eigen gemacht und ge-
mentierte“ (illegalisierte) Arbeitnehmer(innen) in Ham- meinsam mit dem Staatssekretär für Gesundheit Dr.
burg und Berlin verbuchen. In Hamburg wurde im Mai Benjamin-Immanuel Hoff und in ressortübergreifender
2008 die erste gewerkschaftliche Anlaufstelle für Men- Kooperation bereits einige Verbesserungen erzielt:
schen ohne gesicherten Aufenthalt errichtet, ver.di
Berlin-Brandenburg hat Anfang März 2009 in Zusam- Verlängerte Duldung für Schwangere
menarbeit mit dem Berliner Arbeitskreis „Undokumen-
Die Senatsverwaltung für Inneres hat im August 2008
tiertes Arbeiten“ nachgezogen.
die Ausländerbehörden schriftlich angewiesen, Frauen
drei Monate vor der Entbindung sowie drei Monate da-
Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung tut sich
nach regelmäßig eine Duldung zu gewähren. Zuvor
nach jahrelanger beharrlicher Öffentlichkeitsarbeit
wurde sich an der gesetzlichen Mutterschutzfrist (sechs
durch diverse Wohlfahrtsverbände, Büros für medizini-
Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt) orien-
sche Flüchtlingshilfe und kirchliche Organisationen
tiert.
etwas. Dazu hat insbesondere die
Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität beigetra-
Klärung der Rechtslage für Krankenhäuser und ÄrztIn-
gen, die 2006 vom Katholischen Forum „Leben in der
nen
Illegalität“ in Zusammenarbeit mit dem Deutschen
Institut für Menschenrechte (DIMR) ins Leben gerufen Die Senatsverwaltung für Gesundheit hat im November
wurde. Fachleute aus Wissenschaft, Praxis, kommuna- 2008 in einem Schreiben an die Geschäftsführungen der
ler Verwaltung, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Berliner Krankenhäuser in öffentlicher, freigemeinnützi-
nichtstaatlichen Organisationen haben sich intensiv mit ger und privater Trägerschaft bestehende rechtliche
dem Problem der medizinischen Versorgung von Men- Unsicherheiten bei der medizinischen Behandlung von
schen ohne legalen Aufenthaltsstatus beschäftigt. Illegalisierten beseitigt und ihre Rechtsauffassung in
Bezug auf eine etwaige Datenübermittlungspflicht klar-
Auch das Berliner Büro für medizinische Flüchtlingshil- gestellt: ÄrztInnen, die Illegalisierte behandeln, machen
fe hat in der Arbeitsgruppe mitgearbeitet und seine sich weder strafbar, noch sind sie verpflichtet, Daten an
Erfahrungen eingebracht. die Ausländerbehörde zu übermitteln. Auch die Verwal-
tungen der Krankenhäuser sind nicht zur Datenweiter-
Der 2007 veröffentlichte Bericht der Arbeitsgruppe gabe verpflichtet.
„Frauen, Männer und Kinder ohne Papiere in Deutsch-
land- Ihr Recht auf Gesundheit“ kommt zu dem
Schluss, dass die „Gesundheitsversorgung von Men-
16 DOSSIER Migration & Gesundheit
17. Integration in die Regelversorgung durch anonymisier- realisiert den individuellen Rechtsanspruch auf Gesund-
te Krankenscheine heitsversorgung im Gegensatz zur rein humanitären
Eine bundesweite Gesetzesänderung in Bezug auf Hilfe, die geleistet werden kann, aber nicht muss. Damit
eine Einschränkung der Meldepflicht (§ 87 AufenthG) wäre ein wichtiger Schritt weg von einem weiteren Aus-
erscheint in naher Zukunft politisch nicht durchsetzbar. bau der bestehenden Parallelsysteme hin zu Eingliede-
Daher schlägt die Bundesarbeitsgruppe Gesund- rung in und perspektivisch möglichst einem Ausbau von
heit/Illegalität in ihrem Bericht als einen pragmatischen Regelversorgungssystemen gemacht. Eine Lösung für
Verbesserungsansatz auf lokaler Ebene die Vermitt- alle Probleme kann dieses Modell jedoch auch nicht
lung von geschützten Krankenscheinen vor. Darauf liefern.
aufbauend hat das Büro für medizinische Flüchtlings-
hilfe ein Konzept für die Umsetzung eines anonymisier- Das Modell basiert auf dem reduzierten Versorgungsan-
ten Krankenscheins in Berlin erarbeitet. Bei der Se- spruch nach AsylbLG. Daraus ergibt sich erstens, dass
natsverwaltung für Gesundheit wurde unter der Leitung die grundsätzliche und breite Kritik an diesem Gesetz
von Staatssekretär Dr. Benjamin-Immanuel Hoff eine der Ungleichbehandlung, die von der Bundesärztekam-
Arbeitsgruppe gebildet, die derzeit die Umsetzungs- mer, über Menschenrechtsorganisationen bis zu anti-
möglichkeiten in Berlin prüft. Neben der Senatsverwal- rassistischen Initiativen reicht, selbstverständlich fortge-
tung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz setzt werden muss. Eine zweite Konsequenz ist, dass
ist die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und nichtversicherte EU-BürgerInnen, die momentan durch
Soziales, das Büro des Integrationsbeauftragten und alle sozialrechtlichen Netze fallen und inzwischen einen
das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe beteiligt. großen Teil der Klientel darstellen, in diesem Modell
keine Berücksichtigung finden. Reisefreiheit und Anglei-
Das Konzept sieht vor, dass eine ärztlich geleitete chung sozialer Standards klaffen drastisch auseinander.
Anlaufstelle die Daten der Betroffenen erhebt, die Hier muss auf anderen Ebenen schnellstmöglich eine
Bedürftigkeit prüft und einen anonymisierten Kranken- Lösung gefunden werden.
schein ausstellt. Mit diesem kann die ambulante und
stationäre Behandlung nach AsylbLG mit dem Sozial- Der Berliner Senat ist nun aufgefordert, seinen mehrfach
amt abgerechnet werden. Da die Datenerhebung unter erklärten politischen Willen in die Praxis umzusetzen. Es
ärztlicher Schweigepflicht erfolgt, besteht keine Über- ist längst an der Zeit in Deutschland eine nachhaltige
mittlungspflicht an die Ausländerbehörde. Für die Pati- Gesundheitsversorgung für illegalisierte Menschen ein-
entInnen würde die Anlaufstelle darüber hinaus eine zuführen. Berlin kann hier einen ersten Schritt gehen, in
Case-Management- und Lotsenfunktion übernehmen, vielen anderen Städten wünscht man sich einen solchen
bei Bedarf Termine in geeigneten Praxen und Kran- „Startschuss“.
kenhäusern koordinieren, Sprachvermittlung ermögli-
chen und eine Rechtsberatung anbieten.
Elène Misbach, Diplompsychologin, und Josephine
Jenssen, Medizinstudentin an der Charité, sind aktiv
Dieses Konzept ermöglicht die Integration von Illegali- beim MediBüro Berlin, einem antirassistischen Projekt
sierten in die ambulante und stationäre Regelversor- von kooperierenden MedizinerInnen, Hebammen, Psy-
chologInnen, KrankengymnastInnen und Dolmetsche-
gung sowie eine Kostenübernahme durch staatliche rInnen.
Stellen ohne Gefährdung der Datenweitergabe. Es
DOSSIER Migration & Gesundheit 17
18. Rosaline M’bayo
Die Gesundheitsversorgung afrikanischer MigrantInnen
Die Arbeit von Afrikaherz
Durch meine fast zehnjährige Tätigkeit als Gesund- Prozent davon bei Frauen. Im Vergleich dazu waren es
heits- und Sozialberaterin beim Projekt Afrikaherz des 27 Prozent Frauen bei den Deutschen (RKI 2007:4).
Verbandes für interkulturelle Arbeit Berlin/Brandenburg
e.V. (VIA) konnte ich umfangreiche Erfahrungen im Afrikaherz hat in den letzten Jahren etwa 65 HIV-
Hinblick auf ethnische, menschliche und rechtliche positive AfrikanerInnen betreut, darunter auch drei Mäd-
Probleme im Bereich Gesundheit und Migration sam- chen und einen Junge im Alter von 8 bis 17 Jahren. Die
meln. Täglich werde ich mit Schicksalen konfrontiert, Mehrheit der HIV-positiven Erwachsenen waren Frauen.
die mit menschlichem Leid und großer Verzweiflung
verbunden sind. Die Arbeit im Bereich Gesundheitsin- Die HIV-Infizierten werden in Schwerpunktpraxen und
formation und Aufklärung afrikanischer MigrantInnen Krankenhäusern in Berlin behandelt. Doch kulturell
bietet die Möglichkeit, viel über die Probleme dieser bedingte Vorstellungen von Krankheit und Krankheitsur-
Menschen zu erfahren, da das Verständnis von Ge- sachen bei HIV/AIDS, beschränkte Kenntnisse über das
sundheit und Krankheit im afrikanischen Kontext sehr deutsche Gesundheitssystem sowie strukturelle und
vielfältig ist. rechtliche Barrieren, besonders bei undokumentiert
lebenden Menschen ohne Krankenversicherung, führen
Zunächst werde ich die Gesundheitsprobleme afrikani- dazu, dass in Bezug auf die Einschätzung der HIV-
scher MigrantInnen schildern und auf die besonderen Neudiagnosen MigrantInnen nicht in gleichem Maße wie
Probleme von HIV/Aids Betroffenen eingehen. An- Deutsche Zugang zum HIV-Test haben bzw. Gebrauch
schließend werde ich die besonderen Probleme afrika- von diesem machen (RKI 2007:4). Zudem mangelt es
nischer Frauen thematisieren. an fundiertem Wissen über die Übertragungswege und
Schutzmöglichkeiten. Es ist deswegen davon auszuge-
hen, dass manche MigrantInnen erst in fortgeschritte-
Die KlientInnen von Afrikaherz
nem Erkrankungsstadium von ihrer HIV-Infektion erfah-
Laut Statistischem Landesamt lebten in 2006 in Berlin
ren.
rund 11.290 Menschen aus Subsahara-Afrika. Die
AfrikanerInnen, die bereits die deutsche Staatsbürger-
schaft besitzen, sind hier nicht erfasst. Nur ein knap- Einstellungen zu Gesundheit und Krankheit
pes Drittel der erfassten AfrikanerInnen hat einen gesi- In afrikanischen Gesellschaften bestehen unterschiedli-
cherten Aufenthaltsstatus (Statistisches Landesamt che Vorstellungen über die Verursachung von Krankheit.
Berlin, 2006). Deswegen kann keine verallgemeinernde Aussage über
das Verständnis von Krankheit und Gesundheit getrof-
Unsere Beratungsstelle Afrikaherz besuchen jährlich fen werden. Durch Gespräche mit meinen KlientInnen
durchschnittlich 150 MigrantInnen aus Afrika, die ü- aus verschiedenen afrikanischen Ländern habe ich
berwiegend erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben jedoch bestimmte Ähnlichkeiten feststellen können.
und über einen unsicheren Aufenthaltsstatus verfügen. Meist wird Gesundheit und Krankheit in engem Zusam-
Sie haben daher begrenzte Möglichkeiten, die Angebo- menhang mit Gott und den Ahnen betrachtet.
te der öffentlichen Gesundheitsdienste in Anspruch zu
nehmen. Rund zwei Drittel unserer KlientInnen sind Bei manchen ethnischen Gruppen wird Krankheit als
Frauen zwischen 18 und 55 Jahren, die überwiegend Strafe Gottes angesehen. Dies gilt besonders bei der
aus Kenia, Ghana, Nigeria und Kamerun stammen. HIV/AIDS-Erkrankung, und dies hat Auswirkungen auf
die Gesundheitsversorgung dieser Menschen. Durch
HIV und Aids ist unter den afrikanischen MigrantInnen den Glauben, dass Gott Krankheiten verursacht, er-
ein großes Problem. Nach Angaben des Robert Koch scheint den Menschen das eigene Risikoverhalten we-
Institutes (RKI) sind zwischen 2001 und 2007 12 Pro- niger bedeutungsvoll (Muluneh/Waka 1999:34).
zent der HIV-Neudiagnosen in Deutschland bei
MigrantInnen aus Subsahara-Afrika gestellt worden, 32
18 DOSSIER Migration & Gesundheit
19. So basiert auch die traditionelle afrikanische Medizin Bereich der Zuständigkeit der jeweiligen Ausländerbe-
auf der Vorstellung, „dass der einzelne Mensch unlös- hörde bewegen dürfen, stark eingeschränkt. Das ist
bar in einen kosmologischen Zusammenhang einge- insbesondere in den Fällen schwierig, in denen eine
bettet ist.“ (Nzimegne-Gölz 2003:12f.). Meine KlientIn- Beratungsstelle oder ein Krankenhaus nicht im unmittel-
nen wenden traditionelle Medizin, soweit es ihnen baren Zuständigkeitsbereich liegen. Lange Reisen zum
möglich ist, auch in Deutschland an, bevor sie einen Arzt müssen in Kauf genommen werden, da Umvertei-
Arzt aufsuchen. Auch führt Unwissen und Leichtgläu- lungsanträge meist abgelehnt werden.
bigkeit dazu, zu glauben, dass schwere Krankheiten
wie HIV/AIDS mit traditionellen Mitteln heilbar seien. Die Einnahme der Kombinationstherapien erfolgt in
Häufig gibt es deshalb Missverständnisse. Dadurch Asylunterkünften meist heimlich und immer verbunden
nehmen meine KlientInnen Beratung und medizinische mit der Angst vor einer Entdeckung. Zudem ist die Ge-
Hilfe erst zu spät in Anspruch. fahr eines unfreiwilligen Therapieabbruchs durch eine
Ablehnung des Asylantrags und die dann folgende Aus-
reiseaufforderung immer gegeben. Eine oft jahrelange
Aufenthaltsrechtliche Barrieren
Wartezeit auf Gerichtsentscheidungen nimmt den Frau-
Das grundlegende Problem eines Großteils der
en jede Möglichkeit einer Perspektivenentwicklung und
MigrantInnen - nicht nur afrikanischer Herkunft - ist die
Lebensplanung, sie müssen mit der ständigen Unge-
rechtliche Ungleichbehandlung. Hierbei spielt der Auf-
wissheit und Angst vor Ablehnung des Asylantrags le-
enthaltsstatus eine vorrangige Rolle: Menschen mit
ben.
ungeklärtem Aufenthaltsstatus haben kein Recht auf
Zugang zu Behandlung und Therapie.
Wegen eines unsicheren Aufenthaltsstatus werden viele
in Abschiebehaft genommen. Durch Hilfe von Rechts-
Abhängig vom Aufenthaltsstatus ist auch die Über-
anwältInnen und ärztliche Gutachten konnte bei einigen
nahme der Arzt- und Krankenhauskosten durch die
Patientinnen eine Abschiebung verhindert werden
Krankenkassen (Mohammadzadeh 2000:82ff). Im Falle
(Deutsche AIDS Hilfe 2000:41). Nicht wenige der asyl-
einer AIDS-Erkrankung besteht nach den Bestimmun-
suchenden Frauen haben zusätzlich frauenspezifische
gen des Gesetzes aber keine eindeutige Rechtsgrund-
Fluchtgründe, die leider bisher vor Gericht nicht aner-
lage für eine medizinische Behandlung. Erst bei einer
kannt werden. Traumatisierungen durch Vergewaltigun-
bereits begonnenen antiretroviralen Therapie besteht
gen, Gefängnisaufenthalte und andere Kriegs- und Ge-
die Möglichkeit, eine Duldung und eventuell eine Auf-
walterfahrungen belasten die Frauen zusätzlich zu ihrem
enthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu be-
Dasein als Flüchtling. Das positive HIV-Testergebnis ist
kommen. Menschen, deren Immunstatus noch stabil
dann ein weiterer belastender Faktor für diese Frauen.
ist, benötigen keine Behandlung und haben daher
keine Chance in Deutschland zu bleiben, um eventuell
bei einer Erkrankung an einer Therapie teilnehmen zu Unkenntnisse über Angebote im Gesundheits-
können (Khaled/M’bayo 2004:55). und Sozialsystem
Wie die meisten anderen Migrantinnen, so kennen sich
Für Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge sind der Ge- afrikanische Frauen nicht mit den Strukturen im deut-
sundheitsversorgung in Deutschland zudem enge schen Gesundheits- und Sozialbereich aus und wissen
rechtliche Grenzen gesetzt (Mohammadzadeh, nicht, an welche Einrichtung sie sich mit ihren Fragen
2003:118). Das seit 1993 geltende Asylbewerberleis- wenden können. Viele Afrikanerinnen haben sozialrecht-
tungsgesetz bildet die gesetzlichen Rahmenbedingun- liche Probleme, die nicht selten auf Informationsmangel
gen für die gesundheitliche Versorgung von MigrantIn- zurückzuführen sind. Zum Beispiel wissen AIDS-kranke
nen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. So bedeutet afrikanische Frauen oft nicht, dass sie Anspruch auf
jeder Besuch der Ausländerbehörde tagelange Angst Mehrbedarf beim Sozialamt oder Anspruch auf mehr
vor möglicher Nicht-Verlängerung des meist unsiche- Wohnraum haben. Auch fehlt es an Informationsmate-
ren Status bzw. vor Abschiebung. Der Status der Dul- rialien in der jeweiligen Muttersprache. Die zurzeit ver-
dung bzw. die Angst vor Abschiebung belastet unsere fügbaren werden nicht gelesen, weil sie zu unverständ-
KlientInnen sehr. lich sind oder ganz andere, für MigrantInnen kaum rele-
vante Fragen, ansprechen.
Die Bewegungsfreiheit von AsylbewerberInnen ist
zudem durch eine Regelung, nach der sie sich nur im
DOSSIER Migration & Gesundheit 19
20. Durch unterschiedliche kulturelle Sicht- und Herange- Doch auch Kinderwunsch und Schwangerschaft stellen
hensweisen und Schwerpunktsetzung sind viele Frau- vor dem Hintergrund einer HIV/AIDS-Erkrankung für
en nicht in der Lage, über ihre Situation zu sprechen afrikanische Migrantinnen ein besonderes Problem dar.
und ihre Probleme verständlich zu machen. Auch wenn Kinder sind in afrikanischen Ländern der Mittelpunkt
BeraterInnen sie auf Englisch ansprechen, werden einer Familie. Ohne Kinder ist die Familie unvollständig.
vieles Wichtige nicht verstanden bzw. missverstanden. Da Schwangerschaft und Kinder einen wichtigen Be-
standteil des gesellschaftlichen Lebens darstellen, sind
sie für das Selbstbewusstsein und die soziale Stellung
Isolation
afrikanischer Frauen überaus wichtig. Selbst wenn eine
Viele HIV-positive MigrantInnen leben isoliert. Die
Frau von HIV oder AIDS betroffen ist, wird sie sich kaum
meisten sind in traditionellen afrikanischen Großfamili-
dazu entschließen, keine Kinder zu bekommen, da der
en aufgewachsen, in denen die gesamte Großfamilie
gesellschaftliche Druck enorm groß ist.
Freud und Leid gemeinsam teilt. Das Fehlen dieses
sozialen Netzes ist besonders für die Frauen eine
Doch aufgrund eines großen allgemeinen Informations-
große Belastung. Denn viele von ihnen, die von ihren
mangels haben viele HIV-positive afrikanische Migran-
Familien getrennt leben, müssen nicht nur ihre eigene
tinnen große Ängste, überhaupt schwanger zu werden,
Isolation in der Fremde bewältigen, sondern sehen
obwohl sie gleichzeitig den großen Wunsch haben, ein
sich verantwortlich und sorgen auch für das Wohl ihrer
Kind zu bekommen. Wird ein Baby geboren, stellt sich
Familie - Kinder, Ehemann, Eltern - im Herkunftsland.
die Frage nach einer möglichen HIV-Infektion des Kin-
(Muluneh/Waka 1999:40).
des. Ist das Kind nach Ablauf von 18 Monaten nicht
positiv und hat die Frau ihrerseits eine Therapie noch
HIV-Positive und AIDS-Kranke afrikanische MigrantIn-
nicht begonnen, droht eine Abschiebung. Bei bereits
nen haben zudem Angst von der eigenen Community
bestehender Schwangerschaft besteht nicht selten die
ausgegrenzt zu werden. Sie verheimlichen daher ihre
Angst, den Partner durch Abschiebung oder auf Grund
HIV-Infektion, denn diese wird mit Homosexualität im
seines unsicheren Aufenthaltsstatus zu verlieren und
Falle der Männer und Prostitution im Falle der Frauen
das Neugeborene allein großziehen zu müssen. Bei sich
gleichgesetzt. Dadurch ist die Annahme von medizini-
wiederholenden kurzzeitigen Krankenhausaufenthalten
schen und psychosozialen Angeboten für viele mit
(z.B. Infusionstherapie) besteht der Bedarf einer Kinder-
HIV/AIDS Erkrankte mit zusätzlichen Schwierigkeiten
betreuung.
verbunden (Muluneh/Waka 2000:164).
Schlussfolgerungen für das Gesundheitssys-
Frauenspezifische Probleme tem in Deutschland
Über die allgemeinen aufenthaltsrechtlichen, finanziel-
Obwohl das deutsche Krankenversicherungssystem als
len, sozialen und kulturellen Problemlagen hinaus sind
vorbildlich gilt, zeigen sich in der Praxis beim Umgang
afrikanische Migrantinnen zusätzlich mit genderspezifi-
mit dem einzelnen Menschen Defizite. Die meisten Afri-
schen Problemen und Risikofaktoren konfrontiert. So
kanerinnen sehen das Sprachproblem als Hindernis bei
sind afrikanische Frauen aufgrund kultureller Praktiken
der Inanspruchnahme von Gesundheitsangeboten an.
einem erhöhten Infektionsrisiko mit HIV ausgesetzt.
Es ist ihnen ohne Sprachkenntnisse oder mit nur man-
Z.B. tragen kulturell und religiös verankerte Praktiken
gelhaften deutschen Sprachkenntnissen kaum möglich,
wie weibliche Beschneidung und Polygamie zur Gefahr
vorhandene Informationen aufzunehmen oder eigene
einer HIV-Infektion bei und verhindern darüber hinaus
Befindlichkeiten darzustellen. Ein Gespräch mit einem
eine erfolgreiche Aufklärungs- und Präventionsarbeit.
Arzt gestaltet sich schwierig, wenn man die Symptome
Zwar ist in den letzten Jahren bei vielen Afrikanerinnen
der Krankheit sprachlich nicht artikulieren kann. In der
ein neues Bewusstsein zum Thema Beschneidung
Kommunikation mit dem Ratsuchenden ergeben sich
entstanden, doch immer noch wird Beschneidung in 28
jedoch auch Probleme, die nicht nur sprachliche, son-
afrikanischen Ländern praktiziert. Die Mehrfachbenut-
dern auch geschlechtspezifische oder in der Religion
zung unsteriler Gegenstände bei der Beschneidung
begründete Ursachen haben oder die kulturell, politisch
kann zu einem erhöhten HIV-Infektionsrisiko führen,
oder durch die Schichtzugehörigkeit bedingt sind (ebd.
jedoch gibt es darüber keinerlei gesicherte wissen-
2000:88).
schaftliche Daten.
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