SlideShare ist ein Scribd-Unternehmen logo
1 von 3
Downloaden Sie, um offline zu lesen
Die Synchronisation
Storytelling ist in der Kommunikation eine beliebte Methode – vor
allem im Marketing. Geschichten können aber auch innerhalb von
Organisationen bei Veränderungen hilfreich sein, weil sie zum Beispiel
Orientierung bieten, sagt der Narrationsexperte Patrick Kappeler.
der Wahrnehmungen
Patrick Kappeler
ist Gründer und Geschäftsführer der Storytelling Akademie Schweiz und
des Beratungsunternehmens Leitstern 24/7. Er hat die Digitalisierung der
Unternehmenskommunikation im Bereich Bewegtbild in der Schweiz über
Jahre maßgeblich mitgeprägt. Er berät heute Unternehmen und Organi-
sationen in Veränderungsprozessen mit AI-Diagnostik und narrativen
Methoden.
8 changement!
TOOLKIT
Herr Kappeler, Sie sind Narrationsexperte.
Wie können Geschichten und ihre Entstehung
bei Veränderungsprozessen in Organisationen
helfen?
Sie helfen Organisationen ganz konkret über die
Wirkebene. Der Neurowissenschaftler Uri Hasson
wies 2016 nach, dass der Akt des Erzählens die
Gehirnwellen von Sender und Empfänger syn-
chronisiert. Wir fühlen in einer guten Geschich-
te buchstäblich mit allen Sinnen mit. Eine scharfe
Trennlinie zwischen „nur gehört“ und „selbst er-
lebt” gibt es nicht. Verantwortlich dafür sind unsere
Spiegelneuronen.
Wenn Sie bedenken, dass Geschichten neben der
Informationsebene auch Baupläne des Handelns –
eine Art kodifizierte Hyperrealität – transportieren,
erahnen Sie das wahre Potenzial von Geschichten.
Organisationen, die beginnen, mit Narrativen zu ar-
beiten, also sinnstiftenden Erzählungen, synchroni-
sieren die Wahrnehmung ihrer Mitarbeitenden und
konstituieren eine gemeinsame Wirklichkeit – einen
Resonanzraum. Erfolgreiche Veränderungsprozesse
sind genau mit diesem Resonanzraum in Kontakt.
Das ist mir etwas zu abstrakt. Menschen
mögen tendenziell eher keine Veränderungen.
Wie können Geschichten im Change konkret
helfen, Verhaltensänderungen voranzutreiben?
Wichtig scheint mir, zu verstehen, dass Menschen
deshalb Mühe mit Veränderungen haben, weil sich
die möglichen Konsequenzen meistens schwer ab-
schätzen lassen. Wir wissen nicht, ob das, was ge-
rade passiert, eher unbedeutend oder schon poten-
ziell lebensbedrohlich ist. Das liegt in der Natur der
Sache. Es zahlt sich also evolutionär aus, grundsätz-
lich mal vom Schlimmsten auszugehen, das heißt,
sich kampf- oder fluchtbereit zu machen.
Und dann wundern sich Führungsverantwort­
liche, dass ihre klugen Maßnahmen an der Passivität
oder dem Widerstand der Mitarbeitenden scheitern.
Hier können narrative Methoden einen wichtigen
Beitrag leisten, indem sie Mitarbeitenden Orientie-
rung ermöglichen. Anstatt vom Konzernzusammen­
schluss sprechen wir dann beispielsweise von der
gemeinsamen Gipfelbesteigung zweier Teams, von
neuen Routen, die man zusammen erkunden möch-
te. Narrative machen das Abstrakte konkret und
fassbar.
Gleichzeitig bieten sie jedoch genug Freiraum, die
eigene Erfahrung in Form von Geschichten einzu-
bringen. Wer sich als Teil eines Expeditionsunter-
nehmens versteht, hat eine andere Einstellung als
der Kundenberater, der seine Quartalszahlen erfül-
len muss. Beide gehen sehr unterschiedlich mit Risi-
ken und Chancen um.
Müssen diese Geschichten bzw. Narrative
zwingend partizipativ entwickelt werden?
Wenn das Unternehmen ein vitales „Wir” möch-
te, dann schon. Partizipative Strukturen sind wie
Carbon­fasern – extrem flexibel und widerstands­
fähig. Damit baut man Rennautos. Das Formulieren
von großen Visionen – ich nenne sie Meta-Narrative –
wird jedoch immer eine Einzelleistung bleiben. Hier
besteht in unseren Breitengraden Nachhol­bedarf –
gerade bei Führungsverantwortlichen.
John F. Kennedy sagte 1962: „Bürger dieser gro-
ßen Nation, wir fliegen zum Mond! Wieso? Weil es
schwierig ist!“ Er sagte nicht: „Lasst uns als Erste
eine Rakete mit einer Schubkraft von 3,4 Kilo­tonnen
bauen, drei Menschen ins Weltall schießen und da-
mit die Russen auf ihre Plätze verweisen.“ Eigent-
lich einleuchtend. Aber wenn Sie heute die Zeitun-
gen aufschlagen, werden Sie exakt solche Appelle
hören: „Wir müssen bis 2050 den CO2-Ausstoß um
X Prozent senken“; „Wir müssen 20 Milliarden in
neue Technologien investieren.“
Das funktioniert nicht. Kennedys Narrativ war
bestechend einfach. Wir tun Dinge, weil sie schwie-
rig sind. Punkt. Stellen Sie sich vor, sie hätten Mit-
arbeitende mit genau dieser Einstellung und einem
hungrigen Grinsen im Gesicht. Das ist die Kraft von
Narrativen.
„„Narrative machen das
Abstrakte konkret und
fassbar.
903 APRIL 2020
TOOLKIT
Würden Sie sagen, jeder kann lernen,
Geschichten zu erzählen? Und was hilft eine sol­
che Kompetenz?
Ich wage zu behaupten, dass jeder das lernen
kann. Wenn auch nicht jeder gleich gut. Das tut aber
nichts zur Sache. Wichtiger, als eine Geschichte gut
zu erzählen, ist es, die wirkenden Prinzipien hinter
Geschichten zu begreifen. Menschen kaufen das
Loch in der Wand, nicht den Bohrer. Wer das ver-
standen hat, hat Storytelling begriffen. Die Fähig-
keit, narrativ zu denken, befähigt Menschen neben
der sichtbaren Funktionsebene auch, die verbor-
gene Wirkebene in Überlegungen einzubeziehen.
Daraus ergeben sich automatisch mehr Handlungs-
optionen.
Wer nur eine positivistische Perspektive einnehmen
kann, wird Phänomene wie Trump nicht verstehen,
geschweige denn adäquate Modelle dazu entwickeln
können. Letzteres wird in der Arbeitswelt immer
wichtiger werden, denn wir steuern auf große tek-
tonische Verwerfungen zu: das Ende des humanis-
tischen Fortschritts- und Leistungsnarrativs, der
nahtlose Übergang vom digitalen ins Informations­
zeitalter mit multiplen konkurrierenden Wirklich-
keiten und eine klimatische Verschiebung von Res-
sourcen.
Sie nutzen als Narrationsexperte auch Künst­
liche Intelligenz. Wie kam es dazu?
Über einen heftigen Streit auf einem Storytelling-­
Workshop zum Thema Transformation. Ich bat
damals die Teilnehmer – Mitglieder der Konzern-
leitung –, das Unternehmen in eines von vier psy-
chologischen Basis-Profilen einzuordnen. Die Auf-
gabe ist eigentlich eine einfache Aufwärmübung.
Was dann passierte, überraschte mich aber: Jede
der drei Gruppen präsentierte das Unternehmen
in einem anderen Profil. Es gab auf einer funda-
mentalen Ebene keinen Konsens darüber, wer sie
waren. Während ich dem eskalierenden Schlag­
abtausch der Gruppen lauschte, begann in mir ein
Gedanke Form anzunehmen: Was wäre, wenn sich
die Kommunikation eines Unternehmens in Echt-
zeit analysieren ließe? Könnte ich daraus nicht eine
Karte der versteckt wirkenden Kräfte erstellen
– eine Art GPS-System für C-Level? Mein erster
Artificial Intelligence-Profiler für die Organisations-
entwicklung war geboren.
Interessant, dass Sie nicht zuerst an eine Kul­
turanalyse mittels Befragungen und Interviews
gedacht haben. Warum die Analyse von Echtzeit-­
Kommunikation?
Ich habe daran gedacht – für ein paar Se-
kunden. Eine Kulturanalyse ist ein kraftvolles
Instru­ment, aber auch eine invasive Methode.
Nicht alle Kunden wollen gleich einen Experten
im Haus, der vielleicht unangenehme Fragen
stellt. Da müssen die Schmerzen schon groß sein.
Der AI-Profiler hingegen ähnelt eher einem un-
auffälligen Computertomografen. Noch während
sich der Kunde zu mir an den Tisch setzt, kartogra-
fiert der Profiler im Hintergrund die gesamte ver-
fügbare Kommunikation und errechnet ein Profil.
Meine Kunden schlucken dann erst mal, sind dann
aber sofort Feuer und Flamme. Die Auswertungen
mithilfe der Algorithmen bestätigen ja meist, was
sie eh schon ahnten. Der Profiler gibt Orientierung.
Die AI-Diagnostik steckt derzeit aber noch in
den Kinderschuhen. Wir werden erst in zwei bis
drei Jahren wissen, wohin die Reise führt. Wichtig
ist, dass wir als Menschen die Deutungshoheit über
die Daten und damit auch die Verantwortung nie an
Maschinen delegieren – auch nicht an vermeintlich
kluge. Das wäre der Anfang vom Ende.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Jan C. Weilbacher
„„Menschen kaufen das
Loch in der Wand, nicht
den Bohrer.
Wer das verstanden hat,
hat Storytelling begriffen.
10 changement!
TOOLKIT

Weitere ähnliche Inhalte

Ähnlich wie Interview Patrick Kappeler CHANGE-Magazin Narrative und Unternehmen

Interne Kommunikation im Fokus 2014/01
Interne Kommunikation im Fokus 2014/01Interne Kommunikation im Fokus 2014/01
Interne Kommunikation im Fokus 2014/01Ulrich Hinsen
 
Vortrag Leipziger Gespräche final
Vortrag Leipziger Gespräche finalVortrag Leipziger Gespräche final
Vortrag Leipziger Gespräche finalAlfred Fuhr
 
Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...
Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...
Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...Beck et al. GmbH
 
JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivieren
 JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivieren JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivieren
JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivierenJP KOM GmbH
 
Lj1 innovation ganzheitlich denken 2.2 facilitate change - neue formen brau...
Lj1 innovation ganzheitlich denken   2.2 facilitate change - neue formen brau...Lj1 innovation ganzheitlich denken   2.2 facilitate change - neue formen brau...
Lj1 innovation ganzheitlich denken 2.2 facilitate change - neue formen brau...Changemaker-Journeys
 
Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen
Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen
Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen Ingo Sauer
 
Sharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance Magazin
Sharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance MagazinSharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance Magazin
Sharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance MagazinHarald Schirmer
 
Via 09 2013 miriam meckel
Via 09 2013 miriam meckelVia 09 2013 miriam meckel
Via 09 2013 miriam meckelGaston Haas
 
Jobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media Universität Marburg
Jobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media  Universität MarburgJobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media  Universität Marburg
Jobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media Universität MarburgSimone Janson
 
Journalismus Basics On- und Offline
Journalismus Basics On- und OfflineJournalismus Basics On- und Offline
Journalismus Basics On- und OfflineGerhard Rettenegger
 
Storytelling im Content- und Empfehlungsmarketing
Storytelling im Content- und EmpfehlungsmarketingStorytelling im Content- und Empfehlungsmarketing
Storytelling im Content- und EmpfehlungsmarketingAnne M. Schüller
 
RoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design Thinking
RoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design ThinkingRoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design Thinking
RoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design ThinkingUSECON
 

Ähnlich wie Interview Patrick Kappeler CHANGE-Magazin Narrative und Unternehmen (20)

BrandCamp#2
BrandCamp#2BrandCamp#2
BrandCamp#2
 
Interne Kommunikation im Fokus 2014/01
Interne Kommunikation im Fokus 2014/01Interne Kommunikation im Fokus 2014/01
Interne Kommunikation im Fokus 2014/01
 
IK im Fokus 1/2014
IK im Fokus 1/2014IK im Fokus 1/2014
IK im Fokus 1/2014
 
Vortrag Leipziger Gespräche final
Vortrag Leipziger Gespräche finalVortrag Leipziger Gespräche final
Vortrag Leipziger Gespräche final
 
Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...
Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...
Vortrag Gemeinschaftsgefühl verzweifelt gesucht fuer das Alfred Adler Institu...
 
JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivieren
 JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivieren JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivieren
JP│KOM News-Service 4/14: Werttreibende Issues erkennen und aktivieren
 
Insights Mood & Mind
Insights Mood & MindInsights Mood & Mind
Insights Mood & Mind
 
Das Design humaner Unternehmen
Das Design humaner UnternehmenDas Design humaner Unternehmen
Das Design humaner Unternehmen
 
Das Design humaner Unternehmen
Das Design humaner UnternehmenDas Design humaner Unternehmen
Das Design humaner Unternehmen
 
Startup 101
Startup 101Startup 101
Startup 101
 
f/21 Quarterly Q4|2015
f/21 Quarterly Q4|2015f/21 Quarterly Q4|2015
f/21 Quarterly Q4|2015
 
UX & Storytelling
UX & StorytellingUX & Storytelling
UX & Storytelling
 
Lj1 innovation ganzheitlich denken 2.2 facilitate change - neue formen brau...
Lj1 innovation ganzheitlich denken   2.2 facilitate change - neue formen brau...Lj1 innovation ganzheitlich denken   2.2 facilitate change - neue formen brau...
Lj1 innovation ganzheitlich denken 2.2 facilitate change - neue formen brau...
 
Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen
Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen
Integrierte Kommunikation in Veränderungsprozessen
 
Sharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance Magazin
Sharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance MagazinSharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance Magazin
Sharing fängt mit geben an - Interview im HR Performance Magazin
 
Via 09 2013 miriam meckel
Via 09 2013 miriam meckelVia 09 2013 miriam meckel
Via 09 2013 miriam meckel
 
Jobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media Universität Marburg
Jobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media  Universität MarburgJobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media  Universität Marburg
Jobsuche, Networking & Selbstvermarktung mit Social Media Universität Marburg
 
Journalismus Basics On- und Offline
Journalismus Basics On- und OfflineJournalismus Basics On- und Offline
Journalismus Basics On- und Offline
 
Storytelling im Content- und Empfehlungsmarketing
Storytelling im Content- und EmpfehlungsmarketingStorytelling im Content- und Empfehlungsmarketing
Storytelling im Content- und Empfehlungsmarketing
 
RoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design Thinking
RoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design ThinkingRoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design Thinking
RoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design Thinking
 

Interview Patrick Kappeler CHANGE-Magazin Narrative und Unternehmen

  • 1. Die Synchronisation Storytelling ist in der Kommunikation eine beliebte Methode – vor allem im Marketing. Geschichten können aber auch innerhalb von Organisationen bei Veränderungen hilfreich sein, weil sie zum Beispiel Orientierung bieten, sagt der Narrationsexperte Patrick Kappeler. der Wahrnehmungen Patrick Kappeler ist Gründer und Geschäftsführer der Storytelling Akademie Schweiz und des Beratungsunternehmens Leitstern 24/7. Er hat die Digitalisierung der Unternehmenskommunikation im Bereich Bewegtbild in der Schweiz über Jahre maßgeblich mitgeprägt. Er berät heute Unternehmen und Organi- sationen in Veränderungsprozessen mit AI-Diagnostik und narrativen Methoden. 8 changement! TOOLKIT
  • 2. Herr Kappeler, Sie sind Narrationsexperte. Wie können Geschichten und ihre Entstehung bei Veränderungsprozessen in Organisationen helfen? Sie helfen Organisationen ganz konkret über die Wirkebene. Der Neurowissenschaftler Uri Hasson wies 2016 nach, dass der Akt des Erzählens die Gehirnwellen von Sender und Empfänger syn- chronisiert. Wir fühlen in einer guten Geschich- te buchstäblich mit allen Sinnen mit. Eine scharfe Trennlinie zwischen „nur gehört“ und „selbst er- lebt” gibt es nicht. Verantwortlich dafür sind unsere Spiegelneuronen. Wenn Sie bedenken, dass Geschichten neben der Informationsebene auch Baupläne des Handelns – eine Art kodifizierte Hyperrealität – transportieren, erahnen Sie das wahre Potenzial von Geschichten. Organisationen, die beginnen, mit Narrativen zu ar- beiten, also sinnstiftenden Erzählungen, synchroni- sieren die Wahrnehmung ihrer Mitarbeitenden und konstituieren eine gemeinsame Wirklichkeit – einen Resonanzraum. Erfolgreiche Veränderungsprozesse sind genau mit diesem Resonanzraum in Kontakt. Das ist mir etwas zu abstrakt. Menschen mögen tendenziell eher keine Veränderungen. Wie können Geschichten im Change konkret helfen, Verhaltensänderungen voranzutreiben? Wichtig scheint mir, zu verstehen, dass Menschen deshalb Mühe mit Veränderungen haben, weil sich die möglichen Konsequenzen meistens schwer ab- schätzen lassen. Wir wissen nicht, ob das, was ge- rade passiert, eher unbedeutend oder schon poten- ziell lebensbedrohlich ist. Das liegt in der Natur der Sache. Es zahlt sich also evolutionär aus, grundsätz- lich mal vom Schlimmsten auszugehen, das heißt, sich kampf- oder fluchtbereit zu machen. Und dann wundern sich Führungsverantwort­ liche, dass ihre klugen Maßnahmen an der Passivität oder dem Widerstand der Mitarbeitenden scheitern. Hier können narrative Methoden einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Mitarbeitenden Orientie- rung ermöglichen. Anstatt vom Konzernzusammen­ schluss sprechen wir dann beispielsweise von der gemeinsamen Gipfelbesteigung zweier Teams, von neuen Routen, die man zusammen erkunden möch- te. Narrative machen das Abstrakte konkret und fassbar. Gleichzeitig bieten sie jedoch genug Freiraum, die eigene Erfahrung in Form von Geschichten einzu- bringen. Wer sich als Teil eines Expeditionsunter- nehmens versteht, hat eine andere Einstellung als der Kundenberater, der seine Quartalszahlen erfül- len muss. Beide gehen sehr unterschiedlich mit Risi- ken und Chancen um. Müssen diese Geschichten bzw. Narrative zwingend partizipativ entwickelt werden? Wenn das Unternehmen ein vitales „Wir” möch- te, dann schon. Partizipative Strukturen sind wie Carbon­fasern – extrem flexibel und widerstands­ fähig. Damit baut man Rennautos. Das Formulieren von großen Visionen – ich nenne sie Meta-Narrative – wird jedoch immer eine Einzelleistung bleiben. Hier besteht in unseren Breitengraden Nachhol­bedarf – gerade bei Führungsverantwortlichen. John F. Kennedy sagte 1962: „Bürger dieser gro- ßen Nation, wir fliegen zum Mond! Wieso? Weil es schwierig ist!“ Er sagte nicht: „Lasst uns als Erste eine Rakete mit einer Schubkraft von 3,4 Kilo­tonnen bauen, drei Menschen ins Weltall schießen und da- mit die Russen auf ihre Plätze verweisen.“ Eigent- lich einleuchtend. Aber wenn Sie heute die Zeitun- gen aufschlagen, werden Sie exakt solche Appelle hören: „Wir müssen bis 2050 den CO2-Ausstoß um X Prozent senken“; „Wir müssen 20 Milliarden in neue Technologien investieren.“ Das funktioniert nicht. Kennedys Narrativ war bestechend einfach. Wir tun Dinge, weil sie schwie- rig sind. Punkt. Stellen Sie sich vor, sie hätten Mit- arbeitende mit genau dieser Einstellung und einem hungrigen Grinsen im Gesicht. Das ist die Kraft von Narrativen. „„Narrative machen das Abstrakte konkret und fassbar. 903 APRIL 2020 TOOLKIT
  • 3. Würden Sie sagen, jeder kann lernen, Geschichten zu erzählen? Und was hilft eine sol­ che Kompetenz? Ich wage zu behaupten, dass jeder das lernen kann. Wenn auch nicht jeder gleich gut. Das tut aber nichts zur Sache. Wichtiger, als eine Geschichte gut zu erzählen, ist es, die wirkenden Prinzipien hinter Geschichten zu begreifen. Menschen kaufen das Loch in der Wand, nicht den Bohrer. Wer das ver- standen hat, hat Storytelling begriffen. Die Fähig- keit, narrativ zu denken, befähigt Menschen neben der sichtbaren Funktionsebene auch, die verbor- gene Wirkebene in Überlegungen einzubeziehen. Daraus ergeben sich automatisch mehr Handlungs- optionen. Wer nur eine positivistische Perspektive einnehmen kann, wird Phänomene wie Trump nicht verstehen, geschweige denn adäquate Modelle dazu entwickeln können. Letzteres wird in der Arbeitswelt immer wichtiger werden, denn wir steuern auf große tek- tonische Verwerfungen zu: das Ende des humanis- tischen Fortschritts- und Leistungsnarrativs, der nahtlose Übergang vom digitalen ins Informations­ zeitalter mit multiplen konkurrierenden Wirklich- keiten und eine klimatische Verschiebung von Res- sourcen. Sie nutzen als Narrationsexperte auch Künst­ liche Intelligenz. Wie kam es dazu? Über einen heftigen Streit auf einem Storytelling-­ Workshop zum Thema Transformation. Ich bat damals die Teilnehmer – Mitglieder der Konzern- leitung –, das Unternehmen in eines von vier psy- chologischen Basis-Profilen einzuordnen. Die Auf- gabe ist eigentlich eine einfache Aufwärmübung. Was dann passierte, überraschte mich aber: Jede der drei Gruppen präsentierte das Unternehmen in einem anderen Profil. Es gab auf einer funda- mentalen Ebene keinen Konsens darüber, wer sie waren. Während ich dem eskalierenden Schlag­ abtausch der Gruppen lauschte, begann in mir ein Gedanke Form anzunehmen: Was wäre, wenn sich die Kommunikation eines Unternehmens in Echt- zeit analysieren ließe? Könnte ich daraus nicht eine Karte der versteckt wirkenden Kräfte erstellen – eine Art GPS-System für C-Level? Mein erster Artificial Intelligence-Profiler für die Organisations- entwicklung war geboren. Interessant, dass Sie nicht zuerst an eine Kul­ turanalyse mittels Befragungen und Interviews gedacht haben. Warum die Analyse von Echtzeit-­ Kommunikation? Ich habe daran gedacht – für ein paar Se- kunden. Eine Kulturanalyse ist ein kraftvolles Instru­ment, aber auch eine invasive Methode. Nicht alle Kunden wollen gleich einen Experten im Haus, der vielleicht unangenehme Fragen stellt. Da müssen die Schmerzen schon groß sein. Der AI-Profiler hingegen ähnelt eher einem un- auffälligen Computertomografen. Noch während sich der Kunde zu mir an den Tisch setzt, kartogra- fiert der Profiler im Hintergrund die gesamte ver- fügbare Kommunikation und errechnet ein Profil. Meine Kunden schlucken dann erst mal, sind dann aber sofort Feuer und Flamme. Die Auswertungen mithilfe der Algorithmen bestätigen ja meist, was sie eh schon ahnten. Der Profiler gibt Orientierung. Die AI-Diagnostik steckt derzeit aber noch in den Kinderschuhen. Wir werden erst in zwei bis drei Jahren wissen, wohin die Reise führt. Wichtig ist, dass wir als Menschen die Deutungshoheit über die Daten und damit auch die Verantwortung nie an Maschinen delegieren – auch nicht an vermeintlich kluge. Das wäre der Anfang vom Ende. Vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Jan C. Weilbacher „„Menschen kaufen das Loch in der Wand, nicht den Bohrer. Wer das verstanden hat, hat Storytelling begriffen. 10 changement! TOOLKIT