Die Fähig- keit, narrativ zu denken, befähigt Menschen neben der sichtbaren Funktionsebene auch, die verbor- gene Wirkebene in Überlegungen einzubeziehen. Daraus ergeben sich automatisch mehr Handlungs- optionen.
RoX 2017 - Customer Experiencing: Community Design Thinking
Interview Patrick Kappeler CHANGE-Magazin Narrative und Unternehmen
1. Die Synchronisation
Storytelling ist in der Kommunikation eine beliebte Methode – vor
allem im Marketing. Geschichten können aber auch innerhalb von
Organisationen bei Veränderungen hilfreich sein, weil sie zum Beispiel
Orientierung bieten, sagt der Narrationsexperte Patrick Kappeler.
der Wahrnehmungen
Patrick Kappeler
ist Gründer und Geschäftsführer der Storytelling Akademie Schweiz und
des Beratungsunternehmens Leitstern 24/7. Er hat die Digitalisierung der
Unternehmenskommunikation im Bereich Bewegtbild in der Schweiz über
Jahre maßgeblich mitgeprägt. Er berät heute Unternehmen und Organi-
sationen in Veränderungsprozessen mit AI-Diagnostik und narrativen
Methoden.
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2. Herr Kappeler, Sie sind Narrationsexperte.
Wie können Geschichten und ihre Entstehung
bei Veränderungsprozessen in Organisationen
helfen?
Sie helfen Organisationen ganz konkret über die
Wirkebene. Der Neurowissenschaftler Uri Hasson
wies 2016 nach, dass der Akt des Erzählens die
Gehirnwellen von Sender und Empfänger syn-
chronisiert. Wir fühlen in einer guten Geschich-
te buchstäblich mit allen Sinnen mit. Eine scharfe
Trennlinie zwischen „nur gehört“ und „selbst er-
lebt” gibt es nicht. Verantwortlich dafür sind unsere
Spiegelneuronen.
Wenn Sie bedenken, dass Geschichten neben der
Informationsebene auch Baupläne des Handelns –
eine Art kodifizierte Hyperrealität – transportieren,
erahnen Sie das wahre Potenzial von Geschichten.
Organisationen, die beginnen, mit Narrativen zu ar-
beiten, also sinnstiftenden Erzählungen, synchroni-
sieren die Wahrnehmung ihrer Mitarbeitenden und
konstituieren eine gemeinsame Wirklichkeit – einen
Resonanzraum. Erfolgreiche Veränderungsprozesse
sind genau mit diesem Resonanzraum in Kontakt.
Das ist mir etwas zu abstrakt. Menschen
mögen tendenziell eher keine Veränderungen.
Wie können Geschichten im Change konkret
helfen, Verhaltensänderungen voranzutreiben?
Wichtig scheint mir, zu verstehen, dass Menschen
deshalb Mühe mit Veränderungen haben, weil sich
die möglichen Konsequenzen meistens schwer ab-
schätzen lassen. Wir wissen nicht, ob das, was ge-
rade passiert, eher unbedeutend oder schon poten-
ziell lebensbedrohlich ist. Das liegt in der Natur der
Sache. Es zahlt sich also evolutionär aus, grundsätz-
lich mal vom Schlimmsten auszugehen, das heißt,
sich kampf- oder fluchtbereit zu machen.
Und dann wundern sich Führungsverantwort
liche, dass ihre klugen Maßnahmen an der Passivität
oder dem Widerstand der Mitarbeitenden scheitern.
Hier können narrative Methoden einen wichtigen
Beitrag leisten, indem sie Mitarbeitenden Orientie-
rung ermöglichen. Anstatt vom Konzernzusammen
schluss sprechen wir dann beispielsweise von der
gemeinsamen Gipfelbesteigung zweier Teams, von
neuen Routen, die man zusammen erkunden möch-
te. Narrative machen das Abstrakte konkret und
fassbar.
Gleichzeitig bieten sie jedoch genug Freiraum, die
eigene Erfahrung in Form von Geschichten einzu-
bringen. Wer sich als Teil eines Expeditionsunter-
nehmens versteht, hat eine andere Einstellung als
der Kundenberater, der seine Quartalszahlen erfül-
len muss. Beide gehen sehr unterschiedlich mit Risi-
ken und Chancen um.
Müssen diese Geschichten bzw. Narrative
zwingend partizipativ entwickelt werden?
Wenn das Unternehmen ein vitales „Wir” möch-
te, dann schon. Partizipative Strukturen sind wie
Carbonfasern – extrem flexibel und widerstands
fähig. Damit baut man Rennautos. Das Formulieren
von großen Visionen – ich nenne sie Meta-Narrative –
wird jedoch immer eine Einzelleistung bleiben. Hier
besteht in unseren Breitengraden Nachholbedarf –
gerade bei Führungsverantwortlichen.
John F. Kennedy sagte 1962: „Bürger dieser gro-
ßen Nation, wir fliegen zum Mond! Wieso? Weil es
schwierig ist!“ Er sagte nicht: „Lasst uns als Erste
eine Rakete mit einer Schubkraft von 3,4 Kilotonnen
bauen, drei Menschen ins Weltall schießen und da-
mit die Russen auf ihre Plätze verweisen.“ Eigent-
lich einleuchtend. Aber wenn Sie heute die Zeitun-
gen aufschlagen, werden Sie exakt solche Appelle
hören: „Wir müssen bis 2050 den CO2-Ausstoß um
X Prozent senken“; „Wir müssen 20 Milliarden in
neue Technologien investieren.“
Das funktioniert nicht. Kennedys Narrativ war
bestechend einfach. Wir tun Dinge, weil sie schwie-
rig sind. Punkt. Stellen Sie sich vor, sie hätten Mit-
arbeitende mit genau dieser Einstellung und einem
hungrigen Grinsen im Gesicht. Das ist die Kraft von
Narrativen.
„„Narrative machen das
Abstrakte konkret und
fassbar.
903 APRIL 2020
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3. Würden Sie sagen, jeder kann lernen,
Geschichten zu erzählen? Und was hilft eine sol
che Kompetenz?
Ich wage zu behaupten, dass jeder das lernen
kann. Wenn auch nicht jeder gleich gut. Das tut aber
nichts zur Sache. Wichtiger, als eine Geschichte gut
zu erzählen, ist es, die wirkenden Prinzipien hinter
Geschichten zu begreifen. Menschen kaufen das
Loch in der Wand, nicht den Bohrer. Wer das ver-
standen hat, hat Storytelling begriffen. Die Fähig-
keit, narrativ zu denken, befähigt Menschen neben
der sichtbaren Funktionsebene auch, die verbor-
gene Wirkebene in Überlegungen einzubeziehen.
Daraus ergeben sich automatisch mehr Handlungs-
optionen.
Wer nur eine positivistische Perspektive einnehmen
kann, wird Phänomene wie Trump nicht verstehen,
geschweige denn adäquate Modelle dazu entwickeln
können. Letzteres wird in der Arbeitswelt immer
wichtiger werden, denn wir steuern auf große tek-
tonische Verwerfungen zu: das Ende des humanis-
tischen Fortschritts- und Leistungsnarrativs, der
nahtlose Übergang vom digitalen ins Informations
zeitalter mit multiplen konkurrierenden Wirklich-
keiten und eine klimatische Verschiebung von Res-
sourcen.
Sie nutzen als Narrationsexperte auch Künst
liche Intelligenz. Wie kam es dazu?
Über einen heftigen Streit auf einem Storytelling-
Workshop zum Thema Transformation. Ich bat
damals die Teilnehmer – Mitglieder der Konzern-
leitung –, das Unternehmen in eines von vier psy-
chologischen Basis-Profilen einzuordnen. Die Auf-
gabe ist eigentlich eine einfache Aufwärmübung.
Was dann passierte, überraschte mich aber: Jede
der drei Gruppen präsentierte das Unternehmen
in einem anderen Profil. Es gab auf einer funda-
mentalen Ebene keinen Konsens darüber, wer sie
waren. Während ich dem eskalierenden Schlag
abtausch der Gruppen lauschte, begann in mir ein
Gedanke Form anzunehmen: Was wäre, wenn sich
die Kommunikation eines Unternehmens in Echt-
zeit analysieren ließe? Könnte ich daraus nicht eine
Karte der versteckt wirkenden Kräfte erstellen
– eine Art GPS-System für C-Level? Mein erster
Artificial Intelligence-Profiler für die Organisations-
entwicklung war geboren.
Interessant, dass Sie nicht zuerst an eine Kul
turanalyse mittels Befragungen und Interviews
gedacht haben. Warum die Analyse von Echtzeit-
Kommunikation?
Ich habe daran gedacht – für ein paar Se-
kunden. Eine Kulturanalyse ist ein kraftvolles
Instrument, aber auch eine invasive Methode.
Nicht alle Kunden wollen gleich einen Experten
im Haus, der vielleicht unangenehme Fragen
stellt. Da müssen die Schmerzen schon groß sein.
Der AI-Profiler hingegen ähnelt eher einem un-
auffälligen Computertomografen. Noch während
sich der Kunde zu mir an den Tisch setzt, kartogra-
fiert der Profiler im Hintergrund die gesamte ver-
fügbare Kommunikation und errechnet ein Profil.
Meine Kunden schlucken dann erst mal, sind dann
aber sofort Feuer und Flamme. Die Auswertungen
mithilfe der Algorithmen bestätigen ja meist, was
sie eh schon ahnten. Der Profiler gibt Orientierung.
Die AI-Diagnostik steckt derzeit aber noch in
den Kinderschuhen. Wir werden erst in zwei bis
drei Jahren wissen, wohin die Reise führt. Wichtig
ist, dass wir als Menschen die Deutungshoheit über
die Daten und damit auch die Verantwortung nie an
Maschinen delegieren – auch nicht an vermeintlich
kluge. Das wäre der Anfang vom Ende.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Jan C. Weilbacher
„„Menschen kaufen das
Loch in der Wand, nicht
den Bohrer.
Wer das verstanden hat,
hat Storytelling begriffen.
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