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Wie die Tiere
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Wie die Tiere
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Wie die Tiere
Wie die Tiere
Michael Hafner
kbex micropublishing
http://www.kbex.eu
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Wie die Tiere
 2009
made with an EEE PC, Open Office and
The Gimp
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Wie die Tiere
Einleitung
Wir wissen scheinbar alles. Den Rest koennen wir scheinbar 
leicht recherchieren, denn wir sind scheinbar gut vernetzt und 
scheinbar mit vielen befreundet. 
Was davon hilft uns wirklich? Und warum kommt hier das Wort 
"scheinbar" so oft vor? 
Vier wichtige Punkte praege jene Kommunikationsformen, mit 
der wir heute leben ­ ein unentwirrbares Geflecht aus 
persoenlichen, virtuellen, eingebildeten, realen, erfahrenen, 
kopierten, erzwungenen oder ertraeumten Beziehungen. 
1 
Nichts hat Bedeutung ­ weder Worte, noch Ereignisse. Es sei 
denn, wir erzeugen eine. Fuer sich genommen sind Handlungen 
oder Aussagen schlicht nichts; Sinn und Bedeutung entstehen 
erst spaeter in dem, was wir daraus machen. 
Waere es anders ­ Historiker waeren Propheten (denn statt der 
nachtraeglichen Erforschung von Bedeutung von Ereignissen 
koennte dann ja deren zukuenftige Bedeutung vorausgesagt 
werden) und Geschwaetzigkeit waere wichtiger als 
Handlungsbereitschaft. 
2
Ohne Bedeutung wollen wir nicht leben, deshalb spekulieren 
wir. Wir schreiben Dingen und Aussagen Bedeutung zu und 
machen sie damit fuer uns nutzbar. Das hat keinen direkten 
5
Wie die Tiere
Zusammenhang zu den Dingen und Aussagen selbst, im 
Gegenteil: Je entfernter die von uns sind, desto leichter tun wir 
uns damit, kreativen Sinn dazu zu spekulieren ­ denn das 
Risiko, dass wir dem Beweis fuer die Falschheit unserer 
Annahmen begegnen, sinkt proportional zur Wahrscheinlicheit, 
dem Gegenstand unserer Annahmen zu begegnen. 
Je weniger wir von etwas wissen, desto sicherer sind wir uns 
dabei. 
3 
Bedeutung ist also moeglich, ist aber eher eine Eigenschaft 
unserer Vorstellungen als dessen, womit wir uns beschaeftigen. 
Was bedeutet (!) das fuer die Entstehung von 
Zusammenhaengen, fuer Ursache und Wirkung? Wir koennen 
Zusammenhaenge beobachten, aber wissen wir, was dabei 
Ursache ist und was Wirkung? Wie kommen wir von einer 
Aussage zu deren Bedeutung und weiter zu einer Wirkung, also 
etwa einer Handlung? Wie erfassen wir diese Zusammenhaenge 
und wie machen wir sie fuer uns nutzbar? 
Beziehungen bedingen die Entstehung von Bedeutung; 
Veraenderungen in Beziehungen und deren Grundlagen 
aendern damit die nur die Entstehung, sondern auch den 
Inhalt von Bedeutung.
Exemplarisch laesst sich das anhand neuer Online Medien 
darstellen: Was bedeuten die vielfaeltigen Beziehungen und 
Situationen, die Moeglichkeiten, Content mit endlosem Kontext 
aufzuladen oder ihn umgekehrt vollends aus diesem 
herauszuloesen, fuer die Entstehung und den Wert von Sinn 
und Bedeutung? Worauf koennen wir uns verlassen, worauf 
koennen wir uns in dieser Vielfalt verlassen? 
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Wie die Tiere
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Weil es egal ist, wenn grundsaetzlich alles Verhandlungssache 
ist, koennten wir auch das Problem der Bedeutung beiseite 
schieben. Nur begegnen uns immer wieder, trotz allem, 
Situationen, Sinnzusammenhaenge, Werte, die nicht zur 
Diskussion stehen. Rein rational betrachtet ­ um mir selbst 
gleich zu widersprechen ­, vielleicht schon, aber die theoretische 
Hinterfragbarkeit verblasst vor der einfach praesenten 
Oberflaeche. 
Etwas gefaellt uns oder nicht, wir moegen jemanden oder nicht 
­ und das entscheiden wir, innerhalb unserer Welt, in der der 
andere eine statische Randfigur ist. "Wir" begegnen "uns" nicht 
"wirklich", waehrend wir uns fuer komplex, besonders, oder 
auch nur besonders gewoehnlich halten, sind wir fuer den 
anderen eine voruebergehende Erscheinung. Jemanden so auf 
die Oberflaeche zu reduzieren ­ ist das gemein (weil wir 
vereinfachen) oder respektvoll (weil wir annehmen, was da ist)? 
Hier beginnt die Runde wieder von vorne (s. Punkt 1). 
Wie die Tiere geht der Frage nach, warum dennoch Dinge, die 
wir sagen, fragen oder behaupten, Bedeutung haben. Und weil 
Fragen auch mehr zaehlen als Antworten, ebenso der Frage, wie 
wir uns verstaendlich machen koennen. 
"Wie die Tiere" bedeutet hier unwissend, auf unklare Weise 
anders, nicht wir, offen, unvoreingennommen. Das kann ein 
angemessener Zustand sein. 
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Wie die Tiere
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Wie die Tiere
Einleitung..............................................................................................5
Ausgangslage.....................................................................................11
Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht. Das ist die beste
Voraussetzung fuer ein gutes Gespraech. ....................................11
Differenz: Visualisierung im Streit..................................................14
Immer Herausfordern.....................................................................16
Wie Ideen beschreiben..................................................................17
Schaffen bedeutet immer verlieren................................................18
Wie koennen wir die Seiten wechseln? .........................................20
Sie sind anders..............................................................................20
Sie meinen es anders....................................................................21
Distanz befreit................................................................................25
Festlegende Systematik: Spekulation als Befreiung,
zuschreibendes Erkennen als Festsetzung...................................26
Medien und Gemeinplaetze: Wir wissen und verstehen nur, was wir
immer schon gewusst haben.........................................................29
Varianten: Was machen wir aus dieser Situation?.........................33
Einsiedelei ist eine Option..............................................................34
Abgrenzung ist Bezugnahme und Bestatetigung...........................35
Wir sind nicht allein........................................................................38
Distanz und Flexibilitaet: Je weniger wir wissen, desto sicherer sind
wir...................................................................................................39
Primat der Oberflaeche..................................................................44
Folgen der Praesenz: Wehrlosigkeit..............................................46
Folgen der Praesenz: Selbstbehauptung.......................................47
Begriffsbildung: Warum heisst das, was wir sagen, ueberhaupt
etwas und nicht vielmehr nichts? ..................................................50
Und wie koennen wir uns trotzdem verstaendigen?......................51
Tiere werden konditioniert – Wollen wir Menschen tatsaechlich
verstehen? ....................................................................................55
Philosophische Kompetenzen........................................................56
Vermutungen: Wie koennen wir verstehen? Wie koennen wir uns
verstaendigen? .................................................................................59
Oberflaechen..................................................................................60
“Wie er wirklich war”.......................................................................60
Bezug des Ich auf etwas................................................................62
Reduktion auf das Ich....................................................................63
Gewaltakt des Konsens und Macht des Durchschnittlichen, das
keiner will.......................................................................................65
Verstehen, dass es anderes gibt ...................................................67
Erklaeren von Neuem durch Bekanntes ist Reduktion...................73
Mushin: “Nicht mehr denken”.........................................................78
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Wie die Tiere
Was ist schon neu? .......................................................................80
Unterschiede in der Naehe wahrnehmen.......................................82
Welcher Spielraum bleibt dabei fuer Neuigkeiten? .......................83
Dissens ist Effizienz – abhaengig von der Perspektive..................84
Extrapolation und Spiele................................................................85
Die Kunst, den Faden nicht verlieren.............................................87
Rhetorik im Verdacht......................................................................91
Gute Gedanken ausdruecken: mashup.........................................93
Wir muessen trotzdem miteinander reden.....................................97
Muster als Kommunikationsstrategie – pragmatische Allegorien.100
Entscheidungsoptionen................................................................101
Perspektiven wechseln...................................................................103
Allegorien als ein Mittel, Distanz herzustellen – und das befreit..106
Standardisierung von Mustern......................................................111
Anleitungen, Muster, Missverstaendnisse....................................116
Verhandlungssache......................................................................123
Orientierung, Bildung von Perspektiven.......................................128
Was zaehlt ist die Oberflaeche.....................................................128
Was heisst etwas zaehlt? ............................................................131
Genauso unbeschwert umgehen wie mit Tieren – Signale ernst
nehmen........................................................................................134
Keine Dualitaet, kein Zusammenfuehren, keine Wahrheit...........135
Anstelle unvermittelter Gemeinsamkeit tritt das Wissen, dass alles
Verhandlungssache ist – auch die letzten Gruende ....................136
Offensichtlich reden wir trotzdem.................................................137
Ein Bild des anderen machen, in dem die Dinge zusammen passen
.....................................................................................................139
Perspektiven.....................................................................................141
Kann so viel passieren, wie geredet wird?...................................144
Bedeutung entsteht spaeter.........................................................145
“Die” erzeugen “uns”....................................................................146
Ein paar Grundsaetze..................................................................158
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Wie die Tiere
Ausgangslage
Wir verstehen Sie nicht, Sie
verstehen uns nicht. Das ist die
beste Voraussetzung fuer ein gutes
Gespraech.
“Ich   verstehe   schon.”   Diese   drei   Worte   sind   eine   gefährliche 
Drohung, sie beenden ein Gespraech, sie kuerzen Erklaerungen 
ab und sie signalisieren, dass derjenige, der sie ausspricht, sich 
bereits ein Bild gemacht hat. 
Ein   Bild,   das   nur   sehr   schwer   zu   erreichen   und   kaum   zu 
aendern ist. Je sicherer wir einer Sache sind, desto schneller 
machen wir uns ein Bild. Je schneller wir uns ein Bild machen, 
desto weniger ist uns bewusst, dass wir uns ein Bild machen, 
dass   wir   in   unseren   Gedanken   und   Worten   eine   Welt 
konstruieren,   die   von   der   Welt   draussen,   von   der   Welt   des 
anderen, der uns etwas zeigen wollte, verschieden ist. 
Je sicherer wir also einer Sache sind, desto wahrscheinlicher 
liegen wir damit falsch. 
“Du bist doch so ein Landwirtschaftsfreak”, sagte eine 
Kollegin gestern zu mir – voraussetzend, dass ich mich 
als   Ex­Staedter   und   nunmehriger   Landbewohner   fuer 
alle  Aspekte  des  Landlebens  begeistern   kann.   “Nein”, 
sagte   ich,   “Oder   begeisterst   Du   Dich   brennend   fuer 
Muellabfuhr,   Strassenkehrer,   Obdachlose   und 
verspaetete   U­Bahnen?”   ­   um   nur   einige   Aspekte   des 
Stadtlebens herauszugreifen. 
Ein   anderes   Beispiel:   Ein   Projektteam   diskutiert   den 
Rollout   eines   Imagefilms   in   osteuropaeischen 
11
Wie die Tiere
Tochtergesellschaften   eines   international   operierenden 
Konzerns. “Die werden uns keine Ideen liefern”, sagt M. 
“Stimmt, die Antworten waren ziemlich mager”, meint A. 
“Sind die Kollegen denn schon befragt worden?”, fragt V. 
Die anderen sehen sie entgeistert an, “Haben wir nicht 
gerade darueber geredet?”
Fragen,   Behauptungen,   Situationen,   die   fuer   den   einen 
selbstverstaendlich sind, sind fuer den anderen unvorstellbar, 
allein daran zu denken oder es auszusprechen loest Unwohlsein 
aus. Wir konnen vieles nicht thematisieren und wir haben dabei 
auch keine Sicherheit.
Bei jedem Gespraech laufen neben dem ausdruecklich Gesagten 
mehrere   Parallelebenen   mit,   einige   betreffen   Erinnerunen, 
Erfahrungen, andere Beziehungen. 
Darunter gibt es auch das Bild von uns, das waehrend des 
Gespraechs   beim   anderen   entsteht.   Haben   wir   jemals   das 
wirklich gute Gefuehl, dass uns das gerecht wird? ­ Wie weit 
duerfen wir, wenn wir uns das eingestehen, unseren eigenen 
Bildern vertrauen? Gibt es einen Massstab, an dem sich die 
unterschiedlichen   Vorstellungen   messen   lassen?   Und   mit 
wessen Augen kann dieser Massstab abgelesen werden?  
Es   bedarf   nur   minimaler   Verschiebungen,   und   wir   koennen 
einander   wie   Idioten   aussehen   lassen.   Wir   beklagen 
Missverstaendnisse,   wundern   uns   ueber   die   mangelnde 
Einsicht zweier Streitparteien, wenn wir als Dritte unbeteiligt 
daneben   stehen,   und   schaffen   dadurch   selbst   nur   eine 
zusaetzliche,   genau   so   richtige,   genau   so   unberechtigte 
Sichtweise. 
Das koennen wir nicht aus der Welt schaffen, das koennen wir 
nicht   aendern.   Wir   koennen   uns   dieser   Tatsache   bewusst 
werden, und unsere Kommunikation darauf abstimmen. 
12
Wie die Tiere
Mit wem reden wir, welchen Hintergrund, welche Erfahrungen 
hat diese Person? Was versteht er oder sie unter Begriffen, die 
wir   wie   selbstverstaendlich   verwenden,   was   ist   fuer   ihn 
fragwuerdig, obwohl wir es fuer garantiert halten? Gibt es eine 
gemeinsame   Welt   in   der   wir   uns   bewegen,   wo   lassen   sich 
Beruehrungsspunkte schaffen? Wo ist unser Gegenueber gerade 
jetzt,   welche   der   vielen   moeglichen   Kombinationen   seiner 
Positinoen sind fuer ihn gerade jetzt wichtig?
Eines   ist   wichtig:   Es   geht   hier   nicht   um   Zielgruppen, 
Kundenschichten   oder   ­klassen   oder   Kampagnenadressaten. 
Hier   ist   die  direkte   Kommunikation   das  Thema:   Die 
Unterhaltung unter Kollegen, zwischen Fuehrungskraeften und 
Mitarbeiter,   zwischen   Kunde   und   Verkaeufer   –   oder   in   der 
Beratung. 
Die   demuetige   Haltung,   den   Standpunkt   des   anderen   als 
eigenen, eigenstaendigen und in seiner Umgebung auf jeden Fall 
gerechtfertigten Standpunkt zu akzeptieren, als etwas, das nicht 
wir   sind   und   das   wird   grundsaetzlich   erst   einmal   nicht 
verstehen,   ist   der   erste   Schritt   um   so   etwas   wie   Verstehen 
ueberhaupt zu ermoeglichen. 
Das   klingt   nach   grossen   Worten   einerseits,   und   nach   einer 
leeren Selbstverstaendlichkeit andererseits. Aber probieren Sie 
es einmal, wenden Sie es an einem Standpunkt an, der Ihnen 
wirklich gegen den Strich geht: Nicht immer ist Toleranz das, 
was uns leicht faellt und uns von den anderen unterscheidet – 
etwa wenn wir die Intoleranz unseres Gegenuebers tolerieren 
sollen...
Eine Frage, die uns durch diesen ganzen Text begleiten wird, ist 
die Frage nach den Dimensionen des Verstehens: Was bedeutet 
es als Begriff, wo ist der Uebergang zwischen Verstehen und 
Ueberzeugung, und wo wird Verstehen zum Handeln? Und wie 
lange besitzt Verstandenes Gueltigkeit? Inwiefern trifft das, was 
wir heute verstand haben, morgen noch zu? 
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Wie die Tiere
Differenz: Visualisierung im Streit
“Ich verstehe schon” sind drei Worte, die gern als Beruhigung 
verwendet werden. Was wir damit ausdruecken moechten, ist 
oft: “Ich akzeptiere Deinen Standpunkt, ich anerkenne Deine 
Leistung, Du erzaehlst mir hier nichts Neues.” Was wir meist 
nicht damit ausdruecken wollen, ist: “Ich bin ueberzeugt von 
dem was Du sagst, ich werde das so umsetzen, ich gebe meinen 
eigenen Standpunkt auf.”
Was wir verstehen, wenn wir diese drei Worte hoeren, ist: “Ich 
akzeptiere was Du tust, ich akzeptiere Deine Empfehlungen.” 
Oft ist es aber auch das Empfinden, in unserer Argumentation 
abgewuergt zu werden, auf einen aktuellen Zustand reduziert 
zu werden, in dem wir noch gar nicht alles angebracht haben, 
was wir sagen wollten Es ist das Gefuehl  eben genau nicht 
verstanden zu werden.
Wir verstehen: “Du brauchst nicht weiterzureden, jetzt will ich 
wieder reden.” ­ Was oft auch gemeint ist. Der reale Verlauf 
vieler   Gespraeche   aehnelt   zufaelligen   Begegnungen   in 
Parallelwelten. ­ Beruehrung findet nicht statt. 
Der Ausgang dieser Geschichte haengt nicht von Inhalten ab; es 
ist eine Frage der Form und der Beziehungen. Oft spielen auch 
Reizworte oder bestimmte Verhaltensmuster eine entscheidende 
Rolle.   ­   Reizworte   sind   oft   das   Bindeglied   zwischen 
Parallelwelten. Sie dringen durch, machen sich bemerkbar – das 
bedeutet aber nicht, dass sie auch verstanden werden. 
Warum polemisieren wir so gerne? Das ist ein offensichtliches 
Beispiel,   wie   wir   uns   verstecken,   uns   hinter   eine   Rolle 
zurueckziehen koennen. Dabei fuehlen wir uns sicher, wer da 
redet, das sind nicht wir.
Genau   so   sind   provokative   Fragen,   rhetorische 
Demonstrationen leere Huellen. Sie bewirken nichts, sie bringen 
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Wie die Tiere
keinen Mehrwert in der Kommunikation. Mit einer Ausnahme: 
Sie helfen, Grenzen zu erkennen, sie entfremden, sie zeigen, 
dass der andere anders ist – auf eine Weise, die wir mit unseren 
Begriffen nicht erfassen koennen, ohne sie in diesem Moment 
schon wieder zu aendern, anzugleichen.
Beide, Polemik und Rhetorik, streuen Reizworte und sorgen fuer 
erste Reaktionen.
Differenz   wird   am   besten   im   Streit   sichtbar.   Jeder   Streit 
hinterlaesst ein Gefuehl der Entfremdung, eine unangenehme 
Ueberraschung ­ “Das haette ich mir nicht von dir gedacht”, 
“Ich dachte, wir waren uns einig”. 
Die so sichtbar gewordene Differenz ist keine inhaltliche; sie ist 
vielmehr von den bis dahin uebergangenen kleinen Differenzen 
verursacht und verstaerkt. Der groesste Unterschied entsteht 
immer   dadurch,   dass   wir   die   Wahrnehmungen   uebergehen; 
vielleicht beschreiben wir sie sogar mit den gleichen Worten – 
aber sie bedeuten verschiedenes fuer uns. Darueber reden wir 
nicht,   weil   es   fuer   uns   selbstverstaendlich   ist,   genau   so 
selbstverstaendlich,   wie   fuer   unser   Gegenueber   die 
entgegengesetzte   Bedeutung.   Bedeutung   entsteht   durch   das 
Umfeld und durch Beziehungen. Oft kennen wir unser Umfeld 
(oder   dessen   Auswirkung   auf   uns)   nicht;   selten   denken   wir 
ueber das Umfeld der anderen nach. Das Problem entsteht nicht 
nur anhand der Inhalte – die scheinbar ploetzliche Differene, die 
vielleicht nur einen kleinen Punkt betrifft, stellt ploetzlich viel 
mehr, die ganze Bewertung in Frage.  
Im Streit spielt immer die Frage nach richtig oder falsch eine 
Rolle. Die kann hier zu keinem Ergebnis fuehren, sie braucht 
immer einen Rahmen. Wie koennen wir das loesen? Sollen wir 
von Anfang an als anders auftreten? 
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Wie die Tiere
Immer Herausfordern
Im Sport gibt es keine Zeit fuer Erklaerungen; der Kontext spielt 
im   Kampf   und   Sekunden   und     Punkte   keine   Rolle.   “Nicht 
schlecht   fuer   die   Verhaeltnisse...”,   “Fuer   die   gerade   erst 
ausgeheilte   Verletzung   ganz   ok”   ­   das   sind   die   duerftigen 
Erklaerungen des Verlierers, die am Ergebnis nichts aendern. 
Wo es nur eine Chance gibt, zaehlen nur die beste Vorbereitung, 
das klarste Auftreten und der ausdrueckliche Wille, hier auch 
zu gewinnen. 
“Ein Gefuehl hasse ich wirklich”, sagt Shawn Flarida, 
erfolgreichster Sportler in der Westernreitdisziplin Reining 
in seiner Videoserie “Good as Gold”. “Ich moechte nicht 
aus   der   Arena   gehen   und   mir   denken   'ich   haette   es 
haerter versuchen sollen'.” Er verdient sein Geld damit, 
Pferde in rasanten Manoevern so praezise wie moeglich 
durch die Arena zu steuern. Zu viel Sicherheit wird dabei 
nicht   belohnt:   Zu   verhaltenes   Auftreten,   zu   viele 
korrigierende   Eingriffe   wirken   sich   negativ   auf   den 
sogenannten Score, die Punktebewertung aus. 
Das Risiko ist ein sehr hoch – und es wird von vielen 
Faktoren   beeinflusst.   Der   Reiter   kann   einen   Fehler 
machen, das Pferd kann einen schlechten Tag haben, der 
Boden   kann   schlecht   praepariert   sein,   andere 
Umwelteinfluesse   koennen   stoeren   –   all   das   ist   nicht 
planbar,   daher   ist   Absicherung   nicht   moeglich.   Der 
einzige Weg, zu gewinnen, ist der, das volle Risiko zu 
nehmen und bei jedem Antreten bis an die Grenzen zu 
gehen. “Wenn es schief geht, kann ich daran arbeiten; 
wenn ich die Grenzen nicht herausfordere, weiss ich nie, 
wie weit ich gehen kann.” 
Wenn wir voraussetzen, dass wir einander verstehen,  ist die 
Situation aehnlich wie in einem Wettkampf, in dem auf Risiko 
16
Wie die Tiere
verzichtet wird: Moegliche Unterschiede treten nie zutage, die 
Ideen,   deren   Potential   wir   genauso   in   rasanten   Manoevern 
ausreizen   sollten,   koennen   sich   nie   wirklich   entfalten   –   wir 
gehen auseinander und haben einmal mehr das schale Gefuehl, 
dass wir das alles schon vorher gewusst haben. 
Dieser Kollege, dieser Verkaeufer oder dieser Berater konnte uns 
auch wieder nicht weiterhelfen...
Und   wir   verbringen   farblose   uninteressante   Tage   in   einer 
Umgebung, die uns  nicht gerecht wird, mit dem Gefuehl, dass 
es   anderswo   besser   waere,   und   der   zerstoererischen 
Einstellung,   dass   es   sich   ohnehin   nicht   auszahlt,   aktiv   zu 
werden. 
Wie Ideen beschreiben
Wir muessen nicht immer darauf bestehen, dass wir anders 
sind. Im Gegenteil. Wir sind verschieden – aber je mehr wir 
darauf beharren, desto weiter gleichen wir einander an.
Die   Frage  nach   Andersartigkeit,   Neuartigkeit   wird   uns   noch 
oefter beschaeftigen, auch die Frage nach dem Wir, nach uns 
selbst.
Wir   koennen   auch   nicht   erwarten,   in   jeder   alltaeglichen 
Unterhaltung   Neues   zu   erfahren.   (Wobei   ich   hier   nicht   an 
persoenliche, Intimitaet erzeugende Unterhaltungen denke – in 
solchen Gespraechen entsteht in jeder Minute das Universum 
neu, ­ sofern wir es zulassen...).
Gerade in Verkaufssituationen, in Ideenentwicklungsprozessen, 
in   Kreativitaet   fordernden   Momenten   muessen   wir   uns   sehr 
wohl   darauf   einstellen,   Neuem   zu   begegnen,   mit   anderen 
Hintergruenden   zu   arbeiten.   Wir   muessen   unsere   Idee   so 
praesentieren,   dass   wir   alle   Bedingungen   mit   aufgezeichnet 
17
Wie die Tiere
haben, die notwendig sind, um sie zu verstehen. 
Wir duerfen nicht voraussetzen, dass unser Gegenueber an die 
gleichen   Hintergruende,   an   die   gleichen   Bedingungen   und 
Abhaengigkeiten denkt wie wir. Wenn unsere Idee nicht in allen 
Zusammenhaengen und allen Welten funktioniert (gibt es eine 
Idee,   auf  die  das  zutrifft?),  dann   muessen   wir  den  Rahmen 
schaffen, in dem sie verstanden werden kann.
Wer sich  ueber den verbindenden Rahmen hinausbewegt und 
akzeptiert,   dass   zusaetzliche   Erklaerungen   notwendig   sind, 
laeuft Gefahr, erst einmal Ablehnung hervorzurufen:
Grosse Teile der Erklaerungen werden als selbstverstaendlich 
angesehen   (Selbstverstaendlichkeit   ist   ein   weiteres   sehr 
gefaehrliches   Wort   und   selbst   immer   von   aktuellen   Kontext 
abhaengig).
Anderes als von sehr weit hergeholt.
Erklaerungen  werden oft  auch als Schwaeche der erklaerten 
Idee betrachtet – sie steht nicht fuer sich selbst. 
Schliesslich stehen auch die Chancen nicht schlecht, dass der 
Erklaerende schlicht als jemand angesehen wird, der zu gern zu 
viel redet...
Unterschiede   sind   nicht   immer   nur   Varianten   desselben, 
sondern manchmal wirklich anders. 
Schaffen bedeutet immer verlieren
“Ist das nicht...”, “Wie meinen Sie das...”, “Warum meinen Sie 
dass... “ ­ Fragen kommen sehr unterschiedlich bei uns an. 
Wenn wir erwarten, dass unsere Idee fuer sich selbst spricht, 
gut   und   leicht   verstaendlich   ist   und   alle   offenen   Fragen 
beantwortet, dann gilt jedes Nachfragen leicht als Kritik. ­ So 
tolerant und offen wir auch sein moegen, wir glauben uns auch 
dabei im Recht; schliesslich haben wir ja alles erklaert. Dass 
18
Wie die Tiere
unser   Gegenueber   moeglicherweise   nicht   nur   mit   anderen 
Erfahrungen und Ansichten an die Sache herangeht, sondern 
zusaetzlich vielleicht grundlegend anders denkt, ist etwas, das 
wir uns oft erst bewusst machen muessen. 
Herausfordern,   den   Bogen   ueberspannen,   den   Rahmen 
sprengen – mit diesen Schritten bewegen wir uns schnell darauf 
zu,   mehr   diskutieren   zu   muessen,   als   scheinbar   sachlich 
notwendig ist. Das ist aber der einzige Weg, den Dingen auf der 
Suche   nach   neuen   Wegen   auf   den   Grund   zu   gehen.   Damit 
meine   ich   keine   bunten,   spannenden,   originellen 
Praesentationstechniken   –   die   sind   nur   Rhetorik.   Ich   meine 
trockene, langweilige, detailorientierte Arbeit. 
Wer dabei den ersten Schritt macht, ist dann oft der, der auch 
die ersten Runden verliert. 
Am   Beispiel   eines   Produktentwicklungsprozesses:   Die 
erste kurz hingeworfene Idee ist kaum verstaendlich; sie 
hat   zu   wenig   Substanz,   um   uns   aus   den   gewohnten 
Schienen in neue Bereiche zu fuehren. Eine Diskussion 
hier dient nur dazu, die bestehenden, alten Standpunkte 
zu befestigen.
Ein   ausformulierter   Entwurf   oder   ein   Prototyp   werfen 
gleich die Frage auf, was hier alles vergessen wurde. Auf 
den ersten Blick ist oft leichter zu erkennen, was nicht 
moeglich ist oder in der Spezifikation vergessen wurde; 
die erfuellten Anforderungen erschliessen sich dann erst 
in der Anwendung. 
Ein   Prototyp   mit   einem   begleitenden   Konzept   ist   eine 
Menge   Arbeit.   Das   Paket   erklaert   und   praesentiert 
glechzeitig die Idee und die Argumente, mit denen sie 
vom Tisch geredet werden kann. Dadurch ist die Arbeit 
oft   umsonst   –   sie   lenkt   die   Diskussion   aber   in   eine 
Richtung, die brauchbare Ergebnisse erwarten laesst. 
19
Wie die Tiere
Nachfragen bedeutet also Attacken  gegen unsere Arbeit. Das 
wissen auch die Fragenden – deshalb ist es um so wichtiger, die 
Attacken herauszufordern. 
Die Betonung von Differenz kann einsam machen. Sie bietet 
aber auch die Chance, das Gespraech zu beginnen.
Offener   Widerspruch,   sind   sich   auch   Unternehmens­   und 
Organisationspsychologen   einig,   ist   ein   wichtiger   Schritt   auf 
dem Weg, Vertrauen zu erzeugen,
Wie koennen wir die Seiten
wechseln?
Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht. 
Wir koennen lernen, die Wichtigkeit unserer Standpunkte fuer 
uns zu relativieren. Es geht hier nicht um die Erweiterung des 
Horizonts, nicht um Toleranz oder Bildung. Wir wissen nicht 
mehr als die anderen, wir sind nicht anderen, vielleicht fuer 
unsere Begriffe falschen Standpunkten gegenueber toleranter – 
wir   sind   nicht   anders   sind   als   der,   dem   wir 
Orientierungslosigkeit,   mangelnde   Weitsicht,   vielleicht   gar 
Egoismus unterstellen.
Unsere   fuer   uns   wohl   geordnete   Welt,   in   der   alles 
zusammenpasst ist fuer den anderen – das kann schon der 
Kollege   einen   Tisch   weiter   sein   –   ein   dunkles   Dickicht   voll 
unkontrollierbarer Gefahren und abstruser Kuriositaeten. 
Wenn wir das nachvollziehen, wahren wir unsere Chance auf 
Verstaendigung. 
Sie sind anders
Wir nehmen Unterschiede unterschiedlich wahr. Ueber manche 
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Wie die Tiere
sehen wir gern hinweg, andere stoeren uns ganz dramatisch. 
Die Teerituale des einen, die vielen leeren Floskeln des anderen, 
die immer aengstliche Miene einer dritten – dahinter stecken 
auseinanderlaufende Weltanschauungen. Es geht nicht nur um 
Gewohnheiten, Erziehung, Praegung; was wir machen und wie 
wir es machen sendet Signale, die wir genauso als Erklaerungen 
betrachten koennen, wie mitgelieferte Gebrauchsanweisungen. 
Wir machen nicht das gleiche auf verschiedene Art und Weise, 
wenn wir aehnliche Dinge tun. Der eine kocht Tee, laesst ihn 
minutenlang ziehen, verwendet Untertassen und Servietten. Der 
andere trinkt Wasser in der Kueche und raeumt das Glas gleich 
weg – falls er ueberhaupt eines verwendet hat.
Der eine ist in der Welt zuhause, vertraut darauf, dass alles so 
sein soll wie zuhause, dass die Dinge so sind, wie er sie gelernt 
hat. Der andere ist immer bereit, haelt sich nicht mit Ballast auf 
und ist immer auf dem Sprung. 
Fuer den einen ist es selbstverstaendlich, auf die Umgebung 
zurueckzugreifen,   fuer   den   anderen   ist  es   unvorstellbar,   um 
etwas zu bitten oder etwas zu brauchen – und beide sind in 
dieser Umgebung, in diesem Selbstverstaendis ganz natuerlich 
zuhause. 
Wir   haben   so   unterschiedliche   Sichten   geschaffen   wie 
Satanismus, Zen, die katholische Kirche oder die Moon­Sekte – 
und   Ihr   Nachbar,   Ihr   Kollege   koennen   einer   dieser 
Organisationen anhaengen, ohne dass Sie es auch nur ahnen. 
Grund genug, die Unterschiede ernst zu nehmen. 
Sie meinen es anders
“Ich   bin   nicht   so   ein   Mensch,   der   sich   jeden   Tag   mit   der 
Rundbuerste hinstellt”, sagt eine junge Frau im Autobus zur 
anderen, als sie auf dem Weg zur Universitaet ihre Frisuren und 
Foentechniken besprechen. 
21
Wie die Tiere
“So ein Mensch.” Natuerlich ist das eine Redewendung, aber 
was erschliesst sie uns, wenn wir sie ernst nehmen? Welche Art 
von   Mensch   wird   ueber   die   Verwendung   unterschiedlicher 
Foenbuerstenarten charakterisiert, welcher Mensch drueckt der 
Welt seinen Stempel durch so einfache Taetigkeiten auf? 
Oder umgekehrt: welche Art von Mensch ist so leer, so formlos, 
dass   er   durch   die   Verwendung   so   alltaeglicher   Dinge   wie 
Foenbuersten   gepraegt   wird?   So   haltlos,   dass   er   jede 
Gelegenheit, Unterschiede zu machen, nutzen muss, um sich 
abzugrenzen, sich so zu behaupten und zu definieren? 
Schliesslich: Welche Art Mensch bekommt nicht mit, was eine 
solche Fragestellung bedeutet? 
Alle   drei   Fragen   sind   berechtigt,   auf   alle   Fragen   gibt   es 
verschiedene   Antworten,   die   gleichberechtigt   nebeneinander 
stehen koennen. Fragen machen Unterschiede, das liegt in ihrer 
Natur,   Antworten   aber   muessen   nicht   zwingend   trennend, 
ausschliessend sein.
“Asiaten sind fleissiger als wir”, sagt eine andere junge Frau 
beim   Mittagessen   in   der   Cafeteria   eines   internationalen 
Unternehmens zu ihrer Kollegin. “Ja”, antwortet diese, “aber 
duemmer.” 
Schon die erste Aussage ist eine gedankenlose Pauschalierung, 
die in ihrem Versuch, etwas abzugrenzen, entsetzlich inhaltsleer 
ist, und in ihren Gedanken, auf die sie sich stuetzt, einfach 
dumm.   Die   scheinbar   harmlose,   offene   Formulierung,   die 
niemanden   konkret   betrifft   und   niemanden   ausschliesst, 
braucht   in   Wahrheit   einzementierte   Grenzen,   um   zu 
funktionieren.
Es gibt uns, und es gibt die da drueben. Wir kennen uns genau, 
aber die sind anders. Anders  als wir;  mehr interessiert  uns 
nicht;   deren   Beweggruende,   Hintergruende   und   ihre 
tatsaechliche Umgebung sind uns egal. 
22
Wie die Tiere
Dann tritt die zweite Behauptung auf den Plan. Sie bringt nicht 
nur   negative   Eigenschaften   mit   ins   Spiel,   sondern   versucht 
auch noch, Dinge zu erklaeren, ohne die Perspektive, die ganze 
Sicht auf die Dinge einzubeziehen. Dummheit und Fleiss als 
verwandte Eigenschaften schaffen ein kulturell gepraegtes Bild 
des phantasielosen Strebers, der nichts vom Leben hat (damit 
troesten wir uns zumindest)
Noch   einen   Schritt   zurueck:   Das   Befolgen   von   Regeln,   das 
Betonen des Anderen, des Kollektivs gegenueber dem Eigenen 
als Dummheit zu interpretieren, setzt selbst schon wieder mehr 
voraus:   Die   “Masse”   ist   Objekt   der   Manipulation,   praktisch 
willenlos und ausgeliefert. 
Die Interpretation gelingt uns dann um so freizuegiger, je weiter 
der interpretierte Gegenstand entfernt ist.
Ohne   persoenliche   Verbindung   und   Erfahrung   faellt   es   uns 
leicht, in unseren Auslegungen kreativ zu sein. 
Wir   wenden   unsere   Regeln   auf   andere   an;   einmal   mehr 
verstehen wir, so behaupten wir es, und einmal mehr entfernen 
wir uns mit jeder Ueberzeugung, etwas zu verstehen, weiter von 
dem, was wir verstehen wollten. 
Dazu gibt es plakative Techniken...
Unzufriedenheit
“Ich   verstehe   das   nicht”   als   rhetorische   Finte   ist   genau   so 
gefaehrlich wie “Ich verstehe schon”. “Ich verstehe das nicht” 
bedeutet oft nur: “Das ist doch leicht zu verstehen.”
“Ich   verstehe   das   nicht”   als   Reaktion   eines   Dritten   auf   die 
Diskussion   zweier   anderer   fuehrt   einen   zusaetzlichen 
Standpunkt ein, eine Perspektive, aus der sich Probleme anders 
betrachten   lassen.   “Warum   verstehen   die   einander   nicht, 
warum reden die aneinander vorbei” ­ die Grosszuegigkeit, mit 
der wir hier Perspektiven wechseln, ist oft eindimensional, mit 
23
Wie die Tiere
uns   selbst   lassen   wir   nicht   so   umspringen,   den   eigenen 
Standpunkt koennen wir einzementieren.
Wenn wir die Moeglichkeit des Perspektivenwechsels im Kopf 
behalten koennen, uns betrachten, als koennten wir uns in der 
Diskussion beobachten, haben wir die Chance, zu lernen.
Projektion
“Der meint das sicher anders...” Unser Gegenueber hat seinen 
Standpunkt zwar ausfuehrlich dargelegt, wir sind trotzdem der 
Meinung, es besser zu verstehen: Das kann nicht so sein; in 
unserer Welt ist es anders. 
Wir wollen nicht ueber Kleinigkeiten diskutieren, die Meinung 
des anderen ist uns auch egal – wir sehen grosszuegig ueber 
den Irrtum des anderen hinweg und halten unsere Expertise 
dagegen.  
Damit schaffen wir eine Welt, die gut zu unserer passt, aber 
wenig mit dem zu tun hat, was wir mit offenen Augen draussen 
vorfinden koennten.
Identifikation
“Bei mir ist das auch so”, “Das habe ich mir auch schon oft 
gedacht”. Das Wegwischen  von Grenzen,  das Angleichen von 
Ansichten   und   Erfahrungen   steht   fuer   das   Ausdehnen   der 
eigenen Ansichten, das Anwenden der Regeln einer Welt auf eine 
andere Welt.
Manchmal   sagen   wir   es   aus   Hoeflichkeit,   um   darueber 
hinwegzutaeuschen,   dass   wir   mit   dem,   was   uns   der   andere 
erklaeren   moechte,   ueberhaupt   nichts   anfangen   koennen. 
Manchmal soll es unseren Standpunkt bestaetigen und den des 
anderen unterdruecken ­ “Du sagst hier nichts neues.”
Manchmal steckt auch ein Lerneffekt dahinter: Jemand sieht 
etwas so wie wir; ein Standpunkt, den wir fuer unseren, fuer 
24
Wie die Tiere
individuell gehalten haben, begegnet uns von aussen wieder. 
Aus der Ueberrasschung koennen Neid und Dominanzprobleme 
entstehen,   es   koennen   auch   Verbuendete   wachsen.   Wir 
identifizieren   uns   mit   anderen   (oder   andere   mit   uns)   und 
koennen auf dem Weg ueber andere reden und dennoch mehr 
ueber uns sagen. 
Je entfernter der andere – trotz festgestellter Gemeinsamkeiten – 
von   uns   ist,   desto   leichter   faellt   es   uns,   die   gemeinsame 
Identitaet zu projizieren. 
Distanz befreit
“Die   machen   das   so”,   “Die   sind   so”   ­   je   geringer   unsere 
Betroffenheit   von   etwas   ist,   desto   groesser   ist   unsere 
Flexibilitaet im Umgang damit. 
Wer nicht da ist, kann sich nicht wehren, wer uns nicht hoert, 
kann   sich   nicht   darueber   beschweren,   nicht   verstanden   zu 
werden, und wo wir keine Auswirkungen zu erwarten haben, 
sind wir frei. 
Wo   uns   nur   Oberflaechen   begegnen,   brauchen   wir   uns   mit 
nichts   weiter   auseinanderzusetzen.   Die   Reduktion   auf 
Oberflaechen kann durch raeumliche Distanz entstehen, durch 
historische Distanz oder durch kulturelle Fremdartigkeit. Wir 
finden   keinen   weiteren   Anhaltspunkt,   also   bleiben   wir 
draussen.   Weil   es   uns   aber   selten   gelingt,   die   Dinge   zu 
belassen, wie sie sind, denken und interpretieren wir weiter. 
Dabei koennen wir uns frei fuehlen – dumme fleissige Asiaten, 
intelligente Brillentraeger, kluge schoene Menschen und andere 
Fabelwesen entstehen auf diesem Weg. 
Die Tendenz zur Oberflaeche hat Methode. Sie entspricht der 
Reduktion auf das, was wir wahrnehmen koennen. Wenn wir an 
der Oberflaeche  bleiben,  auf  Interpretationen   verzichten  und 
uns am dem orientieren, was ist, haben wir eine Chance, uns in 
25
Wie die Tiere
unserer Umgebung zurechtzufinden.
Oberflaechlichkeit ist eine adaequate Verhaltensweise. 
Festlegende Systematik:
Spekulation als Befreiung,
zuschreibendes Erkennen als
Festsetzung
Warum scheint es manchmal so einfach, einander zu verstehen, 
und manchmal unmoeglich?
Welcher   Systematik   folgen   die   Methoden,   die   wir   fuer   uns 
entwickelt   haben,   damit   umzugehen?   Welche   dienen   der 
Bestaetigung   von   Unterschieden,   welche   der   Suche   nach 
Verbindendem?
In   unserem   Bemuehen,   die   Welt   beschreibbar   zu   machen, 
haben wir viel Trennendes geschaffen. Jede Bezeichnung, jeder 
Begriff dient nicht nur dazu, eine Verbindung herzustellen (“Ich 
bezeichne etwas”, also gibt es einen Bezug von mir zu diesem 
Etwas),   sondern   auch,   Abgrenzungen   einzufuehren:   Es   gibt 
“ich” und “etwas”, also bin ich nicht etwas und ich bin auch 
nicht so wie etwas. 
Wenn wir eine Flasche als Flasche bezeichnen, ist das nicht 
weiter auffaellig, wenn wir einen Menschen als sturen Bock, 
dumme   Kuh   oder   eben   als   Flasche   bezeichnen,   ist   recht 
deutlich, dass wir hier Unterschiede sehen. 
Wir   haben   wahrgenommen,   dass   etwas   anders   ist,  und   wir 
haben eine Bezeichnung dafuer gefunden. Wie machen wir jetzt 
weiter? In der Regel sind wir der Meinung, recht zu haben. Was 
bringt uns das, wenn wir von einem Menschen etwas wollen? 
Wir haben die Moeglichkeit, ihn davon zu ueberzeugen, dass er 
eine dumme Kuh ist und dass er sich mit anderen Ansichten 
beschaeftigen sollte. Das birgt einen gewissen Widerspruch. 
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Wie die Tiere
Wir   haben   die   Moeglichkeit,   uns   nach   anderen   Menschen 
umzusehen. Das ist in der Regel nicht endlos praktizierbar. 
Wir haben auch die Moeglichkeit, damit umzugehen, uns zu 
fragen, was eine dumme Kuh eigentlich ausmacht, wie die Welt 
aus der Perspektive einer Kuh aussieht und welche Reize uns 
als   Kuh   dazu   bringen   koennen,   das   zu   tun,   was   wir   (als 
Mensch) gern von der Kuh moechten. 
Es ist zweifelhaft, ob wir jemals das Talent haben werden, die 
Welt wahlweise mit den Augen einer dummen Kuh, eines sturen 
Bocks,   eines   Angsthasen   oder   dessen,   was   wir   fuer   einen 
Menschen halten, zu sehen. Wenn wir aber die Aufgewecktheit 
haben,   uns   vor   Augen   zu   halten,   dass   wir   Perspektiven 
wechseln muessen, dass wir in dem, was wir sagen wollen, auf 
verschiedene Perspektiven eingehen muessen, koennen wir uns 
auf ein gewisses Mass an Offenheit zubewegen – immer an der 
Oberflaeche. 
Eine offene Frage ist, wo hier der Nutzen liegt. 
In welchen Situationen wollen wir verstehen, wo sind wir darauf 
angewiesen,   was   unser   Gegenueber   sagt,   und   wo   liegt 
tatsaechlich eine so grosse Distanz zwischen uns, dass diese 
Gedanken es wert sind gedacht zu werden?
Tierstereotype sind nur ein Beispiel, in dem wir uns die Welt 
zurechtruecken, in dem wir scheinbares Allgemeingut (das Bild 
einer dummen Kuh), von dem niemand weiss, was es genau 
bedeutet, verwenden, um etwas hoechst persoenliches (einen 
Menschen) zu bezeichnen. Es spielt dabei keine Rolle, dass der 
Vergleich   beleidigend   sein   mag   –   der   Gewaltakt   an   sich 
geschieht bereits durch die Bezeichnung.
“Du bist...”, “Menschen wie du sind...”, “Du willst doch immer...” 
­ dieses Zuschreiben, dieses Festsetzen ist nicht fuer alle eine 
Belanglosigkeit.
27
Wie die Tiere
Wenn wir es als Repraesentation unserer selbst in der Welt des 
anderen verstehen, bedeutet es das Anlegen von Fesseln, das 
Anhaengen von Gewichten an unsere Persoenlichkeit. Wir sind 
jetzt   so.   Zumindest   in   dieser   Beziehung;   in   anderen 
Beziehungen koennen wir genauso entgegengesetzt sein, sind 
wir vielleicht schon weitergegangen. 
Der   existentialistische   Horror   vor   diesem   hilflosen 
Ausgeliefertsein ist eine moegliche Haltung. Sartres “Huis Clos” 
oder “Ekel” sind genauso eine Manifestation dieser Haltung wie 
Schoenheitsoperationen   oder   Kaufsucht.   Wir   erleben 
Unzulaenglicheit   oder   eingeschraenkte   Moeglichkeiten   und 
reagieren – irgendwie, mit Gefuehlen, Aktionismis. 
Ich moechte eine pragmatischere Haltung entgegensetzen. Wir 
koennen   persoenliche   Vorlieben   und   Stereotype   hinter   uns 
lassen. Wir sind sogar sehr talentiert darin: Die Kommunikation 
ueber statische, extrem reduzierte Allegorien – immer an der 
Oberflaeche   –   begegnet   uns   ueberall.   Man   nennt   sie   auch 
Klischees.
Die   Zuschreibung   von   Zustaenden,   Eigenschaften   ist   ein   so 
erfolgreicher Weg, dass ganze Industrien darauf basieren. Jede 
Form   von   Kultur   –   spaetestens   dann,   wenn   sie   ausgestellt, 
beschrieben   oder   verkauft   wird   –   beruht   auf   diesen 
Mechanismen.
Das Einfrieren von Zustaenden, die im Moment fuer uns Sinn 
machen, ist eine Beschreibung der Welt fuer uns. Damit setzen 
wir uns ueber vieles hinweg, nehmen viele Verkuerzungen und 
Verfaelschungen in Kauf  ­ aber damit funktioniert unser Bild 
von   der   Welt   fuer   uns.   Bei   anderen   mag   es   ratloses 
Kopfschuetteln ausloesen. 
Dieses Prinzip funktioniert nicht nur in Massen­, Populaer­ oder 
Subkulturen.   Auch   die   radikalsten   Formen   sind   dem 
unterworfen   –   sobald   die   Suche   nach   Worten,   nach 
Beziehungen anfaengt. Wir koennen Worte finden – und uns 
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Wie die Tiere
damit vom Gegenstand entfernen. Wir koennen auf Naehe und 
Direktheit beharren – uns uns damit in Worten verlieren, die 
sich auf immer Allgemeineres reduzieren, die uns den Eindruck 
vermitteln, nah an der Sache zu sein, aber kaum noch etwas 
bezeichnen. 
Auch   das   ist   existenzialistisch,   oder   eine   Folge   davon. 
Heideggers   Spaetphase   mit   “Vom   Ereignis   –   Beitraege   zur 
Philosophie”   und   viele   Arbeiten   der   Dekonstruktion   sind 
eindrucksvolle Beispiele dafuer, wie den hellsten Koepfen auf 
der Suche nach dem, was wirklich etwas bedeutet, was etwas 
wirklich bedeutet, Schritt fuer Schritt die Worte ausgehen. 
Medien und Gemeinplaetze: Wir
wissen und verstehen nur, was wir
immer schon gewusst haben
Wo viele Worte sind, ist die Gefahr der Entfernung gross; wir 
nuetzen Worte und die damit verbundenen Bilder, um das zu 
umschiffen,   was   wir   sagen   wollten.   Medien   sind   natuerlich 
Meister darin, Klischees zu reproduzieren. Das ist ihre erste 
und   vordringlichste   Aufgabe   –   sonst   wuerden   wir   sie   nicht 
verstehen.
Offen ist nur, welche Klischees verwendet werden, und welche 
bestaetigt oder attackiert werden.
Die   investigative   Leistung   des   Journalismus   besteht   darin, 
herauszufinden, wann welches Klischee aus welcher Schublade 
gezogen werden soll. 
Klischees   muessen   nicht   zwangslaeufig   bewertend   sein, 
dealende Schwarzafrikaner muessen nicht gegen kurzsichtige, 
schmalschultrige IT­Experten oder gierige Boersenhaie antreten 
–   Klischees   gehoeren   zu   den   Kernfunktionen   unserer 
Kommunikation. 
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Wie die Tiere
Wir   verstehen   immer   nur   das,   was   wir   schon   in   unseren 
Koepfen haben; es ist fuer uns ein Wahrheitskriterium, dass wir 
es   nachvollziehen   koennen.   Wir   bestaetigen,   erweitern, 
verwenden   Muster,   wir   muessen   die   Muster   erst   einmal   als 
solche erkennen koennen, wir muessen uns bewusst sein, dass 
neues nur sehr langsam sickert. 
Das ist eine Beschreibung der Dinge, kein Vorwurf. wir koennen 
keine   andere   Position   einnehmen   als   unsere.   Auch   der 
weitgereiste und engagierte Journalist beschreibt das, was er 
zufaellig gesehen hat. Im Lauf der Jahre wird das eine Menge – 
aber es ist weit entfernt von dem, was in der Zwischenzeit alles 
passiert ist.
Mehr   sehen   heisst   nicht   mehr   zu   verstehen.   Synthese   und 
Konsens   anstreben   zu   wollen   –   das   sind   Ueberreste   von 
Bildungsromantik. 
Viele haeufig wechselnde Perspektiven, Werte und Ansichten in 
Bewegung   nebeneinander   stehen   lassen   zu   koennen,   sie 
erfassen zu koennen, damit umgehen zu koennen – das sind 
Kompetenzen, die wir brauchen...
Darum ist es so gefaehrlich, zu sagen “Ich verstehe schon.”  
Eine Beleidigung, ein Akt der Gewalt. Darum ist es vergebliche 
Muehe, auf dem eigenen Verstaendnis, auf dem Standpunkt zu 
bestehen   und   fremden   Muster   eigene   Muster 
gegenueberzustellen.
Die   Unterschiede   liegen   nicht   in   der   Sprache,   nicht   in   der 
Erfahrung oder der Bildung, all das sind begleitende Faktoren. 
Die Unterschiede liegen in unserer Welt, in unseren Welten, in 
fuer uns wohlgeordneten, klaren und gewohnten Umgebungen, 
die fuer den anderen undurchdringliches Dickicht sind.
In   dem,   was   fuer   uns   die   manchmal   platte,   manchmal 
irrationale, immer andere Welt des anderen ist, die fuer uns in 
einem Moment erfasst werden kann, fuer den anderen in einem 
Leben nicht erschoepft ist. Wir haben einen Augenblick Zeit, zu 
erfassen, was los ist, der andere hat ein Leben Zeit, sich zu 
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Wie die Tiere
veraendern – um umgekehrt. 
Von Menschen, die uns begegnen, verstehen wir ungefaehr so 
viel   wie   von   einem   Hund,   der   uns   zufaellig   ueber   den   Weg 
laeuft. Wir machen uns ein Bild. Dem anderen sind wir egal, 
vielleicht werden wir auf Essbares (vom Hund, vom Mensche auf 
anderwaertig Verwertbares) geprueft. 
Denn deutlicher sprechen wir nicht. 
 
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Wie die Tiere
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Wie die Tiere
Varianten: Was machen wir aus
dieser Situation?
In vielen Situationen muessen wir zur Kenntnis nehmen, dass 
doch alles anders ist, als wir gedacht haben. 
Ich nehme das als ein positives Zeichen. 
Je   oefter   unsere   Prognosen   zutreffen,   desto   hoeher   ist   die 
Wahrscheinlichkeit,   dass   wir   aus   einer   Scheinwelt   eine 
Scheinwelt beschreiben; wir merken gar nicht mehr, dass wir 
unsere – letztlich – Phantasie nicht mehr verlassen. 
Nicht nur “Ich verstehe” ist, wenn es persoenlich gemeint ist, 
eine boesartige Drohung. “Ich hab's doch gewusst”, “Ich habe es 
immer gesagt”, “Die sind eben so” sind genauso Ausdruecke, die 
entweder von Boesartigkeit oder von Dummheit zeugen – oder 
von strategischer Berechnung. 
Wir koennen jedes Wort auf die Waagschale legen. Das bedeutet, 
dass wir grundsaetzlich nichts mehr tun.
Wir   koennen   uns   an   Effizienz   orientieren   und   nur   an   das 
glauben, was offensichtlich ist und nachvollziehbar funktioniert. 
Das wird eine Frage der Macht. 
Wir koennen unser Gefuehl, dass die Sache nicht funktioniert, 
beiseite   schieben,   und   uns   darauf   verlassen,   dass   ohnehin 
immer irgendetwas funktioniert. 
Wir koennen uns auch den Luxus leisten, immer wieder Fragen 
zu stellen, immer wieder zu ueberlegen, die Dinge in Frage zu 
stellen   und   auf   die   Spitze   zu   treiben:   Sie   werden   trotzdem 
funktionieren wie bisher. Vielleicht lernen wir einen Weg, das zu 
beschreiben, damit umzugehen. Und vielleicht bringt uns das 
eines Tages etwas. 
Je offener wir durch die Welt gehen, desto mehr Befremden 
werden   wir   erfahren.   Befremden   ist   kein   Gegensatz   zur 
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Wie die Tiere
Offenheit neuem gegenueber. Es ist die Erkenntnis, dass etwas 
nicht unser Ding ist. 
Was machen wir daraus?
Einsiedelei ist eine Option
Rueckzug ist eine Variante. Nicht Verleugnung, nicht die Augen 
verschliessen,   nicht   ignorieren   ­   sondern   Unterschiede 
akzeptieren. Sie sind anders, sie sagen es und sie meinen das 
auch so, das ist eine Lektion, die wir lernen koennen. 
Rueckzug   bedeutet,   nicht   immer   alles   auf   uns   zu   beziehen, 
nicht   Loesungen   zu   suchen,   auch   keine   Beschreibungen   zu 
versuchen, sondern Dinge einfach hinzunehmen, als waeren es 
Zufaelle. 
Legendaere Gestalten, die intensiv auf der Suche waren, auf der 
Suche   nach   Wahrheit,   Sinn,   besonderen   Erfahrungen, 
Meisterschaft,   haben   es   mit   Einsiedelei   versucht.   Alle   sind 
zurueckgekommen und haben davon erzaehlt.
Oder – und das trifft bereits den Punkt: Wir wissen nur von 
jenen, die davon erzaehlt haben. Die anderen – haben eben nie 
davon  erzaehlt; ihre Oberflaeche hat  unsere Oberflaeche nie 
beruehrt. 
Einsiedelei   als   Rueckzug,   Verzicht,   oft   noch   mit   Askese 
verbunden, reduziert das Verstaendnisproblem insofern, als es 
weniger   Fremdes,   anderes   zu   verstehen   gibt.   Wir   sind   mit 
unserer Sicht der Dinge allein, koennen sie in alle Richtungen 
drehen und wenden und beliebig erweitern. 
Antonius   von   Padua   lebte   feuchte   Traeume   aus   und 
Shakyamuni   Buddha   fragte   sich   nach   langer   enthaltsamer 
Einsamkeit,   was   genau   durch  den   Verzicht   auf   alles   besser 
werden sollte. Auch der Zen­Patriarch Bodhidharma stand nach 
seiner   neunjaehrigen   Zazen­Meditation,   bei   der   der   Legende 
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Wie die Tiere
nach seine Beine und Arme verkuemmert waren, wieder auf 
und machte etwas anderes.
Rueckzug   macht   die   Welt   zu   einfach.   In   Erkenntnis­   und 
Verstaendigungsfragen hilft uns das nichts. 
Es ist unmoeglich, sich abzugrenzen oder zurueckzuziehen, es 
gibt   immer   Beziehungen   zu   anderen,   in   anderen   entstehen 
Bilder   von   uns.   Wir   koennen   das   nicht   unterbinden,   wir 
koennen es nur ignorieren. Damit raeumen wir das Feld und 
ueberlassen die Macht den anderen.
Je   staerker   wir   uns   auf   uns   konzentrieren,   sei   es   durch 
Rueckzug oder durch aktive Produktivitaet, desto mehr Material 
produzieren wir, mit dem wir uns andern ausliefern. ­ Durch die 
Beschaeftigung mit uns raeumen wir das Feld.
Abgrenzung ist Bezugnahme und
Bestatetigung
Lehren, die erklaeren, dass man etwas nicht verstehen kann, 
entstammen   entweder   Teenagern   (“Niemand   versteht   mich“) 
oder dem Wunsch, Geld mit den entsprechenden Erklaerungen 
zu machen. 
“Ich bin nicht...”, “Das ist nicht meine Welt... “, “Ich bin anders” 
­ solche Formulierungen sind ein Weg, ein Versuch, Identitaet 
und Individualitaet zu behaupten.
Ein Weg, der vom ersten Schritt an in eine falsche Richtung 
fuehrt. 
Was kann das Ziel eines solchen Weges sein? Wir wollen uns 
unserer Position in der Welt versichern, wir wollen unser Stueck 
vom Leben definieren. Oft tritt ein “Wir” and die Stelle des “Ich”: 
Eltern   versuchen,   die   Welt   fuer   sich   und   ihre   Kinder   zu 
definieren, Unternehmer fuer sich und ihre Mitarbeiter. 
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Wie die Tiere
Die positive Definition von Zusammenhaengen beschreibt eine 
klare   Sicht   auf   die   Dinge,   die   aus   der   Perspektive   eines 
einzelnen   entsteht   und   andere   mitnehmen   moechte.   Das 
aehnelt   dem   vorweggenommenen   Verstaendnis   (“Ich   verstehe 
schon”) und ruft oft Ablehnung hervor. 
Die   Zeiten   in   denen   Unternehmen   ihre   Mitarbeiter   zur 
verpflichtenden   morgendlichen   Flaggenparade   riefen,   moegen 
vorbei   sein   –   heute   geschieht   diese   Vereinnahmung   ueber 
subtilere   Methoden,   aber   nicht   weniger   intensiv   und 
weitreichend: Corporate Cultures und Policies forden Einsatz 
bis  zur   freiwilligen  Selbstversklavung   (die  mit   Kunstwoertern 
wie Intrapreneurship umschrieben wird), Verhaltensrichtlinien 
oder (Social) Media Policies massregeln das Verhalten bis tief in 
Bereiche, die mit Arbeit, Buero und Werkstatt nichts mehr zu 
tun haben.
Das ruft Reaktionen hervor. Auf “Wir sind so” folgt oft “Ich bin 
nicht   so”,   mit   dem   Ziel,   dem   Bestehenden   etwas   Eigenes 
entgegenzusetzen, die Gueltigkeit und Kraft des Bestehenden zu 
hinterfragen. 
Diese Behauptung bewirkt in der Regel genau das Gegenteil 
ihrer Intention. Sie lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf die 
neu ins Spiel gebrachte Welt als auf die abgelehnte. “Wie bist du 
nicht?”  und  “Warum?” sind  die  ersten  Gegenfragen,  die  den 
Ablehnenden dazu zwingen, sich mit den zurueckgewiesenen 
Sichtweisen und Definitionen zu beschaeftigen. 
Sobald  der  Bezug  einmal  eingefuehrt   ist, ist  er  sehr  schwer 
wieder zu entfernen. Staerker ist dabei immer das Bestehende – 
denn es ist das, was wir momentan verstehen. Alles Neue, das 
sich   durch   die   Abgrenzung   von   Bestehendem   definiert, 
bestaerkt und bestaetigt durch diese Negation die Macht und 
Position   des   Bestehenden.   Fraglich   ist   auch,   ob   solcherart 
Neues ueberhaupt neu sein kann – oder ob es nur eine Variante 
des Bestehenden ist.
36
Wie die Tiere
Vor   diesem   Hintergrund   wird   die   Variante   des   Rueckzugs 
verlockender:   Wenn   Konfrontation   und   Negation   nicht   zum 
Erfolg   fuehren,   sind   Ignoranz   oder   das   Ausschliessen   von 
Information eine plausibel erscheinende Variante: Was ich nicht 
weiss – existiert fuer mich nicht. 
Dieser Verlockung erliegen wir sehr oft unabsichtlich, und das 
offenbart auch die Schwaeche dieser Position: Was wir nicht 
wissen,   wissen   eben   nur   wir   nicht,   der   Rest   der   Welt 
moeglicherweise  aber   sehr   wohl.   Wir  spielen   dann   in   einem 
Spiel nicht mit, schaffen dadurch aber weder ein neues, noch 
beeiflussen wir das bestehende Spiel nachhaltig. Vielleicht gibt 
es einen kurzen Moment der Verwunderung, eine hochgezogene 
Augenbraue, wenn wir wo nicht mitmachen, Dann werden die 
Dinge aber ohne uns weiterlaufen. 
Vielleicht hilft das, die eine oder andere Angelegenheit, der wir 
uns nicht entziehen koennen, entspannter zu sehen; daneben 
gibt es tatsaechliche viele Dinge, ohne die wir besser dran sind 
– und die auch ohne uns besser dran sind. 
In einem Umfeld, das uns nicht auslaesst, in dem Passivitaet 
negative Auswirkungen fuer uns hat, ist der Rueckzug keine 
Option. Weder in geschaeftlichen Beziehungen noch in Fragen 
der   Fuehrung   oder   der   Zusammenarbeit   sind   Verzicht   und 
Passivitaet   eine   akzeptable   Perspektive.   (Fuer   kurzfristige 
taktische Massnahmen mag es Ausnahmen geben).
Wir geben damit die Definitionsmacht ab; wenn wir nicht mehr 
mitreden, herrscht nicht Stille, es reden andere fuer uns. Und 
wir   bekommen   das   oft   gar   nicht   oder   erst   ueber   die 
Folgewirkungen mit. 
Muessen   wir   uns   dann   wirklich   um   alles   kuemmern?  
Ja, aber dann, und nur dann, wenn es an der Zeit ist. Ein Hund 
bellt, frisst, schlaeft, wenn ihm danach ist. Er malt sich wohl 
nicht aus, wie es waere, wenn er jetzt bellte. Das Pferd sorgt 
sich nicht um seine Zukunft, sein Horizont umfasst nur wenige 
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Wie die Tiere
Sekunden, in diesen ist es immer und zu hundert Prozent zu 
allem   bereit   –   und   umso   leichter   zu   erschrecken   oder   zu 
verwirren.
Was   bedeutet   das   fuer   uns?   Wir   sollen   sein   wie   spiegelnde 
Oberflaechen, haben Zen­Meister gelehrt. Wie reine Seide und 
scharfer   Stahl.   Ist   auch   das   ein   Plaedoyer   fuer   die 
Oberflaechlichkeit? Nichts bleibt haengen, nichts hinterlaesst 
einen Eindruck, sobald es vorueber ist. Ich halte das fuer eine 
vernuenftige   Einstellung.   Wir   koennen   uns   nur   um   das 
kuemmern, was jetzt da ist, wir koennen nur das tun, was wir 
jetzt  tun  koennen.   Das ist  kein  Plaedoyer  fur  Blindheit   und 
Verantwortungslosigkeit,  keine  Aufforderung,  jenen,  die  nicht 
da sind, in den Ruecken zu fallen.
Es gibt immer ein anderes, ein naechstes Jetzt. 
Bevor wir uns darum kuemmern, muessen wir uns noch 
eine andere Frage stellen: Wie wissen wir ueberhaupt, 
was ist? 
Wie   kommen   wir   zu   einer   Einschaetzung   und 
Wahrnehmung   dessen,   was   gerade   rund   um   uns 
passiert, wer mit uns redet, was derjenige sagt? Wie 
wissen wir, was ist? 
Wir sind nicht allein
Es gibt noch andere und anderes ausser uns, und wir haben 
praktisch nicht die Moeglichkeit, uns vollstaendig von dieser 
Gegenueberstellung zurueckzuziehen. Wir sind immer in einer 
Beziehung. Dabei ist nicht relevant, wie nah oder fern diese ist, 
ob   wir   es   hier   mir   Hierachien   zu   tun   haben   oder   mit 
Beziehungen auf einer Ebene – wichtig ist, wo wir die Grenze 
ziehen. 
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Wie die Tiere
Wo sind wir, wo ist das andere, wo sind die anderen? Wieviele 
sind wir? 
Philosophien und Religionen haben unterschiediche Strategien 
entwickelt,   um   mit   dieser   Einsicht   umzugehen.   Der   Bogen 
laesst   sich   von   der   Vervielfaeltigung   der   Praesenz   in 
Daemonologien   und   Geisterlehren   ueber   moralische 
Konsequenzen,   die   Aufforderung   zum   Altruismus,   fuer   den 
anderen   da   zu   sein   bis   zum   Horror   vor   der   Existenz   als 
Ausgeliefertsein   oder   der   Betrachung   des   Lebens   als   Leiden 
spannen. 
Neue   Onlinemedien   haben   die   Vermittlung   von   vielfacher 
Praesenz als ihren Hauptzweck: “Ich bin da”, “Ich war auch 
hier” ist die Quintessenz vieler Nachrichten – in erstaunlicher 
Analogie   zu   (prae)historischen   oralen 
Ueberlieferungstraditionen. 
Tatsache ist: Wir wissen, dass wir nicht allein sind, 
Was uns in diesem Bewusstsein helfen kann, ist ein Weg, damit 
neutral umzugehen. 
Distanz und Flexibilitaet: Je weniger
wir wissen, desto sicherer sind wir
“Ich verstehe schon”, “Du verstehst mich nicht”, “Die sind eben 
so”   ­   in   unterschiedlichen   Behauptungen   und   Positionen 
schwingen   unterschiedliche   Welten   mit,   ohne   ausdruecklich 
thematisiert zu werden. Dabei gibt es Abstufungen. 
Was uns naeher scheint, thematisieren wir weniger. Es wird 
vorausgesetzt, es ist nicht der Rede wert. Fuer den einen ist es 
selbstverstaendlich, abends zuhause von der Couch aus nach 
dem  Essen   zu   fragen,  der   andere  sieht   kein   Problem  darin, 
morgens vor dem Weg zur Arbeit Geschirr abzuwaschen. Die 
eine   haelt   es   fuer   notwendig,   ihren   beruflichen   Erfolg   zu 
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Wie die Tiere
erwaehnen,   die   andere   haelt   es   fuer   verwunderlich,   dass 
jemand   meint,   sie   haette   sich   auch   gegen   die   Karriere 
entscheiden koennen. Leichte ironische Distanz bestaetigt  die 
eigene Position; als rhetorischer Trick wird vorgefuehrt, dass 
andere Sichtweisen auch bekannt sind – wobei vorausgesetzt 
wird,   dass   die   Grundlage   der   Gespraechspartner   eine 
gemeinsame ist. ­ Auf dieser Basis funktionieren Bierzeltwitze 
oder politische Ansprachen. 
Das Grundgeruest unserer Welt braucht nicht hinterfragt zu 
werden, so die vorausgesetzte Einstellung. Denn wir sind uns 
doch alle einig. Worueber genau, das ist selten Thema. 
An den Grundgeruesten wird oft nur in Form von Polemiken 
geruettelt – wieder als rhetorisches Stilmittel, um zu zeigen, wie 
intensiv   die   vorausgesetzte   Gemeinsamkeit   ist.   Die 
Hasspredigten   national   orientierter   Politiker   sind   eine   schier 
unerschoepfliche   Quelle:   Weil   wir   die   Tuerkenbelagerung 
zurueckgeschlagen haben (in Wien), weil wir keine Kopftuecher 
tragen, weil wir unsere Tiere nicht rituell (sondern industriell...) 
schlachten   –   deshalb   wollen   wir   keine   zweisprachigen 
Ortstafeln.   Absurd   grosse   Fragen   werden   beruehrt,   um 
laecherliche Kleinigkeiten zu argumentieren. 
Denn   je   weiter   etwas   von   uns   entfernt   ist,   desto   mehr 
Flexibilitaet entwickeln wir im Umgang damit. Das Fremde kann 
erstaunliche   Kreativitaet   hervorrufen,   manchmal   romantisch, 
manchmal hasserfuellt, kreativ oder schlichtweg dumm. 
Eine haeufige Auspraegung dieser Kreativitaet ist Angst. Wie 
sind die anderen, was machen sie, wie gehen sie mit dieser oder 
jener Situation um? Ist Osteuropa wirklich der schwarze Fleck 
Europas,   Ausloeser   und   Hauptakteur   in   Finanz­   und 
Wirtschaftskrise? Werden “die” das in den Griff bekommen?  
“Die” sind je nach Perspektive Gluecksritter, Exkommunisten, 
Ex­Dissidenten,   Unternehmer,   Arbeitslose,   Angestellte, 
Pensionisten, Schueler, Hausfrauen und Studenten ­ “die” sind 
eine Gruppe, die praktisch gar nichts miteinander gemein hat. 
“Die” werden unser Verstaendnis allenfalls befremdlich finden 
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Wie die Tiere
und  sich ueber  “die”, die keine Ahnung  haben  (das sind in 
diesem   Fall   wir)   amuesieren.   Sind   “die”   anders   –   oder 
argumentieren wir schlecht? “Die” sind eben viele.
Auch Bewunderung ist eine Einstellung, die mit der Entfernung 
ungeheuer wachsen kann. An Stars und konstruierten Mythen 
laesst   sich   das   leicht   nachvollziehen,   auch   politische 
Bewegungen sind hier ergiebiges Objekt.
Historische   wie   raeumliche   Distanz   koennen   gehoerige 
Verklaerung schaffen. Ich erinnere mich an die europaeischen 
Studentenproteste   gegen   Sparmassnahmen, 
Jugendarbeitslosigkeit und Kuerzungen an den Universitaeten 
in   den   fruehen   1990ern.   In   Wien   organisierten   wir   einige 
Events, sassen eher trueb da und beneideten Berlin oder Koeln, 
wo   hunderttausende   auf   den   Strassen   waren.   Zeitgleich 
erschien   im   Spex,   dem   deutschen   Zentralorgan   fuer   alles 
Subkulturelle, eine Reportage die den deutschen Organisatoren 
Lahmheit   vorwarf   und   ihnen   gluehend   Wien   als   lebendiges 
Beispiel vorhielt: Dort seien aufsehenerregende Events an der 
Tagesordnung   –   und   ausserdem   seien   die   Organisatoren 
besonders   innovativ,   weil   sie   als   Massnahme   gegen   die 
Funkueberwachung durch die Polizei neuerdings Mobiltelefone 
zur Kommunikation benutzten. 
Das waren Zeiten. Und wir kannten einander wohl nur aus den 
Nachrichten, die die Ereignisse moeglichst aufbauschten. Und 
auch   hier   gilt:   Je   groesser   die   Entfernung,   je   geringer   die 
Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus dem Publikum wirklich 
bescheid   weiss   –   desto   hoeher   die   Kreativitaet,   die 
Unbefangenheit im Umgang mit Fakten, und die Bereitschaft, 
Geschichten zu konstruieren. 
Damals gab es keine allgegenwaertigen Onlinemedien, in denen 
reale, angemessene Berichterstattung moeglich gewesen waere.
Das ist heute anders. Es sind wenige Jahre vergangen, aber: 
Gibt   es   in   Zeiten   von   Google   und   Wikipedia   noch   eine 
Berechtigung dafuer, zu sagen “Ich glaube, dass... “, “So weit ich 
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Wie die Tiere
weiss... “? Streng genommen brauchen wir uns keine Gedanken 
mehr   zu   machen   –   entweder   wir   wissen   etwas,   oder   wir 
recherchieren es. Spekulation ist unangebracht; wir koennen 
uns   stattdessen   mit   dem   beschaeftigen,   was   gerade   anliegt. 
Oder   wir   koennen   versuchen,   der   Sache   auf   den   Grund   zu 
gehen.
Die Herausforderung verschiebt sich: Wir brauchen uns keine 
Fakten zu merken, wir brauchen uns nur zu merken, was wir 
noch   recherchieren   wollten.   Und   wenn   wir   etwas   vergessen 
haben – war es wichtig? 
Heuristik und Hobby­Hermeneutik, die ratende Interpretation 
wird zu einem Zeichen von Faulheit. Das gleiche gilt auch schon 
fuer Fragen: Wer fragt, ohne vorher recherchiert zu haben, outet 
sich als eher ahnungslos. Nicht aber, wer redet, ohne einen Plan 
zu haben: Mediale Omnipraesenz fuer alle fuehrt dazu, dass 
Reichweite pauschal Inhalte abloest, Tempo und der Eindruck, 
originell   zu   sein,   ueberwiegen   Bedeutung   und   Originalitaet. 
Genau Bescheid zu wissen, das belegen breit angelegte Studien, 
ist in der medialen Kommunikation nicht wichtig.
Wissen   wir   daher,   dank   der   Verfuegbarkeit   maechtiger 
Werkzeuge, alles? Koennen wir innerhalb von Sekunden jedes 
Thema   so   weit   abgrasen,   um   uns   eine   Meinung   bilden   zu 
koennen? 
Nein. 
Es mag erstaunlich sein, aber es gibt immer wieder Begriffe, zu 
denen   auch   Google   und   Wikipedia   keine   Auskunft   geben 
koennen.   Sprachbarrieren,   ungeschickte 
Suchmaschinenoptimierung   oder   schlicht   nicht   vorhandene 
Information sollen hier aber nicht das Thema sein. In Frage 
steht vielmehr: Was bedeutet es fuer uns, unseren Anspruch 
auf   Wissen   und   Verstaendigung,   alles   ueber   mediale 
Vermittlung abzuhandeln? Faelschungen, Irrtuemer, einseitige 
und veraltete Information sind wieder ein anderes Thema. Die 
Frage die ich stellen moechte, ist: Wie koennen wir bei all den 
42
Wie die Tiere
Halluzinationen, mit denen wir uns umgeben, ueberhaupt etwas 
verstehen? 
Wir verstehen unsere eigene, selbst geschaffene Vorstellung von 
etwas. Wir koennen Medien dazu benutzen, uns bei der Bildung 
dieser Vorstellungen zu helfen. Jedes Medium bedient andere 
Klischees und Vorstellungen; je vermarktungsintensiver Medien 
sind, desto deutlicher wird das transportiert – wir brauchen die 
Zeitung nicht aufzuschlagen, um zu wissen, was – der Tendenz 
nach – dort stehen wird. 
Onlinemedien sind dabei oft zurueckhaltender: Sie schaffen es 
nicht so deutllich, ihre vorausgesetzten Klischees ausdruecklich 
zu transportieren. Die entsprechenden Codes sind noch nicht 
etabliert; zu deren Erforschung starten gerade erste Projekte. 
Deswegen   sind   Onlinemedien   nicht   realitaetsnaher.   Aber   sie 
lassen   uns   als   Nutzern   mehr   Spielraum,   die   Information   in 
unseren eigenen Informationsrahmen zu verfrachten: In einer 
Zeitung wissen wir grob, aus welcher Ecke der Wind weht, wie 
wir das zu verstehen haben. Online fehlt diese Information oft. 
Wir haben nur den Text, die Bilder selber – und es ist grossteils 
uns ueberlassen, was wir daraus machen. Umso mehr, wenn 
wir   Medien   als   Werkzeuge   betrachten,   als   Mittel,   mit 
Information umzugehen, nicht als Produkt, als Marke, in der 
Information immer auf eine bestimmte Art und Weise verpackt 
ist.   Medien   wie   Blogs,   Social   Networks,   Funktionen   wie 
Kommentare oder RSS machen das deutlich – Medien bewegen 
sich weg von der Aufgabe, Verpackungsmuell zu sein, und hin 
zum Umgang mit Information. 
Sollen wir uns jedes Mal fragen, warum wir etwas so verstehen, 
wie wir es verstehen? 
Ja. 
Wir finden die Antworten nirgendwo anders; das zwingt uns, 
uns mit den eigenen Mustern, Vorstellungen und Bewertungen 
zu beschaeftigen. Und die Suche nach diesen Mustern kann 
uns   –   als   Hintergrund­Drehbuch   im   direkten   Gespraech   – 
43
Wie die Tiere
Antworten auf Fragen liefern wie: Was will der andere von mir? 
Wie bringe ich ihn dazu, zu tun, was ich will?
Die   Objekte   veraendern   sich.   Wir   sehen   jeden   Tag   etwas 
anderes, haben jeden Tag ein neues Problem. 
Daswirkt sich auch auf uns aus, auf die Bilder und Elemente 
auf die wir zurueckgreifen koennen, um zu verstehen. Wenn 
sich die Dinge bewegen, ziehen wir mit – wir koennen gar nicht 
anders. Der Horizont aendert sich, der Hintergrund, vor dem 
wir Dinge einordnen. 
Viele   gleichzeitige   Horionte   existieren   in   verschiedenen 
Perspektiven nebeneinander. Das ergibt ein lebhaftes, bewegtes 
Durcheinander,   in   dem   immer   nur   der   Moment   gilt   –   alles 
andere ueberfordert uns. Der Wunsch, im Einzelfall hinter die 
Kulissen zu sehen, bedeutet praktisch schon den Wunsch, die 
ganze Welt auf einmal zu erfassen. ­ Dabei ist sie in diesem 
Moment schon wieder anders. 
Primat der Oberflaeche
Je naeher uns etwas ist, desto selbstverstaendlicher nehmen 
wir es. Kein Grund, naeher hinzuschauen. Je entfernter etwas 
von unserer gewohnten Umgebung ist, desto weniger haben wir 
die   Gelegenheit,   uns   damit   zu   beschaeftigen.   Wir   tun   es 
vielleicht gerne, weil es exotisch ist und uns Freiraum laesst, 
aber   wir   treffen   die   Dinge   nicht;   sie   bleiben   von   uns 
unberuehrt. 
Wir bewegen uns immer an der Oberflaeche. Egal wie nah oder 
fern der Betrachtungsgegenstand uns ist. 
Das   ist   eine   wertfreie   Feststellung.   Tiefgruendigkeit, 
Oberflaechlichkeit, Intensitaet, Authentizitaet – uns fehlen die 
Kritieren, um hier werten zu koennen. 
44
Wie die Tiere
Das ist eine Tatsache, die wir zur Kenntnis nehmen koennen 
und auf die wir uns einstellen koennen. 
Je flexibler unsere Einstellung zu etwas ist, je mehr Vermittlung 
ueber   Erzaehlungen,   Medien   wir   in   Anspruch   genommen 
haben, um so glatter und entfernter ist die Oberflaeche. 
Sie ist auch alles, wonach wir uns richten koennen. Wir wissen 
nicht mehr, wir koennen nicht mehr erfahren. Was zaehlt, was 
wir als Realitaet nehmen koennen, ist das, was wir – in all 
unserer   Beschraenktheit   –   jetzt   –   in   aller   Vergaenglichkeit   – 
sehen. Alles andere ist Spekulation, mit der wir uns nicht in 
den  Gegenstand,  sondern  nur  in  uns  selbst   vertiefen:  Jeder 
Gedanke, den wir uns ueber andere machen, ist ein Gedanke 
ueber   uns   selbst,   ist   durch   unsere   Perspektiven   und 
Wahrnehmungen, Erfahrungen und durch unser Grundgeruest, 
ueber das wir nie nachdenken, geformt. 
Oberflaechen haben Grenzen und Regeln, die den reibungslosen 
Ablauf von Dingen ermoeglichen. Reicht das nicht? 
Fraglich ist aber, wie wir diese Grenzen erkennen.
Unser Leben wie wir es kennen basiert auf Abgrenzungen. Es 
gibt mein und dein, jetzt und spaeter, so und anders. Darauf 
bauen Weltordnungen auf, unser wirtschaftliches Leben – sogar 
unser   ideelles   Leben   wird   in   diese   Abgrenzungen   gedraengt: 
Wissenschaftler streiten um Originalitaet, korrekte Zitate und 
Plagiate. 
Es ist also wichtig, unterscheiden zu koennen, und aufgrund 
dieser   Unterscheidungen   Entscheidungen   zu   treffen.   Ebenso 
wichtig   ist   auch,   die   Relativitaet   und   Subjektivitaet   dieser 
Entscheidungen verstehen zu koennen. 
Wir   bestimmen   die   Welt.   Das   verleiht   uns   Macht.  
Weil   aber   jeder   seine   Welt   bestimmt,   liefert   es   uns   ebenso 
anderen aus, es macht uns wehrlos. Wir sind beides zugleich – 
uneingeschraenkt maechtig und wehrlos ausgeliefert. Das ist 
nur eine Frage der Perspektive. 
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Wie die Tiere
Folgen der Praesenz: Wehrlosigkeit
Wir   hinterlassen   Spuren.   Je   mehr   Leute   wir   erreichen,   je 
groesser unser Einfluss ist, um so weiter verbreiten wir unsere 
Spuren. 
Spuren   koennen   der   Eindruck   sein,   den   wir   bei   anderen 
hinterlassen,   es   koennen   Texte   oder   Bilder   sein,   die   wir 
veroeffentlicht haben, es koennen Unterhaltungen sein, die wir 
gefuehrt   haben.   Die   Nutzung   von   Medien   verstaerkt   diesen 
Effekt: Wir koennen eine Vielzahl von Inhalten nahezu beliebig 
streuen und koennen ohne grossen Aufwand grosse Reichweiten 
erzielen.
Diese Spuren existieren losgeloest von uns. Sobald wir nicht 
praesent sind, steht unsere Spur fuer sich allein. ­ Das kann sie 
allerdings nicht, sie kann nur in einer Beziehung existieren, in 
der Beziehung auf etwas, als Wahrnehmung.
Die Spur wird zu dem, was der andere daraus macht. 
Am   Beispiel   neuer   Onlinemedien   laesst   sich   das   deutlich 
nachvollziehen:  Sobald   wir   unser   Profil   aktualisiert,   unseren 
Beitrag,   unsere   Bilder   abgeschickt   haben,   haben   wir   keinen 
Einfluss   mehr.   Wir  koennen   versuchen,   den   Ton   zu   treffen, 
eindeutig zu formulieren, wir koennen den Verlauf beobachten 
und in Diskussionen eingreifen. 
Das erste Problem besteht schon darin, alles zu verfolgen: Im 
Gewirr der Spuren verliert sich auch fuer uns unsere eigene 
Spur   schnell.   Das   gilt   fuer   Diskussionen   in   Onlinemedien 
ebenso wie fuer ueber die Buschtrommel oder den Flurfunk 
verbreitete Geruechte – es gibt keine direkte Verbindung mehr 
zu uns. 
Die zweite Herausforderung liegt darin, Sinn auf drei Zeilen zu 
vermitteln. Das verdeutlicht uns, was andere generell von uns 
wahrnehmen:   Sie   kennen   unseren     Hintergrund   nicht,   sie 
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Wie die Tiere
haben uns gestern nicht gesehen und sie kennen die Gedanken, 
die   uns   zu   diesen   Worten   bringen   nicht.   Erwarten   wir 
tatsaechlich, dass auf dieser Basis Verstaendigung moeglich ist?
Der dritte Punkt: Wir sind hier nicht gemeint, wir stehen nicht 
im   Mittelpunkt.   Wir   sind   eine   kurze   Notiz   im   Leben   eines 
anderen, der mit uns macht, was er will, der uns aus   einer 
Perspektive betrachtet, die wir nicht kennen, wo der wir nichts 
wissen. Wir wissen nur: Es ist nicht unsere. 
Das   Paradoxon   in   diesem   Verhaeltnis   von   Macht   und 
Wehrlosigkeit ist: Je mehr wird von uns preisgeben, je mehr wir 
darzulegen   versuchen,   desto   wehrloser   sind   wir.   Wir   liefern 
Material fuer andere. Wer schafft, verliert – das ist das Risiko, 
das wir eingehen muessen
Die   anderen   sind   mehr,   also   wird   es   immer   mehr   fremde 
Ansichten und Interpretationen geben, als unsere eigene. Wenn 
wir dieses Potential fuer uns nutzen koennen, multipliziert das 
unsere Produktivitaet, unsere Reichweite ins Unermessliche. 
Wer hat gesagt, dass Wehrlosigkeit etwas Negatives bedeutet? 
Sie   kann   auch   Offenheit   bedeuten,   die   ohne   Widerstaende 
Neues schafft, prueft, formt. 
Folgen der Praesenz:
Selbstbehauptung
Wir   stehen   wehrlos   anderen   gegenueber.   Wehrlos   vor   allem 
deshalb, weil wir nicht da sind. Es sind Spuren von uns, die 
dem andere ueberlassen sind. 
Spuren sind ein Teil der Oberflaeche, die wir erzeugen koennen. 
Oberflaeche   ist   das,   was   wir   vermitteln   koennen,   jener   Teil 
unseres Lebens, von dem wir wissen, dass er sichtbar ist, dass 
er ankommt. 
Oberflaeche ist etwas, das auch fuer uns gestaltbar ist: Wir 
47
Wie die Tiere
haben alle Moeglichkeiten, die Oberflaeche zu schaffen, die wir 
uns wuenschen.
Dazu   brauchen  wir  gar keine  plastische  Chirurgie;  es reicht 
aus,   Geschichten   zu   erzaehlen.   In   dem   Wissen,   dass   wir 
Interpretation,   subjektivem   Verstaendnis   und   dem 
Bezugsrahmen einer fuer uns fremden Umgebung ausgesetzt 
sind, liegt es an uns, die entsprechende Vorlage zu liefern. 
Geregelte   Umgebungen,   in   denen   wir   immer   nur   einen   Teil 
sichtbar   machen,   anwenden   muessen,   in   denen   wir   nie   zur 
Gaenze   sichtbar   sind,   erleichtern   die   Konstruktion   von 
Oberflaechen   ungemein.   Regeln,   Sanktionen,   Hierarchien, 
liefern   Orientierung   und   foerdern   die   Entwicklung   von 
Oberflaechen weiter.
Das gilt fuer die geregelte Arbeitswelt ebenso wie etwa fuer die 
ueber Medien vermittelte Praesentation von Inhalten: Im ersten 
Fall gibt es Dinge, die wir nicht tun oder sagen koennen – nicht 
weil   sie   verboten   waeren,   sondern   weil   sie   nicht   verstanden 
wuerden;   unpassendes   Verhalten   wird   in   diesem 
Zusammenhang   nicht   oder   als   etwas   ganz   anderes 
wahrgenommen. 
Im  zweiten  Fall  gibt   es  weniger   ausdrueckliche   Regeln,   sehr 
wohl   aber   implizit   vorhandene   (welcher   Ton   muss   wo   wie 
getroffen werden um wie verstanden zu werden), Hauptsache 
aber ist, dass wir weniger Praesenz haben: Wir sind nicht da 
und wir haben keine Kontrolle ueber Zeitpunkt und Umfeld, in 
dem wir wahrgenommen werden. ­ Warum ist das wichtig? 
Aeusserungen stehen zur Disposition. 
Das   koennen   Werte   sein,   modische   Statements,   die 
Tischdekoration des Gastgebers. Alles enthaelt eine Aussage, 
auch   wenn   diese   oft   weniger   beim   Handelnden   entsteht, 
sondern beim Wahrnehmenden. 
A   tut   etwas,   B   denkt   unweigerlich   darueber   nach.   Die 
urspruengliche Situation ist bereits vorbei, A tut etwas anderes, 
48
Wie die Tiere
das B nicht sieht – die Welten entfernen sich voneinander. 
Das vereinnahmende “Ich verstehe schon” winkt hier wieder mit 
dem   Zaunpfahl.   “Nein”,   sagt   der   andere,   und   setzt   betont 
veraenderliche,   bewegliche   und   vielfaeltige   Handlungen 
dagegen: “Ich bin nicht so ein Mensch mit der Rundbuerste...”
(Solche) Behauptungen von Identitaet sind der Laecherlichkeit 
preisgegeben   und   schwer   von   objektiv   Laecherlichem   zu 
unterscheiden. Darin liegen die Macht der Macht und der Reiz 
des Nomaden­Daseins. Macht holt ins Boot und teilt manchmal 
sogar. frisst aber letztlich (die Gesetze dessen, was funktionieren 
soll, aendern sich nicht) alles. Nomaden grasen eine Weide ab 
und ziehen weiter, bevor die Beruehrung zu eng wird, der Platz 
zu   knapp,   bevor  nur   noch  Sesshafte   ueberleben   koennen.   ­ 
Rueckkehr ist nicht ausgeschlossen. 
 
Wir   wissen,   dass   wir   die   Dinge   nicht   sich   selbst 
ueberlassen koennen – in diesem Fall ueberlassen wir 
sie anderen. Wir koennen auch nicht auf das hoffen, was 
“wirklich”   oder   in   uns   ist;   was   zaehlt,   ist   die 
Oberflaeche, das, was ankommt. 
In deren Aufbau muessen wir unsere Kraft legen – es sei 
denn, wir verzichten. 
Welche Grenzen gelten, welche Kriterien sorgen dafuer, 
dass   ein   Unterschied   zwischen   Innen   und   Aussen 
existiert? ­ Nicht der Unterschied ist wichtig, auch das ist 
nur eine Frage der Oberflaeche. Wichtig ist, dass von 
unserem   Versuch   der   Selbstbehauptung   ueberhaupt 
irgendetwas ankommt. Es ist nicht sicher, dass wir eine 
Chance haben, ueberhaupt etwas zu sagen, etwas in 
unsere Richtung zu lenken. Umso dicker muessen wir 
auftragen. 
Nocheinmal zur Perspektive: Hier stehen keine politischen oder 
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Wie die Tiere
moralischen   Qualitaeten   zur   Diskussion.   Es   geht   nicht   um 
Redefreiheit,   Wertschaetzung   oder   Anerkennung. 
Unterschiedliche   Interessen   oder   Bildungsniveaus   sind   auch 
nicht   Thema.   Ich   moechte   mich   nur   auf   die   Frage 
konzentrieren,   unter   welchen   Bedingungen   Verstaendigung 
moeglich   ist.   Nicht   als   Machtfrage,   nicht   als   etwas,   das 
durchgesetzt werden muss, nicht als Intelligenz­, Deutlichkeits­ 
oder Reichweitenfrage. 
Wo laeuft die Grenze, die dafuer sorgt, dass manche Begriffe 
und  Handlungen  selbstverstaendlich erscheinen  und  manche 
selbstverstaendlich unmoeglich? Woher – vor dem Hintergrund, 
dass   die   Faelle   des   Nichtverstehens   oder   der   Unsicherheit 
haeufiger sind – nehmen wir die Sicherheit, gelegentlich doch 
etwas zu verstehen? ­ Manchmal existiert das Thema nicht, wir 
brauchen   uns   nichts   zu   fragen,   alle   Grenzen   erscheinen 
konstruiert. 
Woran liegt das? Was haben diese Momente gemeinsam? 
Begriffsbildung: Warum heisst das,
was wir sagen, ueberhaupt etwas
und nicht vielmehr nichts?
Wir   haben   verschiedene   Erfahrungen.   Wir   denken   an 
verschiedene   Welten.   Keine   zwei   Vorstellungen   zum   gleichen 
Begriff sind gleich. 
Wenn   wir   reden,   produzieren   wir,   nuechtern   betrachtet, 
Geraeusche.   Schrift   besteht   aus   Zeichen,   die   sich   nicht 
wesentlich   von   anderen   Zeichen   wie   Pfeilen   oder   Kreuzchen 
unterscheiden   (sie   haben   im   Gegenteil   noch   weniger   direkt 
bezeichnenden Charakter). 
Wenn wir denken oder traeumen, tun wir das manchmal in 
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Wie die Tiere
Worten, in Bildern, in Gefuehlen. 
Wir koennen uns darauf verlassen, dass wir im Grunde alle 
gleich   sind   und   uns   deshalb,   auch   wenn   wir   es   nicht 
nachvollziehen   koennen,   am   Ende   doch   verstehen.  
Oder  wir  koennen  versuchen,   einen   Schritt   zurueckzugehen, 
hinter   diese   Selbstverstaendlichkeit,   die   Verbindungen 
herzustellen   scheint:   Gemeinsamkeiten   zu   hinterfragen 
zerstoert   sie   recht   schnell;   emotionale   Menschen   bezeichnen 
das gern als Gefahr des Zerredens. 
Wo keine Handlungen notwendig sind, wo mir egal ist, ob der 
andere mich versteht, kann ich mich damit zufrieden geben. Im 
Geschaeftlichen, aber auch in privaten Beziehungen ist die klar 
gesetzte Handlung unersetzbar: Es gibt keinen Grund, warum 
wir sonst annehmen sollten, verstanden zu werden.
Wir muessen unsere Voraussetzungen, die Leitlinien, die wir 
annehmen, jedes Mal mitliefern – ohne unserem Gegenueber 
jedes Mal die Welt zu erklaeren.  
Damit haben wir zwei Herausforderungen zu loesen: Wir sollen 
nicht   predigen.   Und   wir   sollen   einen   Weg   finden,   Worte, 
Bezeichnungen,   Argumentationen   so   zu   verpacken,   in   ihnen 
Welten, begreifbare Oberflaechen zu erzeugen, von denen wir 
annehmen duerfen, dass sie beim anderen ankommen. 
Und wie koennen wir uns trotzdem
verstaendigen?
Ein Begriff kann ein Wort sein, ein Bild, eine Vorstellung, ein 
Konzept oder ein Wert. Wir verbinden etwas mit Begriffen; sie 
gehoeren in fuer uns wirksame Zusammenhaenge. 
Fuer   die   Entstehung   dieser   Zusammenhaenge   gibt   es 
verschiedene   Erklaerungsansaetze   aus   Soziologie, 
Kommunikationswissenschaft   und   anderen   Disziplinen;   fuer 
51
Wie die Tiere
deren   Verbindung   mit   Worten   liefern   noch   Etymologie, 
Linguistik und Semantik Beitraege. 
Wir koennen die Gruende fuer Zusammenhaenge in der Umwelt 
suchen: Weil wir etwas immer so gesehen haben, es so gelernt 
haben,   nennen   wir   es   so.   Wir   koennen   eine 
transaktionsorientierte   Perspektive   einnehmen:   weil   es 
funktioniert, weil wir ein bestimmtes Ziel erreichen, wenn wir 
uns an diese und jene Richtlinien halten, macht es Sinn, Dinge 
so zu nennen. Wir koennen auch eine etymologische Perspektive 
einnehmen: Weil dieses Wort diese und jene Wurzeln hat, mit 
diesem   Wort   verwandt   ist   oder   aus   diesem   Zusammenhang 
kommt, hat es auch diese und jene Bedeutung. 
Dabei   bewegen   wir   uns   immer   in   einem   klar   abgegrenzten 
Rahmen, wir nehmen Voraussetzungen an, die dann fuer uns 
Sinn stiften. Es gibt aber keinen Zusammenhang, der darueber 
hinausgeht. So wie ein Fussballspiel nur funktioniert, wenn die 
Regeln des Fussballspiels grundsaetzlich bei allen Beteiligten 
anerkannt   sind   (was   nicht   bedeutet,   dass   sich   jeder   immer 
daran   halten   muss),   funktionieren   auch   diese   Erklaerungen 
nur, wenn die grundlegenden Rahmen nicht hinterfragt werden. 
Spielt   dagegen   eine   Mannschaft   Fussball,   die   andere 
Basketball, dann haben wir genau die Situation, in der wir uns 
in   der   geschaeftlichen   Kommunikation   wieder   und   wieder 
befinden:  Wir haben  unsere  klar strukturierte,  gut  erklaerte 
Welt   –   und   gleich   nebenan   beginnt   das   unbeherrschbare, 
unkontrollierbare   Chaos,   fuer   das   wir   nur   Kopfschuetteln 
uebrig haben. 
Wir erkennen dort keine Zusammenhaenge; was man uns zu 
erklaeren   versucht,   sind   fuer   uns   keine   nachvollziehbaren 
Standpunkte. 
In   den   Worten   der   Linguisten:   Es   gibt   nun   einmal   keinen 
Zusammenhang   zwischen   Bezeichnendem  und   Bezeichnetem. 
Dazwischen existiert ein nicht fassbarer Leerraum; in diesem 
Leerraum entstehen Sinn und Interpretation. 
52
Wie die Tiere
Bei klar begreifbaren, sichtbaren Begriffen (Bezeichnetes) wie 
Hund oder Esel mag das unspekakulaer sein, obwohl auch hier 
das Wort (Bezeichnendes) in verschiedenen Zusammenhaengen 
verwendet werden kann. 
Bei unscharfen, erklaerungsbeduerftigen Begriffen wie Freiheit, 
Verantwortung, Macht wird der Leerraum wesentlich groesser. ­ 
Noch groesser wird er, wenn den Begriffen noch die moralische 
Komponente fehlt: Was bedeutet Verstehen, Erkenntnis, Begriff 
–   das   sind   Begriffe   (als   Bezeichnetes)   die   nur   ueber   Worte 
(Bezeichnendes)   beschreibbar   sind,   dabei   beschreiben   Worte 
Worte – was soll da schon herauskommen? 
Dennoch weiss ich, welche Reaktionen Worte wie Verspaetung, 
Verzoegerung, Budgetueberschreitung, Nein hervorrufen. Diese 
Reaktionen unterscheiden sich von der Reaktion auf Worte wie 
erledigt, Abschluss, Erfolg. Vielleicht kann ich unterschiedliche 
Reaktionen   auf   unterschiedliche   Begriffe   sogar 
unterschiedlichen Menschen zuordnen. 
So   entstehen   Profile,   sie   sind   wiederholbar   und   tragen   zu 
Vorhersagbarkeit bei. 
Sie liefern uns Anhaltspunkte und lassen Zusammenhaenge zu 
anderen beobachtbaren Themen erkennen. Unser Wissen kann 
praktisch grenzenlos wachsen; immer neue Muster und Profile 
liefern   uns   immer   mehr   Anhaltspunkte.   Das   Wachstum   ist 
horizontal, in die Breite orientiert. In der vertikalen Dimension 
sind unsere Moeglichkeiten deutlich eingeschraenkter. 
Was bedeutet es schon, in die Tiefe zu gehen? Wir koennen in 
unsere   eigenen   Tiefen   gehen,   Einstellungen,   Meinungen, 
Traeume, “wahre” Charakterzuege hervorholen – und sie an der 
Oberflaeche positionieren, damit sie fuer andere sichtbar sind, 
damit   sie   wahrgenommen   werden   koennen,   wie   wir 
wahrgenommen werden wollen.
Andere koennen auch in ihre Tiefen gehen, das macht jeder fuer 
sich – was sich begegnet, bleiben aber immer Oberflaechen. Die 
Tiefen dazwischen sind  ein voruebergehender Zwischenschritt.
53
Wie die Tiere
Wir haben nicht immer das Gefuehl, “nur” an der Oberflaeche 
unterwegs   zu   sein.   Wir   beschaeftigen   uns   manchmal   auch 
“wirklich” mit etwas, sind tief in einer Sache drin. Dann sind 
wir   aber   meistens   nicht   auf   Verstaendigung   ausgerichtet, 
sondern auf Erforschung, Produktion. 
In dem Moment, in dem etwas ausgesprochen, gedacht wird, 
entsteht es gerade erst. 
Und   dann   wollen   wir   es   erklaeren   –   das   braucht   Zeit, 
Vereinfachung,   Zielorientierung   –   und   das   Ergebnis   entfernt 
sich immer weiter von seinem Ausgangspunkt. 
Explorative   Kommunikation   als   Gegenstueck   zu 
verstaendigungsorientierter   Kommunikation,   als   Ausflug   in 
Tiefen,   ist   moeglich.   Der   Abgleich   der   so   gewonnenen 
Erkenntnisse im Dialog, die Instrumentalisierung mit dem Ziel, 
Anwendbares   zu   schaffen,   passiert   dann   wieder   an   der 
Oberflaeche. 
Verstehen oder Nicht­Verstehen entscheidet sich oft nur anhand 
von Dekorationsmaterial, denken wir an Praesentationen, Texte: 
Wie oft aergern wir uns, dass dieser oder jener Aspekt noch in 
die Thesen reklamiert wird – obwohl wir ihn doch eingearbeitet 
haben.
Oft   hilft   es,   einfach   Zwischentitel   einzufuehren   und   die 
Ueberschriften zu aendern – und die Sache bekommt ein ganz 
anderes Gewicht und Gesicht – rein oberflaechlich. An unserer 
Intention, an den Inhalten die wir vermitteln wollen und den 
Worten, die wir dabei verwenden, hat sich nichts geaendert, 
sehr wohl aber an dem, was ankommt. 
Oberflaechen sind oft negativ besetzt. Sie grenzen aus, spiegeln 
manchmal oder weisen ab, und sie verbergen den Blick auf das 
Innere. Dort wird eine weitere Wahrheit vermutet. 
Oberflaechen sind jedoch das einzige, das wir erkennen und 
begreifen koennen. ­ Der Rest ist Spekulation. Unser Innerstes 
54
Wie die Tiere
ist fuer den anderen Oberflaeche; was wir ueber den anderen zu 
wissen glauben, ist das, was er von sich preisgeben moechte, ist 
dessen Oberflaeche, ergaenzt durch von unseren Vorstellungen 
eingefaerbte Spekulation.
Mehr   zu   wollen   ist   aussichtslos.   Warum   auch?   Wir   haben 
unsere Orientierungspunkte. Es liegt an uns, was wir daraus 
machen.
Tiere werden konditioniert – Wollen
wir Menschen tatsaechlich
verstehen?
Tiere werden konditioniert. Das ist ein sehr pragmatischer und 
effizienter   Weg,   kontrollierte   Effekte   hervorzurufen   und 
Verhalten zu steuern. 
Es   ist   uns   egal,   warum   die   Speichelbildung   des   Hundes 
“wirklich”   einsetzt;   wichtig   ist   die   verlaessliche 
Nachvollziehbarkeit dieses Effekts. 
Warum   kuemmern   uns   die   “wirklichen”   Hintergruende   in 
anderen Zusammenhaengen, in sozialen Interaktionen? ­ Wir 
wissen auch vom speichelnden Hund nicht, ob er uns mag, ob 
er   Hunger   hat,   oder   wie   gut   seine   Verdauung   gerade 
funktioniert,   Wir   wissen   ueber   einen   kleinen   Ausschnitt 
bescheid.  Das   mag  wenig  erscheinen.  Viele  kleine   gesicherte 
Ausschnitte   koennen   aber   zu   einem   maechtigen   Werkzeug 
wachsen.
Auch   Tieren   gegenueber   –   um   bei   dem   Bild   zu   bleiben   – 
entwickeln wir Vorstellungen. Wir kennen einen feigen Hasen, 
einen sturen Bock, einen faulen Hund. Wir schreiben einerseits 
Persoenlichkeit zu, Eigenschaften, andererseits reduzieren wir 
de   Persoenlichkeit   auf   Reiz   und   Reaktion.   Der   faule   Hund 
fuehrt uns deutlich vor Augen, woher die Eigenschaft und deren 
Bewertung   kommen:   Es   sind   unsere   Massstaebe,   die   an 
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Wie die Tiere
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Wie die Tiere

  • 3. Wie die Tiere Wie die Tiere Michael Hafner kbex micropublishing http://www.kbex.eu 3
  • 4. Wie die Tiere  2009 made with an EEE PC, Open Office and The Gimp 4
  • 5. Wie die Tiere Einleitung Wir wissen scheinbar alles. Den Rest koennen wir scheinbar  leicht recherchieren, denn wir sind scheinbar gut vernetzt und  scheinbar mit vielen befreundet.  Was davon hilft uns wirklich? Und warum kommt hier das Wort  "scheinbar" so oft vor?  Vier wichtige Punkte praege jene Kommunikationsformen, mit  der wir heute leben ­ ein unentwirrbares Geflecht aus  persoenlichen, virtuellen, eingebildeten, realen, erfahrenen,  kopierten, erzwungenen oder ertraeumten Beziehungen.  1  Nichts hat Bedeutung ­ weder Worte, noch Ereignisse. Es sei  denn, wir erzeugen eine. Fuer sich genommen sind Handlungen  oder Aussagen schlicht nichts; Sinn und Bedeutung entstehen  erst spaeter in dem, was wir daraus machen.  Waere es anders ­ Historiker waeren Propheten (denn statt der  nachtraeglichen Erforschung von Bedeutung von Ereignissen  koennte dann ja deren zukuenftige Bedeutung vorausgesagt  werden) und Geschwaetzigkeit waere wichtiger als  Handlungsbereitschaft.  2 Ohne Bedeutung wollen wir nicht leben, deshalb spekulieren  wir. Wir schreiben Dingen und Aussagen Bedeutung zu und  machen sie damit fuer uns nutzbar. Das hat keinen direkten  5
  • 6. Wie die Tiere Zusammenhang zu den Dingen und Aussagen selbst, im  Gegenteil: Je entfernter die von uns sind, desto leichter tun wir  uns damit, kreativen Sinn dazu zu spekulieren ­ denn das  Risiko, dass wir dem Beweis fuer die Falschheit unserer  Annahmen begegnen, sinkt proportional zur Wahrscheinlicheit,  dem Gegenstand unserer Annahmen zu begegnen.  Je weniger wir von etwas wissen, desto sicherer sind wir uns  dabei.  3  Bedeutung ist also moeglich, ist aber eher eine Eigenschaft  unserer Vorstellungen als dessen, womit wir uns beschaeftigen.  Was bedeutet (!) das fuer die Entstehung von  Zusammenhaengen, fuer Ursache und Wirkung? Wir koennen  Zusammenhaenge beobachten, aber wissen wir, was dabei  Ursache ist und was Wirkung? Wie kommen wir von einer  Aussage zu deren Bedeutung und weiter zu einer Wirkung, also  etwa einer Handlung? Wie erfassen wir diese Zusammenhaenge  und wie machen wir sie fuer uns nutzbar?  Beziehungen bedingen die Entstehung von Bedeutung;  Veraenderungen in Beziehungen und deren Grundlagen  aendern damit die nur die Entstehung, sondern auch den  Inhalt von Bedeutung. Exemplarisch laesst sich das anhand neuer Online Medien  darstellen: Was bedeuten die vielfaeltigen Beziehungen und  Situationen, die Moeglichkeiten, Content mit endlosem Kontext  aufzuladen oder ihn umgekehrt vollends aus diesem  herauszuloesen, fuer die Entstehung und den Wert von Sinn  und Bedeutung? Worauf koennen wir uns verlassen, worauf  koennen wir uns in dieser Vielfalt verlassen?  6
  • 7. Wie die Tiere 4 Weil es egal ist, wenn grundsaetzlich alles Verhandlungssache  ist, koennten wir auch das Problem der Bedeutung beiseite  schieben. Nur begegnen uns immer wieder, trotz allem,  Situationen, Sinnzusammenhaenge, Werte, die nicht zur  Diskussion stehen. Rein rational betrachtet ­ um mir selbst  gleich zu widersprechen ­, vielleicht schon, aber die theoretische  Hinterfragbarkeit verblasst vor der einfach praesenten  Oberflaeche.  Etwas gefaellt uns oder nicht, wir moegen jemanden oder nicht  ­ und das entscheiden wir, innerhalb unserer Welt, in der der  andere eine statische Randfigur ist. "Wir" begegnen "uns" nicht  "wirklich", waehrend wir uns fuer komplex, besonders, oder  auch nur besonders gewoehnlich halten, sind wir fuer den  anderen eine voruebergehende Erscheinung. Jemanden so auf  die Oberflaeche zu reduzieren ­ ist das gemein (weil wir  vereinfachen) oder respektvoll (weil wir annehmen, was da ist)?  Hier beginnt die Runde wieder von vorne (s. Punkt 1).  Wie die Tiere geht der Frage nach, warum dennoch Dinge, die  wir sagen, fragen oder behaupten, Bedeutung haben. Und weil  Fragen auch mehr zaehlen als Antworten, ebenso der Frage, wie  wir uns verstaendlich machen koennen.  "Wie die Tiere" bedeutet hier unwissend, auf unklare Weise  anders, nicht wir, offen, unvoreingennommen. Das kann ein  angemessener Zustand sein.  7
  • 9. Wie die Tiere Einleitung..............................................................................................5 Ausgangslage.....................................................................................11 Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht. Das ist die beste Voraussetzung fuer ein gutes Gespraech. ....................................11 Differenz: Visualisierung im Streit..................................................14 Immer Herausfordern.....................................................................16 Wie Ideen beschreiben..................................................................17 Schaffen bedeutet immer verlieren................................................18 Wie koennen wir die Seiten wechseln? .........................................20 Sie sind anders..............................................................................20 Sie meinen es anders....................................................................21 Distanz befreit................................................................................25 Festlegende Systematik: Spekulation als Befreiung, zuschreibendes Erkennen als Festsetzung...................................26 Medien und Gemeinplaetze: Wir wissen und verstehen nur, was wir immer schon gewusst haben.........................................................29 Varianten: Was machen wir aus dieser Situation?.........................33 Einsiedelei ist eine Option..............................................................34 Abgrenzung ist Bezugnahme und Bestatetigung...........................35 Wir sind nicht allein........................................................................38 Distanz und Flexibilitaet: Je weniger wir wissen, desto sicherer sind wir...................................................................................................39 Primat der Oberflaeche..................................................................44 Folgen der Praesenz: Wehrlosigkeit..............................................46 Folgen der Praesenz: Selbstbehauptung.......................................47 Begriffsbildung: Warum heisst das, was wir sagen, ueberhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? ..................................................50 Und wie koennen wir uns trotzdem verstaendigen?......................51 Tiere werden konditioniert – Wollen wir Menschen tatsaechlich verstehen? ....................................................................................55 Philosophische Kompetenzen........................................................56 Vermutungen: Wie koennen wir verstehen? Wie koennen wir uns verstaendigen? .................................................................................59 Oberflaechen..................................................................................60 “Wie er wirklich war”.......................................................................60 Bezug des Ich auf etwas................................................................62 Reduktion auf das Ich....................................................................63 Gewaltakt des Konsens und Macht des Durchschnittlichen, das keiner will.......................................................................................65 Verstehen, dass es anderes gibt ...................................................67 Erklaeren von Neuem durch Bekanntes ist Reduktion...................73 Mushin: “Nicht mehr denken”.........................................................78 9
  • 10. Wie die Tiere Was ist schon neu? .......................................................................80 Unterschiede in der Naehe wahrnehmen.......................................82 Welcher Spielraum bleibt dabei fuer Neuigkeiten? .......................83 Dissens ist Effizienz – abhaengig von der Perspektive..................84 Extrapolation und Spiele................................................................85 Die Kunst, den Faden nicht verlieren.............................................87 Rhetorik im Verdacht......................................................................91 Gute Gedanken ausdruecken: mashup.........................................93 Wir muessen trotzdem miteinander reden.....................................97 Muster als Kommunikationsstrategie – pragmatische Allegorien.100 Entscheidungsoptionen................................................................101 Perspektiven wechseln...................................................................103 Allegorien als ein Mittel, Distanz herzustellen – und das befreit..106 Standardisierung von Mustern......................................................111 Anleitungen, Muster, Missverstaendnisse....................................116 Verhandlungssache......................................................................123 Orientierung, Bildung von Perspektiven.......................................128 Was zaehlt ist die Oberflaeche.....................................................128 Was heisst etwas zaehlt? ............................................................131 Genauso unbeschwert umgehen wie mit Tieren – Signale ernst nehmen........................................................................................134 Keine Dualitaet, kein Zusammenfuehren, keine Wahrheit...........135 Anstelle unvermittelter Gemeinsamkeit tritt das Wissen, dass alles Verhandlungssache ist – auch die letzten Gruende ....................136 Offensichtlich reden wir trotzdem.................................................137 Ein Bild des anderen machen, in dem die Dinge zusammen passen .....................................................................................................139 Perspektiven.....................................................................................141 Kann so viel passieren, wie geredet wird?...................................144 Bedeutung entsteht spaeter.........................................................145 “Die” erzeugen “uns”....................................................................146 Ein paar Grundsaetze..................................................................158 10
  • 11. Wie die Tiere Ausgangslage Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht. Das ist die beste Voraussetzung fuer ein gutes Gespraech. “Ich   verstehe   schon.”   Diese   drei   Worte   sind   eine   gefährliche  Drohung, sie beenden ein Gespraech, sie kuerzen Erklaerungen  ab und sie signalisieren, dass derjenige, der sie ausspricht, sich  bereits ein Bild gemacht hat.  Ein   Bild,   das   nur   sehr   schwer   zu   erreichen   und   kaum   zu  aendern ist. Je sicherer wir einer Sache sind, desto schneller  machen wir uns ein Bild. Je schneller wir uns ein Bild machen,  desto weniger ist uns bewusst, dass wir uns ein Bild machen,  dass   wir   in   unseren   Gedanken   und   Worten   eine   Welt  konstruieren,   die   von   der   Welt   draussen,   von   der   Welt   des  anderen, der uns etwas zeigen wollte, verschieden ist.  Je sicherer wir also einer Sache sind, desto wahrscheinlicher  liegen wir damit falsch.  “Du bist doch so ein Landwirtschaftsfreak”, sagte eine  Kollegin gestern zu mir – voraussetzend, dass ich mich  als   Ex­Staedter   und   nunmehriger   Landbewohner   fuer  alle  Aspekte  des  Landlebens  begeistern   kann.   “Nein”,  sagte   ich,   “Oder   begeisterst   Du   Dich   brennend   fuer  Muellabfuhr,   Strassenkehrer,   Obdachlose   und  verspaetete   U­Bahnen?”   ­   um   nur   einige   Aspekte   des  Stadtlebens herauszugreifen.  Ein   anderes   Beispiel:   Ein   Projektteam   diskutiert   den  Rollout   eines   Imagefilms   in   osteuropaeischen  11
  • 12. Wie die Tiere Tochtergesellschaften   eines   international   operierenden  Konzerns. “Die werden uns keine Ideen liefern”, sagt M.  “Stimmt, die Antworten waren ziemlich mager”, meint A.  “Sind die Kollegen denn schon befragt worden?”, fragt V.  Die anderen sehen sie entgeistert an, “Haben wir nicht  gerade darueber geredet?” Fragen,   Behauptungen,   Situationen,   die   fuer   den   einen  selbstverstaendlich sind, sind fuer den anderen unvorstellbar,  allein daran zu denken oder es auszusprechen loest Unwohlsein  aus. Wir konnen vieles nicht thematisieren und wir haben dabei  auch keine Sicherheit. Bei jedem Gespraech laufen neben dem ausdruecklich Gesagten  mehrere   Parallelebenen   mit,   einige   betreffen   Erinnerunen,  Erfahrungen, andere Beziehungen.  Darunter gibt es auch das Bild von uns, das waehrend des  Gespraechs   beim   anderen   entsteht.   Haben   wir   jemals   das  wirklich gute Gefuehl, dass uns das gerecht wird? ­ Wie weit  duerfen wir, wenn wir uns das eingestehen, unseren eigenen  Bildern vertrauen? Gibt es einen Massstab, an dem sich die  unterschiedlichen   Vorstellungen   messen   lassen?   Und   mit  wessen Augen kann dieser Massstab abgelesen werden?   Es   bedarf   nur   minimaler   Verschiebungen,   und   wir   koennen  einander   wie   Idioten   aussehen   lassen.   Wir   beklagen  Missverstaendnisse,   wundern   uns   ueber   die   mangelnde  Einsicht zweier Streitparteien, wenn wir als Dritte unbeteiligt  daneben   stehen,   und   schaffen   dadurch   selbst   nur   eine  zusaetzliche,   genau   so   richtige,   genau   so   unberechtigte  Sichtweise.  Das koennen wir nicht aus der Welt schaffen, das koennen wir  nicht   aendern.   Wir   koennen   uns   dieser   Tatsache   bewusst  werden, und unsere Kommunikation darauf abstimmen.  12
  • 13. Wie die Tiere Mit wem reden wir, welchen Hintergrund, welche Erfahrungen  hat diese Person? Was versteht er oder sie unter Begriffen, die  wir   wie   selbstverstaendlich   verwenden,   was   ist   fuer   ihn  fragwuerdig, obwohl wir es fuer garantiert halten? Gibt es eine  gemeinsame   Welt   in   der   wir   uns   bewegen,   wo   lassen   sich  Beruehrungsspunkte schaffen? Wo ist unser Gegenueber gerade  jetzt,   welche   der   vielen   moeglichen   Kombinationen   seiner  Positinoen sind fuer ihn gerade jetzt wichtig? Eines   ist   wichtig:   Es   geht   hier   nicht   um   Zielgruppen,  Kundenschichten   oder   ­klassen   oder   Kampagnenadressaten.  Hier   ist   die  direkte   Kommunikation   das  Thema:   Die  Unterhaltung unter Kollegen, zwischen Fuehrungskraeften und  Mitarbeiter,   zwischen   Kunde   und   Verkaeufer   –   oder   in   der  Beratung.  Die   demuetige   Haltung,   den   Standpunkt   des   anderen   als  eigenen, eigenstaendigen und in seiner Umgebung auf jeden Fall  gerechtfertigten Standpunkt zu akzeptieren, als etwas, das nicht  wir   sind   und   das   wird   grundsaetzlich   erst   einmal   nicht  verstehen,   ist   der   erste   Schritt   um   so   etwas   wie   Verstehen  ueberhaupt zu ermoeglichen.  Das   klingt   nach   grossen   Worten   einerseits,   und   nach   einer  leeren Selbstverstaendlichkeit andererseits. Aber probieren Sie  es einmal, wenden Sie es an einem Standpunkt an, der Ihnen  wirklich gegen den Strich geht: Nicht immer ist Toleranz das,  was uns leicht faellt und uns von den anderen unterscheidet –  etwa wenn wir die Intoleranz unseres Gegenuebers tolerieren  sollen... Eine Frage, die uns durch diesen ganzen Text begleiten wird, ist  die Frage nach den Dimensionen des Verstehens: Was bedeutet  es als Begriff, wo ist der Uebergang zwischen Verstehen und  Ueberzeugung, und wo wird Verstehen zum Handeln? Und wie  lange besitzt Verstandenes Gueltigkeit? Inwiefern trifft das, was  wir heute verstand haben, morgen noch zu?  13
  • 14. Wie die Tiere Differenz: Visualisierung im Streit “Ich verstehe schon” sind drei Worte, die gern als Beruhigung  verwendet werden. Was wir damit ausdruecken moechten, ist  oft: “Ich akzeptiere Deinen Standpunkt, ich anerkenne Deine  Leistung, Du erzaehlst mir hier nichts Neues.” Was wir meist  nicht damit ausdruecken wollen, ist: “Ich bin ueberzeugt von  dem was Du sagst, ich werde das so umsetzen, ich gebe meinen  eigenen Standpunkt auf.” Was wir verstehen, wenn wir diese drei Worte hoeren, ist: “Ich  akzeptiere was Du tust, ich akzeptiere Deine Empfehlungen.”  Oft ist es aber auch das Empfinden, in unserer Argumentation  abgewuergt zu werden, auf einen aktuellen Zustand reduziert  zu werden, in dem wir noch gar nicht alles angebracht haben,  was wir sagen wollten Es ist das Gefuehl  eben genau nicht  verstanden zu werden. Wir verstehen: “Du brauchst nicht weiterzureden, jetzt will ich  wieder reden.” ­ Was oft auch gemeint ist. Der reale Verlauf  vieler   Gespraeche   aehnelt   zufaelligen   Begegnungen   in  Parallelwelten. ­ Beruehrung findet nicht statt.  Der Ausgang dieser Geschichte haengt nicht von Inhalten ab; es  ist eine Frage der Form und der Beziehungen. Oft spielen auch  Reizworte oder bestimmte Verhaltensmuster eine entscheidende  Rolle.   ­   Reizworte   sind   oft   das   Bindeglied   zwischen  Parallelwelten. Sie dringen durch, machen sich bemerkbar – das  bedeutet aber nicht, dass sie auch verstanden werden.  Warum polemisieren wir so gerne? Das ist ein offensichtliches  Beispiel,   wie   wir   uns   verstecken,   uns   hinter   eine   Rolle  zurueckziehen koennen. Dabei fuehlen wir uns sicher, wer da  redet, das sind nicht wir. Genau   so   sind   provokative   Fragen,   rhetorische  Demonstrationen leere Huellen. Sie bewirken nichts, sie bringen  14
  • 15. Wie die Tiere keinen Mehrwert in der Kommunikation. Mit einer Ausnahme:  Sie helfen, Grenzen zu erkennen, sie entfremden, sie zeigen,  dass der andere anders ist – auf eine Weise, die wir mit unseren  Begriffen nicht erfassen koennen, ohne sie in diesem Moment  schon wieder zu aendern, anzugleichen. Beide, Polemik und Rhetorik, streuen Reizworte und sorgen fuer  erste Reaktionen. Differenz   wird   am   besten   im   Streit   sichtbar.   Jeder   Streit  hinterlaesst ein Gefuehl der Entfremdung, eine unangenehme  Ueberraschung ­ “Das haette ich mir nicht von dir gedacht”,  “Ich dachte, wir waren uns einig”.  Die so sichtbar gewordene Differenz ist keine inhaltliche; sie ist  vielmehr von den bis dahin uebergangenen kleinen Differenzen  verursacht und verstaerkt. Der groesste Unterschied entsteht  immer   dadurch,   dass   wir   die   Wahrnehmungen   uebergehen;  vielleicht beschreiben wir sie sogar mit den gleichen Worten –  aber sie bedeuten verschiedenes fuer uns. Darueber reden wir  nicht,   weil   es   fuer   uns   selbstverstaendlich   ist,   genau   so  selbstverstaendlich,   wie   fuer   unser   Gegenueber   die  entgegengesetzte   Bedeutung.   Bedeutung   entsteht   durch   das  Umfeld und durch Beziehungen. Oft kennen wir unser Umfeld  (oder   dessen   Auswirkung   auf   uns)   nicht;   selten   denken   wir  ueber das Umfeld der anderen nach. Das Problem entsteht nicht  nur anhand der Inhalte – die scheinbar ploetzliche Differene, die  vielleicht nur einen kleinen Punkt betrifft, stellt ploetzlich viel  mehr, die ganze Bewertung in Frage.   Im Streit spielt immer die Frage nach richtig oder falsch eine  Rolle. Die kann hier zu keinem Ergebnis fuehren, sie braucht  immer einen Rahmen. Wie koennen wir das loesen? Sollen wir  von Anfang an als anders auftreten?  15
  • 16. Wie die Tiere Immer Herausfordern Im Sport gibt es keine Zeit fuer Erklaerungen; der Kontext spielt  im   Kampf   und   Sekunden   und     Punkte   keine   Rolle.   “Nicht  schlecht   fuer   die   Verhaeltnisse...”,   “Fuer   die   gerade   erst  ausgeheilte   Verletzung   ganz   ok”   ­   das   sind   die   duerftigen  Erklaerungen des Verlierers, die am Ergebnis nichts aendern.  Wo es nur eine Chance gibt, zaehlen nur die beste Vorbereitung,  das klarste Auftreten und der ausdrueckliche Wille, hier auch  zu gewinnen.  “Ein Gefuehl hasse ich wirklich”, sagt Shawn Flarida,  erfolgreichster Sportler in der Westernreitdisziplin Reining  in seiner Videoserie “Good as Gold”. “Ich moechte nicht  aus   der   Arena   gehen   und   mir   denken   'ich   haette   es  haerter versuchen sollen'.” Er verdient sein Geld damit,  Pferde in rasanten Manoevern so praezise wie moeglich  durch die Arena zu steuern. Zu viel Sicherheit wird dabei  nicht   belohnt:   Zu   verhaltenes   Auftreten,   zu   viele  korrigierende   Eingriffe   wirken   sich   negativ   auf   den  sogenannten Score, die Punktebewertung aus.  Das Risiko ist ein sehr hoch – und es wird von vielen  Faktoren   beeinflusst.   Der   Reiter   kann   einen   Fehler  machen, das Pferd kann einen schlechten Tag haben, der  Boden   kann   schlecht   praepariert   sein,   andere  Umwelteinfluesse   koennen   stoeren   –   all   das   ist   nicht  planbar,   daher   ist   Absicherung   nicht   moeglich.   Der  einzige Weg, zu gewinnen, ist der, das volle Risiko zu  nehmen und bei jedem Antreten bis an die Grenzen zu  gehen. “Wenn es schief geht, kann ich daran arbeiten;  wenn ich die Grenzen nicht herausfordere, weiss ich nie,  wie weit ich gehen kann.”  Wenn wir voraussetzen, dass wir einander verstehen,  ist die  Situation aehnlich wie in einem Wettkampf, in dem auf Risiko  16
  • 17. Wie die Tiere verzichtet wird: Moegliche Unterschiede treten nie zutage, die  Ideen,   deren   Potential   wir   genauso   in   rasanten   Manoevern  ausreizen   sollten,   koennen   sich   nie   wirklich   entfalten   –   wir  gehen auseinander und haben einmal mehr das schale Gefuehl,  dass wir das alles schon vorher gewusst haben.  Dieser Kollege, dieser Verkaeufer oder dieser Berater konnte uns  auch wieder nicht weiterhelfen... Und   wir   verbringen   farblose   uninteressante   Tage   in   einer  Umgebung, die uns  nicht gerecht wird, mit dem Gefuehl, dass  es   anderswo   besser   waere,   und   der   zerstoererischen  Einstellung,   dass   es   sich   ohnehin   nicht   auszahlt,   aktiv   zu  werden.  Wie Ideen beschreiben Wir muessen nicht immer darauf bestehen, dass wir anders  sind. Im Gegenteil. Wir sind verschieden – aber je mehr wir  darauf beharren, desto weiter gleichen wir einander an. Die   Frage  nach   Andersartigkeit,   Neuartigkeit   wird   uns   noch  oefter beschaeftigen, auch die Frage nach dem Wir, nach uns  selbst. Wir   koennen   auch   nicht   erwarten,   in   jeder   alltaeglichen  Unterhaltung   Neues   zu   erfahren.   (Wobei   ich   hier   nicht   an  persoenliche, Intimitaet erzeugende Unterhaltungen denke – in  solchen Gespraechen entsteht in jeder Minute das Universum  neu, ­ sofern wir es zulassen...). Gerade in Verkaufssituationen, in Ideenentwicklungsprozessen,  in   Kreativitaet   fordernden   Momenten   muessen   wir   uns   sehr  wohl   darauf   einstellen,   Neuem   zu   begegnen,   mit   anderen  Hintergruenden   zu   arbeiten.   Wir   muessen   unsere   Idee   so  praesentieren,   dass   wir   alle   Bedingungen   mit   aufgezeichnet  17
  • 18. Wie die Tiere haben, die notwendig sind, um sie zu verstehen.  Wir duerfen nicht voraussetzen, dass unser Gegenueber an die  gleichen   Hintergruende,   an   die   gleichen   Bedingungen   und  Abhaengigkeiten denkt wie wir. Wenn unsere Idee nicht in allen  Zusammenhaengen und allen Welten funktioniert (gibt es eine  Idee,   auf  die  das  zutrifft?),  dann   muessen   wir  den  Rahmen  schaffen, in dem sie verstanden werden kann. Wer sich  ueber den verbindenden Rahmen hinausbewegt und  akzeptiert,   dass   zusaetzliche   Erklaerungen   notwendig   sind,  laeuft Gefahr, erst einmal Ablehnung hervorzurufen: Grosse Teile der Erklaerungen werden als selbstverstaendlich  angesehen   (Selbstverstaendlichkeit   ist   ein   weiteres   sehr  gefaehrliches   Wort   und   selbst   immer   von   aktuellen   Kontext  abhaengig). Anderes als von sehr weit hergeholt. Erklaerungen  werden oft  auch als Schwaeche der erklaerten  Idee betrachtet – sie steht nicht fuer sich selbst.  Schliesslich stehen auch die Chancen nicht schlecht, dass der  Erklaerende schlicht als jemand angesehen wird, der zu gern zu  viel redet... Unterschiede   sind   nicht   immer   nur   Varianten   desselben,  sondern manchmal wirklich anders.  Schaffen bedeutet immer verlieren “Ist das nicht...”, “Wie meinen Sie das...”, “Warum meinen Sie  dass... “ ­ Fragen kommen sehr unterschiedlich bei uns an.  Wenn wir erwarten, dass unsere Idee fuer sich selbst spricht,  gut   und   leicht   verstaendlich   ist   und   alle   offenen   Fragen  beantwortet, dann gilt jedes Nachfragen leicht als Kritik. ­ So  tolerant und offen wir auch sein moegen, wir glauben uns auch  dabei im Recht; schliesslich haben wir ja alles erklaert. Dass  18
  • 19. Wie die Tiere unser   Gegenueber   moeglicherweise   nicht   nur   mit   anderen  Erfahrungen und Ansichten an die Sache herangeht, sondern  zusaetzlich vielleicht grundlegend anders denkt, ist etwas, das  wir uns oft erst bewusst machen muessen.  Herausfordern,   den   Bogen   ueberspannen,   den   Rahmen  sprengen – mit diesen Schritten bewegen wir uns schnell darauf  zu,   mehr   diskutieren   zu   muessen,   als   scheinbar   sachlich  notwendig ist. Das ist aber der einzige Weg, den Dingen auf der  Suche   nach   neuen   Wegen   auf   den   Grund   zu   gehen.   Damit  meine   ich   keine   bunten,   spannenden,   originellen  Praesentationstechniken   –   die   sind   nur   Rhetorik.   Ich   meine  trockene, langweilige, detailorientierte Arbeit.  Wer dabei den ersten Schritt macht, ist dann oft der, der auch  die ersten Runden verliert.  Am   Beispiel   eines   Produktentwicklungsprozesses:   Die  erste kurz hingeworfene Idee ist kaum verstaendlich; sie  hat   zu   wenig   Substanz,   um   uns   aus   den   gewohnten  Schienen in neue Bereiche zu fuehren. Eine Diskussion  hier dient nur dazu, die bestehenden, alten Standpunkte  zu befestigen. Ein   ausformulierter   Entwurf   oder   ein   Prototyp   werfen  gleich die Frage auf, was hier alles vergessen wurde. Auf  den ersten Blick ist oft leichter zu erkennen, was nicht  moeglich ist oder in der Spezifikation vergessen wurde;  die erfuellten Anforderungen erschliessen sich dann erst  in der Anwendung.  Ein   Prototyp   mit   einem   begleitenden   Konzept   ist   eine  Menge   Arbeit.   Das   Paket   erklaert   und   praesentiert  glechzeitig die Idee und die Argumente, mit denen sie  vom Tisch geredet werden kann. Dadurch ist die Arbeit  oft   umsonst   –   sie   lenkt   die   Diskussion   aber   in   eine  Richtung, die brauchbare Ergebnisse erwarten laesst.  19
  • 20. Wie die Tiere Nachfragen bedeutet also Attacken  gegen unsere Arbeit. Das  wissen auch die Fragenden – deshalb ist es um so wichtiger, die  Attacken herauszufordern.  Die Betonung von Differenz kann einsam machen. Sie bietet  aber auch die Chance, das Gespraech zu beginnen. Offener   Widerspruch,   sind   sich   auch   Unternehmens­   und  Organisationspsychologen   einig,   ist   ein   wichtiger   Schritt   auf  dem Weg, Vertrauen zu erzeugen, Wie koennen wir die Seiten wechseln? Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht.  Wir koennen lernen, die Wichtigkeit unserer Standpunkte fuer  uns zu relativieren. Es geht hier nicht um die Erweiterung des  Horizonts, nicht um Toleranz oder Bildung. Wir wissen nicht  mehr als die anderen, wir sind nicht anderen, vielleicht fuer  unsere Begriffe falschen Standpunkten gegenueber toleranter –  wir   sind   nicht   anders   sind   als   der,   dem   wir  Orientierungslosigkeit,   mangelnde   Weitsicht,   vielleicht   gar  Egoismus unterstellen. Unsere   fuer   uns   wohl   geordnete   Welt,   in   der   alles  zusammenpasst ist fuer den anderen – das kann schon der  Kollege   einen   Tisch   weiter   sein   –   ein   dunkles   Dickicht   voll  unkontrollierbarer Gefahren und abstruser Kuriositaeten.  Wenn wir das nachvollziehen, wahren wir unsere Chance auf  Verstaendigung.  Sie sind anders Wir nehmen Unterschiede unterschiedlich wahr. Ueber manche  20
  • 21. Wie die Tiere sehen wir gern hinweg, andere stoeren uns ganz dramatisch.  Die Teerituale des einen, die vielen leeren Floskeln des anderen,  die immer aengstliche Miene einer dritten – dahinter stecken  auseinanderlaufende Weltanschauungen. Es geht nicht nur um  Gewohnheiten, Erziehung, Praegung; was wir machen und wie  wir es machen sendet Signale, die wir genauso als Erklaerungen  betrachten koennen, wie mitgelieferte Gebrauchsanweisungen.  Wir machen nicht das gleiche auf verschiedene Art und Weise,  wenn wir aehnliche Dinge tun. Der eine kocht Tee, laesst ihn  minutenlang ziehen, verwendet Untertassen und Servietten. Der  andere trinkt Wasser in der Kueche und raeumt das Glas gleich  weg – falls er ueberhaupt eines verwendet hat. Der eine ist in der Welt zuhause, vertraut darauf, dass alles so  sein soll wie zuhause, dass die Dinge so sind, wie er sie gelernt  hat. Der andere ist immer bereit, haelt sich nicht mit Ballast auf  und ist immer auf dem Sprung.  Fuer den einen ist es selbstverstaendlich, auf die Umgebung  zurueckzugreifen,   fuer   den   anderen   ist  es   unvorstellbar,   um  etwas zu bitten oder etwas zu brauchen – und beide sind in  dieser Umgebung, in diesem Selbstverstaendis ganz natuerlich  zuhause.  Wir   haben   so   unterschiedliche   Sichten   geschaffen   wie  Satanismus, Zen, die katholische Kirche oder die Moon­Sekte –  und   Ihr   Nachbar,   Ihr   Kollege   koennen   einer   dieser  Organisationen anhaengen, ohne dass Sie es auch nur ahnen.  Grund genug, die Unterschiede ernst zu nehmen.  Sie meinen es anders “Ich   bin   nicht   so   ein   Mensch,   der   sich   jeden   Tag   mit   der  Rundbuerste hinstellt”, sagt eine junge Frau im Autobus zur  anderen, als sie auf dem Weg zur Universitaet ihre Frisuren und  Foentechniken besprechen.  21
  • 22. Wie die Tiere “So ein Mensch.” Natuerlich ist das eine Redewendung, aber  was erschliesst sie uns, wenn wir sie ernst nehmen? Welche Art  von   Mensch   wird   ueber   die   Verwendung   unterschiedlicher  Foenbuerstenarten charakterisiert, welcher Mensch drueckt der  Welt seinen Stempel durch so einfache Taetigkeiten auf?  Oder umgekehrt: welche Art von Mensch ist so leer, so formlos,  dass   er   durch   die   Verwendung   so   alltaeglicher   Dinge   wie  Foenbuersten   gepraegt   wird?   So   haltlos,   dass   er   jede  Gelegenheit, Unterschiede zu machen, nutzen muss, um sich  abzugrenzen, sich so zu behaupten und zu definieren?  Schliesslich: Welche Art Mensch bekommt nicht mit, was eine  solche Fragestellung bedeutet?  Alle   drei   Fragen   sind   berechtigt,   auf   alle   Fragen   gibt   es  verschiedene   Antworten,   die   gleichberechtigt   nebeneinander  stehen koennen. Fragen machen Unterschiede, das liegt in ihrer  Natur,   Antworten   aber   muessen   nicht   zwingend   trennend,  ausschliessend sein. “Asiaten sind fleissiger als wir”, sagt eine andere junge Frau  beim   Mittagessen   in   der   Cafeteria   eines   internationalen  Unternehmens zu ihrer Kollegin. “Ja”, antwortet diese, “aber  duemmer.”  Schon die erste Aussage ist eine gedankenlose Pauschalierung,  die in ihrem Versuch, etwas abzugrenzen, entsetzlich inhaltsleer  ist, und in ihren Gedanken, auf die sie sich stuetzt, einfach  dumm.   Die   scheinbar   harmlose,   offene   Formulierung,   die  niemanden   konkret   betrifft   und   niemanden   ausschliesst,  braucht   in   Wahrheit   einzementierte   Grenzen,   um   zu  funktionieren. Es gibt uns, und es gibt die da drueben. Wir kennen uns genau,  aber die sind anders. Anders  als wir;  mehr interessiert  uns  nicht;   deren   Beweggruende,   Hintergruende   und   ihre  tatsaechliche Umgebung sind uns egal.  22
  • 23. Wie die Tiere Dann tritt die zweite Behauptung auf den Plan. Sie bringt nicht  nur   negative   Eigenschaften   mit   ins   Spiel,   sondern   versucht  auch noch, Dinge zu erklaeren, ohne die Perspektive, die ganze  Sicht auf die Dinge einzubeziehen. Dummheit und Fleiss als  verwandte Eigenschaften schaffen ein kulturell gepraegtes Bild  des phantasielosen Strebers, der nichts vom Leben hat (damit  troesten wir uns zumindest) Noch   einen   Schritt   zurueck:   Das   Befolgen   von   Regeln,   das  Betonen des Anderen, des Kollektivs gegenueber dem Eigenen  als Dummheit zu interpretieren, setzt selbst schon wieder mehr  voraus:   Die   “Masse”   ist   Objekt   der   Manipulation,   praktisch  willenlos und ausgeliefert.  Die Interpretation gelingt uns dann um so freizuegiger, je weiter  der interpretierte Gegenstand entfernt ist. Ohne   persoenliche   Verbindung   und   Erfahrung   faellt   es   uns  leicht, in unseren Auslegungen kreativ zu sein.  Wir   wenden   unsere   Regeln   auf   andere   an;   einmal   mehr  verstehen wir, so behaupten wir es, und einmal mehr entfernen  wir uns mit jeder Ueberzeugung, etwas zu verstehen, weiter von  dem, was wir verstehen wollten.  Dazu gibt es plakative Techniken... Unzufriedenheit “Ich   verstehe   das   nicht”   als   rhetorische   Finte   ist   genau   so  gefaehrlich wie “Ich verstehe schon”. “Ich verstehe das nicht”  bedeutet oft nur: “Das ist doch leicht zu verstehen.” “Ich   verstehe   das   nicht”   als   Reaktion   eines   Dritten   auf   die  Diskussion   zweier   anderer   fuehrt   einen   zusaetzlichen  Standpunkt ein, eine Perspektive, aus der sich Probleme anders  betrachten   lassen.   “Warum   verstehen   die   einander   nicht,  warum reden die aneinander vorbei” ­ die Grosszuegigkeit, mit  der wir hier Perspektiven wechseln, ist oft eindimensional, mit  23
  • 24. Wie die Tiere uns   selbst   lassen   wir   nicht   so   umspringen,   den   eigenen  Standpunkt koennen wir einzementieren. Wenn wir die Moeglichkeit des Perspektivenwechsels im Kopf  behalten koennen, uns betrachten, als koennten wir uns in der  Diskussion beobachten, haben wir die Chance, zu lernen. Projektion “Der meint das sicher anders...” Unser Gegenueber hat seinen  Standpunkt zwar ausfuehrlich dargelegt, wir sind trotzdem der  Meinung, es besser zu verstehen: Das kann nicht so sein; in  unserer Welt ist es anders.  Wir wollen nicht ueber Kleinigkeiten diskutieren, die Meinung  des anderen ist uns auch egal – wir sehen grosszuegig ueber  den Irrtum des anderen hinweg und halten unsere Expertise  dagegen.   Damit schaffen wir eine Welt, die gut zu unserer passt, aber  wenig mit dem zu tun hat, was wir mit offenen Augen draussen  vorfinden koennten. Identifikation “Bei mir ist das auch so”, “Das habe ich mir auch schon oft  gedacht”. Das Wegwischen  von Grenzen,  das Angleichen von  Ansichten   und   Erfahrungen   steht   fuer   das   Ausdehnen   der  eigenen Ansichten, das Anwenden der Regeln einer Welt auf eine  andere Welt. Manchmal   sagen   wir   es   aus   Hoeflichkeit,   um   darueber  hinwegzutaeuschen,   dass   wir   mit   dem,   was   uns   der   andere  erklaeren   moechte,   ueberhaupt   nichts   anfangen   koennen.  Manchmal soll es unseren Standpunkt bestaetigen und den des  anderen unterdruecken ­ “Du sagst hier nichts neues.” Manchmal steckt auch ein Lerneffekt dahinter: Jemand sieht  etwas so wie wir; ein Standpunkt, den wir fuer unseren, fuer  24
  • 25. Wie die Tiere individuell gehalten haben, begegnet uns von aussen wieder.  Aus der Ueberrasschung koennen Neid und Dominanzprobleme  entstehen,   es   koennen   auch   Verbuendete   wachsen.   Wir  identifizieren   uns   mit   anderen   (oder   andere   mit   uns)   und  koennen auf dem Weg ueber andere reden und dennoch mehr  ueber uns sagen.  Je entfernter der andere – trotz festgestellter Gemeinsamkeiten –  von   uns   ist,   desto   leichter   faellt   es   uns,   die   gemeinsame  Identitaet zu projizieren.  Distanz befreit “Die   machen   das   so”,   “Die   sind   so”   ­   je   geringer   unsere  Betroffenheit   von   etwas   ist,   desto   groesser   ist   unsere  Flexibilitaet im Umgang damit.  Wer nicht da ist, kann sich nicht wehren, wer uns nicht hoert,  kann   sich   nicht   darueber   beschweren,   nicht   verstanden   zu  werden, und wo wir keine Auswirkungen zu erwarten haben,  sind wir frei.  Wo   uns   nur   Oberflaechen   begegnen,   brauchen   wir   uns   mit  nichts   weiter   auseinanderzusetzen.   Die   Reduktion   auf  Oberflaechen kann durch raeumliche Distanz entstehen, durch  historische Distanz oder durch kulturelle Fremdartigkeit. Wir  finden   keinen   weiteren   Anhaltspunkt,   also   bleiben   wir  draussen.   Weil   es   uns   aber   selten   gelingt,   die   Dinge   zu  belassen, wie sie sind, denken und interpretieren wir weiter.  Dabei koennen wir uns frei fuehlen – dumme fleissige Asiaten,  intelligente Brillentraeger, kluge schoene Menschen und andere  Fabelwesen entstehen auf diesem Weg.  Die Tendenz zur Oberflaeche hat Methode. Sie entspricht der  Reduktion auf das, was wir wahrnehmen koennen. Wenn wir an  der Oberflaeche  bleiben,  auf  Interpretationen   verzichten  und  uns am dem orientieren, was ist, haben wir eine Chance, uns in  25
  • 26. Wie die Tiere unserer Umgebung zurechtzufinden. Oberflaechlichkeit ist eine adaequate Verhaltensweise.  Festlegende Systematik: Spekulation als Befreiung, zuschreibendes Erkennen als Festsetzung Warum scheint es manchmal so einfach, einander zu verstehen,  und manchmal unmoeglich? Welcher   Systematik   folgen   die   Methoden,   die   wir   fuer   uns  entwickelt   haben,   damit   umzugehen?   Welche   dienen   der  Bestaetigung   von   Unterschieden,   welche   der   Suche   nach  Verbindendem? In   unserem   Bemuehen,   die   Welt   beschreibbar   zu   machen,  haben wir viel Trennendes geschaffen. Jede Bezeichnung, jeder  Begriff dient nicht nur dazu, eine Verbindung herzustellen (“Ich  bezeichne etwas”, also gibt es einen Bezug von mir zu diesem  Etwas),   sondern   auch,   Abgrenzungen   einzufuehren:   Es   gibt  “ich” und “etwas”, also bin ich nicht etwas und ich bin auch  nicht so wie etwas.  Wenn wir eine Flasche als Flasche bezeichnen, ist das nicht  weiter auffaellig, wenn wir einen Menschen als sturen Bock,  dumme   Kuh   oder   eben   als   Flasche   bezeichnen,   ist   recht  deutlich, dass wir hier Unterschiede sehen.  Wir   haben   wahrgenommen,   dass   etwas   anders   ist,  und   wir  haben eine Bezeichnung dafuer gefunden. Wie machen wir jetzt  weiter? In der Regel sind wir der Meinung, recht zu haben. Was  bringt uns das, wenn wir von einem Menschen etwas wollen?  Wir haben die Moeglichkeit, ihn davon zu ueberzeugen, dass er  eine dumme Kuh ist und dass er sich mit anderen Ansichten  beschaeftigen sollte. Das birgt einen gewissen Widerspruch.  26
  • 27. Wie die Tiere Wir   haben   die   Moeglichkeit,   uns   nach   anderen   Menschen  umzusehen. Das ist in der Regel nicht endlos praktizierbar.  Wir haben auch die Moeglichkeit, damit umzugehen, uns zu  fragen, was eine dumme Kuh eigentlich ausmacht, wie die Welt  aus der Perspektive einer Kuh aussieht und welche Reize uns  als   Kuh   dazu   bringen   koennen,   das   zu   tun,   was   wir   (als  Mensch) gern von der Kuh moechten.  Es ist zweifelhaft, ob wir jemals das Talent haben werden, die  Welt wahlweise mit den Augen einer dummen Kuh, eines sturen  Bocks,   eines   Angsthasen   oder   dessen,   was   wir   fuer   einen  Menschen halten, zu sehen. Wenn wir aber die Aufgewecktheit  haben,   uns   vor   Augen   zu   halten,   dass   wir   Perspektiven  wechseln muessen, dass wir in dem, was wir sagen wollen, auf  verschiedene Perspektiven eingehen muessen, koennen wir uns  auf ein gewisses Mass an Offenheit zubewegen – immer an der  Oberflaeche.  Eine offene Frage ist, wo hier der Nutzen liegt.  In welchen Situationen wollen wir verstehen, wo sind wir darauf  angewiesen,   was   unser   Gegenueber   sagt,   und   wo   liegt  tatsaechlich eine so grosse Distanz zwischen uns, dass diese  Gedanken es wert sind gedacht zu werden? Tierstereotype sind nur ein Beispiel, in dem wir uns die Welt  zurechtruecken, in dem wir scheinbares Allgemeingut (das Bild  einer dummen Kuh), von dem niemand weiss, was es genau  bedeutet, verwenden, um etwas hoechst persoenliches (einen  Menschen) zu bezeichnen. Es spielt dabei keine Rolle, dass der  Vergleich   beleidigend   sein   mag   –   der   Gewaltakt   an   sich  geschieht bereits durch die Bezeichnung. “Du bist...”, “Menschen wie du sind...”, “Du willst doch immer...”  ­ dieses Zuschreiben, dieses Festsetzen ist nicht fuer alle eine  Belanglosigkeit. 27
  • 28. Wie die Tiere Wenn wir es als Repraesentation unserer selbst in der Welt des  anderen verstehen, bedeutet es das Anlegen von Fesseln, das  Anhaengen von Gewichten an unsere Persoenlichkeit. Wir sind  jetzt   so.   Zumindest   in   dieser   Beziehung;   in   anderen  Beziehungen koennen wir genauso entgegengesetzt sein, sind  wir vielleicht schon weitergegangen.  Der   existentialistische   Horror   vor   diesem   hilflosen  Ausgeliefertsein ist eine moegliche Haltung. Sartres “Huis Clos”  oder “Ekel” sind genauso eine Manifestation dieser Haltung wie  Schoenheitsoperationen   oder   Kaufsucht.   Wir   erleben  Unzulaenglicheit   oder   eingeschraenkte   Moeglichkeiten   und  reagieren – irgendwie, mit Gefuehlen, Aktionismis.  Ich moechte eine pragmatischere Haltung entgegensetzen. Wir  koennen   persoenliche   Vorlieben   und   Stereotype   hinter   uns  lassen. Wir sind sogar sehr talentiert darin: Die Kommunikation  ueber statische, extrem reduzierte Allegorien – immer an der  Oberflaeche   –   begegnet   uns   ueberall.   Man   nennt   sie   auch  Klischees. Die   Zuschreibung   von   Zustaenden,   Eigenschaften   ist   ein   so  erfolgreicher Weg, dass ganze Industrien darauf basieren. Jede  Form   von   Kultur   –   spaetestens   dann,   wenn   sie   ausgestellt,  beschrieben   oder   verkauft   wird   –   beruht   auf   diesen  Mechanismen. Das Einfrieren von Zustaenden, die im Moment fuer uns Sinn  machen, ist eine Beschreibung der Welt fuer uns. Damit setzen  wir uns ueber vieles hinweg, nehmen viele Verkuerzungen und  Verfaelschungen in Kauf  ­ aber damit funktioniert unser Bild  von   der   Welt   fuer   uns.   Bei   anderen   mag   es   ratloses  Kopfschuetteln ausloesen.  Dieses Prinzip funktioniert nicht nur in Massen­, Populaer­ oder  Subkulturen.   Auch   die   radikalsten   Formen   sind   dem  unterworfen   –   sobald   die   Suche   nach   Worten,   nach  Beziehungen anfaengt. Wir koennen Worte finden – und uns  28
  • 29. Wie die Tiere damit vom Gegenstand entfernen. Wir koennen auf Naehe und  Direktheit beharren – uns uns damit in Worten verlieren, die  sich auf immer Allgemeineres reduzieren, die uns den Eindruck  vermitteln, nah an der Sache zu sein, aber kaum noch etwas  bezeichnen.  Auch   das   ist   existenzialistisch,   oder   eine   Folge   davon.  Heideggers   Spaetphase   mit   “Vom   Ereignis   –   Beitraege   zur  Philosophie”   und   viele   Arbeiten   der   Dekonstruktion   sind  eindrucksvolle Beispiele dafuer, wie den hellsten Koepfen auf  der Suche nach dem, was wirklich etwas bedeutet, was etwas  wirklich bedeutet, Schritt fuer Schritt die Worte ausgehen.  Medien und Gemeinplaetze: Wir wissen und verstehen nur, was wir immer schon gewusst haben Wo viele Worte sind, ist die Gefahr der Entfernung gross; wir  nuetzen Worte und die damit verbundenen Bilder, um das zu  umschiffen,   was   wir   sagen   wollten.   Medien   sind   natuerlich  Meister darin, Klischees zu reproduzieren. Das ist ihre erste  und   vordringlichste   Aufgabe   –   sonst   wuerden   wir   sie   nicht  verstehen. Offen ist nur, welche Klischees verwendet werden, und welche  bestaetigt oder attackiert werden. Die   investigative   Leistung   des   Journalismus   besteht   darin,  herauszufinden, wann welches Klischee aus welcher Schublade  gezogen werden soll.  Klischees   muessen   nicht   zwangslaeufig   bewertend   sein,  dealende Schwarzafrikaner muessen nicht gegen kurzsichtige,  schmalschultrige IT­Experten oder gierige Boersenhaie antreten  –   Klischees   gehoeren   zu   den   Kernfunktionen   unserer  Kommunikation.  29
  • 30. Wie die Tiere Wir   verstehen   immer   nur   das,   was   wir   schon   in   unseren  Koepfen haben; es ist fuer uns ein Wahrheitskriterium, dass wir  es   nachvollziehen   koennen.   Wir   bestaetigen,   erweitern,  verwenden   Muster,   wir   muessen   die   Muster   erst   einmal   als  solche erkennen koennen, wir muessen uns bewusst sein, dass  neues nur sehr langsam sickert.  Das ist eine Beschreibung der Dinge, kein Vorwurf. wir koennen  keine   andere   Position   einnehmen   als   unsere.   Auch   der  weitgereiste und engagierte Journalist beschreibt das, was er  zufaellig gesehen hat. Im Lauf der Jahre wird das eine Menge –  aber es ist weit entfernt von dem, was in der Zwischenzeit alles  passiert ist. Mehr   sehen   heisst   nicht   mehr   zu   verstehen.   Synthese   und  Konsens   anstreben   zu   wollen   –   das   sind   Ueberreste   von  Bildungsromantik.  Viele haeufig wechselnde Perspektiven, Werte und Ansichten in  Bewegung   nebeneinander   stehen   lassen   zu   koennen,   sie  erfassen zu koennen, damit umgehen zu koennen – das sind  Kompetenzen, die wir brauchen... Darum ist es so gefaehrlich, zu sagen “Ich verstehe schon.”   Eine Beleidigung, ein Akt der Gewalt. Darum ist es vergebliche  Muehe, auf dem eigenen Verstaendnis, auf dem Standpunkt zu  bestehen   und   fremden   Muster   eigene   Muster  gegenueberzustellen. Die   Unterschiede   liegen   nicht   in   der   Sprache,   nicht   in   der  Erfahrung oder der Bildung, all das sind begleitende Faktoren.  Die Unterschiede liegen in unserer Welt, in unseren Welten, in  fuer uns wohlgeordneten, klaren und gewohnten Umgebungen,  die fuer den anderen undurchdringliches Dickicht sind. In   dem,   was   fuer   uns   die   manchmal   platte,   manchmal  irrationale, immer andere Welt des anderen ist, die fuer uns in  einem Moment erfasst werden kann, fuer den anderen in einem  Leben nicht erschoepft ist. Wir haben einen Augenblick Zeit, zu  erfassen, was los ist, der andere hat ein Leben Zeit, sich zu  30
  • 31. Wie die Tiere veraendern – um umgekehrt.  Von Menschen, die uns begegnen, verstehen wir ungefaehr so  viel   wie   von   einem   Hund,   der   uns   zufaellig   ueber   den   Weg  laeuft. Wir machen uns ein Bild. Dem anderen sind wir egal,  vielleicht werden wir auf Essbares (vom Hund, vom Mensche auf  anderwaertig Verwertbares) geprueft.  Denn deutlicher sprechen wir nicht.    31
  • 33. Wie die Tiere Varianten: Was machen wir aus dieser Situation? In vielen Situationen muessen wir zur Kenntnis nehmen, dass  doch alles anders ist, als wir gedacht haben.  Ich nehme das als ein positives Zeichen.  Je   oefter   unsere   Prognosen   zutreffen,   desto   hoeher   ist   die  Wahrscheinlichkeit,   dass   wir   aus   einer   Scheinwelt   eine  Scheinwelt beschreiben; wir merken gar nicht mehr, dass wir  unsere – letztlich – Phantasie nicht mehr verlassen.  Nicht nur “Ich verstehe” ist, wenn es persoenlich gemeint ist,  eine boesartige Drohung. “Ich hab's doch gewusst”, “Ich habe es  immer gesagt”, “Die sind eben so” sind genauso Ausdruecke, die  entweder von Boesartigkeit oder von Dummheit zeugen – oder  von strategischer Berechnung.  Wir koennen jedes Wort auf die Waagschale legen. Das bedeutet,  dass wir grundsaetzlich nichts mehr tun. Wir   koennen   uns   an   Effizienz   orientieren   und   nur   an   das  glauben, was offensichtlich ist und nachvollziehbar funktioniert.  Das wird eine Frage der Macht.  Wir koennen unser Gefuehl, dass die Sache nicht funktioniert,  beiseite   schieben,   und   uns   darauf   verlassen,   dass   ohnehin  immer irgendetwas funktioniert.  Wir koennen uns auch den Luxus leisten, immer wieder Fragen  zu stellen, immer wieder zu ueberlegen, die Dinge in Frage zu  stellen   und   auf   die   Spitze   zu   treiben:   Sie   werden   trotzdem  funktionieren wie bisher. Vielleicht lernen wir einen Weg, das zu  beschreiben, damit umzugehen. Und vielleicht bringt uns das  eines Tages etwas.  Je offener wir durch die Welt gehen, desto mehr Befremden  werden   wir   erfahren.   Befremden   ist   kein   Gegensatz   zur  33
  • 34. Wie die Tiere Offenheit neuem gegenueber. Es ist die Erkenntnis, dass etwas  nicht unser Ding ist.  Was machen wir daraus? Einsiedelei ist eine Option Rueckzug ist eine Variante. Nicht Verleugnung, nicht die Augen  verschliessen,   nicht   ignorieren   ­   sondern   Unterschiede  akzeptieren. Sie sind anders, sie sagen es und sie meinen das  auch so, das ist eine Lektion, die wir lernen koennen.  Rueckzug   bedeutet,   nicht   immer   alles   auf   uns   zu   beziehen,  nicht   Loesungen   zu   suchen,   auch   keine   Beschreibungen   zu  versuchen, sondern Dinge einfach hinzunehmen, als waeren es  Zufaelle.  Legendaere Gestalten, die intensiv auf der Suche waren, auf der  Suche   nach   Wahrheit,   Sinn,   besonderen   Erfahrungen,  Meisterschaft,   haben   es   mit   Einsiedelei   versucht.   Alle   sind  zurueckgekommen und haben davon erzaehlt. Oder – und das trifft bereits den Punkt: Wir wissen nur von  jenen, die davon erzaehlt haben. Die anderen – haben eben nie  davon  erzaehlt; ihre Oberflaeche hat  unsere Oberflaeche nie  beruehrt.  Einsiedelei   als   Rueckzug,   Verzicht,   oft   noch   mit   Askese  verbunden, reduziert das Verstaendnisproblem insofern, als es  weniger   Fremdes,   anderes   zu   verstehen   gibt.   Wir   sind   mit  unserer Sicht der Dinge allein, koennen sie in alle Richtungen  drehen und wenden und beliebig erweitern.  Antonius   von   Padua   lebte   feuchte   Traeume   aus   und  Shakyamuni   Buddha   fragte   sich   nach   langer   enthaltsamer  Einsamkeit,   was   genau   durch  den   Verzicht   auf   alles   besser  werden sollte. Auch der Zen­Patriarch Bodhidharma stand nach  seiner   neunjaehrigen   Zazen­Meditation,   bei   der   der   Legende  34
  • 35. Wie die Tiere nach seine Beine und Arme verkuemmert waren, wieder auf  und machte etwas anderes. Rueckzug   macht   die   Welt   zu   einfach.   In   Erkenntnis­   und  Verstaendigungsfragen hilft uns das nichts.  Es ist unmoeglich, sich abzugrenzen oder zurueckzuziehen, es  gibt   immer   Beziehungen   zu   anderen,   in   anderen   entstehen  Bilder   von   uns.   Wir   koennen   das   nicht   unterbinden,   wir  koennen es nur ignorieren. Damit raeumen wir das Feld und  ueberlassen die Macht den anderen. Je   staerker   wir   uns   auf   uns   konzentrieren,   sei   es   durch  Rueckzug oder durch aktive Produktivitaet, desto mehr Material  produzieren wir, mit dem wir uns andern ausliefern. ­ Durch die  Beschaeftigung mit uns raeumen wir das Feld. Abgrenzung ist Bezugnahme und Bestatetigung Lehren, die erklaeren, dass man etwas nicht verstehen kann,  entstammen   entweder   Teenagern   (“Niemand   versteht   mich“)  oder dem Wunsch, Geld mit den entsprechenden Erklaerungen  zu machen.  “Ich bin nicht...”, “Das ist nicht meine Welt... “, “Ich bin anders”  ­ solche Formulierungen sind ein Weg, ein Versuch, Identitaet  und Individualitaet zu behaupten. Ein Weg, der vom ersten Schritt an in eine falsche Richtung  fuehrt.  Was kann das Ziel eines solchen Weges sein? Wir wollen uns  unserer Position in der Welt versichern, wir wollen unser Stueck  vom Leben definieren. Oft tritt ein “Wir” and die Stelle des “Ich”:  Eltern   versuchen,   die   Welt   fuer   sich   und   ihre   Kinder   zu  definieren, Unternehmer fuer sich und ihre Mitarbeiter.  35
  • 36. Wie die Tiere Die positive Definition von Zusammenhaengen beschreibt eine  klare   Sicht   auf   die   Dinge,   die   aus   der   Perspektive   eines  einzelnen   entsteht   und   andere   mitnehmen   moechte.   Das  aehnelt   dem   vorweggenommenen   Verstaendnis   (“Ich   verstehe  schon”) und ruft oft Ablehnung hervor.  Die   Zeiten   in   denen   Unternehmen   ihre   Mitarbeiter   zur  verpflichtenden   morgendlichen   Flaggenparade   riefen,   moegen  vorbei   sein   –   heute   geschieht   diese   Vereinnahmung   ueber  subtilere   Methoden,   aber   nicht   weniger   intensiv   und  weitreichend: Corporate Cultures und Policies forden Einsatz  bis  zur   freiwilligen  Selbstversklavung   (die  mit   Kunstwoertern  wie Intrapreneurship umschrieben wird), Verhaltensrichtlinien  oder (Social) Media Policies massregeln das Verhalten bis tief in  Bereiche, die mit Arbeit, Buero und Werkstatt nichts mehr zu  tun haben. Das ruft Reaktionen hervor. Auf “Wir sind so” folgt oft “Ich bin  nicht   so”,   mit   dem   Ziel,   dem   Bestehenden   etwas   Eigenes  entgegenzusetzen, die Gueltigkeit und Kraft des Bestehenden zu  hinterfragen.  Diese Behauptung bewirkt in der Regel genau das Gegenteil  ihrer Intention. Sie lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf die  neu ins Spiel gebrachte Welt als auf die abgelehnte. “Wie bist du  nicht?”  und  “Warum?” sind  die  ersten  Gegenfragen,  die  den  Ablehnenden dazu zwingen, sich mit den zurueckgewiesenen  Sichtweisen und Definitionen zu beschaeftigen.  Sobald  der  Bezug  einmal  eingefuehrt   ist, ist  er  sehr  schwer  wieder zu entfernen. Staerker ist dabei immer das Bestehende –  denn es ist das, was wir momentan verstehen. Alles Neue, das  sich   durch   die   Abgrenzung   von   Bestehendem   definiert,  bestaerkt und bestaetigt durch diese Negation die Macht und  Position   des   Bestehenden.   Fraglich   ist   auch,   ob   solcherart  Neues ueberhaupt neu sein kann – oder ob es nur eine Variante  des Bestehenden ist. 36
  • 37. Wie die Tiere Vor   diesem   Hintergrund   wird   die   Variante   des   Rueckzugs  verlockender:   Wenn   Konfrontation   und   Negation   nicht   zum  Erfolg   fuehren,   sind   Ignoranz   oder   das   Ausschliessen   von  Information eine plausibel erscheinende Variante: Was ich nicht  weiss – existiert fuer mich nicht.  Dieser Verlockung erliegen wir sehr oft unabsichtlich, und das  offenbart auch die Schwaeche dieser Position: Was wir nicht  wissen,   wissen   eben   nur   wir   nicht,   der   Rest   der   Welt  moeglicherweise  aber   sehr   wohl.   Wir  spielen   dann   in   einem  Spiel nicht mit, schaffen dadurch aber weder ein neues, noch  beeiflussen wir das bestehende Spiel nachhaltig. Vielleicht gibt  es einen kurzen Moment der Verwunderung, eine hochgezogene  Augenbraue, wenn wir wo nicht mitmachen, Dann werden die  Dinge aber ohne uns weiterlaufen.  Vielleicht hilft das, die eine oder andere Angelegenheit, der wir  uns nicht entziehen koennen, entspannter zu sehen; daneben  gibt es tatsaechliche viele Dinge, ohne die wir besser dran sind  – und die auch ohne uns besser dran sind.  In einem Umfeld, das uns nicht auslaesst, in dem Passivitaet  negative Auswirkungen fuer uns hat, ist der Rueckzug keine  Option. Weder in geschaeftlichen Beziehungen noch in Fragen  der   Fuehrung   oder   der   Zusammenarbeit   sind   Verzicht   und  Passivitaet   eine   akzeptable   Perspektive.   (Fuer   kurzfristige  taktische Massnahmen mag es Ausnahmen geben). Wir geben damit die Definitionsmacht ab; wenn wir nicht mehr  mitreden, herrscht nicht Stille, es reden andere fuer uns. Und  wir   bekommen   das   oft   gar   nicht   oder   erst   ueber   die  Folgewirkungen mit.  Muessen   wir   uns   dann   wirklich   um   alles   kuemmern?   Ja, aber dann, und nur dann, wenn es an der Zeit ist. Ein Hund  bellt, frisst, schlaeft, wenn ihm danach ist. Er malt sich wohl  nicht aus, wie es waere, wenn er jetzt bellte. Das Pferd sorgt  sich nicht um seine Zukunft, sein Horizont umfasst nur wenige  37
  • 38. Wie die Tiere Sekunden, in diesen ist es immer und zu hundert Prozent zu  allem   bereit   –   und   umso   leichter   zu   erschrecken   oder   zu  verwirren. Was   bedeutet   das   fuer   uns?   Wir   sollen   sein   wie   spiegelnde  Oberflaechen, haben Zen­Meister gelehrt. Wie reine Seide und  scharfer   Stahl.   Ist   auch   das   ein   Plaedoyer   fuer   die  Oberflaechlichkeit? Nichts bleibt haengen, nichts hinterlaesst  einen Eindruck, sobald es vorueber ist. Ich halte das fuer eine  vernuenftige   Einstellung.   Wir   koennen   uns   nur   um   das  kuemmern, was jetzt da ist, wir koennen nur das tun, was wir  jetzt  tun  koennen.   Das ist  kein  Plaedoyer  fur  Blindheit   und  Verantwortungslosigkeit,  keine  Aufforderung,  jenen,  die  nicht  da sind, in den Ruecken zu fallen. Es gibt immer ein anderes, ein naechstes Jetzt.  Bevor wir uns darum kuemmern, muessen wir uns noch  eine andere Frage stellen: Wie wissen wir ueberhaupt,  was ist?  Wie   kommen   wir   zu   einer   Einschaetzung   und  Wahrnehmung   dessen,   was   gerade   rund   um   uns  passiert, wer mit uns redet, was derjenige sagt? Wie  wissen wir, was ist?  Wir sind nicht allein Es gibt noch andere und anderes ausser uns, und wir haben  praktisch nicht die Moeglichkeit, uns vollstaendig von dieser  Gegenueberstellung zurueckzuziehen. Wir sind immer in einer  Beziehung. Dabei ist nicht relevant, wie nah oder fern diese ist,  ob   wir   es   hier   mir   Hierachien   zu   tun   haben   oder   mit  Beziehungen auf einer Ebene – wichtig ist, wo wir die Grenze  ziehen.  38
  • 39. Wie die Tiere Wo sind wir, wo ist das andere, wo sind die anderen? Wieviele  sind wir?  Philosophien und Religionen haben unterschiediche Strategien  entwickelt,   um   mit   dieser   Einsicht   umzugehen.   Der   Bogen  laesst   sich   von   der   Vervielfaeltigung   der   Praesenz   in  Daemonologien   und   Geisterlehren   ueber   moralische  Konsequenzen,   die   Aufforderung   zum   Altruismus,   fuer   den  anderen   da   zu   sein   bis   zum   Horror   vor   der   Existenz   als  Ausgeliefertsein   oder   der   Betrachung   des   Lebens   als   Leiden  spannen.  Neue   Onlinemedien   haben   die   Vermittlung   von   vielfacher  Praesenz als ihren Hauptzweck: “Ich bin da”, “Ich war auch  hier” ist die Quintessenz vieler Nachrichten – in erstaunlicher  Analogie   zu   (prae)historischen   oralen  Ueberlieferungstraditionen.  Tatsache ist: Wir wissen, dass wir nicht allein sind,  Was uns in diesem Bewusstsein helfen kann, ist ein Weg, damit  neutral umzugehen.  Distanz und Flexibilitaet: Je weniger wir wissen, desto sicherer sind wir “Ich verstehe schon”, “Du verstehst mich nicht”, “Die sind eben  so”   ­   in   unterschiedlichen   Behauptungen   und   Positionen  schwingen   unterschiedliche   Welten   mit,   ohne   ausdruecklich  thematisiert zu werden. Dabei gibt es Abstufungen.  Was uns naeher scheint, thematisieren wir weniger. Es wird  vorausgesetzt, es ist nicht der Rede wert. Fuer den einen ist es  selbstverstaendlich, abends zuhause von der Couch aus nach  dem  Essen   zu   fragen,  der   andere  sieht   kein   Problem  darin,  morgens vor dem Weg zur Arbeit Geschirr abzuwaschen. Die  eine   haelt   es   fuer   notwendig,   ihren   beruflichen   Erfolg   zu  39
  • 40. Wie die Tiere erwaehnen,   die   andere   haelt   es   fuer   verwunderlich,   dass  jemand   meint,   sie   haette   sich   auch   gegen   die   Karriere  entscheiden koennen. Leichte ironische Distanz bestaetigt  die  eigene Position; als rhetorischer Trick wird vorgefuehrt, dass  andere Sichtweisen auch bekannt sind – wobei vorausgesetzt  wird,   dass   die   Grundlage   der   Gespraechspartner   eine  gemeinsame ist. ­ Auf dieser Basis funktionieren Bierzeltwitze  oder politische Ansprachen.  Das Grundgeruest unserer Welt braucht nicht hinterfragt zu  werden, so die vorausgesetzte Einstellung. Denn wir sind uns  doch alle einig. Worueber genau, das ist selten Thema.  An den Grundgeruesten wird oft nur in Form von Polemiken  geruettelt – wieder als rhetorisches Stilmittel, um zu zeigen, wie  intensiv   die   vorausgesetzte   Gemeinsamkeit   ist.   Die  Hasspredigten   national   orientierter   Politiker   sind   eine   schier  unerschoepfliche   Quelle:   Weil   wir   die   Tuerkenbelagerung  zurueckgeschlagen haben (in Wien), weil wir keine Kopftuecher  tragen, weil wir unsere Tiere nicht rituell (sondern industriell...)  schlachten   –   deshalb   wollen   wir   keine   zweisprachigen  Ortstafeln.   Absurd   grosse   Fragen   werden   beruehrt,   um  laecherliche Kleinigkeiten zu argumentieren.  Denn   je   weiter   etwas   von   uns   entfernt   ist,   desto   mehr  Flexibilitaet entwickeln wir im Umgang damit. Das Fremde kann  erstaunliche   Kreativitaet   hervorrufen,   manchmal   romantisch,  manchmal hasserfuellt, kreativ oder schlichtweg dumm.  Eine haeufige Auspraegung dieser Kreativitaet ist Angst. Wie  sind die anderen, was machen sie, wie gehen sie mit dieser oder  jener Situation um? Ist Osteuropa wirklich der schwarze Fleck  Europas,   Ausloeser   und   Hauptakteur   in   Finanz­   und  Wirtschaftskrise? Werden “die” das in den Griff bekommen?   “Die” sind je nach Perspektive Gluecksritter, Exkommunisten,  Ex­Dissidenten,   Unternehmer,   Arbeitslose,   Angestellte,  Pensionisten, Schueler, Hausfrauen und Studenten ­ “die” sind  eine Gruppe, die praktisch gar nichts miteinander gemein hat.  “Die” werden unser Verstaendnis allenfalls befremdlich finden  40
  • 41. Wie die Tiere und  sich ueber  “die”, die keine Ahnung  haben  (das sind in  diesem   Fall   wir)   amuesieren.   Sind   “die”   anders   –   oder  argumentieren wir schlecht? “Die” sind eben viele. Auch Bewunderung ist eine Einstellung, die mit der Entfernung  ungeheuer wachsen kann. An Stars und konstruierten Mythen  laesst   sich   das   leicht   nachvollziehen,   auch   politische  Bewegungen sind hier ergiebiges Objekt. Historische   wie   raeumliche   Distanz   koennen   gehoerige  Verklaerung schaffen. Ich erinnere mich an die europaeischen  Studentenproteste   gegen   Sparmassnahmen,  Jugendarbeitslosigkeit und Kuerzungen an den Universitaeten  in   den   fruehen   1990ern.   In   Wien   organisierten   wir   einige  Events, sassen eher trueb da und beneideten Berlin oder Koeln,  wo   hunderttausende   auf   den   Strassen   waren.   Zeitgleich  erschien   im   Spex,   dem   deutschen   Zentralorgan   fuer   alles  Subkulturelle, eine Reportage die den deutschen Organisatoren  Lahmheit   vorwarf   und   ihnen   gluehend   Wien   als   lebendiges  Beispiel vorhielt: Dort seien aufsehenerregende Events an der  Tagesordnung   –   und   ausserdem   seien   die   Organisatoren  besonders   innovativ,   weil   sie   als   Massnahme   gegen   die  Funkueberwachung durch die Polizei neuerdings Mobiltelefone  zur Kommunikation benutzten.  Das waren Zeiten. Und wir kannten einander wohl nur aus den  Nachrichten, die die Ereignisse moeglichst aufbauschten. Und  auch   hier   gilt:   Je   groesser   die   Entfernung,   je   geringer   die  Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus dem Publikum wirklich  bescheid   weiss   –   desto   hoeher   die   Kreativitaet,   die  Unbefangenheit im Umgang mit Fakten, und die Bereitschaft,  Geschichten zu konstruieren.  Damals gab es keine allgegenwaertigen Onlinemedien, in denen  reale, angemessene Berichterstattung moeglich gewesen waere. Das ist heute anders. Es sind wenige Jahre vergangen, aber:  Gibt   es   in   Zeiten   von   Google   und   Wikipedia   noch   eine  Berechtigung dafuer, zu sagen “Ich glaube, dass... “, “So weit ich  41
  • 42. Wie die Tiere weiss... “? Streng genommen brauchen wir uns keine Gedanken  mehr   zu   machen   –   entweder   wir   wissen   etwas,   oder   wir  recherchieren es. Spekulation ist unangebracht; wir koennen  uns   stattdessen   mit   dem   beschaeftigen,   was   gerade   anliegt.  Oder   wir   koennen   versuchen,   der   Sache   auf   den   Grund   zu  gehen. Die Herausforderung verschiebt sich: Wir brauchen uns keine  Fakten zu merken, wir brauchen uns nur zu merken, was wir  noch   recherchieren   wollten.   Und   wenn   wir   etwas   vergessen  haben – war es wichtig?  Heuristik und Hobby­Hermeneutik, die ratende Interpretation  wird zu einem Zeichen von Faulheit. Das gleiche gilt auch schon  fuer Fragen: Wer fragt, ohne vorher recherchiert zu haben, outet  sich als eher ahnungslos. Nicht aber, wer redet, ohne einen Plan  zu haben: Mediale Omnipraesenz fuer alle fuehrt dazu, dass  Reichweite pauschal Inhalte abloest, Tempo und der Eindruck,  originell   zu   sein,   ueberwiegen   Bedeutung   und   Originalitaet.  Genau Bescheid zu wissen, das belegen breit angelegte Studien,  ist in der medialen Kommunikation nicht wichtig. Wissen   wir   daher,   dank   der   Verfuegbarkeit   maechtiger  Werkzeuge, alles? Koennen wir innerhalb von Sekunden jedes  Thema   so   weit   abgrasen,   um   uns   eine   Meinung   bilden   zu  koennen?  Nein.  Es mag erstaunlich sein, aber es gibt immer wieder Begriffe, zu  denen   auch   Google   und   Wikipedia   keine   Auskunft   geben  koennen.   Sprachbarrieren,   ungeschickte  Suchmaschinenoptimierung   oder   schlicht   nicht   vorhandene  Information sollen hier aber nicht das Thema sein. In Frage  steht vielmehr: Was bedeutet es fuer uns, unseren Anspruch  auf   Wissen   und   Verstaendigung,   alles   ueber   mediale  Vermittlung abzuhandeln? Faelschungen, Irrtuemer, einseitige  und veraltete Information sind wieder ein anderes Thema. Die  Frage die ich stellen moechte, ist: Wie koennen wir bei all den  42
  • 43. Wie die Tiere Halluzinationen, mit denen wir uns umgeben, ueberhaupt etwas  verstehen?  Wir verstehen unsere eigene, selbst geschaffene Vorstellung von  etwas. Wir koennen Medien dazu benutzen, uns bei der Bildung  dieser Vorstellungen zu helfen. Jedes Medium bedient andere  Klischees und Vorstellungen; je vermarktungsintensiver Medien  sind, desto deutlicher wird das transportiert – wir brauchen die  Zeitung nicht aufzuschlagen, um zu wissen, was – der Tendenz  nach – dort stehen wird.  Onlinemedien sind dabei oft zurueckhaltender: Sie schaffen es  nicht so deutllich, ihre vorausgesetzten Klischees ausdruecklich  zu transportieren. Die entsprechenden Codes sind noch nicht  etabliert; zu deren Erforschung starten gerade erste Projekte.  Deswegen   sind   Onlinemedien   nicht   realitaetsnaher.   Aber   sie  lassen   uns   als   Nutzern   mehr   Spielraum,   die   Information   in  unseren eigenen Informationsrahmen zu verfrachten: In einer  Zeitung wissen wir grob, aus welcher Ecke der Wind weht, wie  wir das zu verstehen haben. Online fehlt diese Information oft.  Wir haben nur den Text, die Bilder selber – und es ist grossteils  uns ueberlassen, was wir daraus machen. Umso mehr, wenn  wir   Medien   als   Werkzeuge   betrachten,   als   Mittel,   mit  Information umzugehen, nicht als Produkt, als Marke, in der  Information immer auf eine bestimmte Art und Weise verpackt  ist.   Medien   wie   Blogs,   Social   Networks,   Funktionen   wie  Kommentare oder RSS machen das deutlich – Medien bewegen  sich weg von der Aufgabe, Verpackungsmuell zu sein, und hin  zum Umgang mit Information.  Sollen wir uns jedes Mal fragen, warum wir etwas so verstehen,  wie wir es verstehen?  Ja.  Wir finden die Antworten nirgendwo anders; das zwingt uns,  uns mit den eigenen Mustern, Vorstellungen und Bewertungen  zu beschaeftigen. Und die Suche nach diesen Mustern kann  uns   –   als   Hintergrund­Drehbuch   im   direkten   Gespraech   –  43
  • 44. Wie die Tiere Antworten auf Fragen liefern wie: Was will der andere von mir?  Wie bringe ich ihn dazu, zu tun, was ich will? Die   Objekte   veraendern   sich.   Wir   sehen   jeden   Tag   etwas  anderes, haben jeden Tag ein neues Problem.  Daswirkt sich auch auf uns aus, auf die Bilder und Elemente  auf die wir zurueckgreifen koennen, um zu verstehen. Wenn  sich die Dinge bewegen, ziehen wir mit – wir koennen gar nicht  anders. Der Horizont aendert sich, der Hintergrund, vor dem  wir Dinge einordnen.  Viele   gleichzeitige   Horionte   existieren   in   verschiedenen  Perspektiven nebeneinander. Das ergibt ein lebhaftes, bewegtes  Durcheinander,   in   dem   immer   nur   der   Moment   gilt   –   alles  andere ueberfordert uns. Der Wunsch, im Einzelfall hinter die  Kulissen zu sehen, bedeutet praktisch schon den Wunsch, die  ganze Welt auf einmal zu erfassen. ­ Dabei ist sie in diesem  Moment schon wieder anders.  Primat der Oberflaeche Je naeher uns etwas ist, desto selbstverstaendlicher nehmen  wir es. Kein Grund, naeher hinzuschauen. Je entfernter etwas  von unserer gewohnten Umgebung ist, desto weniger haben wir  die   Gelegenheit,   uns   damit   zu   beschaeftigen.   Wir   tun   es  vielleicht gerne, weil es exotisch ist und uns Freiraum laesst,  aber   wir   treffen   die   Dinge   nicht;   sie   bleiben   von   uns  unberuehrt.  Wir bewegen uns immer an der Oberflaeche. Egal wie nah oder  fern der Betrachtungsgegenstand uns ist.  Das   ist   eine   wertfreie   Feststellung.   Tiefgruendigkeit,  Oberflaechlichkeit, Intensitaet, Authentizitaet – uns fehlen die  Kritieren, um hier werten zu koennen.  44
  • 45. Wie die Tiere Das ist eine Tatsache, die wir zur Kenntnis nehmen koennen  und auf die wir uns einstellen koennen.  Je flexibler unsere Einstellung zu etwas ist, je mehr Vermittlung  ueber   Erzaehlungen,   Medien   wir   in   Anspruch   genommen  haben, um so glatter und entfernter ist die Oberflaeche.  Sie ist auch alles, wonach wir uns richten koennen. Wir wissen  nicht mehr, wir koennen nicht mehr erfahren. Was zaehlt, was  wir als Realitaet nehmen koennen, ist das, was wir – in all  unserer   Beschraenktheit   –   jetzt   –   in   aller   Vergaenglichkeit   –  sehen. Alles andere ist Spekulation, mit der wir uns nicht in  den  Gegenstand,  sondern  nur  in  uns  selbst   vertiefen:  Jeder  Gedanke, den wir uns ueber andere machen, ist ein Gedanke  ueber   uns   selbst,   ist   durch   unsere   Perspektiven   und  Wahrnehmungen, Erfahrungen und durch unser Grundgeruest,  ueber das wir nie nachdenken, geformt.  Oberflaechen haben Grenzen und Regeln, die den reibungslosen  Ablauf von Dingen ermoeglichen. Reicht das nicht?  Fraglich ist aber, wie wir diese Grenzen erkennen. Unser Leben wie wir es kennen basiert auf Abgrenzungen. Es  gibt mein und dein, jetzt und spaeter, so und anders. Darauf  bauen Weltordnungen auf, unser wirtschaftliches Leben – sogar  unser   ideelles   Leben   wird   in   diese   Abgrenzungen   gedraengt:  Wissenschaftler streiten um Originalitaet, korrekte Zitate und  Plagiate.  Es ist also wichtig, unterscheiden zu koennen, und aufgrund  dieser   Unterscheidungen   Entscheidungen   zu   treffen.   Ebenso  wichtig   ist   auch,   die   Relativitaet   und   Subjektivitaet   dieser  Entscheidungen verstehen zu koennen.  Wir   bestimmen   die   Welt.   Das   verleiht   uns   Macht.   Weil   aber   jeder   seine   Welt   bestimmt,   liefert   es   uns   ebenso  anderen aus, es macht uns wehrlos. Wir sind beides zugleich –  uneingeschraenkt maechtig und wehrlos ausgeliefert. Das ist  nur eine Frage der Perspektive.  45
  • 46. Wie die Tiere Folgen der Praesenz: Wehrlosigkeit Wir   hinterlassen   Spuren.   Je   mehr   Leute   wir   erreichen,   je  groesser unser Einfluss ist, um so weiter verbreiten wir unsere  Spuren.  Spuren   koennen   der   Eindruck   sein,   den   wir   bei   anderen  hinterlassen,   es   koennen   Texte   oder   Bilder   sein,   die   wir  veroeffentlicht haben, es koennen Unterhaltungen sein, die wir  gefuehrt   haben.   Die   Nutzung   von   Medien   verstaerkt   diesen  Effekt: Wir koennen eine Vielzahl von Inhalten nahezu beliebig  streuen und koennen ohne grossen Aufwand grosse Reichweiten  erzielen. Diese Spuren existieren losgeloest von uns. Sobald wir nicht  praesent sind, steht unsere Spur fuer sich allein. ­ Das kann sie  allerdings nicht, sie kann nur in einer Beziehung existieren, in  der Beziehung auf etwas, als Wahrnehmung. Die Spur wird zu dem, was der andere daraus macht.  Am   Beispiel   neuer   Onlinemedien   laesst   sich   das   deutlich  nachvollziehen:  Sobald   wir   unser   Profil   aktualisiert,   unseren  Beitrag,   unsere   Bilder   abgeschickt   haben,   haben   wir   keinen  Einfluss   mehr.   Wir  koennen   versuchen,   den   Ton   zu   treffen,  eindeutig zu formulieren, wir koennen den Verlauf beobachten  und in Diskussionen eingreifen.  Das erste Problem besteht schon darin, alles zu verfolgen: Im  Gewirr der Spuren verliert sich auch fuer uns unsere eigene  Spur   schnell.   Das   gilt   fuer   Diskussionen   in   Onlinemedien  ebenso wie fuer ueber die Buschtrommel oder den Flurfunk  verbreitete Geruechte – es gibt keine direkte Verbindung mehr  zu uns.  Die zweite Herausforderung liegt darin, Sinn auf drei Zeilen zu  vermitteln. Das verdeutlicht uns, was andere generell von uns  wahrnehmen:   Sie   kennen   unseren     Hintergrund   nicht,   sie  46
  • 47. Wie die Tiere haben uns gestern nicht gesehen und sie kennen die Gedanken,  die   uns   zu   diesen   Worten   bringen   nicht.   Erwarten   wir  tatsaechlich, dass auf dieser Basis Verstaendigung moeglich ist? Der dritte Punkt: Wir sind hier nicht gemeint, wir stehen nicht  im   Mittelpunkt.   Wir   sind   eine   kurze   Notiz   im   Leben   eines  anderen, der mit uns macht, was er will, der uns aus   einer  Perspektive betrachtet, die wir nicht kennen, wo der wir nichts  wissen. Wir wissen nur: Es ist nicht unsere.  Das   Paradoxon   in   diesem   Verhaeltnis   von   Macht   und  Wehrlosigkeit ist: Je mehr wird von uns preisgeben, je mehr wir  darzulegen   versuchen,   desto   wehrloser   sind   wir.   Wir   liefern  Material fuer andere. Wer schafft, verliert – das ist das Risiko,  das wir eingehen muessen Die   anderen   sind   mehr,   also   wird   es   immer   mehr   fremde  Ansichten und Interpretationen geben, als unsere eigene. Wenn  wir dieses Potential fuer uns nutzen koennen, multipliziert das  unsere Produktivitaet, unsere Reichweite ins Unermessliche.  Wer hat gesagt, dass Wehrlosigkeit etwas Negatives bedeutet?  Sie   kann   auch   Offenheit   bedeuten,   die   ohne   Widerstaende  Neues schafft, prueft, formt.  Folgen der Praesenz: Selbstbehauptung Wir   stehen   wehrlos   anderen   gegenueber.   Wehrlos   vor   allem  deshalb, weil wir nicht da sind. Es sind Spuren von uns, die  dem andere ueberlassen sind.  Spuren sind ein Teil der Oberflaeche, die wir erzeugen koennen.  Oberflaeche   ist   das,   was   wir   vermitteln   koennen,   jener   Teil  unseres Lebens, von dem wir wissen, dass er sichtbar ist, dass  er ankommt.  Oberflaeche ist etwas, das auch fuer uns gestaltbar ist: Wir  47
  • 48. Wie die Tiere haben alle Moeglichkeiten, die Oberflaeche zu schaffen, die wir  uns wuenschen. Dazu   brauchen  wir  gar keine  plastische  Chirurgie;  es reicht  aus,   Geschichten   zu   erzaehlen.   In   dem   Wissen,   dass   wir  Interpretation,   subjektivem   Verstaendnis   und   dem  Bezugsrahmen einer fuer uns fremden Umgebung ausgesetzt  sind, liegt es an uns, die entsprechende Vorlage zu liefern.  Geregelte   Umgebungen,   in   denen   wir   immer   nur   einen   Teil  sichtbar   machen,   anwenden   muessen,   in   denen   wir   nie   zur  Gaenze   sichtbar   sind,   erleichtern   die   Konstruktion   von  Oberflaechen   ungemein.   Regeln,   Sanktionen,   Hierarchien,  liefern   Orientierung   und   foerdern   die   Entwicklung   von  Oberflaechen weiter. Das gilt fuer die geregelte Arbeitswelt ebenso wie etwa fuer die  ueber Medien vermittelte Praesentation von Inhalten: Im ersten  Fall gibt es Dinge, die wir nicht tun oder sagen koennen – nicht  weil   sie   verboten   waeren,   sondern   weil   sie   nicht   verstanden  wuerden;   unpassendes   Verhalten   wird   in   diesem  Zusammenhang   nicht   oder   als   etwas   ganz   anderes  wahrgenommen.  Im  zweiten  Fall  gibt   es  weniger   ausdrueckliche   Regeln,   sehr  wohl   aber   implizit   vorhandene   (welcher   Ton   muss   wo   wie  getroffen werden um wie verstanden zu werden), Hauptsache  aber ist, dass wir weniger Praesenz haben: Wir sind nicht da  und wir haben keine Kontrolle ueber Zeitpunkt und Umfeld, in  dem wir wahrgenommen werden. ­ Warum ist das wichtig?  Aeusserungen stehen zur Disposition.  Das   koennen   Werte   sein,   modische   Statements,   die  Tischdekoration des Gastgebers. Alles enthaelt eine Aussage,  auch   wenn   diese   oft   weniger   beim   Handelnden   entsteht,  sondern beim Wahrnehmenden.  A   tut   etwas,   B   denkt   unweigerlich   darueber   nach.   Die  urspruengliche Situation ist bereits vorbei, A tut etwas anderes,  48
  • 49. Wie die Tiere das B nicht sieht – die Welten entfernen sich voneinander.  Das vereinnahmende “Ich verstehe schon” winkt hier wieder mit  dem   Zaunpfahl.   “Nein”,   sagt   der   andere,   und   setzt   betont  veraenderliche,   bewegliche   und   vielfaeltige   Handlungen  dagegen: “Ich bin nicht so ein Mensch mit der Rundbuerste...” (Solche) Behauptungen von Identitaet sind der Laecherlichkeit  preisgegeben   und   schwer   von   objektiv   Laecherlichem   zu  unterscheiden. Darin liegen die Macht der Macht und der Reiz  des Nomaden­Daseins. Macht holt ins Boot und teilt manchmal  sogar. frisst aber letztlich (die Gesetze dessen, was funktionieren  soll, aendern sich nicht) alles. Nomaden grasen eine Weide ab  und ziehen weiter, bevor die Beruehrung zu eng wird, der Platz  zu   knapp,   bevor  nur   noch  Sesshafte   ueberleben   koennen.   ­  Rueckkehr ist nicht ausgeschlossen.    Wir   wissen,   dass   wir   die   Dinge   nicht   sich   selbst  ueberlassen koennen – in diesem Fall ueberlassen wir  sie anderen. Wir koennen auch nicht auf das hoffen, was  “wirklich”   oder   in   uns   ist;   was   zaehlt,   ist   die  Oberflaeche, das, was ankommt.  In deren Aufbau muessen wir unsere Kraft legen – es sei  denn, wir verzichten.  Welche Grenzen gelten, welche Kriterien sorgen dafuer,  dass   ein   Unterschied   zwischen   Innen   und   Aussen  existiert? ­ Nicht der Unterschied ist wichtig, auch das ist  nur eine Frage der Oberflaeche. Wichtig ist, dass von  unserem   Versuch   der   Selbstbehauptung   ueberhaupt  irgendetwas ankommt. Es ist nicht sicher, dass wir eine  Chance haben, ueberhaupt etwas zu sagen, etwas in  unsere Richtung zu lenken. Umso dicker muessen wir  auftragen.  Nocheinmal zur Perspektive: Hier stehen keine politischen oder  49
  • 50. Wie die Tiere moralischen   Qualitaeten   zur   Diskussion.   Es   geht   nicht   um  Redefreiheit,   Wertschaetzung   oder   Anerkennung.  Unterschiedliche   Interessen   oder   Bildungsniveaus   sind   auch  nicht   Thema.   Ich   moechte   mich   nur   auf   die   Frage  konzentrieren,   unter   welchen   Bedingungen   Verstaendigung  moeglich   ist.   Nicht   als   Machtfrage,   nicht   als   etwas,   das  durchgesetzt werden muss, nicht als Intelligenz­, Deutlichkeits­  oder Reichweitenfrage.  Wo laeuft die Grenze, die dafuer sorgt, dass manche Begriffe  und  Handlungen  selbstverstaendlich erscheinen  und  manche  selbstverstaendlich unmoeglich? Woher – vor dem Hintergrund,  dass   die   Faelle   des   Nichtverstehens   oder   der   Unsicherheit  haeufiger sind – nehmen wir die Sicherheit, gelegentlich doch  etwas zu verstehen? ­ Manchmal existiert das Thema nicht, wir  brauchen   uns   nichts   zu   fragen,   alle   Grenzen   erscheinen  konstruiert.  Woran liegt das? Was haben diese Momente gemeinsam?  Begriffsbildung: Warum heisst das, was wir sagen, ueberhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wir   haben   verschiedene   Erfahrungen.   Wir   denken   an  verschiedene   Welten.   Keine   zwei   Vorstellungen   zum   gleichen  Begriff sind gleich.  Wenn   wir   reden,   produzieren   wir,   nuechtern   betrachtet,  Geraeusche.   Schrift   besteht   aus   Zeichen,   die   sich   nicht  wesentlich   von   anderen   Zeichen   wie   Pfeilen   oder   Kreuzchen  unterscheiden   (sie   haben   im   Gegenteil   noch   weniger   direkt  bezeichnenden Charakter).  Wenn wir denken oder traeumen, tun wir das manchmal in  50
  • 51. Wie die Tiere Worten, in Bildern, in Gefuehlen.  Wir koennen uns darauf verlassen, dass wir im Grunde alle  gleich   sind   und   uns   deshalb,   auch   wenn   wir   es   nicht  nachvollziehen   koennen,   am   Ende   doch   verstehen.   Oder  wir  koennen  versuchen,   einen   Schritt   zurueckzugehen,  hinter   diese   Selbstverstaendlichkeit,   die   Verbindungen  herzustellen   scheint:   Gemeinsamkeiten   zu   hinterfragen  zerstoert   sie   recht   schnell;   emotionale   Menschen   bezeichnen  das gern als Gefahr des Zerredens.  Wo keine Handlungen notwendig sind, wo mir egal ist, ob der  andere mich versteht, kann ich mich damit zufrieden geben. Im  Geschaeftlichen, aber auch in privaten Beziehungen ist die klar  gesetzte Handlung unersetzbar: Es gibt keinen Grund, warum  wir sonst annehmen sollten, verstanden zu werden. Wir muessen unsere Voraussetzungen, die Leitlinien, die wir  annehmen, jedes Mal mitliefern – ohne unserem Gegenueber  jedes Mal die Welt zu erklaeren.   Damit haben wir zwei Herausforderungen zu loesen: Wir sollen  nicht   predigen.   Und   wir   sollen   einen   Weg   finden,   Worte,  Bezeichnungen,   Argumentationen   so   zu   verpacken,   in   ihnen  Welten, begreifbare Oberflaechen zu erzeugen, von denen wir  annehmen duerfen, dass sie beim anderen ankommen.  Und wie koennen wir uns trotzdem verstaendigen? Ein Begriff kann ein Wort sein, ein Bild, eine Vorstellung, ein  Konzept oder ein Wert. Wir verbinden etwas mit Begriffen; sie  gehoeren in fuer uns wirksame Zusammenhaenge.  Fuer   die   Entstehung   dieser   Zusammenhaenge   gibt   es  verschiedene   Erklaerungsansaetze   aus   Soziologie,  Kommunikationswissenschaft   und   anderen   Disziplinen;   fuer  51
  • 52. Wie die Tiere deren   Verbindung   mit   Worten   liefern   noch   Etymologie,  Linguistik und Semantik Beitraege.  Wir koennen die Gruende fuer Zusammenhaenge in der Umwelt  suchen: Weil wir etwas immer so gesehen haben, es so gelernt  haben,   nennen   wir   es   so.   Wir   koennen   eine  transaktionsorientierte   Perspektive   einnehmen:   weil   es  funktioniert, weil wir ein bestimmtes Ziel erreichen, wenn wir  uns an diese und jene Richtlinien halten, macht es Sinn, Dinge  so zu nennen. Wir koennen auch eine etymologische Perspektive  einnehmen: Weil dieses Wort diese und jene Wurzeln hat, mit  diesem   Wort   verwandt   ist   oder   aus   diesem   Zusammenhang  kommt, hat es auch diese und jene Bedeutung.  Dabei   bewegen   wir   uns   immer   in   einem   klar   abgegrenzten  Rahmen, wir nehmen Voraussetzungen an, die dann fuer uns  Sinn stiften. Es gibt aber keinen Zusammenhang, der darueber  hinausgeht. So wie ein Fussballspiel nur funktioniert, wenn die  Regeln des Fussballspiels grundsaetzlich bei allen Beteiligten  anerkannt   sind   (was   nicht   bedeutet,   dass   sich   jeder   immer  daran   halten   muss),   funktionieren   auch   diese   Erklaerungen  nur, wenn die grundlegenden Rahmen nicht hinterfragt werden.  Spielt   dagegen   eine   Mannschaft   Fussball,   die   andere  Basketball, dann haben wir genau die Situation, in der wir uns  in   der   geschaeftlichen   Kommunikation   wieder   und   wieder  befinden:  Wir haben  unsere  klar strukturierte,  gut  erklaerte  Welt   –   und   gleich   nebenan   beginnt   das   unbeherrschbare,  unkontrollierbare   Chaos,   fuer   das   wir   nur   Kopfschuetteln  uebrig haben.  Wir erkennen dort keine Zusammenhaenge; was man uns zu  erklaeren   versucht,   sind   fuer   uns   keine   nachvollziehbaren  Standpunkte.  In   den   Worten   der   Linguisten:   Es   gibt   nun   einmal   keinen  Zusammenhang   zwischen   Bezeichnendem  und   Bezeichnetem.  Dazwischen existiert ein nicht fassbarer Leerraum; in diesem  Leerraum entstehen Sinn und Interpretation.  52
  • 53. Wie die Tiere Bei klar begreifbaren, sichtbaren Begriffen (Bezeichnetes) wie  Hund oder Esel mag das unspekakulaer sein, obwohl auch hier  das Wort (Bezeichnendes) in verschiedenen Zusammenhaengen  verwendet werden kann.  Bei unscharfen, erklaerungsbeduerftigen Begriffen wie Freiheit,  Verantwortung, Macht wird der Leerraum wesentlich groesser. ­  Noch groesser wird er, wenn den Begriffen noch die moralische  Komponente fehlt: Was bedeutet Verstehen, Erkenntnis, Begriff  –   das   sind   Begriffe   (als   Bezeichnetes)   die   nur   ueber   Worte  (Bezeichnendes)   beschreibbar   sind,   dabei   beschreiben   Worte  Worte – was soll da schon herauskommen?  Dennoch weiss ich, welche Reaktionen Worte wie Verspaetung,  Verzoegerung, Budgetueberschreitung, Nein hervorrufen. Diese  Reaktionen unterscheiden sich von der Reaktion auf Worte wie  erledigt, Abschluss, Erfolg. Vielleicht kann ich unterschiedliche  Reaktionen   auf   unterschiedliche   Begriffe   sogar  unterschiedlichen Menschen zuordnen.  So   entstehen   Profile,   sie   sind   wiederholbar   und   tragen   zu  Vorhersagbarkeit bei.  Sie liefern uns Anhaltspunkte und lassen Zusammenhaenge zu  anderen beobachtbaren Themen erkennen. Unser Wissen kann  praktisch grenzenlos wachsen; immer neue Muster und Profile  liefern   uns   immer   mehr   Anhaltspunkte.   Das   Wachstum   ist  horizontal, in die Breite orientiert. In der vertikalen Dimension  sind unsere Moeglichkeiten deutlich eingeschraenkter.  Was bedeutet es schon, in die Tiefe zu gehen? Wir koennen in  unsere   eigenen   Tiefen   gehen,   Einstellungen,   Meinungen,  Traeume, “wahre” Charakterzuege hervorholen – und sie an der  Oberflaeche positionieren, damit sie fuer andere sichtbar sind,  damit   sie   wahrgenommen   werden   koennen,   wie   wir  wahrgenommen werden wollen. Andere koennen auch in ihre Tiefen gehen, das macht jeder fuer  sich – was sich begegnet, bleiben aber immer Oberflaechen. Die  Tiefen dazwischen sind  ein voruebergehender Zwischenschritt. 53
  • 54. Wie die Tiere Wir haben nicht immer das Gefuehl, “nur” an der Oberflaeche  unterwegs   zu   sein.   Wir   beschaeftigen   uns   manchmal   auch  “wirklich” mit etwas, sind tief in einer Sache drin. Dann sind  wir   aber   meistens   nicht   auf   Verstaendigung   ausgerichtet,  sondern auf Erforschung, Produktion.  In dem Moment, in dem etwas ausgesprochen, gedacht wird,  entsteht es gerade erst.  Und   dann   wollen   wir   es   erklaeren   –   das   braucht   Zeit,  Vereinfachung,   Zielorientierung   –   und   das   Ergebnis   entfernt  sich immer weiter von seinem Ausgangspunkt.  Explorative   Kommunikation   als   Gegenstueck   zu  verstaendigungsorientierter   Kommunikation,   als   Ausflug   in  Tiefen,   ist   moeglich.   Der   Abgleich   der   so   gewonnenen  Erkenntnisse im Dialog, die Instrumentalisierung mit dem Ziel,  Anwendbares   zu   schaffen,   passiert   dann   wieder   an   der  Oberflaeche.  Verstehen oder Nicht­Verstehen entscheidet sich oft nur anhand  von Dekorationsmaterial, denken wir an Praesentationen, Texte:  Wie oft aergern wir uns, dass dieser oder jener Aspekt noch in  die Thesen reklamiert wird – obwohl wir ihn doch eingearbeitet  haben. Oft   hilft   es,   einfach   Zwischentitel   einzufuehren   und   die  Ueberschriften zu aendern – und die Sache bekommt ein ganz  anderes Gewicht und Gesicht – rein oberflaechlich. An unserer  Intention, an den Inhalten die wir vermitteln wollen und den  Worten, die wir dabei verwenden, hat sich nichts geaendert,  sehr wohl aber an dem, was ankommt.  Oberflaechen sind oft negativ besetzt. Sie grenzen aus, spiegeln  manchmal oder weisen ab, und sie verbergen den Blick auf das  Innere. Dort wird eine weitere Wahrheit vermutet.  Oberflaechen sind jedoch das einzige, das wir erkennen und  begreifen koennen. ­ Der Rest ist Spekulation. Unser Innerstes  54
  • 55. Wie die Tiere ist fuer den anderen Oberflaeche; was wir ueber den anderen zu  wissen glauben, ist das, was er von sich preisgeben moechte, ist  dessen Oberflaeche, ergaenzt durch von unseren Vorstellungen  eingefaerbte Spekulation. Mehr   zu   wollen   ist   aussichtslos.   Warum   auch?   Wir   haben  unsere Orientierungspunkte. Es liegt an uns, was wir daraus  machen. Tiere werden konditioniert – Wollen wir Menschen tatsaechlich verstehen? Tiere werden konditioniert. Das ist ein sehr pragmatischer und  effizienter   Weg,   kontrollierte   Effekte   hervorzurufen   und  Verhalten zu steuern.  Es   ist   uns   egal,   warum   die   Speichelbildung   des   Hundes  “wirklich”   einsetzt;   wichtig   ist   die   verlaessliche  Nachvollziehbarkeit dieses Effekts.  Warum   kuemmern   uns   die   “wirklichen”   Hintergruende   in  anderen Zusammenhaengen, in sozialen Interaktionen? ­ Wir  wissen auch vom speichelnden Hund nicht, ob er uns mag, ob  er   Hunger   hat,   oder   wie   gut   seine   Verdauung   gerade  funktioniert,   Wir   wissen   ueber   einen   kleinen   Ausschnitt  bescheid.  Das   mag  wenig  erscheinen.  Viele  kleine   gesicherte  Ausschnitte   koennen   aber   zu   einem   maechtigen   Werkzeug  wachsen. Auch   Tieren   gegenueber   –   um   bei   dem   Bild   zu   bleiben   –  entwickeln wir Vorstellungen. Wir kennen einen feigen Hasen,  einen sturen Bock, einen faulen Hund. Wir schreiben einerseits  Persoenlichkeit zu, Eigenschaften, andererseits reduzieren wir  de   Persoenlichkeit   auf   Reiz   und   Reaktion.   Der   faule   Hund  fuehrt uns deutlich vor Augen, woher die Eigenschaft und deren  Bewertung   kommen:   Es   sind   unsere   Massstaebe,   die   an  55