kbex micropublishung präsentiert mit "Wie die Tiere" den erste Band einer Schriftenreihe zu Online-Medien und digitaler Kommunikation.
Hier gibt es keine griffigen Case Studies. "Wie die Tiere" beschäftigt sich ganz trocken mit der Frage: Warum bedeutet, was wir sagen, überhaupt etwas? Wie gehen wir davon aus, zu verstehen und verstanden zu werden? Und warum funktioniert trotz allem immer irgendetwas?
"Wie die Tiere" ist die erste buchfüllende Publikation von kbex micropublishing. Auf 174 als ebook verfügbaren Seiten geht Michael Hafner der Frage nach, welche gemeinsamen Horizonte wir in der alläglichen Kommunikation noch annehmen dürfen.
Gemeinsamkeiten (seien es Horizonte, Werte oder Informationen) stellen sich dabei als genauso verfäglich heraus wie die Annahme von letzten Wahrheiten - die ihrerseits wieder nur auf als gemeinsam vorausgesetzten Werten begruendet sind.
Der Text zerstoert heimelige Vorstellungen von Verstaendnis ebenso wie Mythen des Businessalltags: Welche Aussagekraft hat schon ein Businesscase, was - ausser der Vorstellungskraft des Erstellers - wird durch diese Zahlenspiele belegt? Und ist irgendjemand tatsaechlich so, wie er sich Bueroklischees zufolge benehmen sollte?
Brueche werden durch Vielfalt offenbar; je mehr unterschiedliches wir sehen - nicht zuetzt auch dank der neuen Online Medien -, desto eher sind wir bereit, unsere eigene Position als hinterfragbar, als nicht der Weisheit letzter Schluss zu akzeptieren. Vielfalt - im guten wie im schlechten - ist eines der deutlichsten Merkmale aktueller Informations- und Kommunikationsgewohnheite n. Sind wir also auf dem Weg, tolerante, flexible, offene und allwissende Superkommunikatoren zu werden?
Mit destruktivem Charme legt "Wie die Tiere" dar, dass auch Toleranz oft nur ein Mittel ist, die eigene Position zu zementieren: "Die sind halt so", "Interessant", "Eine Tradition in Papua Neuguinea..." - solche und ähnliche bildungsbürgerliche Terrorattacken auf einfache Dinge laden zum ungehemmten Spekulieren ein: Je geringer die Chance ist, dem Gegenstand unserer Spekulation zu begegnen, desto geringer ist auch die Wahrscheinlichkeit, des Unsinns überführt zu werden. Das befreit.
Das Anerkennen der grundlegenden Unterschiede zwischen uns und allem anderen ist eine Frage des Respekts. Gemeinsamkeiten vorauszusetzen, Differenzen vor einem gemeinsamen Hintergund zu beschreiben, ist die respektlose Vereinnahmung eines anderen, der genau so Mittelpunkt seiner Welt ist, wie wir Mittelpunkt unserer Welt sind.
Fassungslosigkeit und Gelassenheit sind zwei Seiten derselben Einstellung anderem gegenüber, die durchaus angemessen ist.
"Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht - das ist die beste Voraussetzung fuer ein gutes Gespräch."
9. Wie die Tiere
Einleitung..............................................................................................5
Ausgangslage.....................................................................................11
Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht. Das ist die beste
Voraussetzung fuer ein gutes Gespraech. ....................................11
Differenz: Visualisierung im Streit..................................................14
Immer Herausfordern.....................................................................16
Wie Ideen beschreiben..................................................................17
Schaffen bedeutet immer verlieren................................................18
Wie koennen wir die Seiten wechseln? .........................................20
Sie sind anders..............................................................................20
Sie meinen es anders....................................................................21
Distanz befreit................................................................................25
Festlegende Systematik: Spekulation als Befreiung,
zuschreibendes Erkennen als Festsetzung...................................26
Medien und Gemeinplaetze: Wir wissen und verstehen nur, was wir
immer schon gewusst haben.........................................................29
Varianten: Was machen wir aus dieser Situation?.........................33
Einsiedelei ist eine Option..............................................................34
Abgrenzung ist Bezugnahme und Bestatetigung...........................35
Wir sind nicht allein........................................................................38
Distanz und Flexibilitaet: Je weniger wir wissen, desto sicherer sind
wir...................................................................................................39
Primat der Oberflaeche..................................................................44
Folgen der Praesenz: Wehrlosigkeit..............................................46
Folgen der Praesenz: Selbstbehauptung.......................................47
Begriffsbildung: Warum heisst das, was wir sagen, ueberhaupt
etwas und nicht vielmehr nichts? ..................................................50
Und wie koennen wir uns trotzdem verstaendigen?......................51
Tiere werden konditioniert – Wollen wir Menschen tatsaechlich
verstehen? ....................................................................................55
Philosophische Kompetenzen........................................................56
Vermutungen: Wie koennen wir verstehen? Wie koennen wir uns
verstaendigen? .................................................................................59
Oberflaechen..................................................................................60
“Wie er wirklich war”.......................................................................60
Bezug des Ich auf etwas................................................................62
Reduktion auf das Ich....................................................................63
Gewaltakt des Konsens und Macht des Durchschnittlichen, das
keiner will.......................................................................................65
Verstehen, dass es anderes gibt ...................................................67
Erklaeren von Neuem durch Bekanntes ist Reduktion...................73
Mushin: “Nicht mehr denken”.........................................................78
9
10. Wie die Tiere
Was ist schon neu? .......................................................................80
Unterschiede in der Naehe wahrnehmen.......................................82
Welcher Spielraum bleibt dabei fuer Neuigkeiten? .......................83
Dissens ist Effizienz – abhaengig von der Perspektive..................84
Extrapolation und Spiele................................................................85
Die Kunst, den Faden nicht verlieren.............................................87
Rhetorik im Verdacht......................................................................91
Gute Gedanken ausdruecken: mashup.........................................93
Wir muessen trotzdem miteinander reden.....................................97
Muster als Kommunikationsstrategie – pragmatische Allegorien.100
Entscheidungsoptionen................................................................101
Perspektiven wechseln...................................................................103
Allegorien als ein Mittel, Distanz herzustellen – und das befreit..106
Standardisierung von Mustern......................................................111
Anleitungen, Muster, Missverstaendnisse....................................116
Verhandlungssache......................................................................123
Orientierung, Bildung von Perspektiven.......................................128
Was zaehlt ist die Oberflaeche.....................................................128
Was heisst etwas zaehlt? ............................................................131
Genauso unbeschwert umgehen wie mit Tieren – Signale ernst
nehmen........................................................................................134
Keine Dualitaet, kein Zusammenfuehren, keine Wahrheit...........135
Anstelle unvermittelter Gemeinsamkeit tritt das Wissen, dass alles
Verhandlungssache ist – auch die letzten Gruende ....................136
Offensichtlich reden wir trotzdem.................................................137
Ein Bild des anderen machen, in dem die Dinge zusammen passen
.....................................................................................................139
Perspektiven.....................................................................................141
Kann so viel passieren, wie geredet wird?...................................144
Bedeutung entsteht spaeter.........................................................145
“Die” erzeugen “uns”....................................................................146
Ein paar Grundsaetze..................................................................158
10
11. Wie die Tiere
Ausgangslage
Wir verstehen Sie nicht, Sie
verstehen uns nicht. Das ist die
beste Voraussetzung fuer ein gutes
Gespraech.
“Ich verstehe schon.” Diese drei Worte sind eine gefährliche
Drohung, sie beenden ein Gespraech, sie kuerzen Erklaerungen
ab und sie signalisieren, dass derjenige, der sie ausspricht, sich
bereits ein Bild gemacht hat.
Ein Bild, das nur sehr schwer zu erreichen und kaum zu
aendern ist. Je sicherer wir einer Sache sind, desto schneller
machen wir uns ein Bild. Je schneller wir uns ein Bild machen,
desto weniger ist uns bewusst, dass wir uns ein Bild machen,
dass wir in unseren Gedanken und Worten eine Welt
konstruieren, die von der Welt draussen, von der Welt des
anderen, der uns etwas zeigen wollte, verschieden ist.
Je sicherer wir also einer Sache sind, desto wahrscheinlicher
liegen wir damit falsch.
“Du bist doch so ein Landwirtschaftsfreak”, sagte eine
Kollegin gestern zu mir – voraussetzend, dass ich mich
als ExStaedter und nunmehriger Landbewohner fuer
alle Aspekte des Landlebens begeistern kann. “Nein”,
sagte ich, “Oder begeisterst Du Dich brennend fuer
Muellabfuhr, Strassenkehrer, Obdachlose und
verspaetete UBahnen?” um nur einige Aspekte des
Stadtlebens herauszugreifen.
Ein anderes Beispiel: Ein Projektteam diskutiert den
Rollout eines Imagefilms in osteuropaeischen
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12. Wie die Tiere
Tochtergesellschaften eines international operierenden
Konzerns. “Die werden uns keine Ideen liefern”, sagt M.
“Stimmt, die Antworten waren ziemlich mager”, meint A.
“Sind die Kollegen denn schon befragt worden?”, fragt V.
Die anderen sehen sie entgeistert an, “Haben wir nicht
gerade darueber geredet?”
Fragen, Behauptungen, Situationen, die fuer den einen
selbstverstaendlich sind, sind fuer den anderen unvorstellbar,
allein daran zu denken oder es auszusprechen loest Unwohlsein
aus. Wir konnen vieles nicht thematisieren und wir haben dabei
auch keine Sicherheit.
Bei jedem Gespraech laufen neben dem ausdruecklich Gesagten
mehrere Parallelebenen mit, einige betreffen Erinnerunen,
Erfahrungen, andere Beziehungen.
Darunter gibt es auch das Bild von uns, das waehrend des
Gespraechs beim anderen entsteht. Haben wir jemals das
wirklich gute Gefuehl, dass uns das gerecht wird? Wie weit
duerfen wir, wenn wir uns das eingestehen, unseren eigenen
Bildern vertrauen? Gibt es einen Massstab, an dem sich die
unterschiedlichen Vorstellungen messen lassen? Und mit
wessen Augen kann dieser Massstab abgelesen werden?
Es bedarf nur minimaler Verschiebungen, und wir koennen
einander wie Idioten aussehen lassen. Wir beklagen
Missverstaendnisse, wundern uns ueber die mangelnde
Einsicht zweier Streitparteien, wenn wir als Dritte unbeteiligt
daneben stehen, und schaffen dadurch selbst nur eine
zusaetzliche, genau so richtige, genau so unberechtigte
Sichtweise.
Das koennen wir nicht aus der Welt schaffen, das koennen wir
nicht aendern. Wir koennen uns dieser Tatsache bewusst
werden, und unsere Kommunikation darauf abstimmen.
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13. Wie die Tiere
Mit wem reden wir, welchen Hintergrund, welche Erfahrungen
hat diese Person? Was versteht er oder sie unter Begriffen, die
wir wie selbstverstaendlich verwenden, was ist fuer ihn
fragwuerdig, obwohl wir es fuer garantiert halten? Gibt es eine
gemeinsame Welt in der wir uns bewegen, wo lassen sich
Beruehrungsspunkte schaffen? Wo ist unser Gegenueber gerade
jetzt, welche der vielen moeglichen Kombinationen seiner
Positinoen sind fuer ihn gerade jetzt wichtig?
Eines ist wichtig: Es geht hier nicht um Zielgruppen,
Kundenschichten oder klassen oder Kampagnenadressaten.
Hier ist die direkte Kommunikation das Thema: Die
Unterhaltung unter Kollegen, zwischen Fuehrungskraeften und
Mitarbeiter, zwischen Kunde und Verkaeufer – oder in der
Beratung.
Die demuetige Haltung, den Standpunkt des anderen als
eigenen, eigenstaendigen und in seiner Umgebung auf jeden Fall
gerechtfertigten Standpunkt zu akzeptieren, als etwas, das nicht
wir sind und das wird grundsaetzlich erst einmal nicht
verstehen, ist der erste Schritt um so etwas wie Verstehen
ueberhaupt zu ermoeglichen.
Das klingt nach grossen Worten einerseits, und nach einer
leeren Selbstverstaendlichkeit andererseits. Aber probieren Sie
es einmal, wenden Sie es an einem Standpunkt an, der Ihnen
wirklich gegen den Strich geht: Nicht immer ist Toleranz das,
was uns leicht faellt und uns von den anderen unterscheidet –
etwa wenn wir die Intoleranz unseres Gegenuebers tolerieren
sollen...
Eine Frage, die uns durch diesen ganzen Text begleiten wird, ist
die Frage nach den Dimensionen des Verstehens: Was bedeutet
es als Begriff, wo ist der Uebergang zwischen Verstehen und
Ueberzeugung, und wo wird Verstehen zum Handeln? Und wie
lange besitzt Verstandenes Gueltigkeit? Inwiefern trifft das, was
wir heute verstand haben, morgen noch zu?
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14. Wie die Tiere
Differenz: Visualisierung im Streit
“Ich verstehe schon” sind drei Worte, die gern als Beruhigung
verwendet werden. Was wir damit ausdruecken moechten, ist
oft: “Ich akzeptiere Deinen Standpunkt, ich anerkenne Deine
Leistung, Du erzaehlst mir hier nichts Neues.” Was wir meist
nicht damit ausdruecken wollen, ist: “Ich bin ueberzeugt von
dem was Du sagst, ich werde das so umsetzen, ich gebe meinen
eigenen Standpunkt auf.”
Was wir verstehen, wenn wir diese drei Worte hoeren, ist: “Ich
akzeptiere was Du tust, ich akzeptiere Deine Empfehlungen.”
Oft ist es aber auch das Empfinden, in unserer Argumentation
abgewuergt zu werden, auf einen aktuellen Zustand reduziert
zu werden, in dem wir noch gar nicht alles angebracht haben,
was wir sagen wollten Es ist das Gefuehl eben genau nicht
verstanden zu werden.
Wir verstehen: “Du brauchst nicht weiterzureden, jetzt will ich
wieder reden.” Was oft auch gemeint ist. Der reale Verlauf
vieler Gespraeche aehnelt zufaelligen Begegnungen in
Parallelwelten. Beruehrung findet nicht statt.
Der Ausgang dieser Geschichte haengt nicht von Inhalten ab; es
ist eine Frage der Form und der Beziehungen. Oft spielen auch
Reizworte oder bestimmte Verhaltensmuster eine entscheidende
Rolle. Reizworte sind oft das Bindeglied zwischen
Parallelwelten. Sie dringen durch, machen sich bemerkbar – das
bedeutet aber nicht, dass sie auch verstanden werden.
Warum polemisieren wir so gerne? Das ist ein offensichtliches
Beispiel, wie wir uns verstecken, uns hinter eine Rolle
zurueckziehen koennen. Dabei fuehlen wir uns sicher, wer da
redet, das sind nicht wir.
Genau so sind provokative Fragen, rhetorische
Demonstrationen leere Huellen. Sie bewirken nichts, sie bringen
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15. Wie die Tiere
keinen Mehrwert in der Kommunikation. Mit einer Ausnahme:
Sie helfen, Grenzen zu erkennen, sie entfremden, sie zeigen,
dass der andere anders ist – auf eine Weise, die wir mit unseren
Begriffen nicht erfassen koennen, ohne sie in diesem Moment
schon wieder zu aendern, anzugleichen.
Beide, Polemik und Rhetorik, streuen Reizworte und sorgen fuer
erste Reaktionen.
Differenz wird am besten im Streit sichtbar. Jeder Streit
hinterlaesst ein Gefuehl der Entfremdung, eine unangenehme
Ueberraschung “Das haette ich mir nicht von dir gedacht”,
“Ich dachte, wir waren uns einig”.
Die so sichtbar gewordene Differenz ist keine inhaltliche; sie ist
vielmehr von den bis dahin uebergangenen kleinen Differenzen
verursacht und verstaerkt. Der groesste Unterschied entsteht
immer dadurch, dass wir die Wahrnehmungen uebergehen;
vielleicht beschreiben wir sie sogar mit den gleichen Worten –
aber sie bedeuten verschiedenes fuer uns. Darueber reden wir
nicht, weil es fuer uns selbstverstaendlich ist, genau so
selbstverstaendlich, wie fuer unser Gegenueber die
entgegengesetzte Bedeutung. Bedeutung entsteht durch das
Umfeld und durch Beziehungen. Oft kennen wir unser Umfeld
(oder dessen Auswirkung auf uns) nicht; selten denken wir
ueber das Umfeld der anderen nach. Das Problem entsteht nicht
nur anhand der Inhalte – die scheinbar ploetzliche Differene, die
vielleicht nur einen kleinen Punkt betrifft, stellt ploetzlich viel
mehr, die ganze Bewertung in Frage.
Im Streit spielt immer die Frage nach richtig oder falsch eine
Rolle. Die kann hier zu keinem Ergebnis fuehren, sie braucht
immer einen Rahmen. Wie koennen wir das loesen? Sollen wir
von Anfang an als anders auftreten?
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16. Wie die Tiere
Immer Herausfordern
Im Sport gibt es keine Zeit fuer Erklaerungen; der Kontext spielt
im Kampf und Sekunden und Punkte keine Rolle. “Nicht
schlecht fuer die Verhaeltnisse...”, “Fuer die gerade erst
ausgeheilte Verletzung ganz ok” das sind die duerftigen
Erklaerungen des Verlierers, die am Ergebnis nichts aendern.
Wo es nur eine Chance gibt, zaehlen nur die beste Vorbereitung,
das klarste Auftreten und der ausdrueckliche Wille, hier auch
zu gewinnen.
“Ein Gefuehl hasse ich wirklich”, sagt Shawn Flarida,
erfolgreichster Sportler in der Westernreitdisziplin Reining
in seiner Videoserie “Good as Gold”. “Ich moechte nicht
aus der Arena gehen und mir denken 'ich haette es
haerter versuchen sollen'.” Er verdient sein Geld damit,
Pferde in rasanten Manoevern so praezise wie moeglich
durch die Arena zu steuern. Zu viel Sicherheit wird dabei
nicht belohnt: Zu verhaltenes Auftreten, zu viele
korrigierende Eingriffe wirken sich negativ auf den
sogenannten Score, die Punktebewertung aus.
Das Risiko ist ein sehr hoch – und es wird von vielen
Faktoren beeinflusst. Der Reiter kann einen Fehler
machen, das Pferd kann einen schlechten Tag haben, der
Boden kann schlecht praepariert sein, andere
Umwelteinfluesse koennen stoeren – all das ist nicht
planbar, daher ist Absicherung nicht moeglich. Der
einzige Weg, zu gewinnen, ist der, das volle Risiko zu
nehmen und bei jedem Antreten bis an die Grenzen zu
gehen. “Wenn es schief geht, kann ich daran arbeiten;
wenn ich die Grenzen nicht herausfordere, weiss ich nie,
wie weit ich gehen kann.”
Wenn wir voraussetzen, dass wir einander verstehen, ist die
Situation aehnlich wie in einem Wettkampf, in dem auf Risiko
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17. Wie die Tiere
verzichtet wird: Moegliche Unterschiede treten nie zutage, die
Ideen, deren Potential wir genauso in rasanten Manoevern
ausreizen sollten, koennen sich nie wirklich entfalten – wir
gehen auseinander und haben einmal mehr das schale Gefuehl,
dass wir das alles schon vorher gewusst haben.
Dieser Kollege, dieser Verkaeufer oder dieser Berater konnte uns
auch wieder nicht weiterhelfen...
Und wir verbringen farblose uninteressante Tage in einer
Umgebung, die uns nicht gerecht wird, mit dem Gefuehl, dass
es anderswo besser waere, und der zerstoererischen
Einstellung, dass es sich ohnehin nicht auszahlt, aktiv zu
werden.
Wie Ideen beschreiben
Wir muessen nicht immer darauf bestehen, dass wir anders
sind. Im Gegenteil. Wir sind verschieden – aber je mehr wir
darauf beharren, desto weiter gleichen wir einander an.
Die Frage nach Andersartigkeit, Neuartigkeit wird uns noch
oefter beschaeftigen, auch die Frage nach dem Wir, nach uns
selbst.
Wir koennen auch nicht erwarten, in jeder alltaeglichen
Unterhaltung Neues zu erfahren. (Wobei ich hier nicht an
persoenliche, Intimitaet erzeugende Unterhaltungen denke – in
solchen Gespraechen entsteht in jeder Minute das Universum
neu, sofern wir es zulassen...).
Gerade in Verkaufssituationen, in Ideenentwicklungsprozessen,
in Kreativitaet fordernden Momenten muessen wir uns sehr
wohl darauf einstellen, Neuem zu begegnen, mit anderen
Hintergruenden zu arbeiten. Wir muessen unsere Idee so
praesentieren, dass wir alle Bedingungen mit aufgezeichnet
17
18. Wie die Tiere
haben, die notwendig sind, um sie zu verstehen.
Wir duerfen nicht voraussetzen, dass unser Gegenueber an die
gleichen Hintergruende, an die gleichen Bedingungen und
Abhaengigkeiten denkt wie wir. Wenn unsere Idee nicht in allen
Zusammenhaengen und allen Welten funktioniert (gibt es eine
Idee, auf die das zutrifft?), dann muessen wir den Rahmen
schaffen, in dem sie verstanden werden kann.
Wer sich ueber den verbindenden Rahmen hinausbewegt und
akzeptiert, dass zusaetzliche Erklaerungen notwendig sind,
laeuft Gefahr, erst einmal Ablehnung hervorzurufen:
Grosse Teile der Erklaerungen werden als selbstverstaendlich
angesehen (Selbstverstaendlichkeit ist ein weiteres sehr
gefaehrliches Wort und selbst immer von aktuellen Kontext
abhaengig).
Anderes als von sehr weit hergeholt.
Erklaerungen werden oft auch als Schwaeche der erklaerten
Idee betrachtet – sie steht nicht fuer sich selbst.
Schliesslich stehen auch die Chancen nicht schlecht, dass der
Erklaerende schlicht als jemand angesehen wird, der zu gern zu
viel redet...
Unterschiede sind nicht immer nur Varianten desselben,
sondern manchmal wirklich anders.
Schaffen bedeutet immer verlieren
“Ist das nicht...”, “Wie meinen Sie das...”, “Warum meinen Sie
dass... “ Fragen kommen sehr unterschiedlich bei uns an.
Wenn wir erwarten, dass unsere Idee fuer sich selbst spricht,
gut und leicht verstaendlich ist und alle offenen Fragen
beantwortet, dann gilt jedes Nachfragen leicht als Kritik. So
tolerant und offen wir auch sein moegen, wir glauben uns auch
dabei im Recht; schliesslich haben wir ja alles erklaert. Dass
18
19. Wie die Tiere
unser Gegenueber moeglicherweise nicht nur mit anderen
Erfahrungen und Ansichten an die Sache herangeht, sondern
zusaetzlich vielleicht grundlegend anders denkt, ist etwas, das
wir uns oft erst bewusst machen muessen.
Herausfordern, den Bogen ueberspannen, den Rahmen
sprengen – mit diesen Schritten bewegen wir uns schnell darauf
zu, mehr diskutieren zu muessen, als scheinbar sachlich
notwendig ist. Das ist aber der einzige Weg, den Dingen auf der
Suche nach neuen Wegen auf den Grund zu gehen. Damit
meine ich keine bunten, spannenden, originellen
Praesentationstechniken – die sind nur Rhetorik. Ich meine
trockene, langweilige, detailorientierte Arbeit.
Wer dabei den ersten Schritt macht, ist dann oft der, der auch
die ersten Runden verliert.
Am Beispiel eines Produktentwicklungsprozesses: Die
erste kurz hingeworfene Idee ist kaum verstaendlich; sie
hat zu wenig Substanz, um uns aus den gewohnten
Schienen in neue Bereiche zu fuehren. Eine Diskussion
hier dient nur dazu, die bestehenden, alten Standpunkte
zu befestigen.
Ein ausformulierter Entwurf oder ein Prototyp werfen
gleich die Frage auf, was hier alles vergessen wurde. Auf
den ersten Blick ist oft leichter zu erkennen, was nicht
moeglich ist oder in der Spezifikation vergessen wurde;
die erfuellten Anforderungen erschliessen sich dann erst
in der Anwendung.
Ein Prototyp mit einem begleitenden Konzept ist eine
Menge Arbeit. Das Paket erklaert und praesentiert
glechzeitig die Idee und die Argumente, mit denen sie
vom Tisch geredet werden kann. Dadurch ist die Arbeit
oft umsonst – sie lenkt die Diskussion aber in eine
Richtung, die brauchbare Ergebnisse erwarten laesst.
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20. Wie die Tiere
Nachfragen bedeutet also Attacken gegen unsere Arbeit. Das
wissen auch die Fragenden – deshalb ist es um so wichtiger, die
Attacken herauszufordern.
Die Betonung von Differenz kann einsam machen. Sie bietet
aber auch die Chance, das Gespraech zu beginnen.
Offener Widerspruch, sind sich auch Unternehmens und
Organisationspsychologen einig, ist ein wichtiger Schritt auf
dem Weg, Vertrauen zu erzeugen,
Wie koennen wir die Seiten
wechseln?
Wir verstehen Sie nicht, Sie verstehen uns nicht.
Wir koennen lernen, die Wichtigkeit unserer Standpunkte fuer
uns zu relativieren. Es geht hier nicht um die Erweiterung des
Horizonts, nicht um Toleranz oder Bildung. Wir wissen nicht
mehr als die anderen, wir sind nicht anderen, vielleicht fuer
unsere Begriffe falschen Standpunkten gegenueber toleranter –
wir sind nicht anders sind als der, dem wir
Orientierungslosigkeit, mangelnde Weitsicht, vielleicht gar
Egoismus unterstellen.
Unsere fuer uns wohl geordnete Welt, in der alles
zusammenpasst ist fuer den anderen – das kann schon der
Kollege einen Tisch weiter sein – ein dunkles Dickicht voll
unkontrollierbarer Gefahren und abstruser Kuriositaeten.
Wenn wir das nachvollziehen, wahren wir unsere Chance auf
Verstaendigung.
Sie sind anders
Wir nehmen Unterschiede unterschiedlich wahr. Ueber manche
20
22. Wie die Tiere
“So ein Mensch.” Natuerlich ist das eine Redewendung, aber
was erschliesst sie uns, wenn wir sie ernst nehmen? Welche Art
von Mensch wird ueber die Verwendung unterschiedlicher
Foenbuerstenarten charakterisiert, welcher Mensch drueckt der
Welt seinen Stempel durch so einfache Taetigkeiten auf?
Oder umgekehrt: welche Art von Mensch ist so leer, so formlos,
dass er durch die Verwendung so alltaeglicher Dinge wie
Foenbuersten gepraegt wird? So haltlos, dass er jede
Gelegenheit, Unterschiede zu machen, nutzen muss, um sich
abzugrenzen, sich so zu behaupten und zu definieren?
Schliesslich: Welche Art Mensch bekommt nicht mit, was eine
solche Fragestellung bedeutet?
Alle drei Fragen sind berechtigt, auf alle Fragen gibt es
verschiedene Antworten, die gleichberechtigt nebeneinander
stehen koennen. Fragen machen Unterschiede, das liegt in ihrer
Natur, Antworten aber muessen nicht zwingend trennend,
ausschliessend sein.
“Asiaten sind fleissiger als wir”, sagt eine andere junge Frau
beim Mittagessen in der Cafeteria eines internationalen
Unternehmens zu ihrer Kollegin. “Ja”, antwortet diese, “aber
duemmer.”
Schon die erste Aussage ist eine gedankenlose Pauschalierung,
die in ihrem Versuch, etwas abzugrenzen, entsetzlich inhaltsleer
ist, und in ihren Gedanken, auf die sie sich stuetzt, einfach
dumm. Die scheinbar harmlose, offene Formulierung, die
niemanden konkret betrifft und niemanden ausschliesst,
braucht in Wahrheit einzementierte Grenzen, um zu
funktionieren.
Es gibt uns, und es gibt die da drueben. Wir kennen uns genau,
aber die sind anders. Anders als wir; mehr interessiert uns
nicht; deren Beweggruende, Hintergruende und ihre
tatsaechliche Umgebung sind uns egal.
22
23. Wie die Tiere
Dann tritt die zweite Behauptung auf den Plan. Sie bringt nicht
nur negative Eigenschaften mit ins Spiel, sondern versucht
auch noch, Dinge zu erklaeren, ohne die Perspektive, die ganze
Sicht auf die Dinge einzubeziehen. Dummheit und Fleiss als
verwandte Eigenschaften schaffen ein kulturell gepraegtes Bild
des phantasielosen Strebers, der nichts vom Leben hat (damit
troesten wir uns zumindest)
Noch einen Schritt zurueck: Das Befolgen von Regeln, das
Betonen des Anderen, des Kollektivs gegenueber dem Eigenen
als Dummheit zu interpretieren, setzt selbst schon wieder mehr
voraus: Die “Masse” ist Objekt der Manipulation, praktisch
willenlos und ausgeliefert.
Die Interpretation gelingt uns dann um so freizuegiger, je weiter
der interpretierte Gegenstand entfernt ist.
Ohne persoenliche Verbindung und Erfahrung faellt es uns
leicht, in unseren Auslegungen kreativ zu sein.
Wir wenden unsere Regeln auf andere an; einmal mehr
verstehen wir, so behaupten wir es, und einmal mehr entfernen
wir uns mit jeder Ueberzeugung, etwas zu verstehen, weiter von
dem, was wir verstehen wollten.
Dazu gibt es plakative Techniken...
Unzufriedenheit
“Ich verstehe das nicht” als rhetorische Finte ist genau so
gefaehrlich wie “Ich verstehe schon”. “Ich verstehe das nicht”
bedeutet oft nur: “Das ist doch leicht zu verstehen.”
“Ich verstehe das nicht” als Reaktion eines Dritten auf die
Diskussion zweier anderer fuehrt einen zusaetzlichen
Standpunkt ein, eine Perspektive, aus der sich Probleme anders
betrachten lassen. “Warum verstehen die einander nicht,
warum reden die aneinander vorbei” die Grosszuegigkeit, mit
der wir hier Perspektiven wechseln, ist oft eindimensional, mit
23
24. Wie die Tiere
uns selbst lassen wir nicht so umspringen, den eigenen
Standpunkt koennen wir einzementieren.
Wenn wir die Moeglichkeit des Perspektivenwechsels im Kopf
behalten koennen, uns betrachten, als koennten wir uns in der
Diskussion beobachten, haben wir die Chance, zu lernen.
Projektion
“Der meint das sicher anders...” Unser Gegenueber hat seinen
Standpunkt zwar ausfuehrlich dargelegt, wir sind trotzdem der
Meinung, es besser zu verstehen: Das kann nicht so sein; in
unserer Welt ist es anders.
Wir wollen nicht ueber Kleinigkeiten diskutieren, die Meinung
des anderen ist uns auch egal – wir sehen grosszuegig ueber
den Irrtum des anderen hinweg und halten unsere Expertise
dagegen.
Damit schaffen wir eine Welt, die gut zu unserer passt, aber
wenig mit dem zu tun hat, was wir mit offenen Augen draussen
vorfinden koennten.
Identifikation
“Bei mir ist das auch so”, “Das habe ich mir auch schon oft
gedacht”. Das Wegwischen von Grenzen, das Angleichen von
Ansichten und Erfahrungen steht fuer das Ausdehnen der
eigenen Ansichten, das Anwenden der Regeln einer Welt auf eine
andere Welt.
Manchmal sagen wir es aus Hoeflichkeit, um darueber
hinwegzutaeuschen, dass wir mit dem, was uns der andere
erklaeren moechte, ueberhaupt nichts anfangen koennen.
Manchmal soll es unseren Standpunkt bestaetigen und den des
anderen unterdruecken “Du sagst hier nichts neues.”
Manchmal steckt auch ein Lerneffekt dahinter: Jemand sieht
etwas so wie wir; ein Standpunkt, den wir fuer unseren, fuer
24
25. Wie die Tiere
individuell gehalten haben, begegnet uns von aussen wieder.
Aus der Ueberrasschung koennen Neid und Dominanzprobleme
entstehen, es koennen auch Verbuendete wachsen. Wir
identifizieren uns mit anderen (oder andere mit uns) und
koennen auf dem Weg ueber andere reden und dennoch mehr
ueber uns sagen.
Je entfernter der andere – trotz festgestellter Gemeinsamkeiten –
von uns ist, desto leichter faellt es uns, die gemeinsame
Identitaet zu projizieren.
Distanz befreit
“Die machen das so”, “Die sind so” je geringer unsere
Betroffenheit von etwas ist, desto groesser ist unsere
Flexibilitaet im Umgang damit.
Wer nicht da ist, kann sich nicht wehren, wer uns nicht hoert,
kann sich nicht darueber beschweren, nicht verstanden zu
werden, und wo wir keine Auswirkungen zu erwarten haben,
sind wir frei.
Wo uns nur Oberflaechen begegnen, brauchen wir uns mit
nichts weiter auseinanderzusetzen. Die Reduktion auf
Oberflaechen kann durch raeumliche Distanz entstehen, durch
historische Distanz oder durch kulturelle Fremdartigkeit. Wir
finden keinen weiteren Anhaltspunkt, also bleiben wir
draussen. Weil es uns aber selten gelingt, die Dinge zu
belassen, wie sie sind, denken und interpretieren wir weiter.
Dabei koennen wir uns frei fuehlen – dumme fleissige Asiaten,
intelligente Brillentraeger, kluge schoene Menschen und andere
Fabelwesen entstehen auf diesem Weg.
Die Tendenz zur Oberflaeche hat Methode. Sie entspricht der
Reduktion auf das, was wir wahrnehmen koennen. Wenn wir an
der Oberflaeche bleiben, auf Interpretationen verzichten und
uns am dem orientieren, was ist, haben wir eine Chance, uns in
25
26. Wie die Tiere
unserer Umgebung zurechtzufinden.
Oberflaechlichkeit ist eine adaequate Verhaltensweise.
Festlegende Systematik:
Spekulation als Befreiung,
zuschreibendes Erkennen als
Festsetzung
Warum scheint es manchmal so einfach, einander zu verstehen,
und manchmal unmoeglich?
Welcher Systematik folgen die Methoden, die wir fuer uns
entwickelt haben, damit umzugehen? Welche dienen der
Bestaetigung von Unterschieden, welche der Suche nach
Verbindendem?
In unserem Bemuehen, die Welt beschreibbar zu machen,
haben wir viel Trennendes geschaffen. Jede Bezeichnung, jeder
Begriff dient nicht nur dazu, eine Verbindung herzustellen (“Ich
bezeichne etwas”, also gibt es einen Bezug von mir zu diesem
Etwas), sondern auch, Abgrenzungen einzufuehren: Es gibt
“ich” und “etwas”, also bin ich nicht etwas und ich bin auch
nicht so wie etwas.
Wenn wir eine Flasche als Flasche bezeichnen, ist das nicht
weiter auffaellig, wenn wir einen Menschen als sturen Bock,
dumme Kuh oder eben als Flasche bezeichnen, ist recht
deutlich, dass wir hier Unterschiede sehen.
Wir haben wahrgenommen, dass etwas anders ist, und wir
haben eine Bezeichnung dafuer gefunden. Wie machen wir jetzt
weiter? In der Regel sind wir der Meinung, recht zu haben. Was
bringt uns das, wenn wir von einem Menschen etwas wollen?
Wir haben die Moeglichkeit, ihn davon zu ueberzeugen, dass er
eine dumme Kuh ist und dass er sich mit anderen Ansichten
beschaeftigen sollte. Das birgt einen gewissen Widerspruch.
26
27. Wie die Tiere
Wir haben die Moeglichkeit, uns nach anderen Menschen
umzusehen. Das ist in der Regel nicht endlos praktizierbar.
Wir haben auch die Moeglichkeit, damit umzugehen, uns zu
fragen, was eine dumme Kuh eigentlich ausmacht, wie die Welt
aus der Perspektive einer Kuh aussieht und welche Reize uns
als Kuh dazu bringen koennen, das zu tun, was wir (als
Mensch) gern von der Kuh moechten.
Es ist zweifelhaft, ob wir jemals das Talent haben werden, die
Welt wahlweise mit den Augen einer dummen Kuh, eines sturen
Bocks, eines Angsthasen oder dessen, was wir fuer einen
Menschen halten, zu sehen. Wenn wir aber die Aufgewecktheit
haben, uns vor Augen zu halten, dass wir Perspektiven
wechseln muessen, dass wir in dem, was wir sagen wollen, auf
verschiedene Perspektiven eingehen muessen, koennen wir uns
auf ein gewisses Mass an Offenheit zubewegen – immer an der
Oberflaeche.
Eine offene Frage ist, wo hier der Nutzen liegt.
In welchen Situationen wollen wir verstehen, wo sind wir darauf
angewiesen, was unser Gegenueber sagt, und wo liegt
tatsaechlich eine so grosse Distanz zwischen uns, dass diese
Gedanken es wert sind gedacht zu werden?
Tierstereotype sind nur ein Beispiel, in dem wir uns die Welt
zurechtruecken, in dem wir scheinbares Allgemeingut (das Bild
einer dummen Kuh), von dem niemand weiss, was es genau
bedeutet, verwenden, um etwas hoechst persoenliches (einen
Menschen) zu bezeichnen. Es spielt dabei keine Rolle, dass der
Vergleich beleidigend sein mag – der Gewaltakt an sich
geschieht bereits durch die Bezeichnung.
“Du bist...”, “Menschen wie du sind...”, “Du willst doch immer...”
dieses Zuschreiben, dieses Festsetzen ist nicht fuer alle eine
Belanglosigkeit.
27
28. Wie die Tiere
Wenn wir es als Repraesentation unserer selbst in der Welt des
anderen verstehen, bedeutet es das Anlegen von Fesseln, das
Anhaengen von Gewichten an unsere Persoenlichkeit. Wir sind
jetzt so. Zumindest in dieser Beziehung; in anderen
Beziehungen koennen wir genauso entgegengesetzt sein, sind
wir vielleicht schon weitergegangen.
Der existentialistische Horror vor diesem hilflosen
Ausgeliefertsein ist eine moegliche Haltung. Sartres “Huis Clos”
oder “Ekel” sind genauso eine Manifestation dieser Haltung wie
Schoenheitsoperationen oder Kaufsucht. Wir erleben
Unzulaenglicheit oder eingeschraenkte Moeglichkeiten und
reagieren – irgendwie, mit Gefuehlen, Aktionismis.
Ich moechte eine pragmatischere Haltung entgegensetzen. Wir
koennen persoenliche Vorlieben und Stereotype hinter uns
lassen. Wir sind sogar sehr talentiert darin: Die Kommunikation
ueber statische, extrem reduzierte Allegorien – immer an der
Oberflaeche – begegnet uns ueberall. Man nennt sie auch
Klischees.
Die Zuschreibung von Zustaenden, Eigenschaften ist ein so
erfolgreicher Weg, dass ganze Industrien darauf basieren. Jede
Form von Kultur – spaetestens dann, wenn sie ausgestellt,
beschrieben oder verkauft wird – beruht auf diesen
Mechanismen.
Das Einfrieren von Zustaenden, die im Moment fuer uns Sinn
machen, ist eine Beschreibung der Welt fuer uns. Damit setzen
wir uns ueber vieles hinweg, nehmen viele Verkuerzungen und
Verfaelschungen in Kauf aber damit funktioniert unser Bild
von der Welt fuer uns. Bei anderen mag es ratloses
Kopfschuetteln ausloesen.
Dieses Prinzip funktioniert nicht nur in Massen, Populaer oder
Subkulturen. Auch die radikalsten Formen sind dem
unterworfen – sobald die Suche nach Worten, nach
Beziehungen anfaengt. Wir koennen Worte finden – und uns
28
29. Wie die Tiere
damit vom Gegenstand entfernen. Wir koennen auf Naehe und
Direktheit beharren – uns uns damit in Worten verlieren, die
sich auf immer Allgemeineres reduzieren, die uns den Eindruck
vermitteln, nah an der Sache zu sein, aber kaum noch etwas
bezeichnen.
Auch das ist existenzialistisch, oder eine Folge davon.
Heideggers Spaetphase mit “Vom Ereignis – Beitraege zur
Philosophie” und viele Arbeiten der Dekonstruktion sind
eindrucksvolle Beispiele dafuer, wie den hellsten Koepfen auf
der Suche nach dem, was wirklich etwas bedeutet, was etwas
wirklich bedeutet, Schritt fuer Schritt die Worte ausgehen.
Medien und Gemeinplaetze: Wir
wissen und verstehen nur, was wir
immer schon gewusst haben
Wo viele Worte sind, ist die Gefahr der Entfernung gross; wir
nuetzen Worte und die damit verbundenen Bilder, um das zu
umschiffen, was wir sagen wollten. Medien sind natuerlich
Meister darin, Klischees zu reproduzieren. Das ist ihre erste
und vordringlichste Aufgabe – sonst wuerden wir sie nicht
verstehen.
Offen ist nur, welche Klischees verwendet werden, und welche
bestaetigt oder attackiert werden.
Die investigative Leistung des Journalismus besteht darin,
herauszufinden, wann welches Klischee aus welcher Schublade
gezogen werden soll.
Klischees muessen nicht zwangslaeufig bewertend sein,
dealende Schwarzafrikaner muessen nicht gegen kurzsichtige,
schmalschultrige ITExperten oder gierige Boersenhaie antreten
– Klischees gehoeren zu den Kernfunktionen unserer
Kommunikation.
29
30. Wie die Tiere
Wir verstehen immer nur das, was wir schon in unseren
Koepfen haben; es ist fuer uns ein Wahrheitskriterium, dass wir
es nachvollziehen koennen. Wir bestaetigen, erweitern,
verwenden Muster, wir muessen die Muster erst einmal als
solche erkennen koennen, wir muessen uns bewusst sein, dass
neues nur sehr langsam sickert.
Das ist eine Beschreibung der Dinge, kein Vorwurf. wir koennen
keine andere Position einnehmen als unsere. Auch der
weitgereiste und engagierte Journalist beschreibt das, was er
zufaellig gesehen hat. Im Lauf der Jahre wird das eine Menge –
aber es ist weit entfernt von dem, was in der Zwischenzeit alles
passiert ist.
Mehr sehen heisst nicht mehr zu verstehen. Synthese und
Konsens anstreben zu wollen – das sind Ueberreste von
Bildungsromantik.
Viele haeufig wechselnde Perspektiven, Werte und Ansichten in
Bewegung nebeneinander stehen lassen zu koennen, sie
erfassen zu koennen, damit umgehen zu koennen – das sind
Kompetenzen, die wir brauchen...
Darum ist es so gefaehrlich, zu sagen “Ich verstehe schon.”
Eine Beleidigung, ein Akt der Gewalt. Darum ist es vergebliche
Muehe, auf dem eigenen Verstaendnis, auf dem Standpunkt zu
bestehen und fremden Muster eigene Muster
gegenueberzustellen.
Die Unterschiede liegen nicht in der Sprache, nicht in der
Erfahrung oder der Bildung, all das sind begleitende Faktoren.
Die Unterschiede liegen in unserer Welt, in unseren Welten, in
fuer uns wohlgeordneten, klaren und gewohnten Umgebungen,
die fuer den anderen undurchdringliches Dickicht sind.
In dem, was fuer uns die manchmal platte, manchmal
irrationale, immer andere Welt des anderen ist, die fuer uns in
einem Moment erfasst werden kann, fuer den anderen in einem
Leben nicht erschoepft ist. Wir haben einen Augenblick Zeit, zu
erfassen, was los ist, der andere hat ein Leben Zeit, sich zu
30
33. Wie die Tiere
Varianten: Was machen wir aus
dieser Situation?
In vielen Situationen muessen wir zur Kenntnis nehmen, dass
doch alles anders ist, als wir gedacht haben.
Ich nehme das als ein positives Zeichen.
Je oefter unsere Prognosen zutreffen, desto hoeher ist die
Wahrscheinlichkeit, dass wir aus einer Scheinwelt eine
Scheinwelt beschreiben; wir merken gar nicht mehr, dass wir
unsere – letztlich – Phantasie nicht mehr verlassen.
Nicht nur “Ich verstehe” ist, wenn es persoenlich gemeint ist,
eine boesartige Drohung. “Ich hab's doch gewusst”, “Ich habe es
immer gesagt”, “Die sind eben so” sind genauso Ausdruecke, die
entweder von Boesartigkeit oder von Dummheit zeugen – oder
von strategischer Berechnung.
Wir koennen jedes Wort auf die Waagschale legen. Das bedeutet,
dass wir grundsaetzlich nichts mehr tun.
Wir koennen uns an Effizienz orientieren und nur an das
glauben, was offensichtlich ist und nachvollziehbar funktioniert.
Das wird eine Frage der Macht.
Wir koennen unser Gefuehl, dass die Sache nicht funktioniert,
beiseite schieben, und uns darauf verlassen, dass ohnehin
immer irgendetwas funktioniert.
Wir koennen uns auch den Luxus leisten, immer wieder Fragen
zu stellen, immer wieder zu ueberlegen, die Dinge in Frage zu
stellen und auf die Spitze zu treiben: Sie werden trotzdem
funktionieren wie bisher. Vielleicht lernen wir einen Weg, das zu
beschreiben, damit umzugehen. Und vielleicht bringt uns das
eines Tages etwas.
Je offener wir durch die Welt gehen, desto mehr Befremden
werden wir erfahren. Befremden ist kein Gegensatz zur
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34. Wie die Tiere
Offenheit neuem gegenueber. Es ist die Erkenntnis, dass etwas
nicht unser Ding ist.
Was machen wir daraus?
Einsiedelei ist eine Option
Rueckzug ist eine Variante. Nicht Verleugnung, nicht die Augen
verschliessen, nicht ignorieren sondern Unterschiede
akzeptieren. Sie sind anders, sie sagen es und sie meinen das
auch so, das ist eine Lektion, die wir lernen koennen.
Rueckzug bedeutet, nicht immer alles auf uns zu beziehen,
nicht Loesungen zu suchen, auch keine Beschreibungen zu
versuchen, sondern Dinge einfach hinzunehmen, als waeren es
Zufaelle.
Legendaere Gestalten, die intensiv auf der Suche waren, auf der
Suche nach Wahrheit, Sinn, besonderen Erfahrungen,
Meisterschaft, haben es mit Einsiedelei versucht. Alle sind
zurueckgekommen und haben davon erzaehlt.
Oder – und das trifft bereits den Punkt: Wir wissen nur von
jenen, die davon erzaehlt haben. Die anderen – haben eben nie
davon erzaehlt; ihre Oberflaeche hat unsere Oberflaeche nie
beruehrt.
Einsiedelei als Rueckzug, Verzicht, oft noch mit Askese
verbunden, reduziert das Verstaendnisproblem insofern, als es
weniger Fremdes, anderes zu verstehen gibt. Wir sind mit
unserer Sicht der Dinge allein, koennen sie in alle Richtungen
drehen und wenden und beliebig erweitern.
Antonius von Padua lebte feuchte Traeume aus und
Shakyamuni Buddha fragte sich nach langer enthaltsamer
Einsamkeit, was genau durch den Verzicht auf alles besser
werden sollte. Auch der ZenPatriarch Bodhidharma stand nach
seiner neunjaehrigen ZazenMeditation, bei der der Legende
34
35. Wie die Tiere
nach seine Beine und Arme verkuemmert waren, wieder auf
und machte etwas anderes.
Rueckzug macht die Welt zu einfach. In Erkenntnis und
Verstaendigungsfragen hilft uns das nichts.
Es ist unmoeglich, sich abzugrenzen oder zurueckzuziehen, es
gibt immer Beziehungen zu anderen, in anderen entstehen
Bilder von uns. Wir koennen das nicht unterbinden, wir
koennen es nur ignorieren. Damit raeumen wir das Feld und
ueberlassen die Macht den anderen.
Je staerker wir uns auf uns konzentrieren, sei es durch
Rueckzug oder durch aktive Produktivitaet, desto mehr Material
produzieren wir, mit dem wir uns andern ausliefern. Durch die
Beschaeftigung mit uns raeumen wir das Feld.
Abgrenzung ist Bezugnahme und
Bestatetigung
Lehren, die erklaeren, dass man etwas nicht verstehen kann,
entstammen entweder Teenagern (“Niemand versteht mich“)
oder dem Wunsch, Geld mit den entsprechenden Erklaerungen
zu machen.
“Ich bin nicht...”, “Das ist nicht meine Welt... “, “Ich bin anders”
solche Formulierungen sind ein Weg, ein Versuch, Identitaet
und Individualitaet zu behaupten.
Ein Weg, der vom ersten Schritt an in eine falsche Richtung
fuehrt.
Was kann das Ziel eines solchen Weges sein? Wir wollen uns
unserer Position in der Welt versichern, wir wollen unser Stueck
vom Leben definieren. Oft tritt ein “Wir” and die Stelle des “Ich”:
Eltern versuchen, die Welt fuer sich und ihre Kinder zu
definieren, Unternehmer fuer sich und ihre Mitarbeiter.
35
36. Wie die Tiere
Die positive Definition von Zusammenhaengen beschreibt eine
klare Sicht auf die Dinge, die aus der Perspektive eines
einzelnen entsteht und andere mitnehmen moechte. Das
aehnelt dem vorweggenommenen Verstaendnis (“Ich verstehe
schon”) und ruft oft Ablehnung hervor.
Die Zeiten in denen Unternehmen ihre Mitarbeiter zur
verpflichtenden morgendlichen Flaggenparade riefen, moegen
vorbei sein – heute geschieht diese Vereinnahmung ueber
subtilere Methoden, aber nicht weniger intensiv und
weitreichend: Corporate Cultures und Policies forden Einsatz
bis zur freiwilligen Selbstversklavung (die mit Kunstwoertern
wie Intrapreneurship umschrieben wird), Verhaltensrichtlinien
oder (Social) Media Policies massregeln das Verhalten bis tief in
Bereiche, die mit Arbeit, Buero und Werkstatt nichts mehr zu
tun haben.
Das ruft Reaktionen hervor. Auf “Wir sind so” folgt oft “Ich bin
nicht so”, mit dem Ziel, dem Bestehenden etwas Eigenes
entgegenzusetzen, die Gueltigkeit und Kraft des Bestehenden zu
hinterfragen.
Diese Behauptung bewirkt in der Regel genau das Gegenteil
ihrer Intention. Sie lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf die
neu ins Spiel gebrachte Welt als auf die abgelehnte. “Wie bist du
nicht?” und “Warum?” sind die ersten Gegenfragen, die den
Ablehnenden dazu zwingen, sich mit den zurueckgewiesenen
Sichtweisen und Definitionen zu beschaeftigen.
Sobald der Bezug einmal eingefuehrt ist, ist er sehr schwer
wieder zu entfernen. Staerker ist dabei immer das Bestehende –
denn es ist das, was wir momentan verstehen. Alles Neue, das
sich durch die Abgrenzung von Bestehendem definiert,
bestaerkt und bestaetigt durch diese Negation die Macht und
Position des Bestehenden. Fraglich ist auch, ob solcherart
Neues ueberhaupt neu sein kann – oder ob es nur eine Variante
des Bestehenden ist.
36
37. Wie die Tiere
Vor diesem Hintergrund wird die Variante des Rueckzugs
verlockender: Wenn Konfrontation und Negation nicht zum
Erfolg fuehren, sind Ignoranz oder das Ausschliessen von
Information eine plausibel erscheinende Variante: Was ich nicht
weiss – existiert fuer mich nicht.
Dieser Verlockung erliegen wir sehr oft unabsichtlich, und das
offenbart auch die Schwaeche dieser Position: Was wir nicht
wissen, wissen eben nur wir nicht, der Rest der Welt
moeglicherweise aber sehr wohl. Wir spielen dann in einem
Spiel nicht mit, schaffen dadurch aber weder ein neues, noch
beeiflussen wir das bestehende Spiel nachhaltig. Vielleicht gibt
es einen kurzen Moment der Verwunderung, eine hochgezogene
Augenbraue, wenn wir wo nicht mitmachen, Dann werden die
Dinge aber ohne uns weiterlaufen.
Vielleicht hilft das, die eine oder andere Angelegenheit, der wir
uns nicht entziehen koennen, entspannter zu sehen; daneben
gibt es tatsaechliche viele Dinge, ohne die wir besser dran sind
– und die auch ohne uns besser dran sind.
In einem Umfeld, das uns nicht auslaesst, in dem Passivitaet
negative Auswirkungen fuer uns hat, ist der Rueckzug keine
Option. Weder in geschaeftlichen Beziehungen noch in Fragen
der Fuehrung oder der Zusammenarbeit sind Verzicht und
Passivitaet eine akzeptable Perspektive. (Fuer kurzfristige
taktische Massnahmen mag es Ausnahmen geben).
Wir geben damit die Definitionsmacht ab; wenn wir nicht mehr
mitreden, herrscht nicht Stille, es reden andere fuer uns. Und
wir bekommen das oft gar nicht oder erst ueber die
Folgewirkungen mit.
Muessen wir uns dann wirklich um alles kuemmern?
Ja, aber dann, und nur dann, wenn es an der Zeit ist. Ein Hund
bellt, frisst, schlaeft, wenn ihm danach ist. Er malt sich wohl
nicht aus, wie es waere, wenn er jetzt bellte. Das Pferd sorgt
sich nicht um seine Zukunft, sein Horizont umfasst nur wenige
37
38. Wie die Tiere
Sekunden, in diesen ist es immer und zu hundert Prozent zu
allem bereit – und umso leichter zu erschrecken oder zu
verwirren.
Was bedeutet das fuer uns? Wir sollen sein wie spiegelnde
Oberflaechen, haben ZenMeister gelehrt. Wie reine Seide und
scharfer Stahl. Ist auch das ein Plaedoyer fuer die
Oberflaechlichkeit? Nichts bleibt haengen, nichts hinterlaesst
einen Eindruck, sobald es vorueber ist. Ich halte das fuer eine
vernuenftige Einstellung. Wir koennen uns nur um das
kuemmern, was jetzt da ist, wir koennen nur das tun, was wir
jetzt tun koennen. Das ist kein Plaedoyer fur Blindheit und
Verantwortungslosigkeit, keine Aufforderung, jenen, die nicht
da sind, in den Ruecken zu fallen.
Es gibt immer ein anderes, ein naechstes Jetzt.
Bevor wir uns darum kuemmern, muessen wir uns noch
eine andere Frage stellen: Wie wissen wir ueberhaupt,
was ist?
Wie kommen wir zu einer Einschaetzung und
Wahrnehmung dessen, was gerade rund um uns
passiert, wer mit uns redet, was derjenige sagt? Wie
wissen wir, was ist?
Wir sind nicht allein
Es gibt noch andere und anderes ausser uns, und wir haben
praktisch nicht die Moeglichkeit, uns vollstaendig von dieser
Gegenueberstellung zurueckzuziehen. Wir sind immer in einer
Beziehung. Dabei ist nicht relevant, wie nah oder fern diese ist,
ob wir es hier mir Hierachien zu tun haben oder mit
Beziehungen auf einer Ebene – wichtig ist, wo wir die Grenze
ziehen.
38
39. Wie die Tiere
Wo sind wir, wo ist das andere, wo sind die anderen? Wieviele
sind wir?
Philosophien und Religionen haben unterschiediche Strategien
entwickelt, um mit dieser Einsicht umzugehen. Der Bogen
laesst sich von der Vervielfaeltigung der Praesenz in
Daemonologien und Geisterlehren ueber moralische
Konsequenzen, die Aufforderung zum Altruismus, fuer den
anderen da zu sein bis zum Horror vor der Existenz als
Ausgeliefertsein oder der Betrachung des Lebens als Leiden
spannen.
Neue Onlinemedien haben die Vermittlung von vielfacher
Praesenz als ihren Hauptzweck: “Ich bin da”, “Ich war auch
hier” ist die Quintessenz vieler Nachrichten – in erstaunlicher
Analogie zu (prae)historischen oralen
Ueberlieferungstraditionen.
Tatsache ist: Wir wissen, dass wir nicht allein sind,
Was uns in diesem Bewusstsein helfen kann, ist ein Weg, damit
neutral umzugehen.
Distanz und Flexibilitaet: Je weniger
wir wissen, desto sicherer sind wir
“Ich verstehe schon”, “Du verstehst mich nicht”, “Die sind eben
so” in unterschiedlichen Behauptungen und Positionen
schwingen unterschiedliche Welten mit, ohne ausdruecklich
thematisiert zu werden. Dabei gibt es Abstufungen.
Was uns naeher scheint, thematisieren wir weniger. Es wird
vorausgesetzt, es ist nicht der Rede wert. Fuer den einen ist es
selbstverstaendlich, abends zuhause von der Couch aus nach
dem Essen zu fragen, der andere sieht kein Problem darin,
morgens vor dem Weg zur Arbeit Geschirr abzuwaschen. Die
eine haelt es fuer notwendig, ihren beruflichen Erfolg zu
39
40. Wie die Tiere
erwaehnen, die andere haelt es fuer verwunderlich, dass
jemand meint, sie haette sich auch gegen die Karriere
entscheiden koennen. Leichte ironische Distanz bestaetigt die
eigene Position; als rhetorischer Trick wird vorgefuehrt, dass
andere Sichtweisen auch bekannt sind – wobei vorausgesetzt
wird, dass die Grundlage der Gespraechspartner eine
gemeinsame ist. Auf dieser Basis funktionieren Bierzeltwitze
oder politische Ansprachen.
Das Grundgeruest unserer Welt braucht nicht hinterfragt zu
werden, so die vorausgesetzte Einstellung. Denn wir sind uns
doch alle einig. Worueber genau, das ist selten Thema.
An den Grundgeruesten wird oft nur in Form von Polemiken
geruettelt – wieder als rhetorisches Stilmittel, um zu zeigen, wie
intensiv die vorausgesetzte Gemeinsamkeit ist. Die
Hasspredigten national orientierter Politiker sind eine schier
unerschoepfliche Quelle: Weil wir die Tuerkenbelagerung
zurueckgeschlagen haben (in Wien), weil wir keine Kopftuecher
tragen, weil wir unsere Tiere nicht rituell (sondern industriell...)
schlachten – deshalb wollen wir keine zweisprachigen
Ortstafeln. Absurd grosse Fragen werden beruehrt, um
laecherliche Kleinigkeiten zu argumentieren.
Denn je weiter etwas von uns entfernt ist, desto mehr
Flexibilitaet entwickeln wir im Umgang damit. Das Fremde kann
erstaunliche Kreativitaet hervorrufen, manchmal romantisch,
manchmal hasserfuellt, kreativ oder schlichtweg dumm.
Eine haeufige Auspraegung dieser Kreativitaet ist Angst. Wie
sind die anderen, was machen sie, wie gehen sie mit dieser oder
jener Situation um? Ist Osteuropa wirklich der schwarze Fleck
Europas, Ausloeser und Hauptakteur in Finanz und
Wirtschaftskrise? Werden “die” das in den Griff bekommen?
“Die” sind je nach Perspektive Gluecksritter, Exkommunisten,
ExDissidenten, Unternehmer, Arbeitslose, Angestellte,
Pensionisten, Schueler, Hausfrauen und Studenten “die” sind
eine Gruppe, die praktisch gar nichts miteinander gemein hat.
“Die” werden unser Verstaendnis allenfalls befremdlich finden
40
41. Wie die Tiere
und sich ueber “die”, die keine Ahnung haben (das sind in
diesem Fall wir) amuesieren. Sind “die” anders – oder
argumentieren wir schlecht? “Die” sind eben viele.
Auch Bewunderung ist eine Einstellung, die mit der Entfernung
ungeheuer wachsen kann. An Stars und konstruierten Mythen
laesst sich das leicht nachvollziehen, auch politische
Bewegungen sind hier ergiebiges Objekt.
Historische wie raeumliche Distanz koennen gehoerige
Verklaerung schaffen. Ich erinnere mich an die europaeischen
Studentenproteste gegen Sparmassnahmen,
Jugendarbeitslosigkeit und Kuerzungen an den Universitaeten
in den fruehen 1990ern. In Wien organisierten wir einige
Events, sassen eher trueb da und beneideten Berlin oder Koeln,
wo hunderttausende auf den Strassen waren. Zeitgleich
erschien im Spex, dem deutschen Zentralorgan fuer alles
Subkulturelle, eine Reportage die den deutschen Organisatoren
Lahmheit vorwarf und ihnen gluehend Wien als lebendiges
Beispiel vorhielt: Dort seien aufsehenerregende Events an der
Tagesordnung – und ausserdem seien die Organisatoren
besonders innovativ, weil sie als Massnahme gegen die
Funkueberwachung durch die Polizei neuerdings Mobiltelefone
zur Kommunikation benutzten.
Das waren Zeiten. Und wir kannten einander wohl nur aus den
Nachrichten, die die Ereignisse moeglichst aufbauschten. Und
auch hier gilt: Je groesser die Entfernung, je geringer die
Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus dem Publikum wirklich
bescheid weiss – desto hoeher die Kreativitaet, die
Unbefangenheit im Umgang mit Fakten, und die Bereitschaft,
Geschichten zu konstruieren.
Damals gab es keine allgegenwaertigen Onlinemedien, in denen
reale, angemessene Berichterstattung moeglich gewesen waere.
Das ist heute anders. Es sind wenige Jahre vergangen, aber:
Gibt es in Zeiten von Google und Wikipedia noch eine
Berechtigung dafuer, zu sagen “Ich glaube, dass... “, “So weit ich
41
42. Wie die Tiere
weiss... “? Streng genommen brauchen wir uns keine Gedanken
mehr zu machen – entweder wir wissen etwas, oder wir
recherchieren es. Spekulation ist unangebracht; wir koennen
uns stattdessen mit dem beschaeftigen, was gerade anliegt.
Oder wir koennen versuchen, der Sache auf den Grund zu
gehen.
Die Herausforderung verschiebt sich: Wir brauchen uns keine
Fakten zu merken, wir brauchen uns nur zu merken, was wir
noch recherchieren wollten. Und wenn wir etwas vergessen
haben – war es wichtig?
Heuristik und HobbyHermeneutik, die ratende Interpretation
wird zu einem Zeichen von Faulheit. Das gleiche gilt auch schon
fuer Fragen: Wer fragt, ohne vorher recherchiert zu haben, outet
sich als eher ahnungslos. Nicht aber, wer redet, ohne einen Plan
zu haben: Mediale Omnipraesenz fuer alle fuehrt dazu, dass
Reichweite pauschal Inhalte abloest, Tempo und der Eindruck,
originell zu sein, ueberwiegen Bedeutung und Originalitaet.
Genau Bescheid zu wissen, das belegen breit angelegte Studien,
ist in der medialen Kommunikation nicht wichtig.
Wissen wir daher, dank der Verfuegbarkeit maechtiger
Werkzeuge, alles? Koennen wir innerhalb von Sekunden jedes
Thema so weit abgrasen, um uns eine Meinung bilden zu
koennen?
Nein.
Es mag erstaunlich sein, aber es gibt immer wieder Begriffe, zu
denen auch Google und Wikipedia keine Auskunft geben
koennen. Sprachbarrieren, ungeschickte
Suchmaschinenoptimierung oder schlicht nicht vorhandene
Information sollen hier aber nicht das Thema sein. In Frage
steht vielmehr: Was bedeutet es fuer uns, unseren Anspruch
auf Wissen und Verstaendigung, alles ueber mediale
Vermittlung abzuhandeln? Faelschungen, Irrtuemer, einseitige
und veraltete Information sind wieder ein anderes Thema. Die
Frage die ich stellen moechte, ist: Wie koennen wir bei all den
42
44. Wie die Tiere
Antworten auf Fragen liefern wie: Was will der andere von mir?
Wie bringe ich ihn dazu, zu tun, was ich will?
Die Objekte veraendern sich. Wir sehen jeden Tag etwas
anderes, haben jeden Tag ein neues Problem.
Daswirkt sich auch auf uns aus, auf die Bilder und Elemente
auf die wir zurueckgreifen koennen, um zu verstehen. Wenn
sich die Dinge bewegen, ziehen wir mit – wir koennen gar nicht
anders. Der Horizont aendert sich, der Hintergrund, vor dem
wir Dinge einordnen.
Viele gleichzeitige Horionte existieren in verschiedenen
Perspektiven nebeneinander. Das ergibt ein lebhaftes, bewegtes
Durcheinander, in dem immer nur der Moment gilt – alles
andere ueberfordert uns. Der Wunsch, im Einzelfall hinter die
Kulissen zu sehen, bedeutet praktisch schon den Wunsch, die
ganze Welt auf einmal zu erfassen. Dabei ist sie in diesem
Moment schon wieder anders.
Primat der Oberflaeche
Je naeher uns etwas ist, desto selbstverstaendlicher nehmen
wir es. Kein Grund, naeher hinzuschauen. Je entfernter etwas
von unserer gewohnten Umgebung ist, desto weniger haben wir
die Gelegenheit, uns damit zu beschaeftigen. Wir tun es
vielleicht gerne, weil es exotisch ist und uns Freiraum laesst,
aber wir treffen die Dinge nicht; sie bleiben von uns
unberuehrt.
Wir bewegen uns immer an der Oberflaeche. Egal wie nah oder
fern der Betrachtungsgegenstand uns ist.
Das ist eine wertfreie Feststellung. Tiefgruendigkeit,
Oberflaechlichkeit, Intensitaet, Authentizitaet – uns fehlen die
Kritieren, um hier werten zu koennen.
44
45. Wie die Tiere
Das ist eine Tatsache, die wir zur Kenntnis nehmen koennen
und auf die wir uns einstellen koennen.
Je flexibler unsere Einstellung zu etwas ist, je mehr Vermittlung
ueber Erzaehlungen, Medien wir in Anspruch genommen
haben, um so glatter und entfernter ist die Oberflaeche.
Sie ist auch alles, wonach wir uns richten koennen. Wir wissen
nicht mehr, wir koennen nicht mehr erfahren. Was zaehlt, was
wir als Realitaet nehmen koennen, ist das, was wir – in all
unserer Beschraenktheit – jetzt – in aller Vergaenglichkeit –
sehen. Alles andere ist Spekulation, mit der wir uns nicht in
den Gegenstand, sondern nur in uns selbst vertiefen: Jeder
Gedanke, den wir uns ueber andere machen, ist ein Gedanke
ueber uns selbst, ist durch unsere Perspektiven und
Wahrnehmungen, Erfahrungen und durch unser Grundgeruest,
ueber das wir nie nachdenken, geformt.
Oberflaechen haben Grenzen und Regeln, die den reibungslosen
Ablauf von Dingen ermoeglichen. Reicht das nicht?
Fraglich ist aber, wie wir diese Grenzen erkennen.
Unser Leben wie wir es kennen basiert auf Abgrenzungen. Es
gibt mein und dein, jetzt und spaeter, so und anders. Darauf
bauen Weltordnungen auf, unser wirtschaftliches Leben – sogar
unser ideelles Leben wird in diese Abgrenzungen gedraengt:
Wissenschaftler streiten um Originalitaet, korrekte Zitate und
Plagiate.
Es ist also wichtig, unterscheiden zu koennen, und aufgrund
dieser Unterscheidungen Entscheidungen zu treffen. Ebenso
wichtig ist auch, die Relativitaet und Subjektivitaet dieser
Entscheidungen verstehen zu koennen.
Wir bestimmen die Welt. Das verleiht uns Macht.
Weil aber jeder seine Welt bestimmt, liefert es uns ebenso
anderen aus, es macht uns wehrlos. Wir sind beides zugleich –
uneingeschraenkt maechtig und wehrlos ausgeliefert. Das ist
nur eine Frage der Perspektive.
45
46. Wie die Tiere
Folgen der Praesenz: Wehrlosigkeit
Wir hinterlassen Spuren. Je mehr Leute wir erreichen, je
groesser unser Einfluss ist, um so weiter verbreiten wir unsere
Spuren.
Spuren koennen der Eindruck sein, den wir bei anderen
hinterlassen, es koennen Texte oder Bilder sein, die wir
veroeffentlicht haben, es koennen Unterhaltungen sein, die wir
gefuehrt haben. Die Nutzung von Medien verstaerkt diesen
Effekt: Wir koennen eine Vielzahl von Inhalten nahezu beliebig
streuen und koennen ohne grossen Aufwand grosse Reichweiten
erzielen.
Diese Spuren existieren losgeloest von uns. Sobald wir nicht
praesent sind, steht unsere Spur fuer sich allein. Das kann sie
allerdings nicht, sie kann nur in einer Beziehung existieren, in
der Beziehung auf etwas, als Wahrnehmung.
Die Spur wird zu dem, was der andere daraus macht.
Am Beispiel neuer Onlinemedien laesst sich das deutlich
nachvollziehen: Sobald wir unser Profil aktualisiert, unseren
Beitrag, unsere Bilder abgeschickt haben, haben wir keinen
Einfluss mehr. Wir koennen versuchen, den Ton zu treffen,
eindeutig zu formulieren, wir koennen den Verlauf beobachten
und in Diskussionen eingreifen.
Das erste Problem besteht schon darin, alles zu verfolgen: Im
Gewirr der Spuren verliert sich auch fuer uns unsere eigene
Spur schnell. Das gilt fuer Diskussionen in Onlinemedien
ebenso wie fuer ueber die Buschtrommel oder den Flurfunk
verbreitete Geruechte – es gibt keine direkte Verbindung mehr
zu uns.
Die zweite Herausforderung liegt darin, Sinn auf drei Zeilen zu
vermitteln. Das verdeutlicht uns, was andere generell von uns
wahrnehmen: Sie kennen unseren Hintergrund nicht, sie
46
47. Wie die Tiere
haben uns gestern nicht gesehen und sie kennen die Gedanken,
die uns zu diesen Worten bringen nicht. Erwarten wir
tatsaechlich, dass auf dieser Basis Verstaendigung moeglich ist?
Der dritte Punkt: Wir sind hier nicht gemeint, wir stehen nicht
im Mittelpunkt. Wir sind eine kurze Notiz im Leben eines
anderen, der mit uns macht, was er will, der uns aus einer
Perspektive betrachtet, die wir nicht kennen, wo der wir nichts
wissen. Wir wissen nur: Es ist nicht unsere.
Das Paradoxon in diesem Verhaeltnis von Macht und
Wehrlosigkeit ist: Je mehr wird von uns preisgeben, je mehr wir
darzulegen versuchen, desto wehrloser sind wir. Wir liefern
Material fuer andere. Wer schafft, verliert – das ist das Risiko,
das wir eingehen muessen
Die anderen sind mehr, also wird es immer mehr fremde
Ansichten und Interpretationen geben, als unsere eigene. Wenn
wir dieses Potential fuer uns nutzen koennen, multipliziert das
unsere Produktivitaet, unsere Reichweite ins Unermessliche.
Wer hat gesagt, dass Wehrlosigkeit etwas Negatives bedeutet?
Sie kann auch Offenheit bedeuten, die ohne Widerstaende
Neues schafft, prueft, formt.
Folgen der Praesenz:
Selbstbehauptung
Wir stehen wehrlos anderen gegenueber. Wehrlos vor allem
deshalb, weil wir nicht da sind. Es sind Spuren von uns, die
dem andere ueberlassen sind.
Spuren sind ein Teil der Oberflaeche, die wir erzeugen koennen.
Oberflaeche ist das, was wir vermitteln koennen, jener Teil
unseres Lebens, von dem wir wissen, dass er sichtbar ist, dass
er ankommt.
Oberflaeche ist etwas, das auch fuer uns gestaltbar ist: Wir
47
48. Wie die Tiere
haben alle Moeglichkeiten, die Oberflaeche zu schaffen, die wir
uns wuenschen.
Dazu brauchen wir gar keine plastische Chirurgie; es reicht
aus, Geschichten zu erzaehlen. In dem Wissen, dass wir
Interpretation, subjektivem Verstaendnis und dem
Bezugsrahmen einer fuer uns fremden Umgebung ausgesetzt
sind, liegt es an uns, die entsprechende Vorlage zu liefern.
Geregelte Umgebungen, in denen wir immer nur einen Teil
sichtbar machen, anwenden muessen, in denen wir nie zur
Gaenze sichtbar sind, erleichtern die Konstruktion von
Oberflaechen ungemein. Regeln, Sanktionen, Hierarchien,
liefern Orientierung und foerdern die Entwicklung von
Oberflaechen weiter.
Das gilt fuer die geregelte Arbeitswelt ebenso wie etwa fuer die
ueber Medien vermittelte Praesentation von Inhalten: Im ersten
Fall gibt es Dinge, die wir nicht tun oder sagen koennen – nicht
weil sie verboten waeren, sondern weil sie nicht verstanden
wuerden; unpassendes Verhalten wird in diesem
Zusammenhang nicht oder als etwas ganz anderes
wahrgenommen.
Im zweiten Fall gibt es weniger ausdrueckliche Regeln, sehr
wohl aber implizit vorhandene (welcher Ton muss wo wie
getroffen werden um wie verstanden zu werden), Hauptsache
aber ist, dass wir weniger Praesenz haben: Wir sind nicht da
und wir haben keine Kontrolle ueber Zeitpunkt und Umfeld, in
dem wir wahrgenommen werden. Warum ist das wichtig?
Aeusserungen stehen zur Disposition.
Das koennen Werte sein, modische Statements, die
Tischdekoration des Gastgebers. Alles enthaelt eine Aussage,
auch wenn diese oft weniger beim Handelnden entsteht,
sondern beim Wahrnehmenden.
A tut etwas, B denkt unweigerlich darueber nach. Die
urspruengliche Situation ist bereits vorbei, A tut etwas anderes,
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das B nicht sieht – die Welten entfernen sich voneinander.
Das vereinnahmende “Ich verstehe schon” winkt hier wieder mit
dem Zaunpfahl. “Nein”, sagt der andere, und setzt betont
veraenderliche, bewegliche und vielfaeltige Handlungen
dagegen: “Ich bin nicht so ein Mensch mit der Rundbuerste...”
(Solche) Behauptungen von Identitaet sind der Laecherlichkeit
preisgegeben und schwer von objektiv Laecherlichem zu
unterscheiden. Darin liegen die Macht der Macht und der Reiz
des NomadenDaseins. Macht holt ins Boot und teilt manchmal
sogar. frisst aber letztlich (die Gesetze dessen, was funktionieren
soll, aendern sich nicht) alles. Nomaden grasen eine Weide ab
und ziehen weiter, bevor die Beruehrung zu eng wird, der Platz
zu knapp, bevor nur noch Sesshafte ueberleben koennen.
Rueckkehr ist nicht ausgeschlossen.
Wir wissen, dass wir die Dinge nicht sich selbst
ueberlassen koennen – in diesem Fall ueberlassen wir
sie anderen. Wir koennen auch nicht auf das hoffen, was
“wirklich” oder in uns ist; was zaehlt, ist die
Oberflaeche, das, was ankommt.
In deren Aufbau muessen wir unsere Kraft legen – es sei
denn, wir verzichten.
Welche Grenzen gelten, welche Kriterien sorgen dafuer,
dass ein Unterschied zwischen Innen und Aussen
existiert? Nicht der Unterschied ist wichtig, auch das ist
nur eine Frage der Oberflaeche. Wichtig ist, dass von
unserem Versuch der Selbstbehauptung ueberhaupt
irgendetwas ankommt. Es ist nicht sicher, dass wir eine
Chance haben, ueberhaupt etwas zu sagen, etwas in
unsere Richtung zu lenken. Umso dicker muessen wir
auftragen.
Nocheinmal zur Perspektive: Hier stehen keine politischen oder
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50. Wie die Tiere
moralischen Qualitaeten zur Diskussion. Es geht nicht um
Redefreiheit, Wertschaetzung oder Anerkennung.
Unterschiedliche Interessen oder Bildungsniveaus sind auch
nicht Thema. Ich moechte mich nur auf die Frage
konzentrieren, unter welchen Bedingungen Verstaendigung
moeglich ist. Nicht als Machtfrage, nicht als etwas, das
durchgesetzt werden muss, nicht als Intelligenz, Deutlichkeits
oder Reichweitenfrage.
Wo laeuft die Grenze, die dafuer sorgt, dass manche Begriffe
und Handlungen selbstverstaendlich erscheinen und manche
selbstverstaendlich unmoeglich? Woher – vor dem Hintergrund,
dass die Faelle des Nichtverstehens oder der Unsicherheit
haeufiger sind – nehmen wir die Sicherheit, gelegentlich doch
etwas zu verstehen? Manchmal existiert das Thema nicht, wir
brauchen uns nichts zu fragen, alle Grenzen erscheinen
konstruiert.
Woran liegt das? Was haben diese Momente gemeinsam?
Begriffsbildung: Warum heisst das,
was wir sagen, ueberhaupt etwas
und nicht vielmehr nichts?
Wir haben verschiedene Erfahrungen. Wir denken an
verschiedene Welten. Keine zwei Vorstellungen zum gleichen
Begriff sind gleich.
Wenn wir reden, produzieren wir, nuechtern betrachtet,
Geraeusche. Schrift besteht aus Zeichen, die sich nicht
wesentlich von anderen Zeichen wie Pfeilen oder Kreuzchen
unterscheiden (sie haben im Gegenteil noch weniger direkt
bezeichnenden Charakter).
Wenn wir denken oder traeumen, tun wir das manchmal in
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51. Wie die Tiere
Worten, in Bildern, in Gefuehlen.
Wir koennen uns darauf verlassen, dass wir im Grunde alle
gleich sind und uns deshalb, auch wenn wir es nicht
nachvollziehen koennen, am Ende doch verstehen.
Oder wir koennen versuchen, einen Schritt zurueckzugehen,
hinter diese Selbstverstaendlichkeit, die Verbindungen
herzustellen scheint: Gemeinsamkeiten zu hinterfragen
zerstoert sie recht schnell; emotionale Menschen bezeichnen
das gern als Gefahr des Zerredens.
Wo keine Handlungen notwendig sind, wo mir egal ist, ob der
andere mich versteht, kann ich mich damit zufrieden geben. Im
Geschaeftlichen, aber auch in privaten Beziehungen ist die klar
gesetzte Handlung unersetzbar: Es gibt keinen Grund, warum
wir sonst annehmen sollten, verstanden zu werden.
Wir muessen unsere Voraussetzungen, die Leitlinien, die wir
annehmen, jedes Mal mitliefern – ohne unserem Gegenueber
jedes Mal die Welt zu erklaeren.
Damit haben wir zwei Herausforderungen zu loesen: Wir sollen
nicht predigen. Und wir sollen einen Weg finden, Worte,
Bezeichnungen, Argumentationen so zu verpacken, in ihnen
Welten, begreifbare Oberflaechen zu erzeugen, von denen wir
annehmen duerfen, dass sie beim anderen ankommen.
Und wie koennen wir uns trotzdem
verstaendigen?
Ein Begriff kann ein Wort sein, ein Bild, eine Vorstellung, ein
Konzept oder ein Wert. Wir verbinden etwas mit Begriffen; sie
gehoeren in fuer uns wirksame Zusammenhaenge.
Fuer die Entstehung dieser Zusammenhaenge gibt es
verschiedene Erklaerungsansaetze aus Soziologie,
Kommunikationswissenschaft und anderen Disziplinen; fuer
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52. Wie die Tiere
deren Verbindung mit Worten liefern noch Etymologie,
Linguistik und Semantik Beitraege.
Wir koennen die Gruende fuer Zusammenhaenge in der Umwelt
suchen: Weil wir etwas immer so gesehen haben, es so gelernt
haben, nennen wir es so. Wir koennen eine
transaktionsorientierte Perspektive einnehmen: weil es
funktioniert, weil wir ein bestimmtes Ziel erreichen, wenn wir
uns an diese und jene Richtlinien halten, macht es Sinn, Dinge
so zu nennen. Wir koennen auch eine etymologische Perspektive
einnehmen: Weil dieses Wort diese und jene Wurzeln hat, mit
diesem Wort verwandt ist oder aus diesem Zusammenhang
kommt, hat es auch diese und jene Bedeutung.
Dabei bewegen wir uns immer in einem klar abgegrenzten
Rahmen, wir nehmen Voraussetzungen an, die dann fuer uns
Sinn stiften. Es gibt aber keinen Zusammenhang, der darueber
hinausgeht. So wie ein Fussballspiel nur funktioniert, wenn die
Regeln des Fussballspiels grundsaetzlich bei allen Beteiligten
anerkannt sind (was nicht bedeutet, dass sich jeder immer
daran halten muss), funktionieren auch diese Erklaerungen
nur, wenn die grundlegenden Rahmen nicht hinterfragt werden.
Spielt dagegen eine Mannschaft Fussball, die andere
Basketball, dann haben wir genau die Situation, in der wir uns
in der geschaeftlichen Kommunikation wieder und wieder
befinden: Wir haben unsere klar strukturierte, gut erklaerte
Welt – und gleich nebenan beginnt das unbeherrschbare,
unkontrollierbare Chaos, fuer das wir nur Kopfschuetteln
uebrig haben.
Wir erkennen dort keine Zusammenhaenge; was man uns zu
erklaeren versucht, sind fuer uns keine nachvollziehbaren
Standpunkte.
In den Worten der Linguisten: Es gibt nun einmal keinen
Zusammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem.
Dazwischen existiert ein nicht fassbarer Leerraum; in diesem
Leerraum entstehen Sinn und Interpretation.
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53. Wie die Tiere
Bei klar begreifbaren, sichtbaren Begriffen (Bezeichnetes) wie
Hund oder Esel mag das unspekakulaer sein, obwohl auch hier
das Wort (Bezeichnendes) in verschiedenen Zusammenhaengen
verwendet werden kann.
Bei unscharfen, erklaerungsbeduerftigen Begriffen wie Freiheit,
Verantwortung, Macht wird der Leerraum wesentlich groesser.
Noch groesser wird er, wenn den Begriffen noch die moralische
Komponente fehlt: Was bedeutet Verstehen, Erkenntnis, Begriff
– das sind Begriffe (als Bezeichnetes) die nur ueber Worte
(Bezeichnendes) beschreibbar sind, dabei beschreiben Worte
Worte – was soll da schon herauskommen?
Dennoch weiss ich, welche Reaktionen Worte wie Verspaetung,
Verzoegerung, Budgetueberschreitung, Nein hervorrufen. Diese
Reaktionen unterscheiden sich von der Reaktion auf Worte wie
erledigt, Abschluss, Erfolg. Vielleicht kann ich unterschiedliche
Reaktionen auf unterschiedliche Begriffe sogar
unterschiedlichen Menschen zuordnen.
So entstehen Profile, sie sind wiederholbar und tragen zu
Vorhersagbarkeit bei.
Sie liefern uns Anhaltspunkte und lassen Zusammenhaenge zu
anderen beobachtbaren Themen erkennen. Unser Wissen kann
praktisch grenzenlos wachsen; immer neue Muster und Profile
liefern uns immer mehr Anhaltspunkte. Das Wachstum ist
horizontal, in die Breite orientiert. In der vertikalen Dimension
sind unsere Moeglichkeiten deutlich eingeschraenkter.
Was bedeutet es schon, in die Tiefe zu gehen? Wir koennen in
unsere eigenen Tiefen gehen, Einstellungen, Meinungen,
Traeume, “wahre” Charakterzuege hervorholen – und sie an der
Oberflaeche positionieren, damit sie fuer andere sichtbar sind,
damit sie wahrgenommen werden koennen, wie wir
wahrgenommen werden wollen.
Andere koennen auch in ihre Tiefen gehen, das macht jeder fuer
sich – was sich begegnet, bleiben aber immer Oberflaechen. Die
Tiefen dazwischen sind ein voruebergehender Zwischenschritt.
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54. Wie die Tiere
Wir haben nicht immer das Gefuehl, “nur” an der Oberflaeche
unterwegs zu sein. Wir beschaeftigen uns manchmal auch
“wirklich” mit etwas, sind tief in einer Sache drin. Dann sind
wir aber meistens nicht auf Verstaendigung ausgerichtet,
sondern auf Erforschung, Produktion.
In dem Moment, in dem etwas ausgesprochen, gedacht wird,
entsteht es gerade erst.
Und dann wollen wir es erklaeren – das braucht Zeit,
Vereinfachung, Zielorientierung – und das Ergebnis entfernt
sich immer weiter von seinem Ausgangspunkt.
Explorative Kommunikation als Gegenstueck zu
verstaendigungsorientierter Kommunikation, als Ausflug in
Tiefen, ist moeglich. Der Abgleich der so gewonnenen
Erkenntnisse im Dialog, die Instrumentalisierung mit dem Ziel,
Anwendbares zu schaffen, passiert dann wieder an der
Oberflaeche.
Verstehen oder NichtVerstehen entscheidet sich oft nur anhand
von Dekorationsmaterial, denken wir an Praesentationen, Texte:
Wie oft aergern wir uns, dass dieser oder jener Aspekt noch in
die Thesen reklamiert wird – obwohl wir ihn doch eingearbeitet
haben.
Oft hilft es, einfach Zwischentitel einzufuehren und die
Ueberschriften zu aendern – und die Sache bekommt ein ganz
anderes Gewicht und Gesicht – rein oberflaechlich. An unserer
Intention, an den Inhalten die wir vermitteln wollen und den
Worten, die wir dabei verwenden, hat sich nichts geaendert,
sehr wohl aber an dem, was ankommt.
Oberflaechen sind oft negativ besetzt. Sie grenzen aus, spiegeln
manchmal oder weisen ab, und sie verbergen den Blick auf das
Innere. Dort wird eine weitere Wahrheit vermutet.
Oberflaechen sind jedoch das einzige, das wir erkennen und
begreifen koennen. Der Rest ist Spekulation. Unser Innerstes
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ist fuer den anderen Oberflaeche; was wir ueber den anderen zu
wissen glauben, ist das, was er von sich preisgeben moechte, ist
dessen Oberflaeche, ergaenzt durch von unseren Vorstellungen
eingefaerbte Spekulation.
Mehr zu wollen ist aussichtslos. Warum auch? Wir haben
unsere Orientierungspunkte. Es liegt an uns, was wir daraus
machen.
Tiere werden konditioniert – Wollen
wir Menschen tatsaechlich
verstehen?
Tiere werden konditioniert. Das ist ein sehr pragmatischer und
effizienter Weg, kontrollierte Effekte hervorzurufen und
Verhalten zu steuern.
Es ist uns egal, warum die Speichelbildung des Hundes
“wirklich” einsetzt; wichtig ist die verlaessliche
Nachvollziehbarkeit dieses Effekts.
Warum kuemmern uns die “wirklichen” Hintergruende in
anderen Zusammenhaengen, in sozialen Interaktionen? Wir
wissen auch vom speichelnden Hund nicht, ob er uns mag, ob
er Hunger hat, oder wie gut seine Verdauung gerade
funktioniert, Wir wissen ueber einen kleinen Ausschnitt
bescheid. Das mag wenig erscheinen. Viele kleine gesicherte
Ausschnitte koennen aber zu einem maechtigen Werkzeug
wachsen.
Auch Tieren gegenueber – um bei dem Bild zu bleiben –
entwickeln wir Vorstellungen. Wir kennen einen feigen Hasen,
einen sturen Bock, einen faulen Hund. Wir schreiben einerseits
Persoenlichkeit zu, Eigenschaften, andererseits reduzieren wir
de Persoenlichkeit auf Reiz und Reaktion. Der faule Hund
fuehrt uns deutlich vor Augen, woher die Eigenschaft und deren
Bewertung kommen: Es sind unsere Massstaebe, die an
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