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Universität Salzburg
         Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie


    Lehrveranstaltung: SE „Vom Naschmarkt zur Erlebnisgastronomie“
                                SS 2012
        Lehrveranstaltungsleiterin: Univ.-Prof. Dr. Kornelia Hahn




              Bachelor-Arbeit zum Thema:



     Die Frische und der Müll

Eine explorative Untersuchung der Waste-Cooking
                   Initiative in Salzburg


                           eingereicht von:


                         Elisabeth Buchner
                     Matrikelnummer: 0620820




                       Salzburg, August 2012


                                                                     1
Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................ 4
Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................... 4


1. Einleitung .............................................................................................................................. 5
   1.1. Forschungsinteresse ....................................................................................................... 6
   1.2. Zentrale Fragestellung und Hypothese ........................................................................... 6
   1.3. Methodisches Vorgehen.................................................................................................. 7
   1.4. Aufbau der Arbeit............................................................................................................. 7
2. Theoretischer Rahmen – Frische als Ideologie modernen Ernährungsverhaltens ..... 8
   2.1. Historische und soziale Konstruktion von Frische .......................................................... 8
   2.2. Das Konzept „Frische“ aus der Sicht moderner Konsumenten .................................... 10
3. Verschwendung von Lebensmittel – ein Nebenprodukt der Konsumgesellschaft ... 12
   3.1. Die Vernichtung von Lebensmittel: food loss und food waste ...................................... 13
       3.1.1. Lebensmittelverschwendung im Einzelhandel ....................................................... 14
       3.1.2. Lebensmittelverschwendung durch die Konsumenten .......................................... 15
   3.2. Problematisierung der Verschwendung von Lebensmitteln ......................................... 16
4. Der Faktor „Risiko“ im modernen Ernährungsverhalten .............................................. 19
   4.1. Standardisierung von Frische: Verbrauchs- und Mindesthaltbarkeitsdatum ............... 21
       4.1.1. Rechtliche Rahmenbedingungen ........................................................................... 22
       4.1.2. Praktische Implikationen der Standardisierung von Frische .................................. 23
   4.2. Die Frische und der Müll – eine ambivalente Beziehung ............................................. 26
5. Waste Diving, Dumpstern oder Containern .................................................................... 27
6. Empirischer Teil: Waste Cooking – Eine innovative Weiterentwicklung .................... 30
   6.1. Waste Cooking – die „kritische Kochshow“ als Erlebnis .............................................. 31
       6.1.1. Die Rezepte der Waste Cooker .............................................................................. 32
       6.1.2. Raum- und Zeitbezug beim Waste Cooking .......................................................... 33
       6.1.3. Waste Cooking – ein Erlebnis für alle Sinne .......................................................... 34
       6.1.4. Das Format: „Kochshow“ ........................................................................................ 35
   6.2. Die Frische und der Müll beim Waste Cooking............................................................. 37
       6.2.2. Standardisierung und Expertise – do it yourself beim Frischetest ........................ 41
7. Fazit...................................................................................................................................... 43


Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 46
Übersicht Interviewpartner ................................................................................................... 51
                                                                                                                                               2
Teilnehmende Beobachtung ................................................................................................. 51
Plagiatserklärung ................................................................................................................... 52




                                                                                                                                      3
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Verschwendung von Lebensmitteln ..................................................... 14
Abbildung 2: Karikatur Essen und Müll ..................................................................... 27




Abkürzungsverzeichnis

EG                                Europäische Gemeinschaft
EU                                Europäische Union
FAO                               Food and Agriculture Organization of the United Nations
MHD                               Mindesthaltbarkeitsdatum
USA                               United States of America
USDA                              United States Department of Agriculture
WTO                               World Trade Organization




Anmerkung
Um eine gute Lesbarkeit der Arbeit zu garantieren, wurde in der Regel die männliche
Schreibweise ohne Binnenminuskel verwendet. Diese Ausdrücke beziehen sich
jedoch, wenn nicht anders vermerkt, immer auf beide Geschlechter.




                                                                                                            4
1. Einleitung

Ernährungsgewohnheiten haben wichtige identitätsstiftenden Elemente. In der
Konsum- und Wegwerfgesellschaft sind sie außerdem zu einem wichtigen Feld für
Abgrenzung von eben dieser und für gesellschaftskritischen Aktivismus geworden.
Politisch motivierte Ernährungsbewegungen finden oft Einlass in den Mainstream,
indem sie die individuellen Vorteile gegenüber der gesellschaftlichen Dimension in
den Vordergrund rücken. So zeigen beispielsweise Studien zum Einkaufsverhalten,
dass beim Kauf von Bioprodukten der Faktor, die individuelle Gesundheit zu erhalten
meist wichtiger ist als der Nutzen für die Umwelt oder das Klima. (vgl.
Pellegrini/Farinello. 2009, 948-49) Es muss also ein individuelles Erlebnis mit einem
bestimmten Verhalten verbunden sein, um es attraktiv zu machen.
Der Fokus dieser Arbeit liegt auf dem „Waste Diving“ als einer schon etablierten
konsumkritischen Aktions- und Handlungsform, welche durch die Initiative „Waste
Cooking“ in Salzburg in ein Erlebnis verwandelt wird, das auch Personen miterleben
können, die selbst keine Sachen aus dem Müll holen möchten. Beim Waste Cooking
wird scheinbarer Müll in genussbringende Mahlzeiten verwandelt. Waste Diven,
kochen und essen werden zum Erlebnis für die Sinne. Beim Waste Cooking wird
durch den Erlebnischarakter und das Format der Kochshow das Konzept der
„Frische“ als Ideologie modernen Ernährungsverhaltens auf den Kopf gestellt.
Verkocht wird alles, was „frisch“ aus der Tonne kommt.
Diese Arbeit geht davon aus, dass bei der Initiative „Waste Cooking“ ein neues
Erlebnis geschaffen wird. Die schon ältere Bewegung des Waste Diving wird neu
interpretiert, um in Anknüpfung an die Diskussion der letzten Jahre die
Verschwendung von Lebensmitteln, nicht das konsumorientierte Wirtschaftssystem
zu kritisieren. In Frage gestellt wird die Definition von dem, was frisch ist, was gut ist
und was nicht, indem der scheinbare Müll ins etablierte Format einer Kochshow
eingefügt wird.
Damit handelt es sich um eine wesentliche Abkehr von der bisherigen Ausrichtung
des Waste Divings.
Aus Müll wird Kultur, aus Müll wird ein genussvolles Erlebnis für alle Sinne.




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1.1. Forschungsinteresse


Die Verschwendung von Lebensmitteln wurde im Zuge des größeren Diskurses rund
um       Nachhaltigkeit    und       Zukunftsfähigkeit      unseres    Lebensstils      verstärkt
problematisiert. Neue zivilgesellschaftliche Initiativen treten durch unkonventionelle
Aktionen in die mediale und politische Öffentlichkeit und sind damit an der Prägung
des Diskurses zum Thema Lebensmittelverschwendung maßgeblich beteiligt. Ziel
dieser Arbeit ist es, nach der Skizzierung der schon bestehenden Literatur zum
Thema Lebensmittelverschwendung explorativ zu ergründen, wie die Waste Cooker
ihr Tun interpretieren und welche Rolle der „Frische“, ein zentraler Parameter für
hochwertige Lebensmittel in der Moderne, beim Waste Cooking zukommt.



1.2. Zentrale Fragestellung und Hypothese


Zentrale Fragestellung:
Welche Rolle spielt die Erlebnisorientierung für die Waste Cooking-Initiative?


Unterfragen:
     -   Wie wird Frische in Anlehnung oder Abgrenzung zur gängigen modernen
         Interpretation definiert?
     -   Was bedeutet das Format der Kochshow?


Hypothese:
Die Hypothese dieser Arbeit ist, dass die Initiative „Waste Cooking“ ein neuartiges
Erlebnis schafft, das sich vom klassischen Waste Diving-Erlebnis unterscheidet.
Waste Cooking stellt die Trennung von „frisch“ und „nicht frisch“ in Frage, indem nicht
der Zusammenhang zwischen Frische und Genuss aufgelöst oder abgelehnt wird,
sondern      indem    Frische    neu     definiert,   als   etwas,    dass   man     nicht   über
Standardisierungen festlegen kann, sondern selbst sinnlich erforschen kann und
muss. Es geht auch darum, nicht nur an der Oberfläche zu bleiben, sondern auch in
den Apfel hinein zu schauen, nicht nur auf das Mindesthaltbarkeitsdatum zu
schauen, sondern am Schlagobers auch zu riechen. So entstehen neue sinnliche
Erfahrungen, wobei Frische trotzdem eine zentrale Rolle beibehält. Es ist die
herkömmliche Definition von Frische, die auf den Kopf gestellt wird.
                                                                                                6
1.3. Methodisches Vorgehen


Diese     Bachelorarbeit   ist   als    explorative    Untersuchung    angelegt.   Für   den
theoretischen Teil werden einschlägige Primärdaten sowie Sekundärliteratur zum
Themenfeld      Frischeideologie        und    Wegwerfverhalten       herangezogen.      Die
konsumkritische Bewegung des Waste Divings wird auf Basis schon bestehender
Forschungsergebnisse skizziert, um den Kontext der untersuchten Initiative zu
klären. Im empirischen Teil der Arbeit wird versucht, die Forschungsfragen durch die
Analyse der von der Waste Cooking Initiative produzierten Dokumente sowie durch
teilnehmende Beobachtung zu beantworten. Die untersuchten Dokumente umfassen
die Website, Auszüge aus den produzierten Kochshows, die umgesetzten Rezepte
sowie Interviews mit den Initiatoren. Außerdem wird eine teilnehmende Beobachtung
bei einem Waste Cooking Event durchgeführt.



1.4. Aufbau der Arbeit


Im ersten Teil der Arbeit wird Frische als Ideologie modernen Ernährungsverhalten
anhand schon bestehender Forschungsergebnisse diskutiert. Die so gewonnenen
Erkenntnisse werden im empirischen Teil als Analyseraster herangezogen, um zu
klären, wie Frische durch die Waste Cooker definiert wird und welche Rolle sie für sie
spielt.
Zuvor wird jedoch noch die Lebensmittelverschwendung als Produkt moderner
Konsumgesellschaften thematisiert, mit einem besonderen Schwerpunkt auf den
Zusammenhang         zwischen          dem    Faktor     „Risiko“     in   der     modernen
Nahrungsmittelproduktion und der Standardisierung von Frische. Anschließend wird
die Waste Diving Bewegung anhand von Sekundärliteratur skizziert.
Im empirischen Teil der Arbeit erfolgt die Analyse der Waste Cooking Initiative in
schon dargelegter Form.




                                                                                           7
2. Theoretischer Rahmen – Frische als Ideologie modernen
Ernährungsverhaltens

2.1. Historische und soziale Konstruktion von Frische


In der gehobenen Gastronomie, die durch zahlreiche Kochshows massenmedial
präsentiert wird, ist Frische ein zentrales Kriterium für Qualität. Die Entzeitlichung als
wichtiges Charakteristikum moderner Zubereitungs- und Konsumptionsformen von
Nahrung (vgl. Prahl/Setzwein. 1999, 11) durch Techniken der Haltbarmachung und
Vorfertigung wird partiell ausgesetzt, indem alles so frisch und unverarbeitet wie
möglich gekauft und zubereitet wird. Auch der in der modernen Ernährung eigentlich
aufgeweichte Raumbezug von Nahrungszubereitung und Aufnahme wird in der
Spitzengastronomie oft wiederbetont, indem genau festgelegt, von welchen
Lieferanten oder auf welchen Märkten diese und jene Lebensmittel bezogen werden.
Damit findet eine Abgrenzung von der industrialisierten Nahrungsproduktion statt,
indem die überwiegende Mehrheit der Lebensmittel technisch weiterverarbeitet und
damit die Grundzutaten stark verändert werden, bevor der Konsument sie zu Gesicht
bekommt. Da selbst Restaurants vielfach auf Convenience-Produkte zurückgreifen,
um die Effizienz zu steigern und Kosten zu sparen, ist „frisch zubereitet“ mittlerweile
ein Distinktionskriterium geworden. (vgl. dies., 185)
Ernährung     in   der     Moderne    bringt    neben     Verwissenschaftlichung       und
Standardisierung    auch    Verunsicherung      und     „Informationsoverload“   für   die
Verbraucher mit sich, wie im Kapitel über den „Faktor Risiko“ noch näher erläutert
wird. Frische ist eines der wenigen unumstritten anerkannten Kriterien für Qualität
von Lebensmitteln und vor allem eines der wenigen, bei denen die Verbraucher
zumindest partiell das Gefühl haben, diese objektiv feststellen zu können. Dies kann
zum einen über den Einsatz der eigenen Sinne geschehen – so vermittelt pralles,
leuchtendes Obst und Gemüse, das auch noch duftet, die Illusion von Frische. Zum
anderen kann Frische über die Standardisierung in Form von Mindesthaltbarkeits-
und Verbrauchsdatum vermeintlich festgestellt werden. Während claims von
„gesund“, „kalorienarm“ oder ähnliches mittlerweile im Verdacht von Werbelügen und
Marketingstrategien stehen, ist Frische und damit eine bestimmte Qualität des
Produkts ein noch relativ wenig in Frage gestellter Begriff. Das, obwohl Frische
vielfach nicht äußerlich überprüfbar ist, wie typische Beispiele der knallroten, prallen,

                                                                                         8
aber völlig geschmacklosen Tomate oder der von innen verfaulte Apfel verdeutlichen.
Die fortschreitende Ästhetisierung von Nahrungsmitteln, Nahrungszubereitung und
Essgewohnheiten hat dazu geführt, dass das Nahrungsmitteldesign so weit
fortgeschritten ist, dass eine nicht gesetzlich sondern ästhetisch vorgeschriebene
Standardisierung Einzug gehalten hat, die nun als Maßstab für Frische gilt. „Äpfel
oder Tomaten weisen kaum noch Zeichen von Vergänglichkeit auf, sondern
demonstrieren immerwährende Frische.“ (Prahl/Setzwein. 1999, 12)
Außerdem       ist   Frische   ein   multidimensionaler       Begriff,   der   unterschiedliche
Assoziationen umfassen kann, wie beispielsweise Haltbarkeit, Nahrhaftigkeit,
Sicherheit und bestimmte sinnlich erfassbare Eigenschaften. (vgl. Péneau et al.
2009, 244)
Sennett weist auf die Bedeutungsveränderung von „Frische“ im historischen Verlauf
hin. So war frisch im Sinne von unverarbeitet in vorindustriellen Zeiten ohne
Kühlschrank und ausgeklügelte Logistik oft gleichbedeutend mit nicht haltbar.
Lebensmittel         mussten     sofort     verkauft     und       verzehrt      oder      durch
Konservierungsmethoden haltbar und damit sicher gemacht werden. (vgl. Sennett.
16.06.2007)
In   der   Moderne      hat    Frische    sowohl   in   der    Gastronomie      wie     auch   im
Lebensmittel(einzel)handel eine weit über sich selbst hinausreichende Bedeutung
bekommen, indem frisch mit gesund, sauber, nährstoffreich, qualitativ hochwertig,
geschmacklich gut und risikoarm gleichgesetzt wird. Die Komplexität und teilweise
Inkommensurabilität dieser Kriterien wird dabei ausgeblendet. So wird in der
Spitzengastronomie, medial vermittelt über zahlreiche Kochshows, Frische mit
„gerade erst geerntet“, „gerade erst gefangen“, „gerade erst geschlachtet“
gleichgesetzt. Ein Beispiel hierfür sind die berühmten japanischen Sushiköche, die
jeden Morgen am Fischmarkt in Tokyo persönlich die frischesten Fische aussuchen
und die Ware auf Leib und Nieren prüfen. Tatsächlich kann Frische im Sinne von
„frisch vom Feld“ aber auch ein Weniger an Nährstoffen und Geschmack im
Vergleich zu einem Tielkühlprodukt bedeuten, wenn ersteres stunden- oder tagelang
transportiert und zweiteres sofort nach der Ernte schockgefrorern wurde. (vgl.
Sennett. 16.06.2007)
Außerdem ist Frische natürlich auch ein soziales Konstrukt, deren Bedeutung sich im
Lauf der Geschichte immer wieder gewandelt hat, wie Susanne Freidberg in ihrem
Werk „Fresh – A perishable history“ aus dem Jahr 2009 nachzeichnet. Die Autorin

                                                                                                9
belegt, dass die aktuelle Definition von Frische und Qualität aus der Interaktion einer
Vielzahl von Akteuren, wie Produzenten, Händler, Konsumenten und Politikern
hervorgegangen ist und insofern das Ergebnis von Verhandlungen, Konflikten und
strategischem Handeln ist. Daraus resultiert, wie die Rezensentin Hatanaka (2011,
139) feststellt: “Exploration of such processes exemplifies the ironic reality that while
‘‘freshness’’ is often linked with notions of being ‘‘natural‘‘, “pristine,’’ and ‘‘novel,’’ it is
often quite the opposite.”
“Frische” wird also idealisiert und als Stellvertreterin für die erwähnten anderen
Qualitäten von Lebensmittel gesetzt. Das Resultat ist oft, dass diese vernachlässigt
werden zugunsten der Impression der Frische. Freidberg illustriert dies unter
anderem am Beispiel der Eier, welche unter den industriellen Bedingungen der
Massentierhaltung zwar rund ums Jahr “frisch” produziert werden können, jedoch nur
dank der massiven Zuhilfenahme von Antibiotika, künstlich nährstoffangereichertem
Futter, künstlichem Licht und Käfighaltung. (vgl. Hatanaka. 2011, 140)
In der Ernährungssoziologie wird hervorgehoben, dass die Entnaturalisierung der
Ernährung      und    Nahrung      in   der    Moderne      in   den     letzten     Jahrzehnten
Gegenbewegungen hervorgebracht                haben,   die Künstlichkeit       und    Simulation
ablehnen. (vgl. Prahl/Setzwein. 1999, 18)
   „Daß (sic!) das, was gesund aussieht nicht zwangsläufig auch gesund sein muß
   (sic!), ist zwar hinreichend bekannt, doch wird beim Einkauf von Lebensmitteln
   diese Gleichung noch immer aufgemacht: eine unreif-grünliche Banane wirkt
   frischer und ergo gesünder als ihr (aromatischeres und bekömmlicheres) reifes,
   braungeflecktes Pendant, ein Dutzend schrumpeliger Bioäpfel hat gegen das
   Dutzend gleich(wohl)geformter, glänzender „Granny Smith“ kaum eine Chance
   – es sei denn, es würde ausdrücklich als „Bio“ deklariert.“ (Prahl/Setzwein.
   1999, 204)



2.2. Das Konzept „Frische“ aus der Sicht moderner Konsumenten


Zentral für die Kaufentscheidung ist also meist die Impression von Frische, die
wortwörtlich an der Oberfläche festgemacht wird. Dies ist es, was auch die Waste
Diver bloßlegen.
Eine vergleichende Untersuchung in sechs EU-Staaten aus dem Jahr 1997 über die
Wahrnehmung von Qualität und Sicherheit beim Fleischeinkauf und –verzehr ergab
                                                                                               10
beispielsweise, dass beim Einkauf von Rind-, Schweine- und Hühnerfleisch aus
sieben vorgegebenen Qualitätsindikatoren die Farbe die größte Rolle für die
Kaufentscheidung spielt. Während die Qualitätswahrnehmung also maßgeblich durch
eine ansprechende Optik beeinflusst wird, gaben die Befragten als wichtigstes
Kriterium für die Bestimmung der Sicherheit von Fleisch „Frische“ eindeutig als
wichtigsten Indikator bei allen drei Fleischsorten an. (vgl. Glitsch. 2000, 185-186;
190) Im Rahmen der Studie wurde jedoch nicht erhoben, wie die Konsumenten
Frische konkret definieren.
Eine Schweizer Studie, die die individuelle Definition von Frische für Konsumenten
durch einen offenen Fragebogen erhoben hat, kam zu dem wenig überraschenden
Ergebnis, dass Frische von über 80 % der Befragten mit Lebensmitteln assoziiert
wird und davon hauptsächlich mit Obst und Gemüse. Weiters stellen die Forscher
fest, dass Frische mit Qualität und Integrität im Sinne der größtmöglichen Nähe zum
Originalprodukt hinsichtlich sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften, Verarbeitung,
Zeit und Distanz verbunden wird. (vgl. Péneau et al. 2009, 253) Spannend ist jedoch,
dass natürlich nicht jeder Konsument über das nötige Wissen verfügt, um diese
Kriterien auch zu überprüfen. Die überwiegende Mehrheit der Verbraucher, die ihre
Lebensmittel in Supermärkten kaufen, verlassen sich auf sinnlich wahrnehmbare
Charakteristika wie Aussehen, Geruch, Geschmack oder Konsistenz, wobei das
Aussehen das wichtigste Kriterium ist. Über nicht sensorische Eigenschaften wie
Anbaugebiet, Zeit seit der Ernte, Saisonalität, Transport oder Behandlung der
Produkte bekommen Kunden der modernen Nahrungsmittelindustrie meist gar keine
Informationen, weshalb sie sich auf sinnlich Wahrnehmbares beziehen. Das
Endprodukt wird beurteilt und nicht so sehr seine Entstehung, wenn es um Frische
geht. Die Studie zeigt auf, dass jene Konsumenten, die mehr Kontakt und damit auch
mehr Wissen über die Produktion von Obst und Gemüse haben, stärker nicht
sensorische Kriterien für Frische nennen und umgekehrt. (vgl. dies. 254-55)
Sicherlich spielen Werbung und Marketing eine entscheidende Rolle für die
Vermittlung des nicht immer unmittelbar sinnlich erfassbaren Faktors „Frische“. So
stellte beispielsweise eine Verbraucherstudie in Großbritannien über die Präferenzen
beim Kauf von Eiern fest, dass Konsumenten nicht völlig im Klaren darüber sind,
dass die alleinige Bezeichnung „frische Eier“ ohne Zusatz wie „Bodenhaltung“ oder
„Freilandhaltung“ de facto Legebatteriehaltung bedeutet. (vgl. Ness/Gerhard. 1994,
33)

                                                                                  11
Felicitas Schneider vom Institut für Abfallwirtschaft der Universität für Bodenkultur
Wien, welche im staatlichen Auftrag intensiv im Bereich Lebensmittelverschwendung
forscht, bemerkte hierzu:
  „Die Verbrauchererwartung betrifft beispielsweise absolute Frische, weswegen
  Lebensmittel nahe dem Mindesthaltbarkeitsdatum oftmals schon frühzeitig aus
  dem Verkauf entfernt oder Brot vom Vortag sowie Obst und Gemüse mit
  leichten Druckstellen aussortiert werden.“ (2011, 8)
Diese Verbrauchererwartung ergibt sich auch daraus, dass viel praktisches und
traditionelles Wissen über Lebensmittel und Ernährung in modernen Gesellschaften
verloren gegangen ist, weshalb die Konsumenten sich auf standardisierte Angaben
und oberflächliche sensorische Eindrücke verlassen oder versuchen müssen, sich
selbstständig aus einer Fülle teilweise widersprüchlicher Informationen das nötige
Wissen anzueignen.



3. Verschwendung von Lebensmittel – ein Nebenprodukt der
Konsumgesellschaft

Die Ursachen für die Verschwendung von Lebensmitteln sind vielfältig und das
aktuelle Wegwerfverhalten wird durch viele Einflussfaktoren bestimmt.
Einige Faktoren auf gesellschaftlicher und individueller Ebene stechen jedoch
besonders hervor:
Auf Ebene des Individuums sind Veränderungen der Lebensstile besonders
bedeutsam für das Wegwerfverhalten. Die Modernisierung der Lebensstile durch
Veränderung der Arbeitswelt, des Essverhaltens, der Familienstrukturen sowie
Urbanisierung und Erhöhung des frei disponiblen Einkommens führen tendenziell zu
einem Mehr an Lebensmittelabfällen. So zeigen Studien, dass jüngere, besser
ausgebildete Menschen mit Vollzeitbeschäftigung, die in der Stadt wohnen, mehr
Nahrungsmittel wegwerfen. (vgl. Wassermann/Schneider. 2005, zit. in: Schneider.
2009, 9-10) Gründe dafür sind neben einer veränderten Wertehaltung auch
organisatorische Aspekte. So erschwert die veränderte Arbeits- und Familienwelt
eine sorgfältige Planung und Nutzung von Lebensmitteleinkäufen, da seltener und für
weniger Personen gekocht und daheim gegessen wird. (vgl. Lebersorger. 2004, zit.
in: Schneider. 2009, 10) Auch sind die Kosten für Lebensmittel trotz aktuell
steigender Preise heute im Vergleich relativ gering. Während in den 60er Jahren in
                                                                                  12
den Industrieländern noch ca. 40 % des Einkommens für die Ernährung aufgewandt
wurde, sind es mittlerweile nur mehr um die 10 %. (vgl. Kreutzberger/Thurn. 2011,
11-12)



3.1. Die Vernichtung von Lebensmittel: food loss und food waste


Nahrungsmittel gehen während der gesamten Beschaffungskette, angefangen bei
Ernte und Produktion über Transport und Lagerung, Weiterverarbeitung bis zu
Distribution und Konsumption verloren. Laut einer Studie der FAO (2011, 4) betrifft
dies circa ein Drittel aller für den menschlichen Konsum produzierten Lebensmittel
weltweit. Parfitt et. al. (2010) unterscheiden zwischen food loss, welcher sich auf
Verluste während der Produktion, Transport/Lagerung und Weiterverarbeitung
bezieht und food waste, welcher am Ende der Kette durch Einzelhandel und
Konsumenten auftritt. Ersteres bezieht sich auf den Prozess der Herstellung eines
bestimmten Lebensmittels als Endprodukt, zweiteres auf den Umgang mit demselben
in Verkauf und Konsumption. Diese Unterscheidung ist hilfreich, um die primären
Gründe für das Phänomen der Lebensmittelvernichtung bei den einzelnen Gliedern
der Produktionskette zu benennen. In wirtschaftlich armen Ländern gehen
Lebensmittel im Verhältnis zumeist während der ersten Phasen verloren, während
nur wenige Lebensmittel im Weiterverkauf und Endverbrauch verschwendet werden.
In Ländern mit hohen und mittleren Durchschnittseinkommen stellt dagegen die
Verschwendung von noch genießbaren Lebensmitteln durch Wiederverkäufer und
Konsumenten einen weit größeren Faktor dar. Ein zentraler Unterschied besteht
darin, dass in diesen Ländern Lebensmittel in der Regel im Überfluss und zu einem
im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen sehr niedrigen Preis zur Verfügung
stehen. Laut Falk (1994, zit. in: Griffin/Sobal/Lyson. 2009, 67) ist aus diesem Grund
das Wegwerfen alternativ zur Wieder- beziehungsweise Weiterverwendung auch bei
Lebensmittel zur Norm geworden.
In absoluten Zahlen werden in den industrialisierten Ländern allein auf der Ebene der
Konsumenten fast so viele Lebensmittel verschwendet (222 Mio. Tonnen), wie in
ganz Subsahara-Afrika produziert werden (230 Mio. Tonnen). (vgl. FAO. 2011, 2; 4-
5)
Die folgende Übersicht zeigt die Lebensmittelverschwendung durch Einzelhandel
und Konsumenten für die wichtigsten Produktgruppen in den USA, kalkuliert aus den
                                                                                   13
zur Verfügung gestellten Daten des United States Department of Agriculture (USDA).
Ohne Miteinbeziehung von Kochverlusten und nicht essbaren Bestandteilen von
Lebensmitteln, wie beispielsweise den Schalen bestimmter Früchte, betragen die
vermeidbaren Verluste bei einzelnen Produktgruppen zwischen 30 und 40 % der
Produktion.   Die   Grafik   illustriert   außerdem,   dass   die   prozentuell   höchste
Verschwendung durch die Konsumenten geschieht, wobei auch der Handel
erheblichen Anteil hat.


Abbildung 1: Verschwendung von Lebensmitteln




Quelle: Venkat. 2011, 438



3.1.1. Lebensmittelverschwendung im Einzelhandel
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum Nahrungsmittel, die für den menschlichen
Konsum geeignet sind, als „nicht marktgängig“ aus dem Verkehr genommen werden.
Die meisten Ursachen lassen sich in zwei Gruppen einordnen: Verbraucherwartung
und Marktstabilisierung. Konkret sind beispielsweise die Nichterfüllung von vom
Lebensmittelhandel geforderten Standards hinsichtlich Form, Farbe oder Größe oder
auch die Nichterfüllung unternehmensinterner Qualitätskriterien Gründe für die
Aussortierung. Fehletikettierungen, kosmetische Fehler des Produkts oder seiner
Verpackung oder Nähe zum Mindesthaltbarkeits- oder Verbrauchsdatum sind ebenso

                                                                                       14
häufige   Ursachen       für   die    Entsorgung.     Nicht     verkaufte   Saisonartikel,
Lagerüberschüsse oder Produkte nach einer Sortimentsbereinigung landen ebenfalls
häufig im Müll. Schließlich werden Lebensmittel auch entsorgt, um den Marktpreis
stabil zu halten, wenn ein im Vergleich zur Nachfrage höheres Angebot besteht. (vgl.
Schneider. 2011, 8-9)



3.1.2. Lebensmittelverschwendung durch die Konsumenten
Die Gründe für die Verschwendung von Lebensmitteln auf Ebene der Konsumenten
sind noch vielfältiger als auf Ebene des Handels, da die Pluralisierung der
Lebensstile zu einer Heterogenisierung von Einkauf-, Koch- und Essverhalten geführt
hat.
Für Großbritannien hat das Waste and Ressources Action Programme die
wichtigsten Gründe für das Wegwerfen noch verzehrfähiger Lebensmittel erhoben.
Diese sind, gereiht nach Menge und Verkaufswert (vgl. WRAP. 2008, 6):
  1. Speisereste, die nach der Mahlzeit auf dem Teller zurückbleiben
  2. Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum oder Verbrauchsdatum
  überschritten sind
  3. Lebensmittel, die unansehnlich aussehen, riechen oder schmecken
  4. Lebensmittel, die aufgrund zu langer/falscher Lagerung verdorben sind
  5. Kochreste
Für Deutschland ermittelte eine Studie, dass 59 % der von Privathaushalten
weggeworfenen Nahrungsmittel aufgrund falscher Einkaufsplanung und Lagerung in
den Müll wandern. Besonders viel weggeworfen werden Produkte, die aufgrund von
Sonderangeboten oder Mengenrabatten in zu großer Menge eingekauft werden.
Insgesamt werden in Deutschland 21 % der von Privathaushalten gekauften
Lebensmittel weggeworfen. Dies entspricht sogar 27 % der Lebensmittelausgaben
pro Haushalt. Von diesen vermeidbaren Nahrungsmittelabfällen werden 21 % noch
ungeöffnet beziehungsweise völlig unberührt weggeworfen. Obst und Gemüse ist mit
fast der Hälfte aller weggeworfenen Lebensmittel am stärksten betroffen. (vgl.
Cofresco. 2011, 6-11)
Zusammenfassend        lässt   sich   festhalten,   dass   in   Wohlstandsgesellschaften
tendenziell mengenmäßig zu viel und zu wenig geplant eingekauft und gekocht wird,
Lebensmittel häufig aufgrund der Messung an standardisierten oder ästhetischen

                                                                                       15
Frischekonzepten weggeworfen werden und zu wenig Wissen über und Bereitschaft
zur Verwertung von Resten besteht. (vgl. WRAP. 2007)



3.2. Problematisierung der Verschwendung von Lebensmitteln


Die Verschwendung von Lebensmitteln wurde während der letzten Jahre vermehrt
aus   sozialer,    ernährungswissenschaftlicher,      ökonomischer,         klimatischer   und
umwelttechnischer Perspektive problematisiert. (vgl. z.B. Sobal/Nelson. 2003)
Die Produktion von Nahrungsmitteln verbraucht große Mengen an Energie und
andere natürliche Ressourcen bei der Erzeugung, Weiterverarbeitung, Transport und
Distribution. Lebensmittel zählen im Vergleich mit anderen Produktgruppen zu den
ressourcenintensivsten Gütern. Rund ein Drittel aller klimaschädlichen Emissionen
entsteht im Zuge der weltweiten Nahrungsmittelerzeugung, -verteilung und
-entsorgung. (vgl. Kreutzberger/Thurn. 2011, 14; 147) Werden die Lebensmittel nicht
der Ernährung zugeführt, gehen einerseits die schon investierten Ressourcen
verloren, andererseits muss wiederum Energie für die Entsorgung aufgewandt
werden. So wird ein Viertel des gesamten weltweiten Wasserverbrauchs für die
Produktion von Lebensmitteln aufgewandt, die unverzehrt im Müll landen. (vgl. dies.)
Neben diesen Negativeffekten für Klima und Umwelt ergeben sich daraus erhebliche
Kosten für Produzenten, Händler und Konsumenten. Der ökonomische Wert, der sich
allein aus den von Konsumenten im Jahr 2009 verschwendeten Lebensmitteln in den
USA ergibt, beläuft sich pro Kopf auf ca. 650 US-Dollar. (vgl. Venkat. 2011, 441)
Hierbei     muss   allerdings   beachtet   werden,       dass   teilweise    staatliche    oder
überstaatliche     Steuerungsmechanismen        bestehen,       die    Überproduktion      und
Lebensmittelvernichtung         betriebswirtschaftlich      rentabel        machen.        (vgl.
Griffin/Sobal/Lyson. 2009, 68) Auch aus ethischer und ernährungswissenschaftlicher
Sicht ist die Verschwendung von Lebensmitteln problematisch, da Unternährung und
Hunger weltweit weiterhin weit verbreitet sind. Aktuell sind laut Welthungerindex circa
eine Milliarde Menschen weltweit unterernährt und 11 % aller Erkrankungen weltweit
sind durch Unterernährung bedingt. (vgl. Black et al. 2008, zit. in: Welthungerindex
2010, 26)
Die Verschwendung von Lebensmitteln wurde deshalb während der letzten Jahre
verstärkt    zu    einem   Thema     der   medialen       und   politischen     Öffentlichkeit.
Dokumentationsfilme wie beispielsweise „We feed the world“ (2005) von Erwin
                                                                                             16
Wagenhofer, „Food, Inc.“ von Nikolaus Geyrhalter (2008) oder „Taste the waste“
(2011) von Valentin Thurn erregten großes mediales Interesse. Mittlerweile haben
auch Politik, Verwaltung und Forschung in vielen westlichen Staaten reagiert und
versuchen durch Studien, Informationskampagnen und Serviceleistungen das
Wegwerfverhalten bei Lebensmitteln zu beeinflussen. So bietet beispielsweise das
Land Salzburg auf seiner Website Fakten zum Thema Lebensmittelverschwendung,
gibt Tipps zur Abfallvermeidung und produziert Kurzvideos, die das Thema
problematisieren und Lösungen für die Verbraucher aufzeigen. (vgl. Website Land
Salzburg:      http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall-
2.htm)
Auch die deutsche Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner startete im Jahr 2012
eine     Aufklärungskampagne      um    die     Verschwendung    von    Lebensmitteln
einzudämmen. In Großbritannien laufen schon seit dem Jahr 2007 vom
Umweltministerium finanzierte Kampagnen um Mülltrennung zu forcieren und
Lebensmittelverschwendung sowie Verpackungsmüll durch zielgruppenspezifische
Aufklärung einzudämmen. (vgl. Dohogne. o.J., 111-23) Dies ist vor allem vor dem
Hintergrund zu betrachten, dass sich die (ernährungswissenschaftliche) Forschung
zu diesem Themenkomplex zuvor vor allem auf die andere Seite der Medaille,
nämlich die Verbesserung der Lebensmittelsicherheit konzentriert hat. So finden sich
im angesehenen British Food Journal zahlreiche Studien und Beiträge zum Thema
„food       safety“   jedoch     kaum         Forschungsergebnisse     zum     Thema
Lebensmittelverschwendung. Das primäre Anliegen von Forschung und Staat war,
wie auch aus der Geschichte des Lebensmittelrechts ersichtlich, die Vermeidung von
Gesundheitsrisiken und Epidemien durch nicht sichere Lebensmittel, Lager- oder
Zubereitungstechniken. Es wurde also mehr Wert darauf gelegt, den Bürgern zu
sagen, was sie entsorgen beziehungsweise auf keinen Fall mehr essen sollen, als ihr
Wegwerfverhalten im Sinne einer Reduktion zu beeinflussen.
Um die Lebensmittelverschwendung auf Ebene des Einzelhandels einzudämmen,
wurde beispielsweise vom österreichischen Bundesministerium für Land- und
Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft im Rahmen der Initiative „Lebensmittel
sind kostbar“ eine Broschüre erstellt, die die rechtlichen Rahmenbedingungen für die
Weitergabe von Lebensmitteln an soziale Einrichtungen erklärt. (vgl. Schneider.
2011) Damit soll Unsicherheiten entgegengewirkt werden, die oft zu vorsorglichem


                                                                                   17
Wegwerfen     auf     Seiten    des     Einzelhandels     führt,    um       Haftungsprobleme
auszuschließen.
Auch zivilgesellschaftliche Initiativen nehmen zu, ebenso wie Kochbücher, die
Anleitungen zur Resteverwertung liefern. Dies ist insofern interessant, als sie dem
Trend zu Themenkochbüchern mit immer spezifischeren Rezepten und Ingredienzen
entgegenlaufen und die Verwertung von typischen Lebensmittelresten als kreative
und genussvolle Aktivität präsentieren. Beispiele sind „Nur der Idiot wirft´s weg“
(2011) von Haubenkoch Thomas Riederer, „Das Nichts Wegwerfen Kochbuch“
(2007) von Patrik Jaros und Günter Beer oder „Meine spontane Küche“ (2006) von
Donna Hay.
Allerdings deutet aktuell wenig auf eine Trendumkehr hin. Experten sind sich zwar
einig, dass ein Gutteil der verlorenen und insbesondere der verschwendeten
Nahrungsmittel      durch    angemessene       Strategien     und     Verhaltensänderungen
vermeidbar   wären.     In     der    Praxis   erweisen     sich    jedoch     die   etablierten
Beurteilungsmaßstäbe für Qualität und Frische zu einem in einer globalisierten,
konkurrenzorientierten Wirtschaft schwer zu verändernden Parameter für das
Handeln von Händlern und Konsumenten. Schneider verweist in ihrer Studie auf
Lebersorger (2004, zit. in: Schneider. 2009, 12), wonach gewohnheitsmäßiges
Handeln ca. 80 % des Ernährungs- und Umwelthandelns ausmacht. Diese Muster
lassen sich durch Information allein nur schwer verändern.
In der Praxis würde dies beispielsweise bedeuten, die Milchpackung mit dem nahe
liegendsten MHD aus dem Regal zu nehmen, anstatt hinten im Regal das
vermeintlich „frischeste“ weil kürzlich eingeräumte Produkt zu ergreifen. Oder es
würde bedeuten, die Packung Pfirsiche zu wählen, in der sich ein schon etwas
weniger ansehnliches Exemplar befindet, statt die ganze Palette nach den
knackigsten abzusuchen. Dem steht jedoch entgegen, dass die Supermarktfilialen in
der Regel von der Konzernzentrale aus nicht die Erlaubnis haben, in so einem Fall
spontan einen Rabatt auf das Produkt zu gewähren. Die Verantwortung wird oft
zwischen den beteiligten Akteuren hin und hergeschoben, insbesondere seit die
Lebensmittelverschwendung verstärkt problematisiert wird. So erhöhen sich die
Mengen an weggeworfenem Brot und Gebäck nachvollziehbarer Weise dadurch,
dass fast alle Supermarktketten inklusive Diskonter mittlerweile damit werben, dass
man ganztägig frisch Gebackenes in großer Auswahl bei ihnen beziehen könne.
Viele Supermarktketten übernehmen Backwaren nur auf Kommission von Bäckern,

                                                                                             18
welche die nicht verkaufte Ware kostenlos wieder zurück nehmen müssen. So
wandern 10-15 % der produzierten Produkte in noch genießbarem Zustand in den
Müll. Die Supermärkte wiederum verweisen darauf, dass sie den Kundenwünschen
entsprechen, die eben auch noch um sieben Uhr abends eine breite Auswahl an
frischen Backwaren verlangen. (vgl. Schneider. 2009, 6; 13)
Andererseits     zeigen    die   verfügbaren      Studien    auch,     dass     vielfach    ein
Informationsdefizit auf Seiten der Verbraucher besteht. Beispielsweise unterschätzen
diese die Menge und die Kosten der Lebensmittel die sie wegwerfen, erheblich. So
gingen die Befragten in der Cofresco-Studie in Deutschland im Durchschnitt von 6 %
anstatt der tatsächlich 21 % verschwendeter Lebensmittel aus. (vgl. Cofresco. 2011,
8)



4. Der Faktor „Risiko“ im modernen Ernährungsverhalten

Die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion und –verarbeitung hat zwei
gegensätzliche, zeitlich versetzt einsetzende Entwicklungen befördert.
Einerseits hat die Ablöse traditioneller Praktiken durch industrielle Massenproduktion
anfangs sowohl zur Überwindung von Nahrungsmittelengpässen wie auch zur
Erhöhung      der   vergleichsweise     geringen    Hygiene-     und    Qualitätsstandards
beigetragen. Die Angst der Konsumenten vor anonym produzierten Nahrungsmitteln
im Gegensatz zur traditionellen Organisation wurde durch das zeitgleich steigende
Vertrauen und die zunehmende Bedeutung der Wissenschaft im Leben der
Einzelnen      ausgeglichen.     Indem     sich     die     Nahrungsmittelindustrie         auf
wissenschaftliche Erkenntnisse stützte, konnte sie Vertrauen in ihre Methoden
generieren, obgleich der Einzelne diese nicht im Detail prüfen konnte. Beispielsweise
konnten     bakterielle   Infektionen   durch   Milchprodukte    durch        die   industrielle
Verarbeitungsmethode der Pasteurisierung fast völlig eliminiert werden. (vgl.
Bildtgard. 2008, 122)
Andererseits wurden die Massenrisiken, die sich durch Massenproduktion ergeben,
besonders während der letzten Jahrzehnte deutlicher. In Verbindung mit der
massenmedialen Verbreitung entstand durch prominente Fälle wie BSE-Skandal und
andere Seuchen, Analogkäse und Schadstoffbelastungen in Lebensmitteln ein neuer
Narrativ der industriellen Massenproduktion von Lebensmitteln, der die Risiken für
den Einzelnen in den Fokus rückt. Bestärkt und erweitert wird diese Perspektive
                                                                                             19
durch     die     Thematisierung    der      überindividuellen    Risiken   und    negativen
Konsequenzen, die sich für die Umwelt, die Welternährung oder das Klima durch
industrialisierte, globalisierte, rein gewinnmaximierende Massenproduktion ergeben.
Studien     und     Marktdaten     zeigen,     dass    Verbraucher      stark   negativ   auf
wahrgenommene Risiken in Nahrungsmitteln reagieren. So kam es beispielsweise in
Folge der Vogelgrippe und BSE zu massiven Verkaufsrückgängen bei den
betroffenen Produktgruppen. (vgl. Yeung/Yee. 2012, 40)
Aus diesem Grund wurde die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion und –
verarbeitung von Anfang von der Schaffung neuer Normen begleitet, welche die
traditionell geltenden Gemeinschaftsnormen ersetzen sollten. Die wichtigste Instanz
bildete der Nationalstaat, welcher durch immer detailliertere Gesetze, Verordnungen,
Standards sowie durch die Schaffung zuständiger Kontrollbehörden, die durch
Experten besetzt wurden, reagierte. (vgl. Bildtgard. 2008, 122-123) Mittlerweile ist in
EU-Mitgliedsstaaten       die      europäische        Union      eine    weitere    wichtige
Regulierungsinstanz geworden.
Allerdings setzt die fortschreitende Globalisierung der Nahrungsproduktion der
staatlichen oder supranationalen Regulierung und Kontrolle mehr und mehr Grenzen:
  “The globalisation of the agrifood system and the growing variety of food
  products and technologies have made it increasingly difficult for nation states to
  regulate food safety and quality practices, giving rise to a shift from public to
  private governance, essentially in the form of private standards and third-party
  certification.” (Sodano/Hingley/Lindgreen. 2008, 508)
Der Staatsgewalt sind also angesichts der Komplexität globaler Produktionsketten
sowie der Verpflichtungen aus internationalen Verträgen, wie beispielsweise der
WTO oder der EG mehr und mehr Grenzen gesetzt, was die Regulierung betrifft. So
sind beispielsweise die erlaubten Beschränkungen des freien Warenverkehrs im EU-
Binnenraum im Bereich Lebensmittel weitgehend auf Maßnahmen zur Verhinderung
von Krankheiten und Gesundheitsrisiken beschränkt. (vgl Bildtgard. 2008, 124-25)
Als Folge werden nichtstaatliche, entterritorialisierte Interessensgemeinschaften, die
durch Lobbying oder private Zertifizierungen eine neue Übersichtlichkeit im
Lebensmittelsektor herstellen wollen, wichtiger.
Daraus ergibt sich wiederum eine größere Unübersichtlichkeit für die Konsumenten,
die ebenfalls gewissermaßen selbstverantwortlich sind für ihre Wahl. Diese
Unüberschaubarkeit ist jedoch nicht nur gefühlt, sondern auch praktisch gegeben. So

                                                                                          20
wandert ein Lebensmittel im Durchschnitt durch 33 Hände, bis es im Supermarkt zum
Verkauf bereitsteht. (vgl. Kantor et al. 1997, zit. in: Schneider. 2009, 1)
Die Fülle an nicht staatlichen Zertifizierungen, Siegeln und Standards macht
risikobewusstes Einkaufen zu einer herausfordernden Aufgabe:
  „The production of food in modern society involves an almost infinite number of
  actors, individuals and companies. The very complexity of this system means
  that the consumer has very little knowledge of the end product, not primarily
  because knowledge is lacking but because it is too rich and too complex for the
  consumer to decode. Consequently the consumer is marginalized when it
  comes to decisions concerning the production of his/her food.” (Bildtgard. 2008,
  114)
Wie wichtig das Thema Risikovermeidung für Konsumenten von Lebensmitteln ist,
zeigen beispielsweise Studien zu den Kaufgründen für biologische Nahrungsmittel,
wonach Gesundheit und Sicherheit die wichtigsten Beweggründe für den Kauf dieser
Produkte darstellen, vor anderen Faktoren wie Umwelt- oder Tierschutz. (vgl.
Pellegrini/Farinello. 2009, 949)



4.1. Standardisierung von Frische: Verbrauchs- und Mindesthaltbarkeitsdatum


Die im 19. und 20. Jahrhundert einsetzende Verwissenschaftlichung der Ernährung
durch    die    verstärkte   Untermauerung       von    Ernährungsempfehlungen         mit
wissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. Prahl/Setzwein. 1999, 48) ging einher mit der
Schaffung einer systematischen Qualitätskontrolle in den entstehenden Verwaltungs-
und Nationalstaaten. Auch die Verrechtlichung, Normierung und Standardisierung im
Namen der Volksgesundheit setzte ein und löste so die vorher zentrale
Selbstkontrolle von Zünften und Gilden im Mittelalter sowie die Kontrolle auf
kommunaler Ebene ab. Die Regulierung wurde im Zuge der Liberalisierung der
Wirtschaft auf immer höhere Ebenen verlagert, vom Nationalstaat auf supranationale
Instanzen.     Standardisierung    entstand   auch     als   Notwendigkeit    einer   sich
globalisierenden Wirtschaft, nicht nur aufgrund staatlicher Vorgaben. Wurde zu
Beginn des 20. Jahrhunderts Bier noch in einem Krug aus dem nächstgelegenen
Gasthaus geholt, so kann man eine bestimmte Marke mittlerweile in standardisierter
Verpackung fast weltweit erstehen. (vgl. dies. 51-54)

                                                                                       21
Standardisierungen,     die    sich      durch    Verpackung,      Marke,      Etikettierung,
Datumsangaben und Zertifizierungen manifestieren, wirken laut Bildtgard (2008, 117)
als „symbolic token“ im Sinne von Anthony Giddens (vgl. 1990, 83ff.) Ähnlich wie bei
der Institution Geld, das als Tauschmedium fungiert, da alle Vertrauen in seinen Wert
setzen, wirken diese Standardisierungen, die den einzigen Kontakt zwischen
Produzenten und Konsumenten darstellen und somit Raum und Zeit transzendieren,
vertrauensgenerierend, auch weil man davon ausgeht, dass zwischengeschaltete
staatliche und private Akteure die Validität überprüfen. (vgl. Bildtgard. 2008, 117)



4.1.1. Rechtliche Rahmenbedingungen
Das Mindesthaltbarkeitsdatum wurde auf europäischer Ebene im Rahmen der
Richtlinie 2000/13 einheitlich eingeführt, um eine Orientierung zu bieten. Generelles
Ziel der Richtlinie war eine Harmonisierung der Etikettierung von Lebensmitteln um
den freien Warenverkehr auf dem EU-Binnenmarkt zu gewährleisten. Bis dahin
herrschte eine große Heterogenität im Punkto Lebensmittelkennzeichnung. (vgl. Eur-
Lex. o.J.) Es handelt sich also beim MHD um eine Gütegarantie des Herstellers,
welche von ihm selbst festgelegt wird und als Orientierungshilfe für die Verbraucher
dienen   soll.   Das   Mindesthaltbarkeitsdatum      ist    für   verpackte    Lebensmittel
vorgeschrieben und garantiert bestimmte Qualitätseigenschaften wie Konsistenz,
Farbe,   Geschmack      oder    Geruch      des    Lebensmittels      bei     angemessener
Aufbewahrung.                    (vgl.                     Land                   Salzburg,
http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall-
2/tipps_lebensmittel.htm)
Nach Ablauf dieser Frist können sich beispielsweise Geschmack und Konsistenz
verändern, jedoch lässt sich daraus keine Schlussfolgerung über die Sicherheit des
Lebensmittels ableiten. Das MHD endet daher so gut wie immer vor Beginn des
Verderbs eines Produkts. (vgl. Schneider. 2011, 14) Es handelt sich lediglich um eine
vom Hersteller festgelegte Information zur Orientierung. Konkret bedeutet dies, dass
der Hersteller zwar verpflichtet ist, ein Mindesthaltbarkeitsdatum anzugeben, für den
Handel ergibt sich daraus jedoch keine Verpflichtung, das Produkt nach Ablauf des
MHD aus dem Verkehr zu ziehen. Theoretisch dürfte ein solches Produkt weiter
verkauft werden, wobei jedoch über das MHD hinaus in Österreich deutlich
gekennzeichnet werden müsste, dass dieses bereits überschritten ist. (vgl.

                                                                                          22
Lebensmittelkennzeichnungsverordnung BGBl 1993/72 idF BGBl 1995/555, § 4; §
10)
Außerdem verbietet das Lebensmittelgesetz BGBl 1975/86 idF BGBl I 1998/63 laut §
7 das in Verkehr bringen von gesundheitsschädlichen, verdorbenen, unreifen Waren.
Produkte mit überschrittenem MHD dürften also nur weiterhin verkauft werden, wenn
die Lebensmittel noch in Ordnung sind.
Davon zu unterscheiden ist das Verbrauchsdatum, auf Englisch „use by“, welches für
mikrobiologisch leicht verderbliche Produkte wie Fisch, Fertigsalate oder faschiertes
Fleisch vorgeschrieben ist. Dieses Verbrauchsdatum bedeutet, dass Lebensmittel
nach dessen Überschreitung nicht mehr verkauft werden dürfen und auch nicht mehr
verzehrt werden sollen, da ein gesundheitliches Risiko bestehen könnte. (vgl. Land
Salzburg,     http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall-
2/tipps_lebensmittel.htm)
Auf rohen Eiern findet sich aufgrund der Salmonellengefahr manchmal neben dem
MHD noch ein Verkaufsdatum, das die maximal zulässige Frist zwischen dem Legen
der Eier und dem Verkauf angibt. Nach Ablauf dieses Datums dürfen die Eier nur
nicht mehr roh an Konsumenten abgegeben werden, jedoch von diesen weiter
verwendet werden. (vgl. Schneider. 2011, 14-15)
Lebensmittel, die durch Lebensmittelunternehmen an Konsumenten abgegeben
werden, müssen also sicher sein, unabhängig davon, ob ein MHD, Verbrauchdatum
oder auch keines von beiden auf den Produkten zu finden ist.



4.1.2. Praktische Implikationen der Standardisierung von Frische
Die beiden beschriebenen Formen der Standardisierung von Lebensmitteln nehmen
somit   auf   zwei   unterschiedliche   Bedeutungen   von   „Frische“   Bezug.   Das
Mindesthaltbarkeitsdatum verweist auf Frische als ästhetisches Kriterium, während
das Verbrauchsdatum sich auf Frische in der Bedeutung von „gesundheitlich
unbedenklich“ oder „sicher“ bezieht.
Allerdings ist diese Unterscheidung nicht allen Konsumenten geläufig. Die
Standardisierung schafft also eine gewisse Unsicherheit auf Seiten der Verbraucher,
die dazu führt, dass im Zweifelsfall eher entsorgt wird. In der englischen
Tageszeitung „The Guardian“ zitiert ein Journalist Studien, wonach 50 bis 80 % der
Konsumenten sich nicht über diese unterschiedlichen Bedeutungen im Klaren sind.
(vgl. Daoust. 9.12.2010)
                                                                                  23
So werden in Salzburg jährlich im Durchschnitt 18 kg noch verzehrfähige
Lebensmittel pro Person weggeworfen. Ca. 20 % davon wandern aufgrund eines
überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdatums in den Müll. (vgl. Land Salzburg,
http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall-2.htm)
Bei überschrittenem MHD ist der Konsument angehalten, durch Überprüfung von
Aussehen, Geruch und Farbe festzustellen, ob das Lebensmittel noch genießbar ist.
(vgl. Schneider. 2011, 14) In der Praxis ist es nämlich so, dass die Haltbarkeit bei
den allermeisten Lebensmitteln nicht primär durch das Alter, sondern durch die Art
der Lagerung bestimmt wird. (vgl. Severson. 10.01.2001) So kann sich die
Haltbarkeit von Milch je nachdem, ob sie durchgehend kühl gelagert wird oder
stundenlang am Küchentisch steht, sehr unterschiedlich entwickeln. Entfremdung
von   und   fehlendes   Wissen    über      Lebensmitteln   führen     dazu,     dass   dem
standardisierten, jedoch wenig aussagekräftigen MHD eine zu große Bedeutung
zugeschrieben wird.
Am    meisten    weggeworfen     werden       jedoch   Sachen,       für   die    gar   kein
Mindesthaltbarkeitsdatum vorgeschrieben ist. Dazu zählen unter anderem Frischobst
und      –gemüse        sowie       nicht        abgepackte          Backwaren.         (vgl.
Lebensmittelkennzeichnungsverordnung BGBl 1993/72 idF BGBl 1995/555, § 7)
Hier ist also nicht die Standardisierung von Frische durch ein festgelegtes Datum
ausschlaggebend, sondern der optische Eindruck der Frische. So ergab eine
Untersuchung der entsorgten Waren von zwei Testfilialen über zehn Wochen durch
Universität für Bodenkultur in Österreich aus dem Jahr 2004, dass Gemüse und Obst
über 70% der weggeworfenen, aber noch genießbaren Lebensmitteln ausmachten.
(vgl. Schneider/Wassermann. 2004, zit. in: Schneider. 2009, 5)
Allerdings gibt es auch hier einen Trend zur Standardisierung. Obwohl gesetzlich
nicht gefordert, finden sich immer öfter auf portioniertem Obst oder Gemüse
(beispielsweise einer 6-er Schale Äpfel) ein MHD, um die Frische der Lebensmittel
noch zusätzlich zu betonen. Das Resultat ist, dass auch Obst und Gemüse lediglich
aufgrund eines überschrittenen MHD im Abfall landen. So berichtet ein Mitarbeiter
des britischen, staatlich gestützten Waste & Ressources Action Programme: "I've
seen unopened 15kg bags of potatoes thrown away just because they've gone past
the best-before date," (Andrew Parry, zit. in: Daoust. 2010)
Studien aus Österreich haben einen signifikanten negativen Zusammenhang
zwischen dem Alter und der Menge der weggeworfenen Lebensmittel bei

                                                                                          24
Konsumenten      ergeben.   Ältere    Menschen    schmeißen     tendenziell   weniger
Lebensmittel weg. Dieser Zusammenhang war bei original verpackten Lebensmitteln
besonders deutlich. (vgl. Wassermann/Schneider. 2005, zit. in: Schneider. 2009, 9-
10) Jüngere Menschen orientieren sich also tendenziell stärker an standardisierten
Angaben für Frische und tendieren eher dazu, noch verzehrfähige Lebensmittel zu
entsorgen.
Dem entsprechen auch Studienergebnisse aus Großbritannien zur Haltung von
Verbrauchern gegenüber Lebensmittelstandards, wonach die Altersgruppe der 16 bis
34-Jährigen    am    Häufigsten      angab,   Nahrungsmittel    nach    Ablauf     des
Mindesthaltbarkeits- oder Verbrauchsdatums nicht mehr zu verzehren. Je älter die
Befragten, desto weniger strikt wurden die standardisierten Qualitäts- und
Haltbarkeitsdaten zum Maßstab genommen. Was jene Lebensmittel betrifft, die kein
Verbrauchsdatum, sondern nur ein Mindesthaltbarkeitsdatum aufweisen, wie Brot
und Frühstücksflocken, so gab immerhin ein Viertel aller Befragten an, dass sie
solche Produkte niemals nach Ablauf des MHD verwenden würden. Bei Eiern, die
ebenfalls nur durch ein MHD gekennzeichnet sind, ist dieser Anteil sogar höher als
40 %. (vgl. Food Standards Agency. 2009, 32-35)
Interessant ist auch eine andere Frage aus derselben Studie, in der den Befragten
verschiedene typische Datumsangaben vorgelegt wurden und sie wählen mussten,
welche davon der beste Indikator für die Sicherheit des Lebensmittels sei. Die Hälfte
identifizierte das Verbrauchsdatum (use by date) korrekt als den besten Indikator, ca.
ein Drittel der Befragten wählte jedoch das MHD, obwohl dieses, wie schon erläutert,
sich rein auf die Qualität und nicht auf die Sicherheit bezieht. Auch hier ist ein
Zusammenhang mit dem Alter der Befragten gegeben. Je älter die interviewten
Personen waren, desto häufiger gaben sie an, nicht zu wissen, welcher Indikator der
beste für die Sicherheit eines Lebensmittels ist. (vgl. dies., 31) Jüngere Menschen
orientieren sich also tendenziell stärker an Standardisierungen, wobei jedoch
mehrheitlich keine Klarheit bezüglich der unterschiedlichen Bedeutungen besteht.
Bringt man diese Erkenntnisse nun mit den schon dargelegten Zahlen und Fakten
über   die    Verschwendung    von     Lebensmitteln   auf   Konsumentenebene       in
Zusammenhang, hat man schon einen zentralen Erklärungsfaktor ausgelotet.




                                                                                    25
4.2. Die Frische und der Müll – eine ambivalente Beziehung


Wenn Frische nicht nur mit gutem Geschmack, sondern auch mit Qualitität,
Gesundheitsförderung und –erhaltung sowie Risikoarmut assoziiert wird, ist es recht
einleuchtend, warum ihr diese große Bedeutung für die Konsumenten zukommt.
Gleichzeitig hat im Zeitalter der „reflexiven Modernisierung“ (vgl. Giddens. 1990)
auch eine verstärkte Infragestellung des gängigen Wissens und der westlichen
Lebensweise       stattgefunden.     Die     sozialen    und   ökologischen     Kosten   der
industrialisierten,    globalisierten      Nahrungsmittelproduktion    werden     deutlicher.
Bildtgard (2008, 24) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Krise der
modernen Wissenschaft und Politik. Der Glaube in die Fähigkeit der Wissenschaft,
universell gültige Erkenntnisse über die beste Nahrungsmittelproduktion und
Ernährungsweise zu gewinnen, schwindet auch angesichts der sich verbreitenden
Ansicht,   dass       Ernährung    nicht    nur   der   Befriedigung   eines   menschlichen
Grundbedürfnisses dient, sondern auch Teil von Lebens- und Konsumstilen sowie
Identität ist. Die Maßstäbe sind ebenso vielfältig geworden, wie die dazu passenden
Angebote. Es gibt nicht mehr gesunde Ernährung, sondern für eine bestimmte
Gruppe geeignete Nahrungsmittel, es gibt nicht mehr qualitative Lebensmittel,
sondern verschiedene Qualitäten für unterschiedliche Bedürfnisse oder Ansprüche.
(vgl. ders.) Gleichzeitig ist eine abnehmende Regulierungs- und Kontrollfähigkeiten
der globalen Nahrungsmittelindustrie durch öffentliche Instanzen feststellbar.
Als Folge sind Nahrung und Müll für die Konsumenten zu Kategorien mit fließenden
Übergängen, ohne klar erkennbare Grenzen geworden. Reflexivität ist auch insofern
gegeben, dass den Verbrauchern zumindest teilweise bewusst ist, dass weder
Standardisierungen noch die eigene Urteilskraft vollständige Sicherheit garantieren
können. Lieber zu viel als zu wenig wegzuwerfen, erscheint vor diesem Hintergrund
als nachvollziehbare Handlungsweise. Die folgende Karikatur unterstreicht dies:




                                                                                          26
Abbildung 2: Karikatur Essen und Müll




Quelle: © Thomas Wizany, auf:
http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall-2.htm
(10.07.2012)



5. Waste Diving, Dumpstern oder Containern

Waste Diving, Dumpstern oder zu Deutsch Containern hat sich seit den 80er Jahren
des vorigen Jahrhunderts zu einer verbreiteten Praxis vor allem in westlichen
Wohlstandsgesellschaften entwickelt. Die Wurzeln lassen sich zum Teil auf die Arbeit
der amerikanischen Nonprofit Bewegung „Food not Bombs“ zurückführen, die seit
1980 von Boston ausgehend begonnen hat Lebensmittel von Produzenten und
Händlern, die nicht mehr markttauglich waren, zu übernehmen und daraus
vegetarisches Essen zuzubereiten, das dann kostenlos an Bedürftige, Obdachlose
oder Passanten ausgegeben wird. „Food not Bombs“ ist mittlerweile in vielen Staaten
durch Einzelgruppen aktiv. (vgl. Temkar. 2011) Der breitere Trend zur Suche nach
alternativen, nicht konsumorientierten Lebensweisen lässt sich jedoch weiter
zurückführen auf die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts und auf anarchistische
Strömungen der frühen 70er Jahre. (vgl. Coyne. 2009)
Mittlerweile wird Waste Diving als zentraler Bestandteil eines „freeganen“ Lebensstils
begriffen. Freeganer gibt es mittlerweile vor allem in urbanen und semi-urbanen
Zentren westlicher Wohlstandsgesellschaften. Sie verbinden Aktivismus und

                                                                                   27
Lebensstil, indem sie versuchen, so wenig natürliche Ressourcen wie möglich zu
verbrauchen und so wenig wie möglich am kapitalistischen Wirtschaftssystem
teilzunehmen. Die Kritik der Freeganer reicht also deutlich über die im System
inhärente Verschwendung hinaus, wie anhand der Selbstbeschreibung der US-
amerikanischen Freeganer-Vereinigung deutlich wird:
  „After years of trying to boycott products from unethical corporations
  responsible for human rights violations, environmental destruction, and animal
  abuse, many of us found that no matter what we bought we ended up
  supporting something deplorable. We came to realize that the problem isn’t just
  a few bad corporations but the entire system itself. Freeganism is a total boycott
  of an economic system where the profit motive has eclipsed ethical
  considerations (…).” (freegan.info)
Waste   Diving,    um    an   aussortierte,     aber    noch      brauchbare    Produkte   der
Wegwerfgesellschaft, insbesondere Lebensmittel zu gelangen, stellt eine der
wichtigsten und weitverbreitetsten Praktiken der Freeganer dar. Zu den zentralen
Werten der Freeganer zählen Gemeinschaft, Teilen und Kooperation, weswegen die
durch Waste Diving erlangten Güter immer mit anderen, egal ob selbst Waste Diver
oder nicht, geteilt werden. Zu einem freeganen Lebensstil werden jedoch auch
Müllvermeidung     und    –minimierung,        ökologisch      vertretbare     Fortbewegung,
Selbstversorgung durch Urban Gardening oder Community Gardens, Minimierung
von Lohnarbeit und mietfreies Wohnen durch Hausbesetzungen oder die Einrichtung
von Gemeinschaftszentren in verlassenen Häusern gezählt. (vgl. freegan.info)
Entgegen dieser kohärenten Selbstbeschreibung kann man die Freeganer in der
Praxis nicht als homogene Bewegung verstehen, da die konkrete Motivation und das
Ausmaß der praktizierten Aktivitäten stark variieren. Bei manchen steht die
Protestorientierung und der politische Aktivismus im Vordergrund, bei manchen die
generelle Ablehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, bei wiederum anderen
ist es die fehlende Nachhaltigkeit der Wegwerf-Gesellschaft, die sie zum Waste
Diven inspiriert. Schließlich finden sich auch einige, bei denen die Motivation Geld zu
sparen, um weniger abhängig von Lohnarbeit zu sein, ein zentraler Faktor ist. (vgl.
Skidelsky. 2009) Während manche Freeganer einen fast vollständig von der
Mainstream-Kultur separierten Lebensstil betreiben, sind andere in die Arbeitswelt
und   politische   Gemeinschaft     aktiv     involviert.   Der    Großteil    der   Freeganer
unterscheidet sich dennoch soziodemographisch und motivationsmäßig deutlich von

                                                                                            28
marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die Waste Diving aus materieller Not
praktizieren. Hier passt das Sprichwort, dass fasten nicht das gleiche sei, wie
hungern. Freeganer sind überwiegend jung, männlich, aus der bildungsnahen
Mittelschicht stammend und zeichnen sich durch starke ideologische Überzeugungen
aus, die ihren Lebensstil prägen. (vgl. Edwards/Mercer. 2007, 282-87)
Das Waste Diving als Herzstück der Freeganer-Bewegung wird explizit unter
Bezugnahme auf die dominierenden Vorstellungen von essbar und nicht essbar,
sicher und gefährlich, frisch und verdorben interpretiert:
  “Despite our society’s sterotypes about garbage, the goods recovered by
  freegans are safe, useable, clean, and in perfect or near-perfect condition, a
  symptom of a throwaway culture that encourages us to constantly replace our
  older goods with newer ones” (freegan.info)
„Müll“ zu essen, ist schließlich ein Gesellschaften übergreifendes Tabu, welches
traditionell von marginalisierten Gruppen aufgrund schierer Not praktiziert wurde.
Waste Diving verlagert den Fokus weg von denen, die die weggeworfenen
Lebensmittel konsumieren, hin zum System der Verschwendung, die diesen
Überfluss an aus rein physiologischer Sicht essbaren Nahrungsmitteln produziert. „It
challenges the observer to ask, not why one might dumpster dive, but rather why one
would not.” (Shantz. 2005) Die gängigen Normen für Konsumption und Abfall
werden, indem dem sogenannten Müll eine neue Bedeutung gegeben wird, mit dem
Ziel eine gesellschaftliche Neudefinition zu etablieren. Dem liegt die von Appadurai
(1986, zit. in: Partridge. 2011, 37) festgestellte Erkenntnis zugrunde, dass die
gesellschaftliche Bedeutung von Produkten sich als Resultat des sozialen und
kulturellen Kontexts im Lauf der Geschichte immer wieder gewandelt hat und
dementsprechend manchmal als Müll, manchmal als erstrebenswerte Güter
interpretiert wurden. Die soziale Bedeutung von Gütern muss demnach beständig
reproduziert werden, um bestehen zu bleiben.
Dennoch steht beim Waste Diving in der Praxis nicht die Öffentlichkeitswirksamkeit
im Vordergrund. Ein interviewter Freeganer drückte dies so aus: “there is something
about freeganism that is silent, doesn’t make a point, doesn’t show anything to
anyone, it just is something that’s more sustainable than going to the shops” (zit. in:
Partridge. 2011, 30)
Unabhängig von der Intention der Waste Diver ist das mediale Interesse mittlerweile
enorm, sodass die Interview- und Reportageanfragen die Bereitschaft vieler

                                                                                    29
Freeganer zur politischen Positionierung übersteigen. 1 Dokumentationen, Berichte
und Reportagen zum Waste Diving sind während der letzten Jahre vermehrt
publiziert worden, ohne dass wirklich eine konzertierte Anstrengung auf Seiten der
Aktivisten erfolgt wäre. Das Thema schaffte es sogar bis in die US-amerikanische
Talkshow von Oprah Winfrey. Es stellt sich die Frage, woher diese offensichtliche
Faszination mit speziell dieser Aktivismusform kommt. Coyne (2009) bietet hierfür die
Erklärung an, dass es der Bruch mit dem dominanten Klassifikationssystem ist, der
das Waste Diving so faszinierend für die mediale Öffentlichkeit macht:
    “Dirt then, is never a unique, isolated event. Where there is dirt there is system.
    Dirt is the by-product of a systemic ordering and classification of matter, in so
    far as ordering involves rejecting inappropriate elements. This idea of dirt takes
    us straight into the field of symbolism and promises a link-up with more
    obviously symbolic systems of purity.” (Douglas. 2002, 36)
Was Müll ist und was nicht wird also durch ein Klassifikationssystem bestimmt,
welches im Grunde willkürlich rein von unrein trennt und so auch unser Einkaufs- und
Essverhalten strukturiert. Essen im Müll ist unabhängig von seinen konkreten
Charakteristika unrein, weil es sich am falschen Ort befindet. (vgl. Coyne. 2009)
Douglas bezeichnet dies als „matter out of place“ (2002, 36), wie beispielsweise das
Haar, das erst als ekelerregend empfunden wird, wenn es sich nicht mehr am Kopf,
sondern beispielsweise in der Suppe befindet.
Waste Diver verstehen ihr Tun nicht als „Müll essen“, da sie ihre Praxis darauf
aufbauen, dass sich in den Containern jede Menge reines, gesundes, sicheres und
genussvolles Essen befindet. (vgl. Moré. 2011, 49)



6. Empirischer Teil: Waste Cooking – Eine innovative Weiterentwicklung

Waste Cooking wurde Einzelpersonen ins Leben gerufen, die auf unkonventionelle
Weise auf das Thema Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen wollten.
Der Regisseur von Waste Cooking war bei seiner ersten persönlichen Erfahrung vom
Waste Diving fasziniert und entwickelte die Idee zu einer Kochshow der anderen Art,
als Verbindung von Waste Diven und kochen. Diese Idee setzte er gemeinsam mit



1
 Siehe hierzu beispielsweise die Diskussionen in den Foren der deutschen Themenseite
http://www.containern.de/ (14.07.2011)
                                                                                          30
einem persönlichen Freund, der beruflich als Koch tätig ist und als solcher auch
einen Rezepte-Blog betreibt, um. (vgl. Interview auf: studentenkueche.com)
Unterstützt wird die Initiative von offizieller Seite insofern, als sowohl die Abteilung für
kulturelle Sonderprojekte des Landes Salzburg wie auch die Kulturabteilung der
Stadt Salzburg finanzielle Förderung bereitstellen. Dies ist insofern bemerkenswert,
als sich die Teilnehmer beim Waste Diven in einer juristischen Grauzone bewegen.
So ist zwar der Müll im Gegensatz zur gesetzlichen Regelung in anderen Staaten
nicht mehr im Eigentum der Supermärkte, sondern „herrenloses Gut“, die Container
befinden sich jedoch immer auf ihren Privatgrundstücken, weswegen der Zutritt
prinzipiell strafbar ist. (vgl. http://www.wastecooking.com/thema/waste-diving/)



6.1. Waste Cooking – die „kritische Kochshow“ als Erlebnis
(vgl. im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt die Website der Waste-Cooking
Initiative: www.wastecooking.com)


Die Waste Cooking-Initiative definiert sich selbst als kritische Kochshow nach dem
Motto: „Food is culture …. don´t waste it, cook it!“
In Abgrenzung zu herkömmlichen Kochshows, die die Zuseher bloß als (visuelle)
Konsumenten einbinden, kann man beim Waste Cooking die Metamorphose von Müll
zu Essen mitvollziehen. Demgemäß werben die Waste Cooker auf dem Flyer zu
einer ihrer Aktionen auch mit dem Spruch: „Vorsicht! Das Essen von Müll kann Euer
(sic!) Denken verändern!“
Beim Waste Cooking wird im Gegensatz zum Waste Diving kommuniziert, was
essbar ist und was nicht, sondern auch, was frisch, sauber und genussvoll ist.
Während die Waste Diver durch den Akt der Aneignung weggeworfener Lebensmittel
deren Essbarkeit demonstrieren, geht die Waste Cooking-Initiative einen Schritt
weiter, indem es den Erlebnis- und Genusswert des Waste Diving und Waste
Cooking nachvollziehbar zu kommunizieren versucht. Nicht nur wer aktiv dabei ist,
kann es miterleben. Man kann auch über das Ansehen der Kochshows online und
über Community-Fernsehsender oder das Nachkochen der Rezepte mit dabei sein.
Der Erlebnischarakter des Waste Diving und Waste Cooking wird in den
Repräsentationen in Form von Website und Kochshow in den Mittelpunkt gestellt.
Hier muss berücksichtigt werden, dass das Waste Diven an sich eine relativ
zeitaufwändige Art der Lebensmittelbeschaffung ist. Auch das Waste Cooking ist an
                                                                                         31
sich umständlicher als normales Kochen, da spontan aus den gefundenen
Nahrungsmittel Rezepte kreiert und die Lebensmittel auch manchmal extra gereinigt
und meist gleich verkocht werden müssen. Der Anspruch, alles was man aus der
Tonne mitnimmt, auch zu verwenden, führt dazu, dass oft große Mengen bestimmter
Lebensmittel vor dem endgültigen Verderb verzehrt oder konserviert werden müssen.
Beim Waste Cooking, wo das gemeinsame Kochen und Essen in Form von Events
stattfindet, ist das wichtigste Kriterium, optisch und geschmacklich ansprechende
Gerichte aus dem Gefundenen zu kreieren: „Wir bringen Waste Diver (Mülltaucher)
und Köche zusammen, und verwandeln „Abfall“ in kreative Gerichte.“
Die Protestorientierung wird nicht ausgeklammert, aber in ein Erlebnis für die
Teilnehmer integriert: „Protest kann lecker sein!“. Die Teilnehmer sollen nicht primär
protestieren, sondern aus dem Erleben selbst neue Erfahrungen sammeln und ihre
Schlüsse ziehen. „Der erste Blick in die Tonne“ ist demnach ein Erlebnis, das für sich
selbst spricht. Das andere Erleben der Teilnehmer wird an sich schon als subversiv
dargestellt, ohne dass jedoch versucht wird, eine abgegrenzte Gruppenidentität zu
schaffen oder moralischen Zeigefinger. So gibt es beispielsweise ein Waste Cooking-
Manifest, das die Zielsetzungen und die Regeln fürs Waste Cooking festlegt. Diese
Regeln sind jedoch überwiegend prozedural, beziehen sich also auf den Akt des
Mülltauchens und Kochens. Die kommunizierten Werte sind diskursiv und offen
angelegte – die Waste Cooker laden ein zum kochen, essen, diskutieren über
Lebensmittelverschwendung und prangern Konkurrenzdenken und Egoismus an.



6.1.1. Die Rezepte der Waste Cooker
Die Rezepte sind als Menüs angelegt und umfassen Vorspeisen, Hauptspeisen und
Desserts. Sie sind vegetarisch, aber ansonsten durchaus „mainstream-tauglich“.
Trotz relativ     simpler Zutaten     und   Zubereitungsformen wirken sie durch
Namensgebung      und   optische    Darstellung   außeralltäglich.    „Karotten-Dip   mit
karamelisierten   Zwiebeln   und    Kreuzkümmel“,     „Fenchel   in    Sahne-Weißwein
Reduktion“, „gebratene Polenta mit Ratatouille“ oder der „Linsen-Apfel Salat mit Feta
Käse“ erinnern vom Wording her an raffinierte, aber doch nachkochbare Kreationen
aus den bekannten Fernseh-Kochshows. Dem Anrichten und der kulinarischen
Fotografie wird viel Mühe gewidmet.
Einzig die Zubereitungsanleitungen weichen von herkömmlichen Rezeptsammlungen
ab. Zum einen durch die Portionsgrößen die von vier bis fünzig Personen reichen
                                                                                      32
können. Damit wird darauf verwiesen, dass Waste Diven und Waste Cooking an
Gemeinschaft gebunden ist: Lebensmittel und Essen werden gemäß den Werten der
Freeganer wenn möglich immer geteilt. Die Zubereitungsanleitungen sind außerdem
speziell auf Waste Cooker ausgerichtet und auf die typischen Lebensmittel, die man
häufig in großen Mengen findet.

6.1.2. Raum- und Zeitbezug beim Waste Cooking
Das Waste Diven ist, wie schon erwähnt, eine zeitintensive Beschäftigung. Es
müssen passende Plätze gefunden werden, wo ein Zugang zu den Containern
möglich ist, ohne sich gewaltsam Zutritt verschaffen zu müssen, denn eine der Waste
Cooking-Regeln lautet: „Wir knacken keine Schlösser“. Dann muss eruiert werden,
wann die besten Nächte zum Waste Diven sind, da die Supermärkte beispielsweise
bevorzugt an den Vortagen der Müllentleerung aussortieren. Langjährige Waste
Diver haben zumeist ihre Stammplätze, die sie gut kennen. Beim Waste Cooking
werden bei den Events Neulinge in die Geheimnisse der besten Diving-Plätze
eingeführt. Andererseits gibt es auch Situationen, wie in St. Pölten beim Frequency
Festival, wo die Waste Cooker ohne lokale Unterstützung auf die Suche gehen. Das
Mülltauchen hat so den Charakter einer Schatzsuche, bei der man außerdem auch
die eigene Stadt von einer neuen Seite kennenlernt. „(…) jeder hat seine lieblings-
spots- und das sind dann oft geheim-tipps- fast wie lieblings-restaurants … (sic!)“
(Interview auf: www.studentenkueche.com)
Das „Sortiment“ in den Tonnen variiert außerdem je nach Ort, Tag und Jahreszeit. Im
Sommer verderben besonders die Lebensmittel in der Biotonne und Milchprodukte
schneller, im Frühling und Herbst bleiben sie länger frisch.
Für raffiniertere Gerichte werden die Leser außerdem vorgewarnt, dass es durchaus
mehrere    Containergänge      braucht,    um      alle   Zutaten   für   das   Rezept
zusammenzubekommen: „Suche dir einen Supermarkt deines Vertrauens, warte bis
der Laden geschlossen hat und dive die benötigten Zutaten. Lass dir dazu ruhig ein
paar Dives Zeit, denn diven macht Spaß.“ Mülltauchen ist also mehr als nur anders
einkaufen, es ist eine Tätigkeit mit Erlebnischarakter. Das „Schmutzige“ oder
Befremdliche daran wird umgedeutet, indem Waste Diving als „Subkultur“
beschrieben wird, die „salonfähig“ geworden ist.




                                                                                    33
6.1.3. Waste Cooking – ein Erlebnis für alle Sinne
Jedes Waste Cooking Event ist anders. Fixe Bestandteile jeder Episode sind jedoch
das Mülltauchen, Kochen und Essen, meist auch begleitet von musikalischer Live-
Untermalung durch die „Waste Queen“, eine Musikerin, die einen passenden
Soundtrack für das Waste Cooking produziert hat, mit dem Titel: “That waste is
good”. Bei den gefundenen Lebensmitteln wird in den Episoden neben der optischen
Präsentation immer auch über die Menge und den monetären Wert informiert.
Die Waste Cooking-Episoden sind durchchoreografierte Erlebnisse, die sich an
unterschiedliche gängige Formate von Kochshows anlehnen, wie der nächste Punkt
genauer zeigt. Was aber kann der Teilnehmer oder Zuschauer genau erleben, was
wird ihm von den Waste Cookern versprochen? „Bei uns seht ihr, wie Müll
fachgerecht getaucht, gereinigt, gekocht und stilecht serviert wird.“ Diese
provozierende Beschreibung weckt ambivalente Assoziationen durch die Verbindung
von   Müll   im   selben   Satz   mit   typischem    Vokabular   der   professionellen
Nahrungszubereitung. Die Waste Cooker selbst sprachen im Interview diesen
gesellschaftlich präsenten Widerspruch zwischen Essen auf der einen Seite und Müll
auf der anderen Seite an und erklärten, dass sie bewusst diese widersprüchlichen
Elemente in Verbindung setzen wollten, indem Bekanntes neu interpretiert wurde.
Jeder ist mit Lebensmittel in Kontakt, jeder kennt Kochshows. Die Perspektive, die im
Waste Cooking gezeigt wird, soll aufrütteln und das intensive Erlebnis, das die Waste
Cooker selbst beim Blick in die Tonne und beim Zubereiten des Gefundenen haben.
Dieses Erlebnis und die damit verbundene Erfahrung wird von den Waste Cookern
als erschreckend und begeisternd zugleich beschrieben. Die Tonne öffnet sich und
man kann gar nicht glauben, was sich darin alles an einwandfreien Lebensmitteln
findet. Durch die Kochshow kann auch der nicht kopräsente Zuschauer indirekt selbst
in die Tonne schauen und die Verwandlung ihres Inhalts in ein verlockendes Menü
mit nachvollziehen. Das Erlebnisskript, das von den Waste Cookern für die Zuseher
der Pilotfolge gegeben wird, lautet deshalb auch: „Lasst Euch diesen “Abfall” auf der
Zunge zergehen (…)“ Der Teilnehmer an einem Event kann den „Müll“ sogar riechen,
anfassen und kosten und so mit seinen eigenen Sinnen deren Frische oder
Verdorbenheit überprüfen. Die Waste Cooker erklärten, dass es allen, die bis jetzt mit
ihnen diese Erfahrung gemacht haben, gleich ergangen sei: die Absurdität der
Überproduktion und Wegwerfgesellschaft wurde beim tatsächlichen Blick in die
Tonne plötzlich konkret und praktisch erlebbar.

                                                                                   34
6.1.4. Das Format: „Kochshow“
„Kochsendungen, insbesondere Shows, dokumentieren keine Arbeitsvorgänge,
sondern suggerieren schnelle, einfache und kreative Aktivitäten.“ (Bender, 2009, 8)
Die Waste Cooking-Episoden entsprechen dem insofern, als die Zeitaufwändigkeit
des Mülltauchens nicht medial vermittelt wird. Tatsächlich erscheint es dem Zuseher
eher so, als müsste man nur eine beliebige Tonne öffnen um den Überfluss an
frischem Essen mit eigenen Augen sehen zu können. Praktisch ist es so, dass sich
oft große Mengen ähnlicher Lebensmittel finden und die Qualität und Quantität stark
variiert. Auch die Schwierigkeit passende Rezepte zu finden, die sich beim Waste
Diven durch die oft große Menge ähnlicher Lebensmittel ergibt, wird nicht direkt
gezeigt.   Im   Gegenteil,     gerade     diese   fehlende    Vorhersehbarkeit   wird   als
erlebnisgenerierend interpretiert: man überlegt nicht, was man kochen möchte und
kauft danach ein, sondern man „taucht“ und kocht mit dem, was man findet. Die
herkömmliche Art des Kochens sowohl privat als auch beruflich wird also umgedreht,
wie Waste Cooking-Koch Tobias im Interview darlegte. So wies er auch darauf hin,
dass sich im Müll oft Lebensmittel finden, die er selbst noch nie eingekauft hatte und
es auch nicht tun würde. Beim Waste Cooking lernt man also auch neue Produkte
kennen und wertschätzen. Für Waste Diver ist Kochen demnach eine kreative
Tätigkeit, die Improvisationsvermögen und Eigenaktivität verlangt und gerade
dadurch auch ihren Erlebnischarakter bekommt. Für die Waste Cooker gilt dies umso
mehr, da sie sich in ihren Regeln noch dazu verpflichtet haben, alle Lebensmittel, die
sie aus der Tonne mitnehmen, auch zu verwenden. Abgesehen von einigen wenigen
Zutaten wie Gewürzen oder Öl werden keine anderen Produkte verwendet.
In den Episoden zögert der Fernsehkoch nicht, wenn ihm die Waste Diver ihre Funde
präsentieren,   sondern      liefert   unverzüglich   einen   kulinarisch   ansprechenden
Vorschlag für die Verarbeitung. Auch das Kochen für teilweise sehr viele Personen –
beim Secret Waste Cooking Club waren es 60 – wird in der Show von den zeitlichen
Vorgaben gelöst. So werden die Gerichte teilweise schon vorbereitet, damit der
zeitliche Rahmen des Events ohne lange Pausen von statten gehen kann. In der
Fernsehversion ist dies nicht ersichtlich, das Kochen erscheint als mühelose, Spaß
machende Gemeinschaftsaufgabe, obgleich die Gäste eigentlich kaum mehr machen
als Gemüse schneiden und Brote schmieren und das tatsächliche Kochen von einem
Kernteam erledigt wird.


                                                                                        35
Die unterschiedlichen Episoden zeigen eine inhaltliche Veränderung, die den Fokus
vom Privaten ins Öffentliche verlagert und die Trennung zwischen Zuschauer und
Mitwirkenden immer mehr aufhebt.
Die Pilotfolge, zeigt die Initiatoren von Waste Cooking mit schon erfahrenen Waste
Divern auf Mülltauch-Tour und anschließend bei einer Kochsession in einer
Privatwohnung und einem gemeinsamen Essen mit Freunden. Dieses Format ähnelt
Kochsendungen wie beispielsweise „Das perfekte Dinner“, die einen einseitigen Blick
in eine eigentliche private Situation suggerieren. Der Zuschauer bleibt der
unbeteiligte Dritte, der nicht direkt angesprochen wird.
In der Episode 1 erfolgt eine Verlagerung in den öffentlichen Raum. Die erste
„öffentliche Aktion“ wird durch öffentliches Kochen am Alten Markt in der Salzburger
Innenstadt umgesetzt. Die Zutaten stammen aus Salzburger Mülltonnen und wurden
in der Nacht zu vor „getaucht“. Die fertigen Gerichte wurden Passanten und
Touristen zum Verkosten angeboten. Diese Rahmung erinnert an Variationen des
„Showkochens“ unter den gängigen Fersehkochshows, wo die Zuschauer oder
Experten die Kreationen der Köche verkosten und bewerten. Die Verschwendung
wird sinnlich erfahrbar gemacht, indem man Außenstehende dazu einlädt, Essen aus
der Tonne zu probieren, das dann auch wirklich geschmacklich gut ist.
Die Episode 2 begleitet die Ereignisse während des „Secret Waste Cooking Clubs“,
einer scheinbar privaten Party, bei der jedoch jeder, der eine Anfrage über das
Webformular schickt, eine Einladung mit der „geheimen“ Adresse bekommt. Aus in
der Nacht zuvor aus den Mülltonnen geholten Lebensmitteln wird beim Secret Waste
Cooking Club in einem Veranstaltungsraum mit offener Küche im Raum gemeinsam
mit den circa 60 Gästen ein Menü zubereitet und gemeinsam gegessen. Untermalt
wird der Abend von der musikalischen Begleitung durch die „Waste Queen“.
In der dritten Episode wird die „alternative Stadttour“, die nachts in Anschluss an den
Secret Waste Cooking Club durchgeführte Mülltauch-Aktion an verschiedenen
Standorten in Salzburg mit vierzig Gästen gezeigt. Der bekannte Raum der Stadt
Salzburg wird hier neu gerahmt und die „Gäste“ werden selbst zu Akteuren, die das
Waste Diving praktizieren.
In der vierten und bis dato letzten Episode geht es um den „Waste Cooking Brunch“,
der zeitlich am Morgen nach der „alternativen Stadttour“ durchgeführt wurde. Aus
den ca. 90 kg gefundenen Lebensmitteln wurde neben einem Mitternachtssnack ein
Brunch für die Teilnehmer zubereitet. Personen zubereitet.

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Die letzte bis dato durchgeführte Aktion, für die zum Zeitpunkt des Abschlusses der
Arbeit jedoch noch keine Episode veröffentlicht wurde, fand am 17. August 2012 im
Rahmen des FM4-Frequency-Festivals in St. Pölten/Niederösterreich statt. Die
Waste Cooker kochten vor Ort und luden dann innerhalb einer circa 1,5 Stunden
dauernden Informationsshow die Festival-Besucher zum Probieren ein. Am
Vorabend wurden die verwendeten Lebensmittel in St. Pölten aus den Tonnen
geholt. Diese Aktion war erstmals vollkommen öffentlich, insofern als sie zuvor mit
Treffpunkt und genauer Uhrzeit auf der Website angekündigt wurde und alle
Interessierten eingeladen wurden, sich zu beteiligen. Es gab also keine, auch rein
formale, Zugangsschranken von Seiten der Initiatoren.
Waste Cooking lehnt sich also bewusst an das beliebte Format der klassischen
Fernseh-Kochshows an, wobei den Teilnehmern mehr Möglichkeiten geboten
werden, eigene (sinnliche) Erfahrungen zu machen. „Mit dem Müll in Kontakt zu
kommen“ wird so zur bewusstseinsverändernden Erfahrung.

6.2. Die Frische und der Müll beim Waste Cooking


6.2.1. Ambivalenz und Kontrastierung
Die ambivalente Beziehung von Frische und Müll, Sauberkeit und Schmutz, Reinheit
und Unreinheit wird von der Waste Cooking Initiative anerkannt und gleichzeitig neu
definiert. Das Spielen mit diesen Gegensatzpaaren zieht sich durch gesamte
Textierung und wird auch in Interviews und Selbstbeschreibungen umfassend
eingesetzt. Die Begriffe von Frische und Dreck werden aus der reinen Bewertung von
Lebensmitteln herausgelöst und auf das System der Lebensmittelverschwendung
angewandt: „Der eigentliche Mist ist das System der Verschwendung, das
buchstäblich zum Himmel stinkt.“ (Hervorhebung durch die Urheber)
Das Mülltauchen wird dabei nicht als völlig saubere Angelegenheit dargestellt. So
bleiben die Waste Cooker einerseits bei der gängigen Interpretation von Müll als
etwas „Schmutzigem“, stellen die Thematik jedoch in einen neuen Zusammenhang:
„Wir machen uns die Hände gerne schmutzig, weil der eigentliche Dreck der Kauf-
und Wegwerf-Wahn ist.“
Auch die gängige Differenzierung zwischen reinen und schmutzigen Orten wird
fraglich gemacht, indem auf den nicht passenden Inhalt verwiesen wird. Die
Lebensmittel in der Mülltonne sind für die Waste Cooker im wahrsten Sinne des

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Wortes „matter out of place“, nicht weil sie schmutzig wären, sondern weil sie sich an
einem Abfallort befinden:
  „In den Containern eines Bio-Supermarktes haben wir rund 30 Kilo frische Bio-
  Lebensmittel gefunden, im Wert von rund 300 Euro. Die Freude über unseren
  Fund, ist schnell einer großen Ernüchterung gewichen. Die Gesichter sind
  immer länger geworden, Fassungslosigkeit hat sich breit gemacht. Wer es
  einmal mit eigenen Augen gesehen hat, wer selbst einmal Köstlichkeiten aus
  den Tonnen geborgen hat, der kann nicht mehr wegschauen.“ (Hervorhebung
  durch die Urheber)
Dass es sich ausgerechnet um einen Bio-Supermarkt handelt, wird als weiterer
Kontrast betont, da Bio-Produkte generell als nachhaltig und qualitativ hochwertig
eingeschätzt werden.
Die Stadt Salzburg wurde bewusst als Drehort gewählt, da dieses laut den
Initiatoren ein perfektes Sinnbild für Überfluss, Reichtum und Dekadenz sei. An
diesem so sauberen Ort in die Tonnen zu schauen und das, was verdrängt wird,
ans Tageslicht zu befördern, stellt eine weitere Kontrastierung dar, die einen
starken Eindruck hinterlässt, wie mir die Waste Cooker im Interview beschrieben
haben.
Frisch und verdorben wird auch über den Zeitbezug dekonstruiert. Immer wieder wird
darauf verwiesen, dass die „frischen“ Produkte, die man kurz vor Ladenschluss im
Supermarkt kaufen könnte, sich kurz nach Ladenschluss in der Tonne wiederfinden
können, wo sie dann plötzlich Abfall zu sein scheinen: „(…) wir gehen einkaufen, das
wird aber surreal mit der zeit, weil die dinge ja 10 minuten später schon im container
liegen können (…)“ (sic!) (Interview auf: www.studentenkueche.com) Waste Cooking-
Koch Tobias bemerkt dazu im Interview, dass die Frische der Lebensmittel aus den
Tonnen in der Praxis gar kein Thema ist. Vieles was sich im eigenen Kühlschrank
findet, ist demnach weniger frisch als die Produkte, die von Supermärkten am Ende
des Tages entsorgt werden. Ein Waste Diver erklärt vor der Kamera und den
versammelten Teilnehmern des „Secret Waste Cooking Clubs“: „Eine Stunde vorher
hätten wir es wahrscheinlich noch ganz normal eingekauft (…) und wir waren halt
eine Stunde zu spät dran und haben es uns aus dem Müll geholt.“
Eine Waste Cooking Episode wird von den Proponenten folgendermaßen
beschrieben: „Die 18 Stunden-Aktion findet ihren krönenden Abschluss. Und zwar im
gemeinsamen Zubereiten des frisch getauchten Abfalls, zu einem feinen Brunch

                                                                                     38
(…)“. „Frisch getaucht“ wird in dieser Beschreibung ähnlich wie „frisch gekauft“
verwendet – ob aus der Tonne oder aus dem Regal ist gleichgültig.
Die Perspektivität von Frische wird betont, wobei gleichzeitig versucht wird, diese
„verschobene Perspektive“ gerade zu rücken, indem den Lebensmitteln der ihnen zu
stehende Wert zurückgegeben wird. „wastecooking ist überall dort, wo der Müll der
Einen zum leckeren Essen der Anderen wird.“ (sic!) (Hervorhebung durch die
Urheber) Müll und Essen ist demnach eine Sache der Definition und der Akteure. Der
Bezug zum Ort, von dem die Produkte stammen, wird jedoch nicht negiert, wie an
der Waste Cooking Regel zum Thema Hygiene deutlich wird: „Wir waschen uns nicht
nur gründlich die Hände, wir säubern auch unsere „Schätze“, bevor wir sie kochen.“
(Hervorhebung durch die Urheber) Dreck, Unsauberkeit und Risiko werden als dem
Ort und nicht dem Produkt anhaftend vermittelt. So bemerkt ein Teilnehmer des
„Secret Waste Cooking Clubs“, nachdem er an einem Stück Brot gerochen hat und
abgebissen hat: „Und es riecht sogar gut!“


Wie werden die Lebensmittel bei den Waste Cooking Episoden nun optisch und
verbal dargestellt und gezeigt? Wird auf deren Frische oder Verdorbenheit verwiesen
und wie?
Spannend ist der 51 Sekunden lange Teaser, der Lust auf die vollen Episoden
machen soll. Er beginnt mit zwei dunklen Gestalten, die nachts die Straße entlang
gehen. Ein Kontrast wird in der nächsten Sequenz gesetzt, in der jemand sich eine
blütenweiße Kochschürze umbindet. Die Mülltauch-Szenen werden beim Licht der
Taschenlampen gefilmt, ein Käfer kriecht über den Boden und man sieht, wie
schwarze Müllsäcke geöffnet und Handschuhe übergezogen werden. Die gezeigten
Lebensmittel,   die   aus   den   Tonnen     geholt   werden   –   volle   knackig-rote
Tomatenpackungen, grüner Feldsalat, der gewaschen wird, schöne große Zwiebel,
die geschält werden – sind jedoch einwandfrei. Einige kurze Kochsequenzen später
endet der Teaser mit der Präsentation einer optisch perfekt präsentierten Mahlzeit.
Diese Szenen werden in nochmal gekürzter Form zu Beginn jeder Folge gezeigt. Das
Charakteristische ist der Kontrast zwischen dunkel – hell, schmutzig – sauber,
abstoßend – anregend, Spannung – Genuß.
In der Pilotfolge gehen die Waste Cooker mit einem schon erfahrenen Waste Diver
auf die erste Tour. Im dunklen Lagerraum der Abfall-Container sieht man nur, was
vom Licht der Taschenlampe erhellt wird. Der Waste Diver fragt seine Begleiter, ob

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sie den Geruch der Biotonnen wahrnehmen, da der Inhalt aufgrund der großen Hitze
während der letzten Tage zu gären begonnen habe. Die geläufige Assoziation, dass
Abfall stinkt, wird nicht negiert, jedoch relativiert, da er hinzufügt, dass das, was am
selben Tag erst in die Tonne gekommen ist, in der Regel frisch ist. Daraufhin holt er
einen schönen Bund goldgelber Bananen mit nur winzigen braunen Stellen hervor
und bemerkt: „(…) die Bananen, ich finde das sind genau die Bananen, die eigentlich
gut sind …. also vorher möchte ich sie gar nicht essen (lacht)“
Die Neudefinition von frisch und nicht frisch wird fortgesetzt, indem das Gute vom
Verdorbenen getrennt wird. So wird die verschimmelte Zitrone aus dem Netz
genommen und die restlichen wandern in den Einkaufskarton. Produkte, die Zeichen
des Verfalls zeigen, werden jedoch aussortiert, auch wenn theoretisch ein Teil davon
noch genießbar sein könnte. Die Kamera zeigt den Zuschauern vor allem den
Kontrast zwischen dem „schmutzigen“ Ort und den „frischen“ Lebensmitteln. So wird
wenig in die Tonne hinein gefilmt und bis auf den einen Käfer, der als Stilmittel zu
Beginn jeder Folge in einer Szene gezeigt wird, sieht man kein Ungeziefer. Auch der
unangenehme Geruch wird bis auf die eine Anmerkung zu Beginn, nicht an den
Zuschauer vermittelt. Für diesen stellt sich das Mülltauchen als keineswegs
„schmutzige“ Tätigkeit dar. Die Bananen werden auch gleich nach dem Waste Diven
noch verkostet – der Reifegrad wird als „ideal“ bezeichnet und als „frisch vom Müll“
kommentiert. In der Episode 1 holt eine Waste Diverin, nach dem sie schon viele
„Schätze“ geborgen haben, ein Stück verschimmeltes Obst hervor und kommentiert
dies mit den Worten: „Das ist ja schon fast eine Sensation in dieser Tonne, etwas
das wirklich schlecht ist gibt es auch noch.“
Bei der Episode 3, die die große alternative Stadttour zu den besten Waste Diving
Plätzen dokumentiert, breiten die Teilnehmer das gefundene Obst und Gemüse
sortiert auf dem Boden aus. Die optische Präsentation erinnert an einen Marktstand.
In der Küche werden die Produkte dann wie „normale“ Lebensmittel behandelt – es
wird jedoch gezeigt, dass sie gründlich gewaschen werden. Die Waste Cooker
werden nicht nur beim gemeinsamen Essen sondern auch beim Verkosten während
dem Kochen gezeigt.
Die Umgebung, in der das Waste Cooking stattfindet, bildet ebenfalls einen Kontrast
zum Ort des „Einkaufs“. Es handelt sich um helle, moderne, gut ausgestattete
Küchen, beim öffentlichen Kochen am Alten Markt in Salzburg sogar open air.
Während der Kochszenen werden immer wieder kurze Sequenzen des nächtlichen

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Waste Divings eingeschoben, wodurch ein Bezug zwischen den beiden Orten und
den dort stattfindenden Handlungen entsteht.
Am Alten Markt wurde das frisch gekochte Essen den Passanten angeboten, wobei
diese zum Teil probierten und erst nachdem sie bestätigt hatten, dass es sehr lecker
schmecke, aufgeklärt wurden, dass alle Zutaten dafür in der Nacht zuvor aus den
Mülltonnen geholt wurde. Für den Zuschauer der Kochshow entsteht hier ein weiterer
Kontrast, da gezeigt wird, wie einigen der Esser buchstäblich fast das Essen im Hals
stecken bleibt bei dieser Nachricht. So wird die Absurdität der gängigen Trennung in
frisch und nicht frisch verdeutlicht.



6.2.2. Standardisierung und Expertise – do it yourself beim Frischetest
“The Freegan movement seeks to directly counter this system of categorization by
interchanging the meaning of waste and food through both practice and the use of
expert recommendations.” (Coyne. 2009)
Wie auch die Freeganer stellen die Waste Cooker die Standardisierung der Frische
durch Datumsangaben in Frage und auf die Probe. In den Waste Cooking-Regeln
heißt es dazu: „Wir kennen den Unterschied zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum
(best before) und Verfallsdatum (sell by). Auch wir nehmen nur das Frische, und
lassen das Alte liegen.“ (Hervorhebung durch die Urheber) Während das
Verfallsdatum also als Frischeindikator akzeptiert wird, wird die Bedeutung des MHD
jener des sinnlichen Urteilsvermögens untergeordnet. Dazu gibt es eine eigene
Kurzvideo-Reihe die den Fernsehkoch Tobias beim Produkttest von Lebensmitteln
mit überschrittenem MHD zeigt.
Als Fernsehkoch nimmt er so die Rolle eines Experten ein, welcher vor neun Tagen
abgelaufene Erdbeerjoghurts testet, um zu sehen, ob sie noch genießbar sind. Dazu
nutzt er seine eigenen Sinne, um die Frische zu überprüfen. So bemerkt er: „Es
riecht normal, sieht normal aus, die Konsistenz ist einwandfrei, wie man sich so ein
Joghurt vorstellt.“ Dann kostet er es und bemerkt, dass es auch geschmacklich
einwandfrei sei. Es folgt eine kulinarisch anregende Beschreibung, die die Früchte
als „schön verteilt im Joghurt“ und die Konsistenz als „schön cremig“ beschreibt. Dies
erinnert an die ästhetisch überhöhten Beschreibungen von Lebensmittel durch
angesehene      Sterneköche     im      Fernsehen.   Seine   abschließende   Bewertung
bezeichnet das Erdbeerjoghurt als „Top-Produkt, ein hervorragendes Bioprodukt aus
Österreich“, auch wenn es abgelaufen ist. Die Frische wurde also durch einen
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Experten konkurrierend zum MHD anders bewertet. Gleichzeitig gibt dieser einen
deutlichen Verweis darauf, dass es keiner besonderen Expertise bedarf, sondern
lediglich des Einsatzes der eigenen Sinne, um die Frische bei Produkten mit MHD
selbstständig bewerten zu können.
Diese Position wiederholt er auch öffentlich, beispielsweise beim Waste Cooking am
FM4 Frequency Festival, wo er den Besuchern rät, die eigenen Sinne einzusetzen,
um die Frische von Lebensmitteln zu bewerten. Jeder könne demnach durch riechen
oder kosten die Unverdorbenheit feststellen und solle sich auf das eigene Urteil
verlassen statt sich von Verpackungen täuschen zu lassen.
In den Waste Cooking Episoden wird bei verpackten Lebensmitteln wiederholt auf
das MHD hingewiesen, teils um zu demonstrieren, dass die Produkte trotz
abgelaufenem MHD noch frisch sind, teils um zu zeigen, dass viele Lebensmittel im
Container landen, die nicht einmal ihr Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben.




                                                                                  42
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  • 1. Universität Salzburg Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie Lehrveranstaltung: SE „Vom Naschmarkt zur Erlebnisgastronomie“ SS 2012 Lehrveranstaltungsleiterin: Univ.-Prof. Dr. Kornelia Hahn Bachelor-Arbeit zum Thema: Die Frische und der Müll Eine explorative Untersuchung der Waste-Cooking Initiative in Salzburg eingereicht von: Elisabeth Buchner Matrikelnummer: 0620820 Salzburg, August 2012 1
  • 2. Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................ 4 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................... 4 1. Einleitung .............................................................................................................................. 5 1.1. Forschungsinteresse ....................................................................................................... 6 1.2. Zentrale Fragestellung und Hypothese ........................................................................... 6 1.3. Methodisches Vorgehen.................................................................................................. 7 1.4. Aufbau der Arbeit............................................................................................................. 7 2. Theoretischer Rahmen – Frische als Ideologie modernen Ernährungsverhaltens ..... 8 2.1. Historische und soziale Konstruktion von Frische .......................................................... 8 2.2. Das Konzept „Frische“ aus der Sicht moderner Konsumenten .................................... 10 3. Verschwendung von Lebensmittel – ein Nebenprodukt der Konsumgesellschaft ... 12 3.1. Die Vernichtung von Lebensmittel: food loss und food waste ...................................... 13 3.1.1. Lebensmittelverschwendung im Einzelhandel ....................................................... 14 3.1.2. Lebensmittelverschwendung durch die Konsumenten .......................................... 15 3.2. Problematisierung der Verschwendung von Lebensmitteln ......................................... 16 4. Der Faktor „Risiko“ im modernen Ernährungsverhalten .............................................. 19 4.1. Standardisierung von Frische: Verbrauchs- und Mindesthaltbarkeitsdatum ............... 21 4.1.1. Rechtliche Rahmenbedingungen ........................................................................... 22 4.1.2. Praktische Implikationen der Standardisierung von Frische .................................. 23 4.2. Die Frische und der Müll – eine ambivalente Beziehung ............................................. 26 5. Waste Diving, Dumpstern oder Containern .................................................................... 27 6. Empirischer Teil: Waste Cooking – Eine innovative Weiterentwicklung .................... 30 6.1. Waste Cooking – die „kritische Kochshow“ als Erlebnis .............................................. 31 6.1.1. Die Rezepte der Waste Cooker .............................................................................. 32 6.1.2. Raum- und Zeitbezug beim Waste Cooking .......................................................... 33 6.1.3. Waste Cooking – ein Erlebnis für alle Sinne .......................................................... 34 6.1.4. Das Format: „Kochshow“ ........................................................................................ 35 6.2. Die Frische und der Müll beim Waste Cooking............................................................. 37 6.2.2. Standardisierung und Expertise – do it yourself beim Frischetest ........................ 41 7. Fazit...................................................................................................................................... 43 Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 46 Übersicht Interviewpartner ................................................................................................... 51 2
  • 3. Teilnehmende Beobachtung ................................................................................................. 51 Plagiatserklärung ................................................................................................................... 52 3
  • 4. Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Verschwendung von Lebensmitteln ..................................................... 14 Abbildung 2: Karikatur Essen und Müll ..................................................................... 27 Abkürzungsverzeichnis EG Europäische Gemeinschaft EU Europäische Union FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations MHD Mindesthaltbarkeitsdatum USA United States of America USDA United States Department of Agriculture WTO World Trade Organization Anmerkung Um eine gute Lesbarkeit der Arbeit zu garantieren, wurde in der Regel die männliche Schreibweise ohne Binnenminuskel verwendet. Diese Ausdrücke beziehen sich jedoch, wenn nicht anders vermerkt, immer auf beide Geschlechter. 4
  • 5. 1. Einleitung Ernährungsgewohnheiten haben wichtige identitätsstiftenden Elemente. In der Konsum- und Wegwerfgesellschaft sind sie außerdem zu einem wichtigen Feld für Abgrenzung von eben dieser und für gesellschaftskritischen Aktivismus geworden. Politisch motivierte Ernährungsbewegungen finden oft Einlass in den Mainstream, indem sie die individuellen Vorteile gegenüber der gesellschaftlichen Dimension in den Vordergrund rücken. So zeigen beispielsweise Studien zum Einkaufsverhalten, dass beim Kauf von Bioprodukten der Faktor, die individuelle Gesundheit zu erhalten meist wichtiger ist als der Nutzen für die Umwelt oder das Klima. (vgl. Pellegrini/Farinello. 2009, 948-49) Es muss also ein individuelles Erlebnis mit einem bestimmten Verhalten verbunden sein, um es attraktiv zu machen. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf dem „Waste Diving“ als einer schon etablierten konsumkritischen Aktions- und Handlungsform, welche durch die Initiative „Waste Cooking“ in Salzburg in ein Erlebnis verwandelt wird, das auch Personen miterleben können, die selbst keine Sachen aus dem Müll holen möchten. Beim Waste Cooking wird scheinbarer Müll in genussbringende Mahlzeiten verwandelt. Waste Diven, kochen und essen werden zum Erlebnis für die Sinne. Beim Waste Cooking wird durch den Erlebnischarakter und das Format der Kochshow das Konzept der „Frische“ als Ideologie modernen Ernährungsverhaltens auf den Kopf gestellt. Verkocht wird alles, was „frisch“ aus der Tonne kommt. Diese Arbeit geht davon aus, dass bei der Initiative „Waste Cooking“ ein neues Erlebnis geschaffen wird. Die schon ältere Bewegung des Waste Diving wird neu interpretiert, um in Anknüpfung an die Diskussion der letzten Jahre die Verschwendung von Lebensmitteln, nicht das konsumorientierte Wirtschaftssystem zu kritisieren. In Frage gestellt wird die Definition von dem, was frisch ist, was gut ist und was nicht, indem der scheinbare Müll ins etablierte Format einer Kochshow eingefügt wird. Damit handelt es sich um eine wesentliche Abkehr von der bisherigen Ausrichtung des Waste Divings. Aus Müll wird Kultur, aus Müll wird ein genussvolles Erlebnis für alle Sinne. 5
  • 6. 1.1. Forschungsinteresse Die Verschwendung von Lebensmitteln wurde im Zuge des größeren Diskurses rund um Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit unseres Lebensstils verstärkt problematisiert. Neue zivilgesellschaftliche Initiativen treten durch unkonventionelle Aktionen in die mediale und politische Öffentlichkeit und sind damit an der Prägung des Diskurses zum Thema Lebensmittelverschwendung maßgeblich beteiligt. Ziel dieser Arbeit ist es, nach der Skizzierung der schon bestehenden Literatur zum Thema Lebensmittelverschwendung explorativ zu ergründen, wie die Waste Cooker ihr Tun interpretieren und welche Rolle der „Frische“, ein zentraler Parameter für hochwertige Lebensmittel in der Moderne, beim Waste Cooking zukommt. 1.2. Zentrale Fragestellung und Hypothese Zentrale Fragestellung: Welche Rolle spielt die Erlebnisorientierung für die Waste Cooking-Initiative? Unterfragen: - Wie wird Frische in Anlehnung oder Abgrenzung zur gängigen modernen Interpretation definiert? - Was bedeutet das Format der Kochshow? Hypothese: Die Hypothese dieser Arbeit ist, dass die Initiative „Waste Cooking“ ein neuartiges Erlebnis schafft, das sich vom klassischen Waste Diving-Erlebnis unterscheidet. Waste Cooking stellt die Trennung von „frisch“ und „nicht frisch“ in Frage, indem nicht der Zusammenhang zwischen Frische und Genuss aufgelöst oder abgelehnt wird, sondern indem Frische neu definiert, als etwas, dass man nicht über Standardisierungen festlegen kann, sondern selbst sinnlich erforschen kann und muss. Es geht auch darum, nicht nur an der Oberfläche zu bleiben, sondern auch in den Apfel hinein zu schauen, nicht nur auf das Mindesthaltbarkeitsdatum zu schauen, sondern am Schlagobers auch zu riechen. So entstehen neue sinnliche Erfahrungen, wobei Frische trotzdem eine zentrale Rolle beibehält. Es ist die herkömmliche Definition von Frische, die auf den Kopf gestellt wird. 6
  • 7. 1.3. Methodisches Vorgehen Diese Bachelorarbeit ist als explorative Untersuchung angelegt. Für den theoretischen Teil werden einschlägige Primärdaten sowie Sekundärliteratur zum Themenfeld Frischeideologie und Wegwerfverhalten herangezogen. Die konsumkritische Bewegung des Waste Divings wird auf Basis schon bestehender Forschungsergebnisse skizziert, um den Kontext der untersuchten Initiative zu klären. Im empirischen Teil der Arbeit wird versucht, die Forschungsfragen durch die Analyse der von der Waste Cooking Initiative produzierten Dokumente sowie durch teilnehmende Beobachtung zu beantworten. Die untersuchten Dokumente umfassen die Website, Auszüge aus den produzierten Kochshows, die umgesetzten Rezepte sowie Interviews mit den Initiatoren. Außerdem wird eine teilnehmende Beobachtung bei einem Waste Cooking Event durchgeführt. 1.4. Aufbau der Arbeit Im ersten Teil der Arbeit wird Frische als Ideologie modernen Ernährungsverhalten anhand schon bestehender Forschungsergebnisse diskutiert. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden im empirischen Teil als Analyseraster herangezogen, um zu klären, wie Frische durch die Waste Cooker definiert wird und welche Rolle sie für sie spielt. Zuvor wird jedoch noch die Lebensmittelverschwendung als Produkt moderner Konsumgesellschaften thematisiert, mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Zusammenhang zwischen dem Faktor „Risiko“ in der modernen Nahrungsmittelproduktion und der Standardisierung von Frische. Anschließend wird die Waste Diving Bewegung anhand von Sekundärliteratur skizziert. Im empirischen Teil der Arbeit erfolgt die Analyse der Waste Cooking Initiative in schon dargelegter Form. 7
  • 8. 2. Theoretischer Rahmen – Frische als Ideologie modernen Ernährungsverhaltens 2.1. Historische und soziale Konstruktion von Frische In der gehobenen Gastronomie, die durch zahlreiche Kochshows massenmedial präsentiert wird, ist Frische ein zentrales Kriterium für Qualität. Die Entzeitlichung als wichtiges Charakteristikum moderner Zubereitungs- und Konsumptionsformen von Nahrung (vgl. Prahl/Setzwein. 1999, 11) durch Techniken der Haltbarmachung und Vorfertigung wird partiell ausgesetzt, indem alles so frisch und unverarbeitet wie möglich gekauft und zubereitet wird. Auch der in der modernen Ernährung eigentlich aufgeweichte Raumbezug von Nahrungszubereitung und Aufnahme wird in der Spitzengastronomie oft wiederbetont, indem genau festgelegt, von welchen Lieferanten oder auf welchen Märkten diese und jene Lebensmittel bezogen werden. Damit findet eine Abgrenzung von der industrialisierten Nahrungsproduktion statt, indem die überwiegende Mehrheit der Lebensmittel technisch weiterverarbeitet und damit die Grundzutaten stark verändert werden, bevor der Konsument sie zu Gesicht bekommt. Da selbst Restaurants vielfach auf Convenience-Produkte zurückgreifen, um die Effizienz zu steigern und Kosten zu sparen, ist „frisch zubereitet“ mittlerweile ein Distinktionskriterium geworden. (vgl. dies., 185) Ernährung in der Moderne bringt neben Verwissenschaftlichung und Standardisierung auch Verunsicherung und „Informationsoverload“ für die Verbraucher mit sich, wie im Kapitel über den „Faktor Risiko“ noch näher erläutert wird. Frische ist eines der wenigen unumstritten anerkannten Kriterien für Qualität von Lebensmitteln und vor allem eines der wenigen, bei denen die Verbraucher zumindest partiell das Gefühl haben, diese objektiv feststellen zu können. Dies kann zum einen über den Einsatz der eigenen Sinne geschehen – so vermittelt pralles, leuchtendes Obst und Gemüse, das auch noch duftet, die Illusion von Frische. Zum anderen kann Frische über die Standardisierung in Form von Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum vermeintlich festgestellt werden. Während claims von „gesund“, „kalorienarm“ oder ähnliches mittlerweile im Verdacht von Werbelügen und Marketingstrategien stehen, ist Frische und damit eine bestimmte Qualität des Produkts ein noch relativ wenig in Frage gestellter Begriff. Das, obwohl Frische vielfach nicht äußerlich überprüfbar ist, wie typische Beispiele der knallroten, prallen, 8
  • 9. aber völlig geschmacklosen Tomate oder der von innen verfaulte Apfel verdeutlichen. Die fortschreitende Ästhetisierung von Nahrungsmitteln, Nahrungszubereitung und Essgewohnheiten hat dazu geführt, dass das Nahrungsmitteldesign so weit fortgeschritten ist, dass eine nicht gesetzlich sondern ästhetisch vorgeschriebene Standardisierung Einzug gehalten hat, die nun als Maßstab für Frische gilt. „Äpfel oder Tomaten weisen kaum noch Zeichen von Vergänglichkeit auf, sondern demonstrieren immerwährende Frische.“ (Prahl/Setzwein. 1999, 12) Außerdem ist Frische ein multidimensionaler Begriff, der unterschiedliche Assoziationen umfassen kann, wie beispielsweise Haltbarkeit, Nahrhaftigkeit, Sicherheit und bestimmte sinnlich erfassbare Eigenschaften. (vgl. Péneau et al. 2009, 244) Sennett weist auf die Bedeutungsveränderung von „Frische“ im historischen Verlauf hin. So war frisch im Sinne von unverarbeitet in vorindustriellen Zeiten ohne Kühlschrank und ausgeklügelte Logistik oft gleichbedeutend mit nicht haltbar. Lebensmittel mussten sofort verkauft und verzehrt oder durch Konservierungsmethoden haltbar und damit sicher gemacht werden. (vgl. Sennett. 16.06.2007) In der Moderne hat Frische sowohl in der Gastronomie wie auch im Lebensmittel(einzel)handel eine weit über sich selbst hinausreichende Bedeutung bekommen, indem frisch mit gesund, sauber, nährstoffreich, qualitativ hochwertig, geschmacklich gut und risikoarm gleichgesetzt wird. Die Komplexität und teilweise Inkommensurabilität dieser Kriterien wird dabei ausgeblendet. So wird in der Spitzengastronomie, medial vermittelt über zahlreiche Kochshows, Frische mit „gerade erst geerntet“, „gerade erst gefangen“, „gerade erst geschlachtet“ gleichgesetzt. Ein Beispiel hierfür sind die berühmten japanischen Sushiköche, die jeden Morgen am Fischmarkt in Tokyo persönlich die frischesten Fische aussuchen und die Ware auf Leib und Nieren prüfen. Tatsächlich kann Frische im Sinne von „frisch vom Feld“ aber auch ein Weniger an Nährstoffen und Geschmack im Vergleich zu einem Tielkühlprodukt bedeuten, wenn ersteres stunden- oder tagelang transportiert und zweiteres sofort nach der Ernte schockgefrorern wurde. (vgl. Sennett. 16.06.2007) Außerdem ist Frische natürlich auch ein soziales Konstrukt, deren Bedeutung sich im Lauf der Geschichte immer wieder gewandelt hat, wie Susanne Freidberg in ihrem Werk „Fresh – A perishable history“ aus dem Jahr 2009 nachzeichnet. Die Autorin 9
  • 10. belegt, dass die aktuelle Definition von Frische und Qualität aus der Interaktion einer Vielzahl von Akteuren, wie Produzenten, Händler, Konsumenten und Politikern hervorgegangen ist und insofern das Ergebnis von Verhandlungen, Konflikten und strategischem Handeln ist. Daraus resultiert, wie die Rezensentin Hatanaka (2011, 139) feststellt: “Exploration of such processes exemplifies the ironic reality that while ‘‘freshness’’ is often linked with notions of being ‘‘natural‘‘, “pristine,’’ and ‘‘novel,’’ it is often quite the opposite.” “Frische” wird also idealisiert und als Stellvertreterin für die erwähnten anderen Qualitäten von Lebensmittel gesetzt. Das Resultat ist oft, dass diese vernachlässigt werden zugunsten der Impression der Frische. Freidberg illustriert dies unter anderem am Beispiel der Eier, welche unter den industriellen Bedingungen der Massentierhaltung zwar rund ums Jahr “frisch” produziert werden können, jedoch nur dank der massiven Zuhilfenahme von Antibiotika, künstlich nährstoffangereichertem Futter, künstlichem Licht und Käfighaltung. (vgl. Hatanaka. 2011, 140) In der Ernährungssoziologie wird hervorgehoben, dass die Entnaturalisierung der Ernährung und Nahrung in der Moderne in den letzten Jahrzehnten Gegenbewegungen hervorgebracht haben, die Künstlichkeit und Simulation ablehnen. (vgl. Prahl/Setzwein. 1999, 18) „Daß (sic!) das, was gesund aussieht nicht zwangsläufig auch gesund sein muß (sic!), ist zwar hinreichend bekannt, doch wird beim Einkauf von Lebensmitteln diese Gleichung noch immer aufgemacht: eine unreif-grünliche Banane wirkt frischer und ergo gesünder als ihr (aromatischeres und bekömmlicheres) reifes, braungeflecktes Pendant, ein Dutzend schrumpeliger Bioäpfel hat gegen das Dutzend gleich(wohl)geformter, glänzender „Granny Smith“ kaum eine Chance – es sei denn, es würde ausdrücklich als „Bio“ deklariert.“ (Prahl/Setzwein. 1999, 204) 2.2. Das Konzept „Frische“ aus der Sicht moderner Konsumenten Zentral für die Kaufentscheidung ist also meist die Impression von Frische, die wortwörtlich an der Oberfläche festgemacht wird. Dies ist es, was auch die Waste Diver bloßlegen. Eine vergleichende Untersuchung in sechs EU-Staaten aus dem Jahr 1997 über die Wahrnehmung von Qualität und Sicherheit beim Fleischeinkauf und –verzehr ergab 10
  • 11. beispielsweise, dass beim Einkauf von Rind-, Schweine- und Hühnerfleisch aus sieben vorgegebenen Qualitätsindikatoren die Farbe die größte Rolle für die Kaufentscheidung spielt. Während die Qualitätswahrnehmung also maßgeblich durch eine ansprechende Optik beeinflusst wird, gaben die Befragten als wichtigstes Kriterium für die Bestimmung der Sicherheit von Fleisch „Frische“ eindeutig als wichtigsten Indikator bei allen drei Fleischsorten an. (vgl. Glitsch. 2000, 185-186; 190) Im Rahmen der Studie wurde jedoch nicht erhoben, wie die Konsumenten Frische konkret definieren. Eine Schweizer Studie, die die individuelle Definition von Frische für Konsumenten durch einen offenen Fragebogen erhoben hat, kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass Frische von über 80 % der Befragten mit Lebensmitteln assoziiert wird und davon hauptsächlich mit Obst und Gemüse. Weiters stellen die Forscher fest, dass Frische mit Qualität und Integrität im Sinne der größtmöglichen Nähe zum Originalprodukt hinsichtlich sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften, Verarbeitung, Zeit und Distanz verbunden wird. (vgl. Péneau et al. 2009, 253) Spannend ist jedoch, dass natürlich nicht jeder Konsument über das nötige Wissen verfügt, um diese Kriterien auch zu überprüfen. Die überwiegende Mehrheit der Verbraucher, die ihre Lebensmittel in Supermärkten kaufen, verlassen sich auf sinnlich wahrnehmbare Charakteristika wie Aussehen, Geruch, Geschmack oder Konsistenz, wobei das Aussehen das wichtigste Kriterium ist. Über nicht sensorische Eigenschaften wie Anbaugebiet, Zeit seit der Ernte, Saisonalität, Transport oder Behandlung der Produkte bekommen Kunden der modernen Nahrungsmittelindustrie meist gar keine Informationen, weshalb sie sich auf sinnlich Wahrnehmbares beziehen. Das Endprodukt wird beurteilt und nicht so sehr seine Entstehung, wenn es um Frische geht. Die Studie zeigt auf, dass jene Konsumenten, die mehr Kontakt und damit auch mehr Wissen über die Produktion von Obst und Gemüse haben, stärker nicht sensorische Kriterien für Frische nennen und umgekehrt. (vgl. dies. 254-55) Sicherlich spielen Werbung und Marketing eine entscheidende Rolle für die Vermittlung des nicht immer unmittelbar sinnlich erfassbaren Faktors „Frische“. So stellte beispielsweise eine Verbraucherstudie in Großbritannien über die Präferenzen beim Kauf von Eiern fest, dass Konsumenten nicht völlig im Klaren darüber sind, dass die alleinige Bezeichnung „frische Eier“ ohne Zusatz wie „Bodenhaltung“ oder „Freilandhaltung“ de facto Legebatteriehaltung bedeutet. (vgl. Ness/Gerhard. 1994, 33) 11
  • 12. Felicitas Schneider vom Institut für Abfallwirtschaft der Universität für Bodenkultur Wien, welche im staatlichen Auftrag intensiv im Bereich Lebensmittelverschwendung forscht, bemerkte hierzu: „Die Verbrauchererwartung betrifft beispielsweise absolute Frische, weswegen Lebensmittel nahe dem Mindesthaltbarkeitsdatum oftmals schon frühzeitig aus dem Verkauf entfernt oder Brot vom Vortag sowie Obst und Gemüse mit leichten Druckstellen aussortiert werden.“ (2011, 8) Diese Verbrauchererwartung ergibt sich auch daraus, dass viel praktisches und traditionelles Wissen über Lebensmittel und Ernährung in modernen Gesellschaften verloren gegangen ist, weshalb die Konsumenten sich auf standardisierte Angaben und oberflächliche sensorische Eindrücke verlassen oder versuchen müssen, sich selbstständig aus einer Fülle teilweise widersprüchlicher Informationen das nötige Wissen anzueignen. 3. Verschwendung von Lebensmittel – ein Nebenprodukt der Konsumgesellschaft Die Ursachen für die Verschwendung von Lebensmitteln sind vielfältig und das aktuelle Wegwerfverhalten wird durch viele Einflussfaktoren bestimmt. Einige Faktoren auf gesellschaftlicher und individueller Ebene stechen jedoch besonders hervor: Auf Ebene des Individuums sind Veränderungen der Lebensstile besonders bedeutsam für das Wegwerfverhalten. Die Modernisierung der Lebensstile durch Veränderung der Arbeitswelt, des Essverhaltens, der Familienstrukturen sowie Urbanisierung und Erhöhung des frei disponiblen Einkommens führen tendenziell zu einem Mehr an Lebensmittelabfällen. So zeigen Studien, dass jüngere, besser ausgebildete Menschen mit Vollzeitbeschäftigung, die in der Stadt wohnen, mehr Nahrungsmittel wegwerfen. (vgl. Wassermann/Schneider. 2005, zit. in: Schneider. 2009, 9-10) Gründe dafür sind neben einer veränderten Wertehaltung auch organisatorische Aspekte. So erschwert die veränderte Arbeits- und Familienwelt eine sorgfältige Planung und Nutzung von Lebensmitteleinkäufen, da seltener und für weniger Personen gekocht und daheim gegessen wird. (vgl. Lebersorger. 2004, zit. in: Schneider. 2009, 10) Auch sind die Kosten für Lebensmittel trotz aktuell steigender Preise heute im Vergleich relativ gering. Während in den 60er Jahren in 12
  • 13. den Industrieländern noch ca. 40 % des Einkommens für die Ernährung aufgewandt wurde, sind es mittlerweile nur mehr um die 10 %. (vgl. Kreutzberger/Thurn. 2011, 11-12) 3.1. Die Vernichtung von Lebensmittel: food loss und food waste Nahrungsmittel gehen während der gesamten Beschaffungskette, angefangen bei Ernte und Produktion über Transport und Lagerung, Weiterverarbeitung bis zu Distribution und Konsumption verloren. Laut einer Studie der FAO (2011, 4) betrifft dies circa ein Drittel aller für den menschlichen Konsum produzierten Lebensmittel weltweit. Parfitt et. al. (2010) unterscheiden zwischen food loss, welcher sich auf Verluste während der Produktion, Transport/Lagerung und Weiterverarbeitung bezieht und food waste, welcher am Ende der Kette durch Einzelhandel und Konsumenten auftritt. Ersteres bezieht sich auf den Prozess der Herstellung eines bestimmten Lebensmittels als Endprodukt, zweiteres auf den Umgang mit demselben in Verkauf und Konsumption. Diese Unterscheidung ist hilfreich, um die primären Gründe für das Phänomen der Lebensmittelvernichtung bei den einzelnen Gliedern der Produktionskette zu benennen. In wirtschaftlich armen Ländern gehen Lebensmittel im Verhältnis zumeist während der ersten Phasen verloren, während nur wenige Lebensmittel im Weiterverkauf und Endverbrauch verschwendet werden. In Ländern mit hohen und mittleren Durchschnittseinkommen stellt dagegen die Verschwendung von noch genießbaren Lebensmitteln durch Wiederverkäufer und Konsumenten einen weit größeren Faktor dar. Ein zentraler Unterschied besteht darin, dass in diesen Ländern Lebensmittel in der Regel im Überfluss und zu einem im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen sehr niedrigen Preis zur Verfügung stehen. Laut Falk (1994, zit. in: Griffin/Sobal/Lyson. 2009, 67) ist aus diesem Grund das Wegwerfen alternativ zur Wieder- beziehungsweise Weiterverwendung auch bei Lebensmittel zur Norm geworden. In absoluten Zahlen werden in den industrialisierten Ländern allein auf der Ebene der Konsumenten fast so viele Lebensmittel verschwendet (222 Mio. Tonnen), wie in ganz Subsahara-Afrika produziert werden (230 Mio. Tonnen). (vgl. FAO. 2011, 2; 4- 5) Die folgende Übersicht zeigt die Lebensmittelverschwendung durch Einzelhandel und Konsumenten für die wichtigsten Produktgruppen in den USA, kalkuliert aus den 13
  • 14. zur Verfügung gestellten Daten des United States Department of Agriculture (USDA). Ohne Miteinbeziehung von Kochverlusten und nicht essbaren Bestandteilen von Lebensmitteln, wie beispielsweise den Schalen bestimmter Früchte, betragen die vermeidbaren Verluste bei einzelnen Produktgruppen zwischen 30 und 40 % der Produktion. Die Grafik illustriert außerdem, dass die prozentuell höchste Verschwendung durch die Konsumenten geschieht, wobei auch der Handel erheblichen Anteil hat. Abbildung 1: Verschwendung von Lebensmitteln Quelle: Venkat. 2011, 438 3.1.1. Lebensmittelverschwendung im Einzelhandel Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum Nahrungsmittel, die für den menschlichen Konsum geeignet sind, als „nicht marktgängig“ aus dem Verkehr genommen werden. Die meisten Ursachen lassen sich in zwei Gruppen einordnen: Verbraucherwartung und Marktstabilisierung. Konkret sind beispielsweise die Nichterfüllung von vom Lebensmittelhandel geforderten Standards hinsichtlich Form, Farbe oder Größe oder auch die Nichterfüllung unternehmensinterner Qualitätskriterien Gründe für die Aussortierung. Fehletikettierungen, kosmetische Fehler des Produkts oder seiner Verpackung oder Nähe zum Mindesthaltbarkeits- oder Verbrauchsdatum sind ebenso 14
  • 15. häufige Ursachen für die Entsorgung. Nicht verkaufte Saisonartikel, Lagerüberschüsse oder Produkte nach einer Sortimentsbereinigung landen ebenfalls häufig im Müll. Schließlich werden Lebensmittel auch entsorgt, um den Marktpreis stabil zu halten, wenn ein im Vergleich zur Nachfrage höheres Angebot besteht. (vgl. Schneider. 2011, 8-9) 3.1.2. Lebensmittelverschwendung durch die Konsumenten Die Gründe für die Verschwendung von Lebensmitteln auf Ebene der Konsumenten sind noch vielfältiger als auf Ebene des Handels, da die Pluralisierung der Lebensstile zu einer Heterogenisierung von Einkauf-, Koch- und Essverhalten geführt hat. Für Großbritannien hat das Waste and Ressources Action Programme die wichtigsten Gründe für das Wegwerfen noch verzehrfähiger Lebensmittel erhoben. Diese sind, gereiht nach Menge und Verkaufswert (vgl. WRAP. 2008, 6): 1. Speisereste, die nach der Mahlzeit auf dem Teller zurückbleiben 2. Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum oder Verbrauchsdatum überschritten sind 3. Lebensmittel, die unansehnlich aussehen, riechen oder schmecken 4. Lebensmittel, die aufgrund zu langer/falscher Lagerung verdorben sind 5. Kochreste Für Deutschland ermittelte eine Studie, dass 59 % der von Privathaushalten weggeworfenen Nahrungsmittel aufgrund falscher Einkaufsplanung und Lagerung in den Müll wandern. Besonders viel weggeworfen werden Produkte, die aufgrund von Sonderangeboten oder Mengenrabatten in zu großer Menge eingekauft werden. Insgesamt werden in Deutschland 21 % der von Privathaushalten gekauften Lebensmittel weggeworfen. Dies entspricht sogar 27 % der Lebensmittelausgaben pro Haushalt. Von diesen vermeidbaren Nahrungsmittelabfällen werden 21 % noch ungeöffnet beziehungsweise völlig unberührt weggeworfen. Obst und Gemüse ist mit fast der Hälfte aller weggeworfenen Lebensmittel am stärksten betroffen. (vgl. Cofresco. 2011, 6-11) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Wohlstandsgesellschaften tendenziell mengenmäßig zu viel und zu wenig geplant eingekauft und gekocht wird, Lebensmittel häufig aufgrund der Messung an standardisierten oder ästhetischen 15
  • 16. Frischekonzepten weggeworfen werden und zu wenig Wissen über und Bereitschaft zur Verwertung von Resten besteht. (vgl. WRAP. 2007) 3.2. Problematisierung der Verschwendung von Lebensmitteln Die Verschwendung von Lebensmitteln wurde während der letzten Jahre vermehrt aus sozialer, ernährungswissenschaftlicher, ökonomischer, klimatischer und umwelttechnischer Perspektive problematisiert. (vgl. z.B. Sobal/Nelson. 2003) Die Produktion von Nahrungsmitteln verbraucht große Mengen an Energie und andere natürliche Ressourcen bei der Erzeugung, Weiterverarbeitung, Transport und Distribution. Lebensmittel zählen im Vergleich mit anderen Produktgruppen zu den ressourcenintensivsten Gütern. Rund ein Drittel aller klimaschädlichen Emissionen entsteht im Zuge der weltweiten Nahrungsmittelerzeugung, -verteilung und -entsorgung. (vgl. Kreutzberger/Thurn. 2011, 14; 147) Werden die Lebensmittel nicht der Ernährung zugeführt, gehen einerseits die schon investierten Ressourcen verloren, andererseits muss wiederum Energie für die Entsorgung aufgewandt werden. So wird ein Viertel des gesamten weltweiten Wasserverbrauchs für die Produktion von Lebensmitteln aufgewandt, die unverzehrt im Müll landen. (vgl. dies.) Neben diesen Negativeffekten für Klima und Umwelt ergeben sich daraus erhebliche Kosten für Produzenten, Händler und Konsumenten. Der ökonomische Wert, der sich allein aus den von Konsumenten im Jahr 2009 verschwendeten Lebensmitteln in den USA ergibt, beläuft sich pro Kopf auf ca. 650 US-Dollar. (vgl. Venkat. 2011, 441) Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass teilweise staatliche oder überstaatliche Steuerungsmechanismen bestehen, die Überproduktion und Lebensmittelvernichtung betriebswirtschaftlich rentabel machen. (vgl. Griffin/Sobal/Lyson. 2009, 68) Auch aus ethischer und ernährungswissenschaftlicher Sicht ist die Verschwendung von Lebensmitteln problematisch, da Unternährung und Hunger weltweit weiterhin weit verbreitet sind. Aktuell sind laut Welthungerindex circa eine Milliarde Menschen weltweit unterernährt und 11 % aller Erkrankungen weltweit sind durch Unterernährung bedingt. (vgl. Black et al. 2008, zit. in: Welthungerindex 2010, 26) Die Verschwendung von Lebensmitteln wurde deshalb während der letzten Jahre verstärkt zu einem Thema der medialen und politischen Öffentlichkeit. Dokumentationsfilme wie beispielsweise „We feed the world“ (2005) von Erwin 16
  • 17. Wagenhofer, „Food, Inc.“ von Nikolaus Geyrhalter (2008) oder „Taste the waste“ (2011) von Valentin Thurn erregten großes mediales Interesse. Mittlerweile haben auch Politik, Verwaltung und Forschung in vielen westlichen Staaten reagiert und versuchen durch Studien, Informationskampagnen und Serviceleistungen das Wegwerfverhalten bei Lebensmitteln zu beeinflussen. So bietet beispielsweise das Land Salzburg auf seiner Website Fakten zum Thema Lebensmittelverschwendung, gibt Tipps zur Abfallvermeidung und produziert Kurzvideos, die das Thema problematisieren und Lösungen für die Verbraucher aufzeigen. (vgl. Website Land Salzburg: http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall- 2.htm) Auch die deutsche Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner startete im Jahr 2012 eine Aufklärungskampagne um die Verschwendung von Lebensmitteln einzudämmen. In Großbritannien laufen schon seit dem Jahr 2007 vom Umweltministerium finanzierte Kampagnen um Mülltrennung zu forcieren und Lebensmittelverschwendung sowie Verpackungsmüll durch zielgruppenspezifische Aufklärung einzudämmen. (vgl. Dohogne. o.J., 111-23) Dies ist vor allem vor dem Hintergrund zu betrachten, dass sich die (ernährungswissenschaftliche) Forschung zu diesem Themenkomplex zuvor vor allem auf die andere Seite der Medaille, nämlich die Verbesserung der Lebensmittelsicherheit konzentriert hat. So finden sich im angesehenen British Food Journal zahlreiche Studien und Beiträge zum Thema „food safety“ jedoch kaum Forschungsergebnisse zum Thema Lebensmittelverschwendung. Das primäre Anliegen von Forschung und Staat war, wie auch aus der Geschichte des Lebensmittelrechts ersichtlich, die Vermeidung von Gesundheitsrisiken und Epidemien durch nicht sichere Lebensmittel, Lager- oder Zubereitungstechniken. Es wurde also mehr Wert darauf gelegt, den Bürgern zu sagen, was sie entsorgen beziehungsweise auf keinen Fall mehr essen sollen, als ihr Wegwerfverhalten im Sinne einer Reduktion zu beeinflussen. Um die Lebensmittelverschwendung auf Ebene des Einzelhandels einzudämmen, wurde beispielsweise vom österreichischen Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft im Rahmen der Initiative „Lebensmittel sind kostbar“ eine Broschüre erstellt, die die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Weitergabe von Lebensmitteln an soziale Einrichtungen erklärt. (vgl. Schneider. 2011) Damit soll Unsicherheiten entgegengewirkt werden, die oft zu vorsorglichem 17
  • 18. Wegwerfen auf Seiten des Einzelhandels führt, um Haftungsprobleme auszuschließen. Auch zivilgesellschaftliche Initiativen nehmen zu, ebenso wie Kochbücher, die Anleitungen zur Resteverwertung liefern. Dies ist insofern interessant, als sie dem Trend zu Themenkochbüchern mit immer spezifischeren Rezepten und Ingredienzen entgegenlaufen und die Verwertung von typischen Lebensmittelresten als kreative und genussvolle Aktivität präsentieren. Beispiele sind „Nur der Idiot wirft´s weg“ (2011) von Haubenkoch Thomas Riederer, „Das Nichts Wegwerfen Kochbuch“ (2007) von Patrik Jaros und Günter Beer oder „Meine spontane Küche“ (2006) von Donna Hay. Allerdings deutet aktuell wenig auf eine Trendumkehr hin. Experten sind sich zwar einig, dass ein Gutteil der verlorenen und insbesondere der verschwendeten Nahrungsmittel durch angemessene Strategien und Verhaltensänderungen vermeidbar wären. In der Praxis erweisen sich jedoch die etablierten Beurteilungsmaßstäbe für Qualität und Frische zu einem in einer globalisierten, konkurrenzorientierten Wirtschaft schwer zu verändernden Parameter für das Handeln von Händlern und Konsumenten. Schneider verweist in ihrer Studie auf Lebersorger (2004, zit. in: Schneider. 2009, 12), wonach gewohnheitsmäßiges Handeln ca. 80 % des Ernährungs- und Umwelthandelns ausmacht. Diese Muster lassen sich durch Information allein nur schwer verändern. In der Praxis würde dies beispielsweise bedeuten, die Milchpackung mit dem nahe liegendsten MHD aus dem Regal zu nehmen, anstatt hinten im Regal das vermeintlich „frischeste“ weil kürzlich eingeräumte Produkt zu ergreifen. Oder es würde bedeuten, die Packung Pfirsiche zu wählen, in der sich ein schon etwas weniger ansehnliches Exemplar befindet, statt die ganze Palette nach den knackigsten abzusuchen. Dem steht jedoch entgegen, dass die Supermarktfilialen in der Regel von der Konzernzentrale aus nicht die Erlaubnis haben, in so einem Fall spontan einen Rabatt auf das Produkt zu gewähren. Die Verantwortung wird oft zwischen den beteiligten Akteuren hin und hergeschoben, insbesondere seit die Lebensmittelverschwendung verstärkt problematisiert wird. So erhöhen sich die Mengen an weggeworfenem Brot und Gebäck nachvollziehbarer Weise dadurch, dass fast alle Supermarktketten inklusive Diskonter mittlerweile damit werben, dass man ganztägig frisch Gebackenes in großer Auswahl bei ihnen beziehen könne. Viele Supermarktketten übernehmen Backwaren nur auf Kommission von Bäckern, 18
  • 19. welche die nicht verkaufte Ware kostenlos wieder zurück nehmen müssen. So wandern 10-15 % der produzierten Produkte in noch genießbarem Zustand in den Müll. Die Supermärkte wiederum verweisen darauf, dass sie den Kundenwünschen entsprechen, die eben auch noch um sieben Uhr abends eine breite Auswahl an frischen Backwaren verlangen. (vgl. Schneider. 2009, 6; 13) Andererseits zeigen die verfügbaren Studien auch, dass vielfach ein Informationsdefizit auf Seiten der Verbraucher besteht. Beispielsweise unterschätzen diese die Menge und die Kosten der Lebensmittel die sie wegwerfen, erheblich. So gingen die Befragten in der Cofresco-Studie in Deutschland im Durchschnitt von 6 % anstatt der tatsächlich 21 % verschwendeter Lebensmittel aus. (vgl. Cofresco. 2011, 8) 4. Der Faktor „Risiko“ im modernen Ernährungsverhalten Die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion und –verarbeitung hat zwei gegensätzliche, zeitlich versetzt einsetzende Entwicklungen befördert. Einerseits hat die Ablöse traditioneller Praktiken durch industrielle Massenproduktion anfangs sowohl zur Überwindung von Nahrungsmittelengpässen wie auch zur Erhöhung der vergleichsweise geringen Hygiene- und Qualitätsstandards beigetragen. Die Angst der Konsumenten vor anonym produzierten Nahrungsmitteln im Gegensatz zur traditionellen Organisation wurde durch das zeitgleich steigende Vertrauen und die zunehmende Bedeutung der Wissenschaft im Leben der Einzelnen ausgeglichen. Indem sich die Nahrungsmittelindustrie auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützte, konnte sie Vertrauen in ihre Methoden generieren, obgleich der Einzelne diese nicht im Detail prüfen konnte. Beispielsweise konnten bakterielle Infektionen durch Milchprodukte durch die industrielle Verarbeitungsmethode der Pasteurisierung fast völlig eliminiert werden. (vgl. Bildtgard. 2008, 122) Andererseits wurden die Massenrisiken, die sich durch Massenproduktion ergeben, besonders während der letzten Jahrzehnte deutlicher. In Verbindung mit der massenmedialen Verbreitung entstand durch prominente Fälle wie BSE-Skandal und andere Seuchen, Analogkäse und Schadstoffbelastungen in Lebensmitteln ein neuer Narrativ der industriellen Massenproduktion von Lebensmitteln, der die Risiken für den Einzelnen in den Fokus rückt. Bestärkt und erweitert wird diese Perspektive 19
  • 20. durch die Thematisierung der überindividuellen Risiken und negativen Konsequenzen, die sich für die Umwelt, die Welternährung oder das Klima durch industrialisierte, globalisierte, rein gewinnmaximierende Massenproduktion ergeben. Studien und Marktdaten zeigen, dass Verbraucher stark negativ auf wahrgenommene Risiken in Nahrungsmitteln reagieren. So kam es beispielsweise in Folge der Vogelgrippe und BSE zu massiven Verkaufsrückgängen bei den betroffenen Produktgruppen. (vgl. Yeung/Yee. 2012, 40) Aus diesem Grund wurde die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion und – verarbeitung von Anfang von der Schaffung neuer Normen begleitet, welche die traditionell geltenden Gemeinschaftsnormen ersetzen sollten. Die wichtigste Instanz bildete der Nationalstaat, welcher durch immer detailliertere Gesetze, Verordnungen, Standards sowie durch die Schaffung zuständiger Kontrollbehörden, die durch Experten besetzt wurden, reagierte. (vgl. Bildtgard. 2008, 122-123) Mittlerweile ist in EU-Mitgliedsstaaten die europäische Union eine weitere wichtige Regulierungsinstanz geworden. Allerdings setzt die fortschreitende Globalisierung der Nahrungsproduktion der staatlichen oder supranationalen Regulierung und Kontrolle mehr und mehr Grenzen: “The globalisation of the agrifood system and the growing variety of food products and technologies have made it increasingly difficult for nation states to regulate food safety and quality practices, giving rise to a shift from public to private governance, essentially in the form of private standards and third-party certification.” (Sodano/Hingley/Lindgreen. 2008, 508) Der Staatsgewalt sind also angesichts der Komplexität globaler Produktionsketten sowie der Verpflichtungen aus internationalen Verträgen, wie beispielsweise der WTO oder der EG mehr und mehr Grenzen gesetzt, was die Regulierung betrifft. So sind beispielsweise die erlaubten Beschränkungen des freien Warenverkehrs im EU- Binnenraum im Bereich Lebensmittel weitgehend auf Maßnahmen zur Verhinderung von Krankheiten und Gesundheitsrisiken beschränkt. (vgl Bildtgard. 2008, 124-25) Als Folge werden nichtstaatliche, entterritorialisierte Interessensgemeinschaften, die durch Lobbying oder private Zertifizierungen eine neue Übersichtlichkeit im Lebensmittelsektor herstellen wollen, wichtiger. Daraus ergibt sich wiederum eine größere Unübersichtlichkeit für die Konsumenten, die ebenfalls gewissermaßen selbstverantwortlich sind für ihre Wahl. Diese Unüberschaubarkeit ist jedoch nicht nur gefühlt, sondern auch praktisch gegeben. So 20
  • 21. wandert ein Lebensmittel im Durchschnitt durch 33 Hände, bis es im Supermarkt zum Verkauf bereitsteht. (vgl. Kantor et al. 1997, zit. in: Schneider. 2009, 1) Die Fülle an nicht staatlichen Zertifizierungen, Siegeln und Standards macht risikobewusstes Einkaufen zu einer herausfordernden Aufgabe: „The production of food in modern society involves an almost infinite number of actors, individuals and companies. The very complexity of this system means that the consumer has very little knowledge of the end product, not primarily because knowledge is lacking but because it is too rich and too complex for the consumer to decode. Consequently the consumer is marginalized when it comes to decisions concerning the production of his/her food.” (Bildtgard. 2008, 114) Wie wichtig das Thema Risikovermeidung für Konsumenten von Lebensmitteln ist, zeigen beispielsweise Studien zu den Kaufgründen für biologische Nahrungsmittel, wonach Gesundheit und Sicherheit die wichtigsten Beweggründe für den Kauf dieser Produkte darstellen, vor anderen Faktoren wie Umwelt- oder Tierschutz. (vgl. Pellegrini/Farinello. 2009, 949) 4.1. Standardisierung von Frische: Verbrauchs- und Mindesthaltbarkeitsdatum Die im 19. und 20. Jahrhundert einsetzende Verwissenschaftlichung der Ernährung durch die verstärkte Untermauerung von Ernährungsempfehlungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. Prahl/Setzwein. 1999, 48) ging einher mit der Schaffung einer systematischen Qualitätskontrolle in den entstehenden Verwaltungs- und Nationalstaaten. Auch die Verrechtlichung, Normierung und Standardisierung im Namen der Volksgesundheit setzte ein und löste so die vorher zentrale Selbstkontrolle von Zünften und Gilden im Mittelalter sowie die Kontrolle auf kommunaler Ebene ab. Die Regulierung wurde im Zuge der Liberalisierung der Wirtschaft auf immer höhere Ebenen verlagert, vom Nationalstaat auf supranationale Instanzen. Standardisierung entstand auch als Notwendigkeit einer sich globalisierenden Wirtschaft, nicht nur aufgrund staatlicher Vorgaben. Wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bier noch in einem Krug aus dem nächstgelegenen Gasthaus geholt, so kann man eine bestimmte Marke mittlerweile in standardisierter Verpackung fast weltweit erstehen. (vgl. dies. 51-54) 21
  • 22. Standardisierungen, die sich durch Verpackung, Marke, Etikettierung, Datumsangaben und Zertifizierungen manifestieren, wirken laut Bildtgard (2008, 117) als „symbolic token“ im Sinne von Anthony Giddens (vgl. 1990, 83ff.) Ähnlich wie bei der Institution Geld, das als Tauschmedium fungiert, da alle Vertrauen in seinen Wert setzen, wirken diese Standardisierungen, die den einzigen Kontakt zwischen Produzenten und Konsumenten darstellen und somit Raum und Zeit transzendieren, vertrauensgenerierend, auch weil man davon ausgeht, dass zwischengeschaltete staatliche und private Akteure die Validität überprüfen. (vgl. Bildtgard. 2008, 117) 4.1.1. Rechtliche Rahmenbedingungen Das Mindesthaltbarkeitsdatum wurde auf europäischer Ebene im Rahmen der Richtlinie 2000/13 einheitlich eingeführt, um eine Orientierung zu bieten. Generelles Ziel der Richtlinie war eine Harmonisierung der Etikettierung von Lebensmitteln um den freien Warenverkehr auf dem EU-Binnenmarkt zu gewährleisten. Bis dahin herrschte eine große Heterogenität im Punkto Lebensmittelkennzeichnung. (vgl. Eur- Lex. o.J.) Es handelt sich also beim MHD um eine Gütegarantie des Herstellers, welche von ihm selbst festgelegt wird und als Orientierungshilfe für die Verbraucher dienen soll. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist für verpackte Lebensmittel vorgeschrieben und garantiert bestimmte Qualitätseigenschaften wie Konsistenz, Farbe, Geschmack oder Geruch des Lebensmittels bei angemessener Aufbewahrung. (vgl. Land Salzburg, http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall- 2/tipps_lebensmittel.htm) Nach Ablauf dieser Frist können sich beispielsweise Geschmack und Konsistenz verändern, jedoch lässt sich daraus keine Schlussfolgerung über die Sicherheit des Lebensmittels ableiten. Das MHD endet daher so gut wie immer vor Beginn des Verderbs eines Produkts. (vgl. Schneider. 2011, 14) Es handelt sich lediglich um eine vom Hersteller festgelegte Information zur Orientierung. Konkret bedeutet dies, dass der Hersteller zwar verpflichtet ist, ein Mindesthaltbarkeitsdatum anzugeben, für den Handel ergibt sich daraus jedoch keine Verpflichtung, das Produkt nach Ablauf des MHD aus dem Verkehr zu ziehen. Theoretisch dürfte ein solches Produkt weiter verkauft werden, wobei jedoch über das MHD hinaus in Österreich deutlich gekennzeichnet werden müsste, dass dieses bereits überschritten ist. (vgl. 22
  • 23. Lebensmittelkennzeichnungsverordnung BGBl 1993/72 idF BGBl 1995/555, § 4; § 10) Außerdem verbietet das Lebensmittelgesetz BGBl 1975/86 idF BGBl I 1998/63 laut § 7 das in Verkehr bringen von gesundheitsschädlichen, verdorbenen, unreifen Waren. Produkte mit überschrittenem MHD dürften also nur weiterhin verkauft werden, wenn die Lebensmittel noch in Ordnung sind. Davon zu unterscheiden ist das Verbrauchsdatum, auf Englisch „use by“, welches für mikrobiologisch leicht verderbliche Produkte wie Fisch, Fertigsalate oder faschiertes Fleisch vorgeschrieben ist. Dieses Verbrauchsdatum bedeutet, dass Lebensmittel nach dessen Überschreitung nicht mehr verkauft werden dürfen und auch nicht mehr verzehrt werden sollen, da ein gesundheitliches Risiko bestehen könnte. (vgl. Land Salzburg, http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall- 2/tipps_lebensmittel.htm) Auf rohen Eiern findet sich aufgrund der Salmonellengefahr manchmal neben dem MHD noch ein Verkaufsdatum, das die maximal zulässige Frist zwischen dem Legen der Eier und dem Verkauf angibt. Nach Ablauf dieses Datums dürfen die Eier nur nicht mehr roh an Konsumenten abgegeben werden, jedoch von diesen weiter verwendet werden. (vgl. Schneider. 2011, 14-15) Lebensmittel, die durch Lebensmittelunternehmen an Konsumenten abgegeben werden, müssen also sicher sein, unabhängig davon, ob ein MHD, Verbrauchdatum oder auch keines von beiden auf den Produkten zu finden ist. 4.1.2. Praktische Implikationen der Standardisierung von Frische Die beiden beschriebenen Formen der Standardisierung von Lebensmitteln nehmen somit auf zwei unterschiedliche Bedeutungen von „Frische“ Bezug. Das Mindesthaltbarkeitsdatum verweist auf Frische als ästhetisches Kriterium, während das Verbrauchsdatum sich auf Frische in der Bedeutung von „gesundheitlich unbedenklich“ oder „sicher“ bezieht. Allerdings ist diese Unterscheidung nicht allen Konsumenten geläufig. Die Standardisierung schafft also eine gewisse Unsicherheit auf Seiten der Verbraucher, die dazu führt, dass im Zweifelsfall eher entsorgt wird. In der englischen Tageszeitung „The Guardian“ zitiert ein Journalist Studien, wonach 50 bis 80 % der Konsumenten sich nicht über diese unterschiedlichen Bedeutungen im Klaren sind. (vgl. Daoust. 9.12.2010) 23
  • 24. So werden in Salzburg jährlich im Durchschnitt 18 kg noch verzehrfähige Lebensmittel pro Person weggeworfen. Ca. 20 % davon wandern aufgrund eines überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdatums in den Müll. (vgl. Land Salzburg, http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall-2.htm) Bei überschrittenem MHD ist der Konsument angehalten, durch Überprüfung von Aussehen, Geruch und Farbe festzustellen, ob das Lebensmittel noch genießbar ist. (vgl. Schneider. 2011, 14) In der Praxis ist es nämlich so, dass die Haltbarkeit bei den allermeisten Lebensmitteln nicht primär durch das Alter, sondern durch die Art der Lagerung bestimmt wird. (vgl. Severson. 10.01.2001) So kann sich die Haltbarkeit von Milch je nachdem, ob sie durchgehend kühl gelagert wird oder stundenlang am Küchentisch steht, sehr unterschiedlich entwickeln. Entfremdung von und fehlendes Wissen über Lebensmitteln führen dazu, dass dem standardisierten, jedoch wenig aussagekräftigen MHD eine zu große Bedeutung zugeschrieben wird. Am meisten weggeworfen werden jedoch Sachen, für die gar kein Mindesthaltbarkeitsdatum vorgeschrieben ist. Dazu zählen unter anderem Frischobst und –gemüse sowie nicht abgepackte Backwaren. (vgl. Lebensmittelkennzeichnungsverordnung BGBl 1993/72 idF BGBl 1995/555, § 7) Hier ist also nicht die Standardisierung von Frische durch ein festgelegtes Datum ausschlaggebend, sondern der optische Eindruck der Frische. So ergab eine Untersuchung der entsorgten Waren von zwei Testfilialen über zehn Wochen durch Universität für Bodenkultur in Österreich aus dem Jahr 2004, dass Gemüse und Obst über 70% der weggeworfenen, aber noch genießbaren Lebensmitteln ausmachten. (vgl. Schneider/Wassermann. 2004, zit. in: Schneider. 2009, 5) Allerdings gibt es auch hier einen Trend zur Standardisierung. Obwohl gesetzlich nicht gefordert, finden sich immer öfter auf portioniertem Obst oder Gemüse (beispielsweise einer 6-er Schale Äpfel) ein MHD, um die Frische der Lebensmittel noch zusätzlich zu betonen. Das Resultat ist, dass auch Obst und Gemüse lediglich aufgrund eines überschrittenen MHD im Abfall landen. So berichtet ein Mitarbeiter des britischen, staatlich gestützten Waste & Ressources Action Programme: "I've seen unopened 15kg bags of potatoes thrown away just because they've gone past the best-before date," (Andrew Parry, zit. in: Daoust. 2010) Studien aus Österreich haben einen signifikanten negativen Zusammenhang zwischen dem Alter und der Menge der weggeworfenen Lebensmittel bei 24
  • 25. Konsumenten ergeben. Ältere Menschen schmeißen tendenziell weniger Lebensmittel weg. Dieser Zusammenhang war bei original verpackten Lebensmitteln besonders deutlich. (vgl. Wassermann/Schneider. 2005, zit. in: Schneider. 2009, 9- 10) Jüngere Menschen orientieren sich also tendenziell stärker an standardisierten Angaben für Frische und tendieren eher dazu, noch verzehrfähige Lebensmittel zu entsorgen. Dem entsprechen auch Studienergebnisse aus Großbritannien zur Haltung von Verbrauchern gegenüber Lebensmittelstandards, wonach die Altersgruppe der 16 bis 34-Jährigen am Häufigsten angab, Nahrungsmittel nach Ablauf des Mindesthaltbarkeits- oder Verbrauchsdatums nicht mehr zu verzehren. Je älter die Befragten, desto weniger strikt wurden die standardisierten Qualitäts- und Haltbarkeitsdaten zum Maßstab genommen. Was jene Lebensmittel betrifft, die kein Verbrauchsdatum, sondern nur ein Mindesthaltbarkeitsdatum aufweisen, wie Brot und Frühstücksflocken, so gab immerhin ein Viertel aller Befragten an, dass sie solche Produkte niemals nach Ablauf des MHD verwenden würden. Bei Eiern, die ebenfalls nur durch ein MHD gekennzeichnet sind, ist dieser Anteil sogar höher als 40 %. (vgl. Food Standards Agency. 2009, 32-35) Interessant ist auch eine andere Frage aus derselben Studie, in der den Befragten verschiedene typische Datumsangaben vorgelegt wurden und sie wählen mussten, welche davon der beste Indikator für die Sicherheit des Lebensmittels sei. Die Hälfte identifizierte das Verbrauchsdatum (use by date) korrekt als den besten Indikator, ca. ein Drittel der Befragten wählte jedoch das MHD, obwohl dieses, wie schon erläutert, sich rein auf die Qualität und nicht auf die Sicherheit bezieht. Auch hier ist ein Zusammenhang mit dem Alter der Befragten gegeben. Je älter die interviewten Personen waren, desto häufiger gaben sie an, nicht zu wissen, welcher Indikator der beste für die Sicherheit eines Lebensmittels ist. (vgl. dies., 31) Jüngere Menschen orientieren sich also tendenziell stärker an Standardisierungen, wobei jedoch mehrheitlich keine Klarheit bezüglich der unterschiedlichen Bedeutungen besteht. Bringt man diese Erkenntnisse nun mit den schon dargelegten Zahlen und Fakten über die Verschwendung von Lebensmitteln auf Konsumentenebene in Zusammenhang, hat man schon einen zentralen Erklärungsfaktor ausgelotet. 25
  • 26. 4.2. Die Frische und der Müll – eine ambivalente Beziehung Wenn Frische nicht nur mit gutem Geschmack, sondern auch mit Qualitität, Gesundheitsförderung und –erhaltung sowie Risikoarmut assoziiert wird, ist es recht einleuchtend, warum ihr diese große Bedeutung für die Konsumenten zukommt. Gleichzeitig hat im Zeitalter der „reflexiven Modernisierung“ (vgl. Giddens. 1990) auch eine verstärkte Infragestellung des gängigen Wissens und der westlichen Lebensweise stattgefunden. Die sozialen und ökologischen Kosten der industrialisierten, globalisierten Nahrungsmittelproduktion werden deutlicher. Bildtgard (2008, 24) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Krise der modernen Wissenschaft und Politik. Der Glaube in die Fähigkeit der Wissenschaft, universell gültige Erkenntnisse über die beste Nahrungsmittelproduktion und Ernährungsweise zu gewinnen, schwindet auch angesichts der sich verbreitenden Ansicht, dass Ernährung nicht nur der Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses dient, sondern auch Teil von Lebens- und Konsumstilen sowie Identität ist. Die Maßstäbe sind ebenso vielfältig geworden, wie die dazu passenden Angebote. Es gibt nicht mehr gesunde Ernährung, sondern für eine bestimmte Gruppe geeignete Nahrungsmittel, es gibt nicht mehr qualitative Lebensmittel, sondern verschiedene Qualitäten für unterschiedliche Bedürfnisse oder Ansprüche. (vgl. ders.) Gleichzeitig ist eine abnehmende Regulierungs- und Kontrollfähigkeiten der globalen Nahrungsmittelindustrie durch öffentliche Instanzen feststellbar. Als Folge sind Nahrung und Müll für die Konsumenten zu Kategorien mit fließenden Übergängen, ohne klar erkennbare Grenzen geworden. Reflexivität ist auch insofern gegeben, dass den Verbrauchern zumindest teilweise bewusst ist, dass weder Standardisierungen noch die eigene Urteilskraft vollständige Sicherheit garantieren können. Lieber zu viel als zu wenig wegzuwerfen, erscheint vor diesem Hintergrund als nachvollziehbare Handlungsweise. Die folgende Karikatur unterstreicht dies: 26
  • 27. Abbildung 2: Karikatur Essen und Müll Quelle: © Thomas Wizany, auf: http://www.salzburg.gv.at/themen/nuw/umwelt/abfall/lebensmittel_abfall-2.htm (10.07.2012) 5. Waste Diving, Dumpstern oder Containern Waste Diving, Dumpstern oder zu Deutsch Containern hat sich seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einer verbreiteten Praxis vor allem in westlichen Wohlstandsgesellschaften entwickelt. Die Wurzeln lassen sich zum Teil auf die Arbeit der amerikanischen Nonprofit Bewegung „Food not Bombs“ zurückführen, die seit 1980 von Boston ausgehend begonnen hat Lebensmittel von Produzenten und Händlern, die nicht mehr markttauglich waren, zu übernehmen und daraus vegetarisches Essen zuzubereiten, das dann kostenlos an Bedürftige, Obdachlose oder Passanten ausgegeben wird. „Food not Bombs“ ist mittlerweile in vielen Staaten durch Einzelgruppen aktiv. (vgl. Temkar. 2011) Der breitere Trend zur Suche nach alternativen, nicht konsumorientierten Lebensweisen lässt sich jedoch weiter zurückführen auf die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts und auf anarchistische Strömungen der frühen 70er Jahre. (vgl. Coyne. 2009) Mittlerweile wird Waste Diving als zentraler Bestandteil eines „freeganen“ Lebensstils begriffen. Freeganer gibt es mittlerweile vor allem in urbanen und semi-urbanen Zentren westlicher Wohlstandsgesellschaften. Sie verbinden Aktivismus und 27
  • 28. Lebensstil, indem sie versuchen, so wenig natürliche Ressourcen wie möglich zu verbrauchen und so wenig wie möglich am kapitalistischen Wirtschaftssystem teilzunehmen. Die Kritik der Freeganer reicht also deutlich über die im System inhärente Verschwendung hinaus, wie anhand der Selbstbeschreibung der US- amerikanischen Freeganer-Vereinigung deutlich wird: „After years of trying to boycott products from unethical corporations responsible for human rights violations, environmental destruction, and animal abuse, many of us found that no matter what we bought we ended up supporting something deplorable. We came to realize that the problem isn’t just a few bad corporations but the entire system itself. Freeganism is a total boycott of an economic system where the profit motive has eclipsed ethical considerations (…).” (freegan.info) Waste Diving, um an aussortierte, aber noch brauchbare Produkte der Wegwerfgesellschaft, insbesondere Lebensmittel zu gelangen, stellt eine der wichtigsten und weitverbreitetsten Praktiken der Freeganer dar. Zu den zentralen Werten der Freeganer zählen Gemeinschaft, Teilen und Kooperation, weswegen die durch Waste Diving erlangten Güter immer mit anderen, egal ob selbst Waste Diver oder nicht, geteilt werden. Zu einem freeganen Lebensstil werden jedoch auch Müllvermeidung und –minimierung, ökologisch vertretbare Fortbewegung, Selbstversorgung durch Urban Gardening oder Community Gardens, Minimierung von Lohnarbeit und mietfreies Wohnen durch Hausbesetzungen oder die Einrichtung von Gemeinschaftszentren in verlassenen Häusern gezählt. (vgl. freegan.info) Entgegen dieser kohärenten Selbstbeschreibung kann man die Freeganer in der Praxis nicht als homogene Bewegung verstehen, da die konkrete Motivation und das Ausmaß der praktizierten Aktivitäten stark variieren. Bei manchen steht die Protestorientierung und der politische Aktivismus im Vordergrund, bei manchen die generelle Ablehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, bei wiederum anderen ist es die fehlende Nachhaltigkeit der Wegwerf-Gesellschaft, die sie zum Waste Diven inspiriert. Schließlich finden sich auch einige, bei denen die Motivation Geld zu sparen, um weniger abhängig von Lohnarbeit zu sein, ein zentraler Faktor ist. (vgl. Skidelsky. 2009) Während manche Freeganer einen fast vollständig von der Mainstream-Kultur separierten Lebensstil betreiben, sind andere in die Arbeitswelt und politische Gemeinschaft aktiv involviert. Der Großteil der Freeganer unterscheidet sich dennoch soziodemographisch und motivationsmäßig deutlich von 28
  • 29. marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die Waste Diving aus materieller Not praktizieren. Hier passt das Sprichwort, dass fasten nicht das gleiche sei, wie hungern. Freeganer sind überwiegend jung, männlich, aus der bildungsnahen Mittelschicht stammend und zeichnen sich durch starke ideologische Überzeugungen aus, die ihren Lebensstil prägen. (vgl. Edwards/Mercer. 2007, 282-87) Das Waste Diving als Herzstück der Freeganer-Bewegung wird explizit unter Bezugnahme auf die dominierenden Vorstellungen von essbar und nicht essbar, sicher und gefährlich, frisch und verdorben interpretiert: “Despite our society’s sterotypes about garbage, the goods recovered by freegans are safe, useable, clean, and in perfect or near-perfect condition, a symptom of a throwaway culture that encourages us to constantly replace our older goods with newer ones” (freegan.info) „Müll“ zu essen, ist schließlich ein Gesellschaften übergreifendes Tabu, welches traditionell von marginalisierten Gruppen aufgrund schierer Not praktiziert wurde. Waste Diving verlagert den Fokus weg von denen, die die weggeworfenen Lebensmittel konsumieren, hin zum System der Verschwendung, die diesen Überfluss an aus rein physiologischer Sicht essbaren Nahrungsmitteln produziert. „It challenges the observer to ask, not why one might dumpster dive, but rather why one would not.” (Shantz. 2005) Die gängigen Normen für Konsumption und Abfall werden, indem dem sogenannten Müll eine neue Bedeutung gegeben wird, mit dem Ziel eine gesellschaftliche Neudefinition zu etablieren. Dem liegt die von Appadurai (1986, zit. in: Partridge. 2011, 37) festgestellte Erkenntnis zugrunde, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Produkten sich als Resultat des sozialen und kulturellen Kontexts im Lauf der Geschichte immer wieder gewandelt hat und dementsprechend manchmal als Müll, manchmal als erstrebenswerte Güter interpretiert wurden. Die soziale Bedeutung von Gütern muss demnach beständig reproduziert werden, um bestehen zu bleiben. Dennoch steht beim Waste Diving in der Praxis nicht die Öffentlichkeitswirksamkeit im Vordergrund. Ein interviewter Freeganer drückte dies so aus: “there is something about freeganism that is silent, doesn’t make a point, doesn’t show anything to anyone, it just is something that’s more sustainable than going to the shops” (zit. in: Partridge. 2011, 30) Unabhängig von der Intention der Waste Diver ist das mediale Interesse mittlerweile enorm, sodass die Interview- und Reportageanfragen die Bereitschaft vieler 29
  • 30. Freeganer zur politischen Positionierung übersteigen. 1 Dokumentationen, Berichte und Reportagen zum Waste Diving sind während der letzten Jahre vermehrt publiziert worden, ohne dass wirklich eine konzertierte Anstrengung auf Seiten der Aktivisten erfolgt wäre. Das Thema schaffte es sogar bis in die US-amerikanische Talkshow von Oprah Winfrey. Es stellt sich die Frage, woher diese offensichtliche Faszination mit speziell dieser Aktivismusform kommt. Coyne (2009) bietet hierfür die Erklärung an, dass es der Bruch mit dem dominanten Klassifikationssystem ist, der das Waste Diving so faszinierend für die mediale Öffentlichkeit macht: “Dirt then, is never a unique, isolated event. Where there is dirt there is system. Dirt is the by-product of a systemic ordering and classification of matter, in so far as ordering involves rejecting inappropriate elements. This idea of dirt takes us straight into the field of symbolism and promises a link-up with more obviously symbolic systems of purity.” (Douglas. 2002, 36) Was Müll ist und was nicht wird also durch ein Klassifikationssystem bestimmt, welches im Grunde willkürlich rein von unrein trennt und so auch unser Einkaufs- und Essverhalten strukturiert. Essen im Müll ist unabhängig von seinen konkreten Charakteristika unrein, weil es sich am falschen Ort befindet. (vgl. Coyne. 2009) Douglas bezeichnet dies als „matter out of place“ (2002, 36), wie beispielsweise das Haar, das erst als ekelerregend empfunden wird, wenn es sich nicht mehr am Kopf, sondern beispielsweise in der Suppe befindet. Waste Diver verstehen ihr Tun nicht als „Müll essen“, da sie ihre Praxis darauf aufbauen, dass sich in den Containern jede Menge reines, gesundes, sicheres und genussvolles Essen befindet. (vgl. Moré. 2011, 49) 6. Empirischer Teil: Waste Cooking – Eine innovative Weiterentwicklung Waste Cooking wurde Einzelpersonen ins Leben gerufen, die auf unkonventionelle Weise auf das Thema Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen wollten. Der Regisseur von Waste Cooking war bei seiner ersten persönlichen Erfahrung vom Waste Diving fasziniert und entwickelte die Idee zu einer Kochshow der anderen Art, als Verbindung von Waste Diven und kochen. Diese Idee setzte er gemeinsam mit 1 Siehe hierzu beispielsweise die Diskussionen in den Foren der deutschen Themenseite http://www.containern.de/ (14.07.2011) 30
  • 31. einem persönlichen Freund, der beruflich als Koch tätig ist und als solcher auch einen Rezepte-Blog betreibt, um. (vgl. Interview auf: studentenkueche.com) Unterstützt wird die Initiative von offizieller Seite insofern, als sowohl die Abteilung für kulturelle Sonderprojekte des Landes Salzburg wie auch die Kulturabteilung der Stadt Salzburg finanzielle Förderung bereitstellen. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich die Teilnehmer beim Waste Diven in einer juristischen Grauzone bewegen. So ist zwar der Müll im Gegensatz zur gesetzlichen Regelung in anderen Staaten nicht mehr im Eigentum der Supermärkte, sondern „herrenloses Gut“, die Container befinden sich jedoch immer auf ihren Privatgrundstücken, weswegen der Zutritt prinzipiell strafbar ist. (vgl. http://www.wastecooking.com/thema/waste-diving/) 6.1. Waste Cooking – die „kritische Kochshow“ als Erlebnis (vgl. im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt die Website der Waste-Cooking Initiative: www.wastecooking.com) Die Waste Cooking-Initiative definiert sich selbst als kritische Kochshow nach dem Motto: „Food is culture …. don´t waste it, cook it!“ In Abgrenzung zu herkömmlichen Kochshows, die die Zuseher bloß als (visuelle) Konsumenten einbinden, kann man beim Waste Cooking die Metamorphose von Müll zu Essen mitvollziehen. Demgemäß werben die Waste Cooker auf dem Flyer zu einer ihrer Aktionen auch mit dem Spruch: „Vorsicht! Das Essen von Müll kann Euer (sic!) Denken verändern!“ Beim Waste Cooking wird im Gegensatz zum Waste Diving kommuniziert, was essbar ist und was nicht, sondern auch, was frisch, sauber und genussvoll ist. Während die Waste Diver durch den Akt der Aneignung weggeworfener Lebensmittel deren Essbarkeit demonstrieren, geht die Waste Cooking-Initiative einen Schritt weiter, indem es den Erlebnis- und Genusswert des Waste Diving und Waste Cooking nachvollziehbar zu kommunizieren versucht. Nicht nur wer aktiv dabei ist, kann es miterleben. Man kann auch über das Ansehen der Kochshows online und über Community-Fernsehsender oder das Nachkochen der Rezepte mit dabei sein. Der Erlebnischarakter des Waste Diving und Waste Cooking wird in den Repräsentationen in Form von Website und Kochshow in den Mittelpunkt gestellt. Hier muss berücksichtigt werden, dass das Waste Diven an sich eine relativ zeitaufwändige Art der Lebensmittelbeschaffung ist. Auch das Waste Cooking ist an 31
  • 32. sich umständlicher als normales Kochen, da spontan aus den gefundenen Nahrungsmittel Rezepte kreiert und die Lebensmittel auch manchmal extra gereinigt und meist gleich verkocht werden müssen. Der Anspruch, alles was man aus der Tonne mitnimmt, auch zu verwenden, führt dazu, dass oft große Mengen bestimmter Lebensmittel vor dem endgültigen Verderb verzehrt oder konserviert werden müssen. Beim Waste Cooking, wo das gemeinsame Kochen und Essen in Form von Events stattfindet, ist das wichtigste Kriterium, optisch und geschmacklich ansprechende Gerichte aus dem Gefundenen zu kreieren: „Wir bringen Waste Diver (Mülltaucher) und Köche zusammen, und verwandeln „Abfall“ in kreative Gerichte.“ Die Protestorientierung wird nicht ausgeklammert, aber in ein Erlebnis für die Teilnehmer integriert: „Protest kann lecker sein!“. Die Teilnehmer sollen nicht primär protestieren, sondern aus dem Erleben selbst neue Erfahrungen sammeln und ihre Schlüsse ziehen. „Der erste Blick in die Tonne“ ist demnach ein Erlebnis, das für sich selbst spricht. Das andere Erleben der Teilnehmer wird an sich schon als subversiv dargestellt, ohne dass jedoch versucht wird, eine abgegrenzte Gruppenidentität zu schaffen oder moralischen Zeigefinger. So gibt es beispielsweise ein Waste Cooking- Manifest, das die Zielsetzungen und die Regeln fürs Waste Cooking festlegt. Diese Regeln sind jedoch überwiegend prozedural, beziehen sich also auf den Akt des Mülltauchens und Kochens. Die kommunizierten Werte sind diskursiv und offen angelegte – die Waste Cooker laden ein zum kochen, essen, diskutieren über Lebensmittelverschwendung und prangern Konkurrenzdenken und Egoismus an. 6.1.1. Die Rezepte der Waste Cooker Die Rezepte sind als Menüs angelegt und umfassen Vorspeisen, Hauptspeisen und Desserts. Sie sind vegetarisch, aber ansonsten durchaus „mainstream-tauglich“. Trotz relativ simpler Zutaten und Zubereitungsformen wirken sie durch Namensgebung und optische Darstellung außeralltäglich. „Karotten-Dip mit karamelisierten Zwiebeln und Kreuzkümmel“, „Fenchel in Sahne-Weißwein Reduktion“, „gebratene Polenta mit Ratatouille“ oder der „Linsen-Apfel Salat mit Feta Käse“ erinnern vom Wording her an raffinierte, aber doch nachkochbare Kreationen aus den bekannten Fernseh-Kochshows. Dem Anrichten und der kulinarischen Fotografie wird viel Mühe gewidmet. Einzig die Zubereitungsanleitungen weichen von herkömmlichen Rezeptsammlungen ab. Zum einen durch die Portionsgrößen die von vier bis fünzig Personen reichen 32
  • 33. können. Damit wird darauf verwiesen, dass Waste Diven und Waste Cooking an Gemeinschaft gebunden ist: Lebensmittel und Essen werden gemäß den Werten der Freeganer wenn möglich immer geteilt. Die Zubereitungsanleitungen sind außerdem speziell auf Waste Cooker ausgerichtet und auf die typischen Lebensmittel, die man häufig in großen Mengen findet. 6.1.2. Raum- und Zeitbezug beim Waste Cooking Das Waste Diven ist, wie schon erwähnt, eine zeitintensive Beschäftigung. Es müssen passende Plätze gefunden werden, wo ein Zugang zu den Containern möglich ist, ohne sich gewaltsam Zutritt verschaffen zu müssen, denn eine der Waste Cooking-Regeln lautet: „Wir knacken keine Schlösser“. Dann muss eruiert werden, wann die besten Nächte zum Waste Diven sind, da die Supermärkte beispielsweise bevorzugt an den Vortagen der Müllentleerung aussortieren. Langjährige Waste Diver haben zumeist ihre Stammplätze, die sie gut kennen. Beim Waste Cooking werden bei den Events Neulinge in die Geheimnisse der besten Diving-Plätze eingeführt. Andererseits gibt es auch Situationen, wie in St. Pölten beim Frequency Festival, wo die Waste Cooker ohne lokale Unterstützung auf die Suche gehen. Das Mülltauchen hat so den Charakter einer Schatzsuche, bei der man außerdem auch die eigene Stadt von einer neuen Seite kennenlernt. „(…) jeder hat seine lieblings- spots- und das sind dann oft geheim-tipps- fast wie lieblings-restaurants … (sic!)“ (Interview auf: www.studentenkueche.com) Das „Sortiment“ in den Tonnen variiert außerdem je nach Ort, Tag und Jahreszeit. Im Sommer verderben besonders die Lebensmittel in der Biotonne und Milchprodukte schneller, im Frühling und Herbst bleiben sie länger frisch. Für raffiniertere Gerichte werden die Leser außerdem vorgewarnt, dass es durchaus mehrere Containergänge braucht, um alle Zutaten für das Rezept zusammenzubekommen: „Suche dir einen Supermarkt deines Vertrauens, warte bis der Laden geschlossen hat und dive die benötigten Zutaten. Lass dir dazu ruhig ein paar Dives Zeit, denn diven macht Spaß.“ Mülltauchen ist also mehr als nur anders einkaufen, es ist eine Tätigkeit mit Erlebnischarakter. Das „Schmutzige“ oder Befremdliche daran wird umgedeutet, indem Waste Diving als „Subkultur“ beschrieben wird, die „salonfähig“ geworden ist. 33
  • 34. 6.1.3. Waste Cooking – ein Erlebnis für alle Sinne Jedes Waste Cooking Event ist anders. Fixe Bestandteile jeder Episode sind jedoch das Mülltauchen, Kochen und Essen, meist auch begleitet von musikalischer Live- Untermalung durch die „Waste Queen“, eine Musikerin, die einen passenden Soundtrack für das Waste Cooking produziert hat, mit dem Titel: “That waste is good”. Bei den gefundenen Lebensmitteln wird in den Episoden neben der optischen Präsentation immer auch über die Menge und den monetären Wert informiert. Die Waste Cooking-Episoden sind durchchoreografierte Erlebnisse, die sich an unterschiedliche gängige Formate von Kochshows anlehnen, wie der nächste Punkt genauer zeigt. Was aber kann der Teilnehmer oder Zuschauer genau erleben, was wird ihm von den Waste Cookern versprochen? „Bei uns seht ihr, wie Müll fachgerecht getaucht, gereinigt, gekocht und stilecht serviert wird.“ Diese provozierende Beschreibung weckt ambivalente Assoziationen durch die Verbindung von Müll im selben Satz mit typischem Vokabular der professionellen Nahrungszubereitung. Die Waste Cooker selbst sprachen im Interview diesen gesellschaftlich präsenten Widerspruch zwischen Essen auf der einen Seite und Müll auf der anderen Seite an und erklärten, dass sie bewusst diese widersprüchlichen Elemente in Verbindung setzen wollten, indem Bekanntes neu interpretiert wurde. Jeder ist mit Lebensmittel in Kontakt, jeder kennt Kochshows. Die Perspektive, die im Waste Cooking gezeigt wird, soll aufrütteln und das intensive Erlebnis, das die Waste Cooker selbst beim Blick in die Tonne und beim Zubereiten des Gefundenen haben. Dieses Erlebnis und die damit verbundene Erfahrung wird von den Waste Cookern als erschreckend und begeisternd zugleich beschrieben. Die Tonne öffnet sich und man kann gar nicht glauben, was sich darin alles an einwandfreien Lebensmitteln findet. Durch die Kochshow kann auch der nicht kopräsente Zuschauer indirekt selbst in die Tonne schauen und die Verwandlung ihres Inhalts in ein verlockendes Menü mit nachvollziehen. Das Erlebnisskript, das von den Waste Cookern für die Zuseher der Pilotfolge gegeben wird, lautet deshalb auch: „Lasst Euch diesen “Abfall” auf der Zunge zergehen (…)“ Der Teilnehmer an einem Event kann den „Müll“ sogar riechen, anfassen und kosten und so mit seinen eigenen Sinnen deren Frische oder Verdorbenheit überprüfen. Die Waste Cooker erklärten, dass es allen, die bis jetzt mit ihnen diese Erfahrung gemacht haben, gleich ergangen sei: die Absurdität der Überproduktion und Wegwerfgesellschaft wurde beim tatsächlichen Blick in die Tonne plötzlich konkret und praktisch erlebbar. 34
  • 35. 6.1.4. Das Format: „Kochshow“ „Kochsendungen, insbesondere Shows, dokumentieren keine Arbeitsvorgänge, sondern suggerieren schnelle, einfache und kreative Aktivitäten.“ (Bender, 2009, 8) Die Waste Cooking-Episoden entsprechen dem insofern, als die Zeitaufwändigkeit des Mülltauchens nicht medial vermittelt wird. Tatsächlich erscheint es dem Zuseher eher so, als müsste man nur eine beliebige Tonne öffnen um den Überfluss an frischem Essen mit eigenen Augen sehen zu können. Praktisch ist es so, dass sich oft große Mengen ähnlicher Lebensmittel finden und die Qualität und Quantität stark variiert. Auch die Schwierigkeit passende Rezepte zu finden, die sich beim Waste Diven durch die oft große Menge ähnlicher Lebensmittel ergibt, wird nicht direkt gezeigt. Im Gegenteil, gerade diese fehlende Vorhersehbarkeit wird als erlebnisgenerierend interpretiert: man überlegt nicht, was man kochen möchte und kauft danach ein, sondern man „taucht“ und kocht mit dem, was man findet. Die herkömmliche Art des Kochens sowohl privat als auch beruflich wird also umgedreht, wie Waste Cooking-Koch Tobias im Interview darlegte. So wies er auch darauf hin, dass sich im Müll oft Lebensmittel finden, die er selbst noch nie eingekauft hatte und es auch nicht tun würde. Beim Waste Cooking lernt man also auch neue Produkte kennen und wertschätzen. Für Waste Diver ist Kochen demnach eine kreative Tätigkeit, die Improvisationsvermögen und Eigenaktivität verlangt und gerade dadurch auch ihren Erlebnischarakter bekommt. Für die Waste Cooker gilt dies umso mehr, da sie sich in ihren Regeln noch dazu verpflichtet haben, alle Lebensmittel, die sie aus der Tonne mitnehmen, auch zu verwenden. Abgesehen von einigen wenigen Zutaten wie Gewürzen oder Öl werden keine anderen Produkte verwendet. In den Episoden zögert der Fernsehkoch nicht, wenn ihm die Waste Diver ihre Funde präsentieren, sondern liefert unverzüglich einen kulinarisch ansprechenden Vorschlag für die Verarbeitung. Auch das Kochen für teilweise sehr viele Personen – beim Secret Waste Cooking Club waren es 60 – wird in der Show von den zeitlichen Vorgaben gelöst. So werden die Gerichte teilweise schon vorbereitet, damit der zeitliche Rahmen des Events ohne lange Pausen von statten gehen kann. In der Fernsehversion ist dies nicht ersichtlich, das Kochen erscheint als mühelose, Spaß machende Gemeinschaftsaufgabe, obgleich die Gäste eigentlich kaum mehr machen als Gemüse schneiden und Brote schmieren und das tatsächliche Kochen von einem Kernteam erledigt wird. 35
  • 36. Die unterschiedlichen Episoden zeigen eine inhaltliche Veränderung, die den Fokus vom Privaten ins Öffentliche verlagert und die Trennung zwischen Zuschauer und Mitwirkenden immer mehr aufhebt. Die Pilotfolge, zeigt die Initiatoren von Waste Cooking mit schon erfahrenen Waste Divern auf Mülltauch-Tour und anschließend bei einer Kochsession in einer Privatwohnung und einem gemeinsamen Essen mit Freunden. Dieses Format ähnelt Kochsendungen wie beispielsweise „Das perfekte Dinner“, die einen einseitigen Blick in eine eigentliche private Situation suggerieren. Der Zuschauer bleibt der unbeteiligte Dritte, der nicht direkt angesprochen wird. In der Episode 1 erfolgt eine Verlagerung in den öffentlichen Raum. Die erste „öffentliche Aktion“ wird durch öffentliches Kochen am Alten Markt in der Salzburger Innenstadt umgesetzt. Die Zutaten stammen aus Salzburger Mülltonnen und wurden in der Nacht zu vor „getaucht“. Die fertigen Gerichte wurden Passanten und Touristen zum Verkosten angeboten. Diese Rahmung erinnert an Variationen des „Showkochens“ unter den gängigen Fersehkochshows, wo die Zuschauer oder Experten die Kreationen der Köche verkosten und bewerten. Die Verschwendung wird sinnlich erfahrbar gemacht, indem man Außenstehende dazu einlädt, Essen aus der Tonne zu probieren, das dann auch wirklich geschmacklich gut ist. Die Episode 2 begleitet die Ereignisse während des „Secret Waste Cooking Clubs“, einer scheinbar privaten Party, bei der jedoch jeder, der eine Anfrage über das Webformular schickt, eine Einladung mit der „geheimen“ Adresse bekommt. Aus in der Nacht zuvor aus den Mülltonnen geholten Lebensmitteln wird beim Secret Waste Cooking Club in einem Veranstaltungsraum mit offener Küche im Raum gemeinsam mit den circa 60 Gästen ein Menü zubereitet und gemeinsam gegessen. Untermalt wird der Abend von der musikalischen Begleitung durch die „Waste Queen“. In der dritten Episode wird die „alternative Stadttour“, die nachts in Anschluss an den Secret Waste Cooking Club durchgeführte Mülltauch-Aktion an verschiedenen Standorten in Salzburg mit vierzig Gästen gezeigt. Der bekannte Raum der Stadt Salzburg wird hier neu gerahmt und die „Gäste“ werden selbst zu Akteuren, die das Waste Diving praktizieren. In der vierten und bis dato letzten Episode geht es um den „Waste Cooking Brunch“, der zeitlich am Morgen nach der „alternativen Stadttour“ durchgeführt wurde. Aus den ca. 90 kg gefundenen Lebensmitteln wurde neben einem Mitternachtssnack ein Brunch für die Teilnehmer zubereitet. Personen zubereitet. 36
  • 37. Die letzte bis dato durchgeführte Aktion, für die zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit jedoch noch keine Episode veröffentlicht wurde, fand am 17. August 2012 im Rahmen des FM4-Frequency-Festivals in St. Pölten/Niederösterreich statt. Die Waste Cooker kochten vor Ort und luden dann innerhalb einer circa 1,5 Stunden dauernden Informationsshow die Festival-Besucher zum Probieren ein. Am Vorabend wurden die verwendeten Lebensmittel in St. Pölten aus den Tonnen geholt. Diese Aktion war erstmals vollkommen öffentlich, insofern als sie zuvor mit Treffpunkt und genauer Uhrzeit auf der Website angekündigt wurde und alle Interessierten eingeladen wurden, sich zu beteiligen. Es gab also keine, auch rein formale, Zugangsschranken von Seiten der Initiatoren. Waste Cooking lehnt sich also bewusst an das beliebte Format der klassischen Fernseh-Kochshows an, wobei den Teilnehmern mehr Möglichkeiten geboten werden, eigene (sinnliche) Erfahrungen zu machen. „Mit dem Müll in Kontakt zu kommen“ wird so zur bewusstseinsverändernden Erfahrung. 6.2. Die Frische und der Müll beim Waste Cooking 6.2.1. Ambivalenz und Kontrastierung Die ambivalente Beziehung von Frische und Müll, Sauberkeit und Schmutz, Reinheit und Unreinheit wird von der Waste Cooking Initiative anerkannt und gleichzeitig neu definiert. Das Spielen mit diesen Gegensatzpaaren zieht sich durch gesamte Textierung und wird auch in Interviews und Selbstbeschreibungen umfassend eingesetzt. Die Begriffe von Frische und Dreck werden aus der reinen Bewertung von Lebensmitteln herausgelöst und auf das System der Lebensmittelverschwendung angewandt: „Der eigentliche Mist ist das System der Verschwendung, das buchstäblich zum Himmel stinkt.“ (Hervorhebung durch die Urheber) Das Mülltauchen wird dabei nicht als völlig saubere Angelegenheit dargestellt. So bleiben die Waste Cooker einerseits bei der gängigen Interpretation von Müll als etwas „Schmutzigem“, stellen die Thematik jedoch in einen neuen Zusammenhang: „Wir machen uns die Hände gerne schmutzig, weil der eigentliche Dreck der Kauf- und Wegwerf-Wahn ist.“ Auch die gängige Differenzierung zwischen reinen und schmutzigen Orten wird fraglich gemacht, indem auf den nicht passenden Inhalt verwiesen wird. Die Lebensmittel in der Mülltonne sind für die Waste Cooker im wahrsten Sinne des 37
  • 38. Wortes „matter out of place“, nicht weil sie schmutzig wären, sondern weil sie sich an einem Abfallort befinden: „In den Containern eines Bio-Supermarktes haben wir rund 30 Kilo frische Bio- Lebensmittel gefunden, im Wert von rund 300 Euro. Die Freude über unseren Fund, ist schnell einer großen Ernüchterung gewichen. Die Gesichter sind immer länger geworden, Fassungslosigkeit hat sich breit gemacht. Wer es einmal mit eigenen Augen gesehen hat, wer selbst einmal Köstlichkeiten aus den Tonnen geborgen hat, der kann nicht mehr wegschauen.“ (Hervorhebung durch die Urheber) Dass es sich ausgerechnet um einen Bio-Supermarkt handelt, wird als weiterer Kontrast betont, da Bio-Produkte generell als nachhaltig und qualitativ hochwertig eingeschätzt werden. Die Stadt Salzburg wurde bewusst als Drehort gewählt, da dieses laut den Initiatoren ein perfektes Sinnbild für Überfluss, Reichtum und Dekadenz sei. An diesem so sauberen Ort in die Tonnen zu schauen und das, was verdrängt wird, ans Tageslicht zu befördern, stellt eine weitere Kontrastierung dar, die einen starken Eindruck hinterlässt, wie mir die Waste Cooker im Interview beschrieben haben. Frisch und verdorben wird auch über den Zeitbezug dekonstruiert. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass die „frischen“ Produkte, die man kurz vor Ladenschluss im Supermarkt kaufen könnte, sich kurz nach Ladenschluss in der Tonne wiederfinden können, wo sie dann plötzlich Abfall zu sein scheinen: „(…) wir gehen einkaufen, das wird aber surreal mit der zeit, weil die dinge ja 10 minuten später schon im container liegen können (…)“ (sic!) (Interview auf: www.studentenkueche.com) Waste Cooking- Koch Tobias bemerkt dazu im Interview, dass die Frische der Lebensmittel aus den Tonnen in der Praxis gar kein Thema ist. Vieles was sich im eigenen Kühlschrank findet, ist demnach weniger frisch als die Produkte, die von Supermärkten am Ende des Tages entsorgt werden. Ein Waste Diver erklärt vor der Kamera und den versammelten Teilnehmern des „Secret Waste Cooking Clubs“: „Eine Stunde vorher hätten wir es wahrscheinlich noch ganz normal eingekauft (…) und wir waren halt eine Stunde zu spät dran und haben es uns aus dem Müll geholt.“ Eine Waste Cooking Episode wird von den Proponenten folgendermaßen beschrieben: „Die 18 Stunden-Aktion findet ihren krönenden Abschluss. Und zwar im gemeinsamen Zubereiten des frisch getauchten Abfalls, zu einem feinen Brunch 38
  • 39. (…)“. „Frisch getaucht“ wird in dieser Beschreibung ähnlich wie „frisch gekauft“ verwendet – ob aus der Tonne oder aus dem Regal ist gleichgültig. Die Perspektivität von Frische wird betont, wobei gleichzeitig versucht wird, diese „verschobene Perspektive“ gerade zu rücken, indem den Lebensmitteln der ihnen zu stehende Wert zurückgegeben wird. „wastecooking ist überall dort, wo der Müll der Einen zum leckeren Essen der Anderen wird.“ (sic!) (Hervorhebung durch die Urheber) Müll und Essen ist demnach eine Sache der Definition und der Akteure. Der Bezug zum Ort, von dem die Produkte stammen, wird jedoch nicht negiert, wie an der Waste Cooking Regel zum Thema Hygiene deutlich wird: „Wir waschen uns nicht nur gründlich die Hände, wir säubern auch unsere „Schätze“, bevor wir sie kochen.“ (Hervorhebung durch die Urheber) Dreck, Unsauberkeit und Risiko werden als dem Ort und nicht dem Produkt anhaftend vermittelt. So bemerkt ein Teilnehmer des „Secret Waste Cooking Clubs“, nachdem er an einem Stück Brot gerochen hat und abgebissen hat: „Und es riecht sogar gut!“ Wie werden die Lebensmittel bei den Waste Cooking Episoden nun optisch und verbal dargestellt und gezeigt? Wird auf deren Frische oder Verdorbenheit verwiesen und wie? Spannend ist der 51 Sekunden lange Teaser, der Lust auf die vollen Episoden machen soll. Er beginnt mit zwei dunklen Gestalten, die nachts die Straße entlang gehen. Ein Kontrast wird in der nächsten Sequenz gesetzt, in der jemand sich eine blütenweiße Kochschürze umbindet. Die Mülltauch-Szenen werden beim Licht der Taschenlampen gefilmt, ein Käfer kriecht über den Boden und man sieht, wie schwarze Müllsäcke geöffnet und Handschuhe übergezogen werden. Die gezeigten Lebensmittel, die aus den Tonnen geholt werden – volle knackig-rote Tomatenpackungen, grüner Feldsalat, der gewaschen wird, schöne große Zwiebel, die geschält werden – sind jedoch einwandfrei. Einige kurze Kochsequenzen später endet der Teaser mit der Präsentation einer optisch perfekt präsentierten Mahlzeit. Diese Szenen werden in nochmal gekürzter Form zu Beginn jeder Folge gezeigt. Das Charakteristische ist der Kontrast zwischen dunkel – hell, schmutzig – sauber, abstoßend – anregend, Spannung – Genuß. In der Pilotfolge gehen die Waste Cooker mit einem schon erfahrenen Waste Diver auf die erste Tour. Im dunklen Lagerraum der Abfall-Container sieht man nur, was vom Licht der Taschenlampe erhellt wird. Der Waste Diver fragt seine Begleiter, ob 39
  • 40. sie den Geruch der Biotonnen wahrnehmen, da der Inhalt aufgrund der großen Hitze während der letzten Tage zu gären begonnen habe. Die geläufige Assoziation, dass Abfall stinkt, wird nicht negiert, jedoch relativiert, da er hinzufügt, dass das, was am selben Tag erst in die Tonne gekommen ist, in der Regel frisch ist. Daraufhin holt er einen schönen Bund goldgelber Bananen mit nur winzigen braunen Stellen hervor und bemerkt: „(…) die Bananen, ich finde das sind genau die Bananen, die eigentlich gut sind …. also vorher möchte ich sie gar nicht essen (lacht)“ Die Neudefinition von frisch und nicht frisch wird fortgesetzt, indem das Gute vom Verdorbenen getrennt wird. So wird die verschimmelte Zitrone aus dem Netz genommen und die restlichen wandern in den Einkaufskarton. Produkte, die Zeichen des Verfalls zeigen, werden jedoch aussortiert, auch wenn theoretisch ein Teil davon noch genießbar sein könnte. Die Kamera zeigt den Zuschauern vor allem den Kontrast zwischen dem „schmutzigen“ Ort und den „frischen“ Lebensmitteln. So wird wenig in die Tonne hinein gefilmt und bis auf den einen Käfer, der als Stilmittel zu Beginn jeder Folge in einer Szene gezeigt wird, sieht man kein Ungeziefer. Auch der unangenehme Geruch wird bis auf die eine Anmerkung zu Beginn, nicht an den Zuschauer vermittelt. Für diesen stellt sich das Mülltauchen als keineswegs „schmutzige“ Tätigkeit dar. Die Bananen werden auch gleich nach dem Waste Diven noch verkostet – der Reifegrad wird als „ideal“ bezeichnet und als „frisch vom Müll“ kommentiert. In der Episode 1 holt eine Waste Diverin, nach dem sie schon viele „Schätze“ geborgen haben, ein Stück verschimmeltes Obst hervor und kommentiert dies mit den Worten: „Das ist ja schon fast eine Sensation in dieser Tonne, etwas das wirklich schlecht ist gibt es auch noch.“ Bei der Episode 3, die die große alternative Stadttour zu den besten Waste Diving Plätzen dokumentiert, breiten die Teilnehmer das gefundene Obst und Gemüse sortiert auf dem Boden aus. Die optische Präsentation erinnert an einen Marktstand. In der Küche werden die Produkte dann wie „normale“ Lebensmittel behandelt – es wird jedoch gezeigt, dass sie gründlich gewaschen werden. Die Waste Cooker werden nicht nur beim gemeinsamen Essen sondern auch beim Verkosten während dem Kochen gezeigt. Die Umgebung, in der das Waste Cooking stattfindet, bildet ebenfalls einen Kontrast zum Ort des „Einkaufs“. Es handelt sich um helle, moderne, gut ausgestattete Küchen, beim öffentlichen Kochen am Alten Markt in Salzburg sogar open air. Während der Kochszenen werden immer wieder kurze Sequenzen des nächtlichen 40
  • 41. Waste Divings eingeschoben, wodurch ein Bezug zwischen den beiden Orten und den dort stattfindenden Handlungen entsteht. Am Alten Markt wurde das frisch gekochte Essen den Passanten angeboten, wobei diese zum Teil probierten und erst nachdem sie bestätigt hatten, dass es sehr lecker schmecke, aufgeklärt wurden, dass alle Zutaten dafür in der Nacht zuvor aus den Mülltonnen geholt wurde. Für den Zuschauer der Kochshow entsteht hier ein weiterer Kontrast, da gezeigt wird, wie einigen der Esser buchstäblich fast das Essen im Hals stecken bleibt bei dieser Nachricht. So wird die Absurdität der gängigen Trennung in frisch und nicht frisch verdeutlicht. 6.2.2. Standardisierung und Expertise – do it yourself beim Frischetest “The Freegan movement seeks to directly counter this system of categorization by interchanging the meaning of waste and food through both practice and the use of expert recommendations.” (Coyne. 2009) Wie auch die Freeganer stellen die Waste Cooker die Standardisierung der Frische durch Datumsangaben in Frage und auf die Probe. In den Waste Cooking-Regeln heißt es dazu: „Wir kennen den Unterschied zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum (best before) und Verfallsdatum (sell by). Auch wir nehmen nur das Frische, und lassen das Alte liegen.“ (Hervorhebung durch die Urheber) Während das Verfallsdatum also als Frischeindikator akzeptiert wird, wird die Bedeutung des MHD jener des sinnlichen Urteilsvermögens untergeordnet. Dazu gibt es eine eigene Kurzvideo-Reihe die den Fernsehkoch Tobias beim Produkttest von Lebensmitteln mit überschrittenem MHD zeigt. Als Fernsehkoch nimmt er so die Rolle eines Experten ein, welcher vor neun Tagen abgelaufene Erdbeerjoghurts testet, um zu sehen, ob sie noch genießbar sind. Dazu nutzt er seine eigenen Sinne, um die Frische zu überprüfen. So bemerkt er: „Es riecht normal, sieht normal aus, die Konsistenz ist einwandfrei, wie man sich so ein Joghurt vorstellt.“ Dann kostet er es und bemerkt, dass es auch geschmacklich einwandfrei sei. Es folgt eine kulinarisch anregende Beschreibung, die die Früchte als „schön verteilt im Joghurt“ und die Konsistenz als „schön cremig“ beschreibt. Dies erinnert an die ästhetisch überhöhten Beschreibungen von Lebensmittel durch angesehene Sterneköche im Fernsehen. Seine abschließende Bewertung bezeichnet das Erdbeerjoghurt als „Top-Produkt, ein hervorragendes Bioprodukt aus Österreich“, auch wenn es abgelaufen ist. Die Frische wurde also durch einen 41
  • 42. Experten konkurrierend zum MHD anders bewertet. Gleichzeitig gibt dieser einen deutlichen Verweis darauf, dass es keiner besonderen Expertise bedarf, sondern lediglich des Einsatzes der eigenen Sinne, um die Frische bei Produkten mit MHD selbstständig bewerten zu können. Diese Position wiederholt er auch öffentlich, beispielsweise beim Waste Cooking am FM4 Frequency Festival, wo er den Besuchern rät, die eigenen Sinne einzusetzen, um die Frische von Lebensmitteln zu bewerten. Jeder könne demnach durch riechen oder kosten die Unverdorbenheit feststellen und solle sich auf das eigene Urteil verlassen statt sich von Verpackungen täuschen zu lassen. In den Waste Cooking Episoden wird bei verpackten Lebensmitteln wiederholt auf das MHD hingewiesen, teils um zu demonstrieren, dass die Produkte trotz abgelaufenem MHD noch frisch sind, teils um zu zeigen, dass viele Lebensmittel im Container landen, die nicht einmal ihr Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben. 42