Funktioniert MeinekleineFarm.org? Essen Menschen weniger Fleisch aber aus artgerechterer Haltung, wenn sie ihrer Wurst in die Augen gucken können? Diese Masterarbeit sagt: Ja.
1. Wie wird das Konsumverhalten von
Menschen beeinflusst, wenn das Produkt
personalisiert und eine emotionale
Nähe zu ihm hergestellt wird?
Eine Untersuchung am Beispiel von
Fleischerzeugnissen.
Masterarbeit
vorgelegt an der
HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance
im Juli 2012
von Dennis Buchmann
Betreuerin: Prof. Dr. Sabine Fischer
2. I
Excecutive Summary
Mit wachsendem Wohlstand wird immer mehr Fleisch gegessen. Doch
massenhafter Fleischkonsum führt zu schwerwiegenden globalen Umweltproblemen
und ist ethisch bedenklich. Aufklärungskampagnen von Tierschutzorganisationen
arbeiten mit negativen Botschaften aus der Massentierhaltung, und auch andere
Apelle an einen reduzierten Fleischkonsum bleiben weitgehend wirkungslos. Auf der
Fleischverkaufsplattform MeinekleineFarm.org hingegen wird nicht an
Fleischverzicht appelliert, ohne Alternativen zu bieten, sondern dort ist der
Fleischkonsum diese Alternative und damit Teil der Lösung für die oben genannten
Probleme. Über positive Botschaften und Transparenz wird versucht, wieder eine
Beziehung zwischen Konsument und Fleischprodukt herzustellen: Der Konsument
sieht, welches Tier er isst und dass es artgerecht gehalten wurde. Diese Arbeit
untersucht empirisch, ob diese Personalisierung des Produktes dazu führt, dass der
Konsument eine neue Wertschätzung für Fleischprodukte entwickelt und dadurch
sein Konsumverhalten ändert. Es kann gezeigt werden, dass selbst Menschen, die
ohnehin schon bewusst Fleisch konsumieren, allgemein weniger Fleisch aber aus
artgerechter Haltung essen, wenn zuvor über MeinekleineFarm.org eine emotionale
Beziehung zu einem Fleischprodukt bzw. dem entsprechenden Tier hergestellt
wurde.
As affluence grows, so does the number of people who eat meat. However the
massive consumption of meat leads to serious environmental problems globally and
is ethically questionable. Educational campaigns done by animal welfare
organizations spelling out negative messages about factory farms, among other
appeals to reduce meat consumption remain largely ineffective. Conversely, the
meat-selling platform MeinekleineFarm.org does not make an appeal to end meat
consumption without offering an alternative. On MeinekleineFarm.org meat
consumption is part of the solution to the above-mentioned problem. Through
positive messages and transparency, MeinekleineFarm.org seeks to reestablish the
relationship between consumer and meat product: the consumer sees what animal
they eat, and that it was humanely treated. This thesis empirically investigates
whether the personalization of the product leads consumers to develop of a new
appreciation of meat products; and through this appreciation, change their
consumption behavior. It can be shown that even people, who knowingly consume
meat consciously, will generally eat less of it if they previously made an emotional
connection through MeinekleineFarm.org to the corresponding animal.
3. II
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ................................................................................ IV
Abbildungsverzeichnis .................................................................................. V
Tabellenverzeichnis ...................................................................................... VI
1
Einleitung und These ................................................................................ 1
2
Relevanz der Fragestellung ...................................................................... 2
2.1
Geschichte des Fleischkonsums und der -produktion. ............................. 3
2.2
Wie hoher Fleischkonsum Umweltprobleme verursacht ........................ 11
2.3
Ethische Aspekte der massenhaften Fleischproduktion ......................... 15
2.3.1
Tierleiden als ein Grund für die ethische Fleischdiskussion ................ 16
2.3.2
Ethische Konzepte zum Fleischverzehr .............................................. 18
2.3.3
Individuelle Verantwortung und die Distanz zwischen Handlungen und
den Folgen ....................................................................................... 19
3
Faktoren des Nahrungsmittelkonsums und sein Wandel ................... 23
3.1
Wie Konsumenten nach neuem Vertrauen suchen ................................ 23
3.2
Globaler Ernährungswandel ................................................................... 26
3.3
Faktoren des Fleischkonsumverhaltens ................................................. 28
4
MeinekleineFarm.org – Eine kleine Lösung für ein großes Problem?31
4.1
Wie MeinekleineFarm.org funktioniert .................................................... 31
4.2
Annahmen hinter MeinekleineFarm.org ................................................. 32
4.3
Transparenz, Kommunikation und Storytelling. ...................................... 37
5
Forschungsdesign .................................................................................. 40
5.1
Anforderungen und Ausgangssituation .................................................. 40
5.2
Reflektion des Autors ............................................................................. 41
5.3
Empirische Sozialforschung und ausgewählte Methoden ...................... 42
5.4
Durchführung der Befragung .................................................................. 43
5.5
Auswertung ............................................................................................ 44
6
Ergebnisse ............................................................................................... 46
6.1
Wer wurde gefragt: Biografische Daten und allgemeine Einstellungen der
Befragten. ............................................................................................ 46
6.2
Wie die Befragten Fleisch konsumieren ................................................. 51
6.3
Warum bei MkF gekauft wurde. ............................................................. 53
6.4
Empfindungen im Zusammenhang mit MkF ........................................... 54
6.5
Auswirkungen auf das Verhalten ............................................................ 55
7
Diskussion ............................................................................................... 58
7.1
Methodenkritik ........................................................................................ 58
4. III
7.2
Die Ergebnisse, ihre Aussagekraft und die Bedeutung für MkF ............. 59
7.3
Ausblick und Möglichkeiten weiter gehender Forschung ....................... 61
8
Fazit .......................................................................................................... 64
Literaturverzeichnis ...................................................................................... 66
Anhang ........................................................................................................... 73
5. IV
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
BMELV Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
BÖLW Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft
BRD Bundesrepublik Deutschland
CH4 Methan
CO2 Kohlenstoffdioxid
DDR Deutsche Demokratische Republik
DLG Deutsche Lebensmittelgesellschaft
etc. et cetera
FAO Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen
(Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO)
FAOSTAT Statistiken der FAO
HVSG Humboldt Viadrina School of Governance
Kap. Kapitel
kg Kilogramm
2
m Quadratmeter
MkF MeinekleineFarm.org
MPP Master of Public Policy
N 2O Distickstoffmonoxid
s. siehe
s. a. siehe auch
S. Seite
Tab. Tabelle
u. a. und andere
u. ä. und ähnliche(m)/(n)/(s)
USA Vereinigte Staaten von Amerika (United States of America)
vgl. vergleiche
z. B. zum Beispiel
6. V
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: US-Patent von 1882 zur Fließbandschlachtung von Schweinen. ......... 8
Abbildung 2: Durchschnittlicher Fleischverbrauch in Deutschland pro Kopf und
Jahr. ................................................................................................................... 9
Abbildung 3: Idealisierte Pyramide der biologischen Nettoproduktivität................... 11
Abbildung 4: Treibhausgasemissionen verschiedener Lebensmittel (von der
Landwirtschaft bis zum Handel). ...................................................................... 14
Abbildung 5: Treibhausgasemissionen von vier verschiedenen Mahlzeiten mit
demselben Energie- und Eiweißgehalt. ............................................................ 15
Abbildung 6: Phasen der Nutrition Transition. .......................................................... 27
Abbildung 7: Beispiel eines Aufklebers und wie dieser auf den Wurstprodukten
von MeinekleineFarm.org das entsprechende Schwein abbildet. .................... 32
Abbildung 8: Wirkungslogik von MeinekleineFarm.org. ........................................... 36
Abbildung 9: Altersverteilung der 113 Befragten. ..................................................... 46
Abbildung 10: Bewertung der Wichtigkeit verschiedener Faktoren auf die Frage:
„Was ist Ihnen beim Nahrungsmittelkauf besonders wichtig“. .......................... 49
Abbildung 11: Einkommensverteilung der 113 ausgewerteten
Umfrageteilnehmer. .......................................................................................... 51
Abbildung 12: Fleischkonsum vor MkF. Die Befragten haben angegeben, zu
welcher Tageszeit sie wie oft pro Woche Fleisch gegessen haben. ................ 52
Abbildung 13: Gründe für den Kauf von Biofleisch und wie wichtig sie den
Befragten sind. ................................................................................................. 53
Abbildung 14: Differenzen zwischen den Antworten auf die Fragen nach der
Häufigkeit des Fleischkonsums vor und nach MkF der einzelnen
Befragten. ......................................................................................................... 56
Abbildung 15: Fleischkonsum nach MkF.................................................................. 57
7. VI
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Häufigkeit der genannten Aspekte auf die Frage: „Bitte beschreiben
Sie, ob und wie Sie im Alltag den Umweltschutz berücksichtigen.“ ................. 47
Tabelle 2: Häufigkeit der genannten Aspekte auf die Frage: Wie würden Sie
ihren Einkaufs- und Ernährungsstil beschreiben?“. .......................................... 48
Tabelle 3: Bildungsgrad der Befragten. .................................................................... 50
Tabelle 4: Häufig genannte Aspekte in den Antworten auf die Frage:
„Beschreiben Sie bitte, warum Sie Wurst mit Gesicht gekauft haben“. ............ 53
Tabelle 5: Häufig genannte Aspekte in den Antworten auf die Frage: „Was
haben Sie beim Kauf von Wurst mit Gesicht empfunden?“. ............................. 54
Tabelle 6: Häufig genannte Aspekte in den Antworten auf die Frage:
„Beschreiben Sie die Situation und das Gefühl, als Sie ihrer Wurst in die
Augen geguckt haben.“ .................................................................................... 55
Tabelle 7: Auswertung der Antworten auf die Frage: „Haben Sie, nachdem Sie
Kunde von MeinekleineFarm.org geworden sind, öfter als vorher an
Fleischkonsum und seine Auswirkungen gedacht? Falls ja: in welchen
Situationen und an was haben Sie gedacht?“ .................................................. 55
Tabelle 8: Antworten auf die Frage: „Bitte beschreiben Sie ob und wie sich Ihr
Fleischkonsumverhalten verändert hat, nachdem Sie Wurst von
MeinekleineFarm.org gegessen haben.“ .......................................................... 56
8. VII
„Ich bin durch Galileo auf Sie aufmerksam geworden, und nun habe ich mich
endlich getraut auf Ihre Seite zu gehen und meine Neugierde zu stillen.
Ich muss sagen, dass ich sehr viel Wurst esse, und nie wirklich einen Draht zu
der Materie hatte, natürlich gehe ich schon immer respektvoll mit allen
Lebensmitteln um, doch so sehr wie Sie und Bauer Schulz habe ich mich noch
nie mit den Tieren dahinter auseinander gesetzt.
Ich muss Ihnen sagen, dass ich nun zum Nachdenken komme, und vorhabe schon
bald meine erste Wurst von Ihnen zu bestellen, doch vorerst meinen Fleischkonsum
gänzlich einstellen möchte um meine Sinne für die Tiere zu schärfen. Ich
danke Ihnen, dass nur ein Besuch auf dieser Seite mich ganz schön
wachgerüttelt hat!“
E-Mail von A.G. an MeinekleineFarm.org, 8. Juni 2011
9. 1
1 Einleitung und These
Diese Arbeit hinterfragt das Projekt MeinekleineFarm.org (MkF), welches zentraler
Bestandteil des Public-Policy-Studiums (MPP) an der Humboldt Viadrina School of
Governance (HVSG) war. MkF diente als roter Faden der Praxis, an dem Theorie
gelernt und angewendet wurde. Wegen der Projektbezogenheit ist diese Arbeit also
gewissermaßen der Gipfel der Integration von Theorie und Praxis des
Masterstudiengangs. Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Quellen
sowie ein Umfrage unter Nutzern von MkF sollen die grundlegende Frage eruieren,
ob das Projekt hinsichtlich seines gesellschaftlichen Anliegens funktioniert: Essen
Menschen weniger und anders Fleisch, wenn dieses Fleisch aus seiner Anonymität
geholt und eine emotionale Nähe zum Produkt bzw. dem entsprechenden Tier
hergestellt wird? Denn wer bei MeinekleineFarm.org Wurst kauft, sieht darauf stets
ein Foto von dem Tier, aus dem diese Wurst gemacht wurde. So wird „Fleisch ein
Gesicht gegeben“.
Die These hinter MeinekleineFarm.org, die in dieser Arbeit überprüft wird, lautet:
Wenn Konsumenten ein Fleischprodukt über Transparenz und Geschichten nahe
gebracht wird, entsteht eine unter anderem emotionale Beziehung, die zu einer
neuen Wertschätzung des Tieres und damit des Produktes führt. Das mündet in
bewussterem Fleischkonsum. Bewussterer Fleischkonsum bedeutet hier: weniger
Fleisch aber aus artgerechter Haltung zu essen.
Diese Verhaltensänderung ist dringend nötig. Umweltressourcen werden durch
massenhaften Fleischkonsum derart überlastet, dass irreversible Schäden des
globalen Ökosystems drohen (Kapitel 2). Außerdem führen die Bedingungen, unter
denen Tiere in der konventionellen Fleischindustrie gehalten werden, zu ethischen
Problemen, die ausgeblendet werden (Entkoppelung des Konsumenten vom
Ursprung seiner fleischlichen Nahrung). Umweltprobleme, Ethik und menschliches
Verhalten – diese Themen zeigen, dass in dieser Arbeit multi- und in den
Schlussfolgerungen auch interdisziplinär gearbeitet wird. So wird hier nicht nur ein
Aspekt der Konsumentenforschung tief gehend bearbeitet, sondern es werden
vielmehr die Gesamtzusammenhänge dargestellt. Der empirische Teil (Umfrage
unter MkF-Kunden) gestaltet sich deshalb entsprechend offen, um im Zuge der
Forschung (vgl. Kapitel 5.3) einen hohen Erkenntnisgewinn zu ermöglichen.
10. 2
2 Relevanz der Fragestellung
„The world´s lifestock sector is at the junction of several of the great environmental
and moral issues of the modern age. This includes the urgent issues of food
insecurity, under-nutrition and its health consequences, environmental degradation,
exacerbation of global climate change and concern for animal welfare“
In diesem Zitat fassen McMichael & Butler (2010: S.187) zusammen, warum es
dringend notwendig ist, dass die Menschen ihren Fleischkonsum1 überdenken.
Denn massenhafter Konsum bedingt massenhafte Produktion. Doch über eine
massenhafte Produktion, die dem Konsumenten verborgen bleibt, aber billiges
Fleisch liefert, beschwert sich kaum ein Konsument. Doch wie konnte Fleisch
überhaupt zu einem Problem werden?
Fleisch ist ein hochwertiges Nahrungsmittel, reich an Eiweißen2 und für die meisten
Menschen Teil eines unhinterfragten Ernährungsalltags. Doch mit Fleisch verhält es
sich wie mit fast allen Nahrungsmitteln und anderen Dingen (etwa Medikamente),
die der Mensch zu sich nimmt: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ohne Gift; allein die
Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ (Paracelsus,16. Jahrhundert).
Diese „Dosis“ ist vor allem in industrialisierten Ländern und Gesellschaften mit
hohem Wohlstandsniveau (USA, Europa) sehr groß und gefährdet nicht nur die
individuelle Gesundheit3, sondern ist auch auf gesellschaftlicher und ökologischer
Ebene „Gift“. In aufstrebenden Ländern (vor allem in China) erhöht sich mit
wachsendem Wohlstand ebenfalls die „Dosis“. Doch bevor der Fleischkonsum
genauer quantifiziert wird, soll kurz darauf eingegangen werden, wie Fleisch
1
In dieser Arbeit geht es nur um Fleisch von gezüchteten Landtieren, nicht um Meerestiere
und Fischereiindustrie.
2
Der menschliche Körper kann Fleischeiweiße effizienter zum Aufbau eigener Eiweiße
nutzen als beispielsweise pflanzliche Kohlehydrate.
3
Gesundheitsprobleme im Zusammenhang mit erhöhtem Fleischkonsum werden in dieser
Arbeit weder auf individueller Ebene (Krankheiten) noch auf gesellschaftlicher (Belastung
des Gesundheitssystems) ausführlich behandelt. Dazu siehe beispielsweise Rayner &
Scarborough (2010, S.190ff.). Die Umweltprobleme sind gravierender, da von globaler
Bedeutung, und die ethischen Probleme sind wegen der Funktionsweise von MkF
(Emotionalität etc., vgl. Kapitel 4) relevanter.
11. 3
überhaupt zu einem Problem werden konnte (Kapitel 2.1: Geschichte des
Fleischkonsums und der -produktion) und in welchen Facetten (ökologische und
ethische, Kapitel 2.2 und 2.3) sich das Problem äußert. Daraus folgt die
Notwendigkeit eines reduzierten Fleischkonsums. Um diesen zu fördern, habe ich
im Rahmen des MPP an der HVSG das Projekt MkF realisiert. MkF steht für jenen
Teil der Fragestellung, der sich mit der Personalisierung und Emotionalität von
Fleischprodukten als potentiell verhaltensbeeinflussend beschäftigt. Über eine
Kundenumfrage sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, ob die Idee hinter
MkF tatsächlich das menschliche Fleischkonsumverhalten beeinflussen kann.
Die Fragestellung ist also auch in praktischer Hinsicht relevant, da sie nicht nur
theoretisch ein wichtiges gesellschaftliches Problem erörtert, sondern einen
zumindest pilotartig umgesetzten Lösungsansatz evaluiert. Im Rahmen einer
Masterarbeit kann diese Evaluation nur begrenzt stattfinden, sie wird aber als
Ausgangspunkt für weitergehende Forschung durchaus von Wert sein.
2.1 Geschichte des Fleischkonsums und der -produktion.
Das Fleischkonsumverhalten lässt sich menschheitsgeschichtlich in drei große
Epochen aufteilen, in denen jeweils gravierende Veränderungen im
gesellschaftlichen Zusammenleben zu unterschiedlichen Mengen verfügbaren
Fleisches geführt haben: die Steinzeit (Jäger und Sammler), erste
Agrargesellschaften (vor ca. 10.000 Jahren) und moderne Industriegesellschaften
(seit etwa 200 Jahren).
Körperliche Grundvoraussetzungen für Fleischkonsum hat der Mensch im Laufe der
Evolution von seinen Vorfahren geerbt. „Untersuchungen der Skelettfragmente
dieser ersten Exemplare der Gattung homo, die man auf ca. 3,25 Millionen Jahre
zurückdatiert, belegen, dass die Nahrung unserer zweibeinigen Vorläufer zum Teil
aus Fleisch bestanden haben muss.“ (Mellinger 2000: S.16). Die Beschaffenheit des
Verdauungstraktes (nicht auf Zellulose spezialisiert) und des Gebisses der Primaten
zeigen, dass schon unsere Vorfahren auf „fleischliche“ Nahrung (Früchte, Wurzeln,
Insekten, Larven) angewiesen waren (Leroi-Gourhan 1988)4.
4
Detaillierter vergleichen McMichael & Butler (2010: S.178) die „Modern Western Diet“ mit
der unserer Vorfahren.
12. 4
Nachdem die ersten Menschen sich als Beuteräuber Fleisch beschafften, indem sie
Geier und Schakale von Kadavern vertrieben, wurden sie mit der Entwicklung von
Werkzeugen selbst zu aktiven Jägern. Dabei galt das sprichwörtliche „Fressen oder
gefressen werden“, das heißt, dass der Mensch in der Steinzeit noch nicht an der
Spitze der Nahrungskette stand und die Jagd nach Fleisch mit Lebensgefahr
verbunden war. Trotzdem nahm er das Risiko auf, um an die energetisch
hochwertige Kost zu gelangen, so dass „der Kalorienanteil aus fleischlicher Nahrung
in den steinzeitlichen Gesellschaften 35 Prozent ausmachte“, was ungefähr 788
Gramm pro Tag entspricht (Mellinger 2000: S.26). Laut dem Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011) lag der Pro-Kopf-
Verbrauch von Fleisch in Deutschland 2010 bei 90,1 kg, das entspricht 247 Gramm
pro Tag. In Kapitel 2.2 und 2.3 wird noch deutlich werden, dass 90 kg Fleisch pro
Kopf und Jahr problematisch viel ist. Doch hier wird zunächst klar: Die ersten
Hominiden haben mehr als drei Mal so viel Fleisch gegessen wie die Deutschen
heute.
Damals trafen wenige Menschen auf sehr viele Beutetiere. Heute jedoch müssen 7
Milliarden Menschen zunächst einmal Tiere produzieren, um ihren Fleischkonsum
decken zu können. Damals trug der Kampf ums Überleben dazu bei, dass das
nahrhafte Fleisch und die Tiere als Lieferanten dessen wertgeschätzt wurden. Heute
gibt es zumindest in den Wohlstandsnationen für die meisten Menschen immer
genug zu essen, und Fleisch ist dort ein billiges Nahrungsmittel das vor allem
verarbeitet, also in Form von Wurst oder Convenience-Produkten verzehrt wird –
und von seinem Ursprung, dem Tier, entkoppelt ist (Zu Entkoppelungen auch bei
anderen Nahrungsmitteln s. Vilgis 2011).
Zwischen diesen beiden Endpunkten der Chronologie des Fleischkonsums liegt der
Ackerbau, durch den vor etwa 10.000 Jahren erste sesshafte Gesellschaften
entstehen konnten (Neolithische Revolution). Zu dieser Zeit wandelte sich das Klima
von „kalt und trocken“ zu „warm und feucht“ und besonders in den „glücklichen
Breiten“ (zwischen 15° südl. und 35° nördlicher Breite) evolvierten ertragreiche
Getreidearten, so dass jede Kalorie, die zur Ernte eingesetzt wurde, 50 Kalorien
Nahrung ergab (Morris 2011). Die Jäger mussten nicht mehr dem Wild nachstellen,
sondern es kam, angezogen von der schmackhaften Ernte, von selbst in die Nähe
der Siedlungen (Reichholf 2008: S.34). Und es wurde zahm bzw. gezähmt. Vor
allem Ziegen, Schafe, Schweine und kleine Rinder zählten zu den ersten Nutztieren,
die Nahrung, Kleidung und Nebenprodukte lieferten (Vilgis, 2011: S.58). Zu diesem
13. 5
Zeitpunkt wurde Fleisch also erstmals nicht mehr gejagt, sondern produziert.5 Der
Fleischkonsum jedoch ging zurück, vor allem wegen der neuen Lebensumstände:
Anfangs war der Ackerbau noch recht arbeitsintensiv, und die Nutztiere dienten vor
allem als Zugtiere, Textilfaserlieferanten und Düngerspender. Auch die energetische
Tatsache, dass durchschnittlich 10 pflanzliche Kalorien aufgewendet werden
müssen, um eine Fleischkalorie daraus veredeln zu können, erlaubte es den
Menschen damals nicht, Tiere als reine Fleischlieferanten zu halten. Das Kosten-
Nutzen-Verhältnis war zu ungünstig oder anders ausgedrückt: Die Futtermittel
waren zu teuer. Die Jäger und Sammler konnten sich noch „bedienen“. Die
Sesshaften mussten nun viel Arbeit investieren, um ihre Nahrung herstellen und die
Vorteile der Standortgebundenheit genießen zu können. Die Nutztiere waren also
vor allem von Wert, wenn sie lebendig waren6.
Mit der Sesshaftigkeit entwickelte sich auch der Glaube der Menschen an das
Übernatürliche weiter (Morris 2011: S.102). Fleisch wurde weiterhin, also auch in
den sich entwickelnden Religionen an Götter geopfert, um diese milde zu stimmen
(Mellinger 2000: S.47). Fleisch war rar und wertvoll, was dazu führte, dass es vor
allem den reichen Bevölkerungsschichten vorenthalten war und für diese auch als
Status- und Machtsymbol fungierte. „Der hohe Wert des Fleisches als greifbares
Statussymbol beruhte nicht nur darauf, dass der Mensch die Kontrolle über die
Natur ausübte, sondern auch andere Menschen beherrschte“ (Frei et al. 2011:
S.60). Im Mittelalter hat diese Oberschicht in Deutschland mit ihren Gelagen und
Festmahlen dazu beigetragen, dass durchschnittlich etwa 50 Kilogramm Fleisch pro
Kopf und Jahr verbraucht wurden (Schubert 2006: S.104).
Im 16. Jahrhundert florierten die Städte, Arbeitsteilung setzte sich durch und mit der
Bevölkerung wuchs der Fleischbedarf. Es kam zu ersten
Entkoppelungserscheinungen: Fleisch wurde vor allem auf dem Land produziert und
5
Außerdem bestimmte die Art der Fauna, also welche Tiere in welchen Teilen der Welt
vorkamen, darüber, wie sich Gesellschaften weiterentwickelt haben. Lama und Alpaka
eigneten sich für amerikanische Indianer ebenso wenig als Zugtier wie der schwer zähmbare
Büffel. Esel, Pferde und Rinder hingegen waren in der Alten Welt (Eurasien) gute
Vorrausetzungen für technischen Fortschritt (etwa Transportsysteme) (Mellinger 2000:
S.41).
6
Und die Beziehung zu einem Tier, das lange von Nutzen sein soll, muss von mehr
Fürsorge geprägt sein, als eine, bei der das Tier lediglich möglichst schnell möglichst viel
Fleisch produzieren soll.
14. 6
in den Städten konsumiert. Doch Fleisch war nach wie vor teuer, weil die
Landwirtschaft noch vergleichsweise energieintensiv war. Weil das Getreide noch
zu kostbar war, um es zur Fleischherstellung zu nutzen, wurden Weideflächen zu
Gunsten von Ackerflächen eingeschränkt (Frei et al. 2011: S.61).
Denn der bestimmende Kostenfaktor bei der Fleischherstellung ist das Futter. Es
muss stets gefragt werden: Lohnt es sich, Getreide bei einem Wirkungsgrad von
etwa 10 Prozent in die Fleischveredelung zu investieren? Bis zum 19. Jahrhundert
lautete die Antwort meistens „Nein“, denn bis dahin erlebte die Landwirtschaft keine
wesentlichen technischen Effizienzsprünge. Folglich blieb der Fleischkonsum
weitgehend konstant7.
Doch dann begann das Zeitalter der Industriegesellschaften. „Die Menschen hatten
in den vergangenen Jahrhunderten bis zu 90 Prozent ihrer Ernährungsausgaben für
Brot und Brei ausgegeben. Nun sank die Bedeutung des Getreides. Nachdem der
relative Rind- und Schweinefleischverbrauch im Deutschen Bund 1816 bei ungefähr
11 bis 14 kg pro Kopf lag, stieg der Verbrauch von ungefähr 21 kg in den 1840er
Jahren auf über 40 kg bis zur Jahrhundertwende an“ (Frei et al. 2011: S.61ff.)8. Die
höheren Erträge, also billigeres Futter, waren ein Grund dafür. Der Zweite: Die
Nutztiere, vor allem Ochsen, verloren zunehmend ihre Rolle als Arbeitskraft und
wurden durch Maschinen ersetzt. Außerdem stieg der Wohlstand und die Kaufkraft
der Bevölkerung.
Zur weiteren Verbreitung von Fleisch trugen zunächst neue Verfahren des
Haltbarmachens bei: Salzen, Räuchern und Trocknen machten Fleisch nur begrenzt
haltbar, doch die Erfindung der Konserve (1810) machte es möglich, Fleisch auf
lange Reisen zu schicken – und zunächst vor allem Armeen in Kriegen damit zu
7
Abgesehen von einschneidenden Ereignissen wie etwa dem Dreißigjährigen Krieg, der
allgemein zu einer Verschlechterung der Lebensumstände und so auch zu reduziertem
Fleischkonsum führte.
8
Zu dieser Zeit entstanden auch erste Vegetarier-Verbände. Fritzen (2006: S.336) schreibt
über die Lebensreformer: „Der Gegenwart, die in ihren Augen von körperlicher, geistiger,
sittlicher und sozialer Krankheit geprägt war, setzten sie eine andere Welt entgegen: ein
`vegetarisches Zeitalter`, auf das sie mittels Aufklärung des Volkes über gesündere
Lebensführung hinarbeiteten.“ Zu religiös, spirituell oder mythisch motiviertem Vegetarismus
(z.B. ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. bei Buddhisten in Indien) siehe Mellinger (2000: S.76ff.).
15. 7
versorgen9. Neben Fortschritten in der Agrarwissenschaft ermöglichte auch das
verbesserte Transportwesen (vor allem die Eisenbahn) eine Steigerung der
Fleischproduktion.
So konnte die Viehhaltung auch von der Landwirtschaft entkoppelt werden.
Während zuvor nur so viele Tiere gehalten werden konnte, wie das eigene oder
zumindest nahe gelegene Land an Futter hergab, gab es nun
Futtermittelproduzenten einerseits und Tierproduktion andererseits. Die Viehhaltung
wurde auch von der Fruchtbarkeit des Bodens entkoppelt: Das Haber-Bosch-
Verfahren ermöglicht seit Anfang des 20. Jahrhunderts die synthetische Herstellung
von Ammoniak und damit Kunstdünger. Ohne diese künstliche Stickstoffquelle
wären die heutigen Getreideernten undenkbar. Die Erträge vervielfachten sich, und
Getreide wurde so billig, dass es sich erstmals ökonomisch lohnte, dieses an Tiere
zu Veredelung zu verfüttern. Die enormen Effizienzsteigerungen lassen sich an
Zahlen erkennen, die Smil (2002: S.31) zitiert: 1850 arbeiteten noch 60 Prozent der
Menschen in den USA in der Landwirtschaft. 1900 waren es weniger als 40 Prozent,
1950 noch 15 Prozent und seit 1975 weniger als 2 Prozent – bei steigenden
Erträgen.
Die erste zentrale Fleischverarbeitungsanlage (vgl. Abb. 1) der Welt entstand dann
1865 mit dem Union Stock Yard in Chicago, USA, in denen 1884 bereits 200.000
Tiere pro Tag geschlachtet wurden10. In Europa war La Villette in Paris das erste
große moderne Schlachthaus (Mellinger 2000: S.112ff.). Durch diese
Produktionsweise verschwand die Fleischverarbeitung – und damit der Tod des
Tieres – weitgehend aus der Öffentlichkeit. Die Orte der Produktion und des
Konsums von Fleisch wurden getrennt. Fleisch wurde anonym. Doch während etwa
in Frankreich und England Tierschutzgesetze gegen die „öffentliche Ausübung roher
Gewalt an Tieren“ (Mellinger 2000: S.125), gegen Hahnenkämpfe und zum Schutz
von Hunden erlassen wurden, gab es keine Entsprechungen für die Fleischindustrie.
9
Büchsenfleisch ermöglichte auch einen internationalen Fleischhandel, so dass England
1871 bereits 11.000 Tonnen Fleisch aus Australien importierte (Mellinger, 200: S.108).
10
Dort wurde auch erstmals am Fließband gearbeitet. Diese dis-assembly Line war Vorbild
für die assembly-Line zum Bau des Ford T.
16. 8
Abbildung 1: US-Patent von 1882 zur Fließbandschlachtung von Schweinen: „Das
Schwein M dient als Köder für die anderen, und so spart man viel Zeit und
Mühe. Mittels der Bremse wird die Falltür langsam abgesenkt, bis die
Schweine vollständig in der Luft hängen und an der Stange K zu der Stelle
rutschen, wo sie getötet werden.“
Vor dem ersten Weltkrieg hatte das Deutsche Reich keine Lebensmittelvorräte
angelegt und so sank der Fleischkonsum aufgrund der Blockadepolitik von England
von rund 53 kg pro Kopf im Jahr 1914 auf rund 10 kg im Jahr 1918 (Panzer 1975).
Im Zweiten Weltkrieg ging die Fleischversorgung vor allem auf Kosten der besetzten
Ost-Gebiete, denen massiv Fleisch entzogen wurde. In der Nachkriegszeit wurde
Fleisch dann endgültig in großen Mastanlagen hergestellt und somit zur billigen
Massenware. Sowohl in der BRD als auch in der DDR wurde das Konzept vom
Sonntagsbraten durch die Anspruchshaltung ersetzt, dass jeden Tag Fleisch in
beliebiger Menge für alle verfügbar sein sollte (Fichtner 2004). Es war verfügbar und
wurde auch durch politische Maßnahmen (Subventionen) verfügbar gemacht.
17. 9
Nachdem der Fleischverbrauch11 durch den Zweiten Weltkrieg in Deutschland von
52,8 kg pro Kopf (1935/38) auf 37 kg gesunken war (1950/51) stieg er nun wieder
an, bis er 1990/91 den Rekordwert von 102,1 kg erreichte12. Seitdem ist der
Fleischkonsum bis auf 88,5 kg im Jahr 2008 zurückgegangen und bis 2010 auf 90,1
kg wieder leicht angestiegen (Abb. 2).
Abbildung 2: Durchschnittlicher Fleischverbrauch in Deutschland pro Kopf und Jahr.
Quelle: Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (2011).
Die Verfügbarkeit von Fleisch wurde durch Effizienz steigernde Technologien und
einen auch daraus resultierenden, sinkenden Preis erhöht. Intensivierung und
Automatisierung ermöglichten es, dass nun ein einzelner Mensch 1.000
Mastschweine oder 100.000 Hühner „betreuen“ kann (Borowski 2007: S.25). Daraus
11
Der Fleischverbrauch ist nicht gleich dem Fleischverzehr und beschreibt den
Gesamtverbrauch an Fleisch, um die verzehrbaren Produkte herstellen zu können. Da der
Fleischverbrauch auch Knochen, Sehen und andere Teile umfasst, ist er stets größer als der
eigentliche Verzehr. Fleischkonsum beschreibt hier stets den Fleischverbrauch. Der
Fleischverzehr lag 2007 bei etwa 61 kg pro Kopf und Jahr (in den 1990er-Jahren noch bei
65 kg) (Gurath, 2008: S. 23).
12
Hier werden die Zahlen des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (BMELV 2011) genutzt. Jene von der FAO oder dem Statistischen
Bundesamt unterscheiden sich dazu nur unwesentlich
18. 10
resultierte auch eine Konzentration der Produktionsstätten: Während es 1960 noch
etwa 1,3 Millionen Schweinehalter in Deutschland gab, waren es 2011 noch 32.000
– bei einer Zunahme der Fleischproduktion um über 60 Prozent (Witten 2001 und
BMELV 2011). Heute werden mehr als die Hälfte aller Schweine in Deutschland von
vier Unternehmen geschlachtet (Lütge 2012).
Stärkste Treiber für Fleischverzicht sind Lebensmittelskandale13 und Seuchen
(Schweinepest 1994, BSE 2000, Vogelgrippe 2006; ausführlich dazu Greger 2010),
nach denen die Menschen aus Angst vor Erkrankungen handeln. Aber auch
unabhängig von diesen Einzelereignissen ist der Verbrauch von Fleisch z.B. in den
Niederlanden, in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Belgien oder Neuseeland
rückläufig (Frei et al. 2011, FAOSTAT). Das kann auch an einem allgemeinen,
gesellschaftlichen Bewusstseinswandel liegen, an einem Trend zu weniger Fleisch,
wie er auch durch die Medien und Bestseller unterstrichen wird (dazu ausführlich
Busse & Keller 2012).
Global betrachtet bleibt der hohe Fleischkonsum jedoch eine Herausforderung: Mit
wachsender Bevölkerung und steigendem Wohlstand wird die Fleischproduktion von
280 Millionen Tonnen (2008) auf über 450 Millionen Tonnen (2050) wachsen
(FAOSTAT 2012). In den nächsten 20 Jahren wird etwa 85 Prozent des
Nachfragewachstums nach Getreide und Fleisch aus Entwicklungsländern stammen
(Pinstrup-Andersen et al. in Caballero & Popkin 2002: S.4). Doch besonders in
Ländern mit weniger Wohlstand ist Vieh für Familien eine wichtige wirtschaftliche
Reserve. Und in Gegenden, wo kein Getreide wächst (z.B. Hochland), sind Ziegen
und andere Grasverwerter eine der wenigen Möglichkeiten zur
Nahrungsmittelversorgung. Aber beispielsweise führt die Zunahme des
Schweinefleischkonsums in China zu einer Verschärfung der
Nahrungsmittelkonkurrenz14, da die Futtermittel auch direkt vom Menschen verzehrt
werden könnten. „Gleichzeitig ist der übermäßige Verzehr von Fleisch und Wurst für
auffallende Gesundheitsprobleme in Überflussgesellschaften verantwortlich:
Übergewicht und Fettsucht sowie damit verbundene Erkrankungen.“ (Frei et al.
13
„Ein Beispiel auf der Futtermittelstufe ist der MPA- oder so genannte „Hormon-Sirup“-
Skandal des Jahres 2002. Vorsätzlich waren hormonhaltige Abfälle aus der Pharmaindustrie
in Futtermitteln „entsorgt“ worden. Zahlreiche EU-Mitgliedsstaaten waren betroffen. Allein in
den Niederlanden mussten rund 50.000 Schweine getötet werden.“ (Burdick & Klein, 2004:
S.249).
14
weitere Faktoren sind Agrartreibstoffe und Börsenspekulationen mit Nahrungsmitteln.
19. 11
2011: S.67). Die sogenannte „Western Style Diet“ führt in Ländern mit wachsendem
Wohlstand zu erhöhtem Fleischkonsum (Burger, etc.) und Gesundheitsproblemen.
Wenn sich dieser „style“ jedoch ändert, könnte er wie sonst auch als Vorbild dienen.
Eine Reduktion des Fleischkonsums würde außerdem gravierende Umweltprobleme
reduzieren, wie sie im folgenden Kapitel beschrieben werden.
2.2 Wie hoher Fleischkonsum Umweltprobleme verursacht
Tierische Zellen betreiben Zellatmung zur Energiegewinnung: Glucose und
Sauerstoff werden zu Kohlenstoffdioxid und Waser oxidiert, wobei Energie frei bzw.
gebunden wird. Glucose wird über die Nahrung zugeführt, doch bei der Nutzung von
Nahrung zum Aufbau und Erhalt des eigenen Organismus geht der größte Teil der
Energie in Form von Wärme verloren: Nur etwa 10 Prozent der aufgenommenen
Energie wird in Biomasse umgesetzt (ökologische Effizienz) (Campbell 1997:
S.1253). Um also eine Fleischkalorie herstellen zu können, müssen durchschnittlich
10 Pflanzenkalorien eingesetzt werden. Deshalb ist auch die globale Biomasse der
Pflanzen, die die Basis der Biomassepyramide und dank der Photosynthese den
Ausgangspunkt der meisten Nahrungsketten darstellen, am größten (Abb. 3). Dann
folgen die Primärkonsumenten (Pflanzenfresser), usw. mit relativ wenigen
Fleischfressern (Carnivoren) an der Spitze.
Abbildung 3: Idealisierte Pyramide der biologischen Nettoproduktivität. Von einer
Trophiestufe zur nächsten werden jeweils etwa 10 Prozent der Energie in
Biomasse umgesetzt (Pflanzen nutzen nur 1% der Sonnenenergie).
20. 12
Um Fleisch herstellen zu können, wird also ein Großteil der landwirtschaftlichen
Erträge unter Energieverlust veredelt. Doch „insgesamt hat die Industrialisierung der
Landwirtschaft den Verbrauch der Energie im Vergleich zur traditionellen
Landwirtschaft verfünfzigfacht.“ (Bäuerlein 2011: S.45). Der hohe Energieaufwand
bei der Herstellung von viel Fleisch15 (weltweit 229 Millionen Tonnen im Jahr 2001
(Mackensen 2008: S.232)) fußt also auf einem ohnehin schon hohen
Energieaufwand für pflanzliches Futter. So führt industrialisierte Fleischproduktion
zu verschiedenen ökologischen Folgeproblemen:
• Klimagase: Methan (CH4), Distickstoffmonoxid (Lachgas, N2O) und
Kohlenstoffdioxid (CO2) sind maßgeblich klimawirksam. 18 Prozent des
Gesamtausstoßes dieser Gase wird durch die Viehwirtschaft verursacht
(Steinfeld / FAO, 2006). Sie entstehen vor allem bei der Atmung, durch
synthetische Dünger für Futtermittel und im Verdauungstrakt der
Wiederkäuer. Das vom Menschen freigesetzte Methan stammt zu 37 Prozent
aus der Tierhaltung (Methan wirkt als Klimagas 23 mal stärker als CO2). Vor
allem der Kunstdüngereinsatz führt dazu, dass 65 Prozent der
Lachgasemissionen durch die Landwirtschaft verursacht sind (Lachgas wirkt
als Klimagas etwa 300 mal stärker als CO2).
• Wasserverbrauch und -verschmutzung: Etwa 8 Prozent des global
verfügbaren Trinkwassers wird durch die Viehwirtschaft verbraucht (Steinfeld
/ FAO, 2006). Und um ein Kilogramm Rindfleisch herstellen zu können,
benötigt man etwa 15.000 Liter, für ein Kilogramm Getreide 450 Liter.
„Abgesehen vom hohen Wasserverbrauch trägt die Nutztierhaltung durch
tierische Abfälle, Antibiotika, Hormone, Chemikalien von Gerbereien,
Düngemittel und Pestizide auch zu Wasserverschmutzung, Eutrophierung
und zur Zerstörung der Korallenriffe bei.“ (Mackensen 2008: S.233).
• Boden: Im Zuge der Intensivierung der Viehwirtschaft wurde diese von den
Futtermittelflächen „getrennt“. Früher hat der Bauer so viele Tiere halten
15
Veredelungsverluste bei der Fleischerzeugung im Vergleich zu Brot bzw. direkter
pflanzlicher Nahrung (1:1): Hühnerfleisch 1:2, Schweinefleisch 1:3, Eier 1:4, Milch 1:5,
Rindfleisch 1:10 (Katalyse Institut nach Waskow & Rehaag, 2011). Im Gegensatz dazu Smil
(2002), der Milch als effizientestes tierisches Nahrungsmittel vor Eiern und Hühnerfleisch
nennt.
21. 13
können, wie er mit dem Futter, das er auf seinem Land anbaute, ernähren
konnte. Heute ist der Futtermittelhandel globalisiert und verursacht
Transportkosten (CO2). Auf 33 Prozent der Anbauflächen wird Futter für
Nutztiere angebaut (Steinfeld 2006). Um weitere Flächen zu erschließen,
wird Regenwald abgeholzt (und damit ein CO2-Speicher16). Weideflächen
und Futtermittelmonokulturen führen dazu, dass der Boden auslaugt,
versandet (Desertifikation) und seine CO2-Speicherkapazität zurück geht.
Hinzu kommt, dass Kühe, damit sie schneller wachsen, mit Kraftfutter
gefüttert werden und so auch in Nahrungsmittelkonkurrenz zum Menschen
treten – obwohl sie eigentlich die Eigenschaft haben, für den Menschen nicht
direkt essbares Gras in Fleisch zu verwandeln.
• Diversität: 90 Prozent aller Nutztiere weltweit gehören zu 15 Tierarten (FAO
2007). Zusammen mit den Futtermittelmonokulturen kommt es so zu einem
starken Diversitätsverlust im globalen Ökosystem, der dessen Resilienz
(Toleranz eines Systems gegenüber Störungen) schwächt (dazu ausführlich:
Gura 2010).
• Dünger: Die Herstellung von Kunstdünger ist sehr energieaufwändig. Die
CO2-Bilanz von Agrarprodukten und Fleisch verschlechtert sich also durch
den Einsatz von Kunstdünger. „Weltweit fließen jährlich etwa 90 Millionen
Tonnen Erdöl in die Herstellung von Dünger für den konventionellen
Landbau und setzen dabei 250 Millionen Tonnen CO2 frei.“ (Mackensen
2008: S.235). Außerdem kommt es zu Grundwasserbelastungen und dem
Ausstoß von Lachgas, weil Bodenbakterien den Düngerstickstoff
umwandeln.
Die oben genannten Punkte zeigen, dass es energetisch ineffizient ist, viel Fleisch
zu essen. Die industrialisierte, globalisierte Fleischwirtschaft verursacht mit den
oben genannten Aspekten hohe Kosten, die externalisiert werden. Der Fleischpreis
beim Endverbraucher ist niedrig, die Kosten für die Allgemeinheit sind hoch (vgl.
Hardin (1968) und die Tragik der Allmende). Die ökologische Produktion von Fleisch
16
Nach einer neuen Rechnung von Kurt Schmidinger vervielfacht sich der CO2-Abdruck von
Fleisch erheblich, wenn man die verlorengegangene Speicherkapazität des Regenwaldes
berücksichtigt: von 59 auf 335 kg (http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2012-07/klimakiller-
fleisch (Letzter Zugriff: 5. Juli 2012))
22. 14
kann aber nur eine Lösung sein, wenn gleichzeitig auch der Fleischkonsums
reduziert wird, da die CO2-Bilanz von artgerecht gehaltenen Tieren oft schlechter ist
als von konventionell17 gehaltenen,
u. a. wegen der längeren Lebens- und damit Emittierzeit der Öko-Tiere18. Und: Die
Gleichung „Weniger Fleisch = weniger Treibhausgase“ ist zu kurz gegriffen.
Reduzierter Fleischkonsum ist nur ein Faktor, bei dem auch innerhalb der
Fleischsorten unterschieden werden muss: Rindfleisch weist beispielsweise eine
vielfach schlechtere Klimabilanz auf als Schweinefleisch (vgl. Garnett 2010;
Wirsenius & Hedenus 2010: S. 240). Auch führt beispielsweise Käse zu höheren
Treibhausgasemissionen als Fleisch insgesamt (Abb. 4).
Abbildung 4: Treibhausgasemissionen verschiedener Lebensmittel (von der
Landwirtschaft bis zum Handel). Aus: Wiegemann et al. (2005), S.30.
17
Bemerkenswert ist, dass die industrialisierte Massentierhaltung den Begriff „konventionell“
für sich besetzen konnte. „Konventionell“ bedeutet laut Duden Fremdwörterbuch „den
gesellschaftlichen Konventionen entsprechend“ oder „herkömmlich“. Da die industrialisierte
Massentierhaltung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit weitgehend verborgen bleibt, ist
fraglich, ob die Gesellschaft diese Haltungsform tatsächlich Konvention akzeptieren würde.
Auch bezogen auf die gesamte industrialisierte Landwirtschaft merkt Tudge (2010: S.15) an,
dass der Begriff „konventionell“ „anomal“ verwendet wird.
18
Aber auch hier muss differenziert werden: Die ökologische Produktion von
Schweinefleisch verursacht weniger CO2 als die konventionelle, bei Rindern ist es
umgekehrt (vgl. Williams et al. 2006: S.73). Werden aber auch externe Kosten wie
Düngereinsatz oder Treibstoffe einberechnet, sei die Energieeffizienz und auch die CO2-
Emmisionen der ökologischen Landwirtschaft besser, argumentiert Young (2010: S.87).
23. 15
So zeigt Abbildung 5, dass eine vegetarische Mahlzeit, bestehend aus Reis und
Tomaten, bezüglich der Treibhausgasemissionen auch schlechter abschneiden
kann als eine Mahlzeit aus Schweinefleisch und Kartoffeln (bei gleichem Energie-
und Eiweißgehalt). Jedoch: „Generell lässt sich sagen, dass eine Ernährung mit viel
Obst und Gemüse und wenig Fleisch- und Fertigprodukten durch geringe
Emissionen und geringen Flächenverbrauch geringere Umweltauswirkungen hat, als
eine Ernährung mit viel Fleisch- und fetthaltigen Milchprodukten.“ (Stratmann 2008:
S.13)
Abbildung 5: Treibhausgasemissionen von vier verschiedenen Mahlzeiten mit
demselben Energie- und Eiweißgehalt (2000 Joule und 22-24 g Protein).
Aus: Osterburg et al. (2009), S. 75, nach Carlsson-Kanyama (1998).
Nicht messbar oder objektivierbar sind hingegen ethische Aspekte der industriellen
Fleischproduktion, wie das folgende Kapitel zeigt.
2.3 Ethische Aspekte der massenhaften Fleischproduktion
Industrialisierte Massentierhaltung ist legal. Es gibt Vorschriften zu Haltungs- und
Transportbedingungen, es gibt Futtermittelverordnungen, und es gibt überwachende
Veterinärämter. Durch solche Maßnahmen will der Gesetzgeber die
Gesundheitsrisiken für den Verbraucher minimieren. Das Gesetz ist die Instanz,
nach der die Produzenten ihr Handeln ausrichten müssen. Entsprechend der
Mechanismen des freien Marktes steht dabei das Interesse an Fleisch mit einem
guten Preisleistungsverhältnis im Mittelpunkt. Wenn technologische und Effizienz
steigernde Innovationen seitens der Produzenten nicht gegen das Gesetz
verstoßen, freuen sich die Verbraucher über kleinere Preise und die Produzenten
24. 16
über einen Wettbewerbsvorteil. Doch Fleisch unterscheidet sich von anderen
Produkten in einem wesentlichen Punkt: Es lebt während der meisten Zeit der
Produktion als ein höheres Lebewesen (Wirbeltier). Der Naturphilosoph Michael
Hampe (2011: S.277) fasst diesen Unterschied zusammen: “Wenn Tiere als
Fleischressource betrachtet werden, dann stellen sie dieselbe Art von Natur für uns
Menschen dar wie das Erz in einem Bergwerk, das ausgebeutet wird; mit dem
Unterschied, dass diese Ressource nachgezüchtet werden kann. Warum kann
Menschen das als falsch erscheinen? Weil Tiere leiden, ist eine mögliche Antwort,
und Leid vermieden werden sollte. Erz kann man nicht grausam behandeln,
Schweine, Rinder und Hühner sehr wohl.”
Und so soll es hier in erster Linie um jene ethischen Aspekte gehen, die das
Produkt, also das Tier selbst betreffen. Hinzu kommen Probleme bezüglich der
Verantwortung des einzelnen Konsumenten gegenüber den oben erwähnten
Umweltauswirkungen des Fleischkonsums und den Kosten, die der Gesellschaft
dadurch entstehen. Andere Aspekte werden hier aber vernachlässigt, etwa die
Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie (Billiglöhne etc., vgl. Lütge 2012) oder
soziale und gesundheitliche Probleme von Bauern durch Intensivtierhaltung
(Borowski 2007, Jürgens, 2002)).
2.3.1 Tierleiden als ein Grund für die ethische Fleischdiskussion
Leid ist eine recht subjektive Empfindung. Menschen leiden aus verschiedenen
körperlichen oder seelischen Gründen und je nach Konstitution unterschiedlich
stark. Umso schwieriger ist es, tierisches Leid zu erfassen, da Tiere ihr Leid nicht in
Form von Sprache mitteilen können. Die Wirbeltiere, um die es hier geht, besitzen
aber zumindest alle ein Nervensystem inklusive Nozizeptoren (Schmerzsinn), mit
denen sie unangenehme (aversive) Reize aufnehmen können und auf die sie
reagieren (etwa durch Humpeln oder vermeidendes Verhalten). Das Ausmaß
tierischen Schmerzes lässt sich nicht objektivieren, auch nicht in welcher Form und
wie bewusst Tiere Schmerz erleben. Weil der Mensch sich nicht in das Schwein
hinein versetzen oder sich mit ihm austauschen kann, bleibt tierisches Leid
Ausgangspunkt für ethische Diskussionen19. Folgende Faktoren, die dieses Leid
19
Dazu siehe etwa Singer (1996) oder Wolf (2005). Zu den Grundeinstellungen siehe
anthropo- patho-, bio- oder physiozentrische Positionen (Sombetzki 2010).
25. 17
verursachen könnten und in der deutschen Intensivtierhaltung auftreten, werden
besonders häufig genannt:
• Bei Schweinen:
o Auf Spaltböden kann der genetisch verankerte Trieb des Wühlens
nicht ausgelebt werden, es kommt zu Triebstau und
Ersatzhandlungen (gegenseitiges Flanken blutig wühlen,
Ohrenbeißen, Kotfraß) (Borowski 2007: S.37).
o Den Ferkeln werden ohne Betäubung die Samenleiter durchtrennt,
die Wunde bleibt offen. „Das höchstens sieben Tage alte Tier schreit
erbärmlich.“ (Etscheit 2012).
o Abschneiden der Schwänze und Abschleifen der Zähne (ohne
Betäubung), um durch die Stallenge auftretenden Anzeichen von
Kannibalismus zu minimieren.
o Enge: Einem 110 kg schweren Mastschwein stehen in
Gruppenhaltung laut EU-Richtlinie (2008) 0,65 m2 Fläche zu.
o Stecher haben meist weniger als zwei Sekunden Zeit zum Abstechen
pro Tier. Ein Grund, warum in Deutschland ca. 250.000 Schweine
jährlich lebendig gebrüht werden (Tröger 2012).
• Bei Hühnern:
o Schnabelkürzen mit einer Zange und ohne Betäubung, um durch die
Stallenge auftretenden Anzeichen von Kannibalismus zu minimieren.
o Vergasung oder Schreddern (mit dem so genannten Kükenmuser)
von 30 bis 50 Millionen männlichen Küken jährlich aus der
Legehennenproduktion in Deutschland (Etscheit 2012).
o Herz-Kreislaufprobleme und Beinschäden durch Überzüchtung
(Mastzeit hat sich in den letzten 50 Jahren von 90 auf 30 Tage
verringert) (Hörning 2011).
• Bei Rindern:
o Milchleistungssteigerungen seit 50 Jahren und entsprechende
Zuchtmerkmale führen dazu, dass in Deutschland „annähernd zwei
Drittel der Kühe aufgrund von (teilweise zuchtbedingten)
Gesundheitsstörungen wie Sterilität, Euterkrankheiten,
Stoffwechselkrankheiten u. ä. vorzeitig geschlachtet“ werden müssen
(Hörning 2011).
26. 18
o Fütterung mit für Kühe schwer verdaulichem Kraftfutter, was zu
schnellerem Wachstum aber auch Schädigungen der inneren Organe
führt (Borowski 2007: S.35).
• Artübergreifend: Durch die globalisierte Fleischindustrie und
Transportsubventionen werden lebende Tiere innerhalb Europas und bis in
den Nahen Osten und Nordafrika transportiert. 1-2 Prozent der Rinder und
jedes zehnte Schwein sterben durch den Stress bzw. körperlichen
Belastungen wie Durst, Hitze, Kälte, etc. (Borowski 2007: S.38).
2.3.2 Ethische Konzepte zum Fleischverzehr
Ausgeblendet wird hier die Ethik-Frage, ob Tiere überhaupt geschlachtet werden
sollten, um dem Menschen als Fleischlieferant zu dienen. Vielmehr wird es darum
gehen, wie Tiere zu Fleischlieferanten werden und welche ethischen Implikationen
Intensivtierhaltung und massenhafter Fleischkonsum mit sich bringen.
Zunächst: Was haben wir davon, wenn wir uns moralisch gut verhalten? In der
Nikomachischen Ethik geht Aristoteles der Frage eines glücklichen Lebens
(eudaimonia) nach und kommt zu dem Schluss, dass ein moralisch gutes Leben zu
einem glücklichen Leben führt. Moral wird zu einem Mittel zum Zweck (Sombetzki
2010). Dieses Konzept könnte bei entsprechenden Moralvorstellungen dazu führen,
dass der bewusstere Konsum von Fleisch (weniger und aus artgerechter Haltung)
Menschen glücklich macht. Nach Kants kategorischem Imperativ ist ethisches
Handeln ein Selbstzweck, doch bei beiden Konzepten gilt eine Voraussetzung: Der
Mensch muss sich seinen Handlungen und den daraus folgenden Konsequenzen
bewusst sein. Er muss Verantwortung übernehmen. Nur dann kann er ethisch
handeln, sei es, weil er nach Glück strebt oder einem kategorischen Imperativ folgt.
Durch Max Weber hat diese Verantwortung Einzug in die Ethik gehalten. Während
Kant und Aristoteles eher auf einer Metaebene argumentieren, die relativ weit
entfernt vom praktischen Alltag ist, eignet sich der Verantwortungsbegriff hier
besser, weil er Handlungen und ihre Konsequenzen schon in sich trägt. Jeder kann
Konsequenzen seiner Handlungen konkret und im situativen Kontext vorausahnen
oder retrospektiv betrachten. Diese Verantwortung kann deskriptiver (ursächlicher)
oder normativer (an Wertmaßstäben orientierter) Natur sein.
27. 19
Deskriptiv betrachtet ist jeder Mensch, der Fleisch isst, mitverantwortlich für die
oben genannten Umweltzerstörungen. Hinzu kommen die Betreiber der
Intensivmastanlagen und großen Schlachthöfe, die Politiker, die keine Leid
reduzierenden Gesetze einführen, die Futtermittelhersteller usw.. Die Liste zeigt,
dass es sich beim heutigen Fleischproblem um eine kollektive Verantwortung
handelt. Betrachtet man diese mit der Differenz-Sicht, nach der sich die individuelle
Verantwortung in Abhängigkeit von der Anzahl der Personen vermindert (Sombetzki
2010) führt das schnell zu dem Argument: „Wenn ich auf mein Schnitzel verzichte,
ändert das nichts an der Massentierhaltung“. Doch Verantwortung ist keine fixe
Größe, die sich wie ein Kuchen aufteilen lässt (Invarianz-Sicht). Die Verantwortung
gegenüber dem Fleischproblem lässt sich nach De George (1986, nach Lenk &
Maring 1995) so beschreiben, dass die Gruppe voll und die Mitglieder partiell
verantwortlich sind. Wer genau Teil dieser Gruppe (Produzenten, Politiker etc.) ist,
kann hier nicht erarbeitet werden. Wichtig ist, dass die Konsumenten dazu gehören.
Sie sind teilweise für die oben genannten Probleme verantwortlich. Weil sich die
Fragestellung dieser Arbeit auf die Konsumenten bezieht, soll es hier nun noch um
deren Selbstverantwortung gehen und um das Problem der Distanz zwischen
individuellen Handlungen und gesellschaftlichen bzw. globalen Auswirkungen20.
2.3.3 Individuelle Verantwortung und die Distanz zwischen
Handlungen und den Folgen
Verantwortlichkeit bezüglich der Auswirkungen des massenhaften Fleischkonsums
kann hier nicht deskriptiv behandelt werden. Wer in der oben genannte Gruppe wie
kausal für welchen Teilbereich verantwortlich ist, ist unter anderem wegen der
Komplexität des Systems kaum zu beantworten. Mit Blick auf die Konsumenten und
ihre Handlungsmotivationen, um die es hier geht, soll es um normative
Verantwortung gehen. Und da wiederum stellt sich zunächst die Frage nach der
Instanz: Vor wem oder was soll ich mich verantworten?
Sombetzki (2010) lässt die Wahl, grob gesagt, zwischen Gott, Gesetzen oder
Gewissen. Gott (oder andere absolute Instanzen wie die Natur, die Menschheit etc.)
sind nicht hinterfragbar und werden hier nicht diskutiert. Instanzen wie Gerichte oder
20
Dieser Fokus, der sich auf die Folgen von Handlungen richtet, ist dem Utilitarismus
zuzuordnen. Vgl. dazu: Deontologische Ethik, die vor allem die Intention des Handelnden
moralisch beurteilt.
28. 20
das Gesetz sind jene mit den objektivsten Kriterien – Verantwortung wird vor
Gerichten auch eher im Zusammenhang mit Schuld behandelt. Wenn etwa ein
Großhändler verdorbenes Fleisch umetikettiert oder ein Tiertransporter die
vorgeschriebenen Pausenzeiten nicht einhält und erwischt wird, muss er sich vor
Gericht verantworten. Der Großteil der Aktivitäten in der Fleischindustrie ist jedoch
legal. Außerdem könnten lediglich Politiker Verordnungen oder Gesetze ändern und
über diesen Hebel die oben genannten Probleme angehen21. Hier jedoch soll es um
den Konsumenten gehen, der sich im Zusammenhang mit bewusstem oder
nachhaltigem Konsum vor seinem Gewissen verantwortet. Das Entscheidende
hierbei: Es ist eine höchst subjektive Instanz. Denn die notwendigen normativen
Kriterien, die dem Gewissen, der Verantwortung vor dem Selbst, zu Grunde liegen,
sind abhängig von den Erfahrungen und Einstellungen des Einzelnen. Der eine mag
es unverantwortlich finden, ein Tier töten zu lassen, um ein Schnitzel essen zu
können. Der andere beruft sich auf den Menschen als das die Natur beherrschende
Wesen und hat kein schlechtes Gewissen, wenn in der Fleischindustrie tierisches
Leid entsteht.
Aber gerade weil die subjektiven Kriterien des Gewissens von Erfahrungen
abhängen, sind sie auch potentiell von außen beeinflussbar. Menschen können
neue Erfahrungen machen, sie können neue Informationen aufnehmen, die die
Kriterien ihres Gewissens verändern. Würden also mehr Menschen von den
Problemen des Fleischkonsums wissen, würden weniger von ihnen
verantwortungslos (in großen Mengen und aus Massentierhaltung) Fleisch essen?
Wäre eine groß angelegte Aufklärungskampagne ein adäquater Lösungsansatz?
Weil durch Fehlernährung vor allem für Gesundheitssysteme hohe Kosten
entstehen, starten Regierungen regelmäßig Aufklärungskampagnen, um das
Problem im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Doch obwohl sie dabei nicht
an das Gewissen gegenüber anderen appellieren, sondern sogar die eigene
Gesundheit als Motivation anbieten, spricht vieles dafür, dass mit Informationen und
Aufklärung kaum etwas erreicht wird. Die Erfolge von Verbraucherinformation,
-aufklärung und -bildung sind gering (Reisch & Gwozdz 2011).
21
Das Gesetze jedoch auch Spielraum für Interpretationen lassen, zeigt sich am deutschen
Tierschutzgesetz, das nach §1 verbietet, einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen,
Leiden oder Schäden zuzufügen. Die Verfügbarkeit von preiswertem Fleisch scheint ein
hinreichend vernünftiger Grund zu sein.
29. 21
Beim massenhaften Fleischkonsum kommt hinzu, dass Aufklärung und Transparenz
wegen der entsprechenden Umstände in Ställen und Schlachthöfen seitens der
Produzenten nicht gewünscht und seitens der Politik nicht erzwungen wird. Der
Konsument ist vom Tier, dessen Tod und der Verarbeitung entkoppelt, weshalb es
für ihn kaum möglich ist, eine Beziehung zu den Problemen aufzubauen bzw. ein
Bewusstsein dafür zu entwickeln.
Doch wird das Verantwortungsbewusstsein des einzelnen gegenüber der (globalen)
Gesellschaft immer wichtiger. Maniates (2002: S.45) nennt diesen Trend die
„Individualisierung der Verantwortung“. Und Sombetzki (2010: S.20) zitiert Ludger
Heidbrink (2006): „Ohne das Verantwortungsprinzip scheint die moderne
Gesellschaft nicht mehr lebensfähig zu sein.“ Die Summe der Handlungen des
einzelnen Menschen führen zu Problemen wie Umweltzerstörung, Klimawandel oder
dem Fleischproblem. Doch der Einzelne trägt keine ursächliche Schuld. Nach De
Georges Modellen der Zuschreibung kollektiver moralischer Verantwortung (1986,
nach Lenk & Maring 1995) sind die Fleischkonsumenten eine Gruppe, die als solche
voll verantwortlich ist und in der alle Mitglieder partiell verantwortlich sind. Doch die
Gruppe ist nicht ansprechbar und die Mitglieder sind so zahlreich, das ihre
Teilverantwortung verschwindend gering ist. Es kann nur schwer ein
Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung einer Handlung hergestellt werden:
„Wenn ich kurz mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, ändert das
nichts am Klimawandel. Wenn ich auf mein Schnitzel verzichte, wird der Regenwald
trotzdem für die Schnitzel der Millionen anderen gerodet,“ denken sich viele.
Außerdem ist Nahrungsaufnahme als Teil allgemeinen Konsums eine alltägliche
Gewohnheit wie Schlafen, Sporttreiben oder Kinderbetreuung. Und obwohl für diese
Tätigkeiten Materialien und Infrastrukturen benötigt werden, werden Menschen sich
nicht bewusst, dass sie dabei Ressourcen verbrauchen (Røpke 2009: S.2490).
Zwischen Handlungen und den Folgen besteht nur ein diffuser
Verstrickungszusammenhang. „Schicksalhaft ist die moderne Verantwortung, weil
sie […] sich als Folge unkontrollierbarer systemischer Prozesse einstellt.“ Und: „Wo
das Individuum sich aus freiem Antrieb in Verstrickungszusammenhänge
hineinstellt, an denen es keine direkte Schuld trägt, übernimmt es das in seine
Zuständigkeit, was jenseits der kausalen und normativen Zurechenbarkeit liegt.“
(Heidbrink 2008/09).
Theoretisch ist der Fleischkonsument also mitverantwortlich für die
Fleischprobleme. Doch seine Einflussmöglichkeiten sind begrenzt. Immerhin: Er
30. 22
kann passiv Einfluss nehmen, indem er seine Konsumgewohnheiten ändert. Und
das ist zunehmend der Fall. Immer mehr Konsumenten bevorzugen Güter und
Dienstleistungen, die über einen moralischen Mehrwert verfügen, Verantwortung ist
zu einem Marktfaktor geworden (Heidbrink & Schmidt 2009). Die Handlungen der
Einzelnen summieren sich zumindest zu einer wahrnehmbaren Masse. Diese
Moralisierung der Märkte ist unter anderem drauf zurückzuführen, dass sich das
allgemeine Konsumverhalten ändert.
Und besonders beim Fleisch gibt es noch einen zweiten, direkteren Weg, über den
es zu Verantwortungsbewusstsein kommt: Das Leiden der Tiere. Während die
Regenwaldrodungen abstrakt und weit weg bleiben, veröffentlichen viele
Tierschutzorganisationen (etwa Peta) emotional aufwühlende Bilder aus
Schweineställen und von Tiertransporten. Dieser wirkt zumindest kurzfristig als Apell
an das Gewissen. Das Projekt MeinekleineFarm.org, das in Kapitel 4 beschrieben
wird, geht den entgegengesetzten Weg und nutzt positive Gefühle (die im
Gegensatz zu Schockbildern dauerhaft rezipiert werden können und nicht zu einer
Blockadehaltung führen).
Ob es nun um die Umweltzerstörung oder das Tierleiden geht – das Gewissen ist
die Instanz, an der sich das Handeln ausrichtet. Die Maßstäbe des Gewissens sind
jedoch durch Erfahrungen und Reize wandelbar und auch von gesellschaftlichen
Moralvorstellungen beeinflusst. Mit dem Wandel gesellschaftlicher Trends und
Strömungen ändert sich demnach auch das Verhalten vieler Menschen in diesen
Gesellschaften.
31. 23
3 Faktoren des Nahrungsmittelkonsums und sein
Wandel
In Deutschland und anderen sogenannten Überflussgesellschaften sind die
materiellen Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt. Niemand muss verhungern,
und weil die Qualitätsstandards im Nahrungsmittelbereich gleichmäßig hoch sind,
bleibt dem Konsumenten vor allem der Preis als Auswahlkriterium. Doch auch die
Preisunterschiede sind auf dem ausdifferenzierten Markt nur noch marginal. Da der
Grundbedarf also gedeckt ist und die Produkte sich kaum noch materiell
unterscheiden, wird eine nächste Stufe des Anspruchs beschritten: Zunehmend
gewinnen immaterielle Werte an Bedeutung. Individualisierung, Selbstversorgung
(Urban Gardening etc.) und eine bewusste Beziehung zum Ursprung der Nahrung
werden wieder nachgefragt.22 Dieser Werteanspruch hängt bei Nahrungsmitteln
zudem mit Gesundheitsaspekten zusammen: Biozertifizierte Lebensmittel müssen,
je nach Verband und Siegel, strengere Auflagen bezüglich Pestizideinsatz u. ä.
einhalten.
Doch während Konsumenten hierzulande ethische, soziale und ökologische
Ansprüche an den Herstellungsprozess von Nahrungsmitteln stellen, versuchen
knapp 2,5 Milliarden Menschen mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag (Weltbank
2012), „nur“ ihren Energiebedarf zu decken. Neben dem sich hier vollziehenden
Wandel (Kapitel 3.1) darf nicht vergessen werden, dass Fleischkonsum auch eine
globale Komponente hat (Kapitel 3.2).
3.1 Wie Konsumenten nach neuem Vertrauen suchen
Bio boomt immer noch. Zuletzt (2011) stieg in Deutschland der Umsatz mit
Bioprodukten um 9 Prozent, der Anteil am gesamten Lebensmittelmarkt erhöhte
sich auf 3,7 Prozent (BÖLW 2012). Trotz dieses noch geringen absoluten Wertes
deuten einige Faktoren darauf hin, dass Bio sich weiter etabliert: Es gibt kaum noch
22
So spricht das Gottlieb Duttweiler Institut (11. Juli 2012 ) in seiner Einladung zu einer
Gesprächsrunde über die Zukunft der Produktion von der „immer stärker werdenden
Sehnsucht nach Re-connection“ und dem „Age of Less“, das bereits angebrochen sei.
Allerdings unterscheiden sich die Ausrichtungen der Lebensstile je nach Milieu und Gruppe
recht stark (vgl. Sinus-Milieus).
32. 24
Discounter, die nicht auch Bio-Produkte anbieten. Und die Zahl der Nicht- bzw.
Zufallskäufer von Bio-Produkten sank (2005 bis 2008 von 63% auf 50%), während
die der Wenig- und Medium-Käufer stieg. Doch unabhängig von Bio-Siegeln wächst
unter dem Schlagwort „Nachhaltigkeit“ ein Bewusstsein für soziale, ökologische und
ethische Auswirkungen der Lebensmittelproduktion. Dieses Bewusstsein gründet
auch in einem Vertrauensverlust des Konsumenten gegenüber den Produzenten.
Der Konsument hat keinerlei Kontakt mehr zum Produzenten, denn dieser
kommuniziert heute nur einseitig-monologisch Richtung Konsument über Werbung
(in den Medien und am Point of Sale) und die Produktverpackung. Lebensmittel sind
anonym, und der Kunde hat den menschlichen Kontakt zum Hersteller oder
Verkäufer verloren. Diese Entwicklung begann in den 50er-Jahren, als in Läden und
Kaufhäusern die Tresen abgeschafft wurden. Das sparte Personalkosten und
machte Platz für ein wachsendes Sortiment. „Der abnehmende Kundenkontakt
führte zur kommunikationssoziologisch folgenreichen Transformation des Small
Talks an Theke und Kasse in einen Brand Talk zwischen Konsument und
Verpackung.“ (Wilk 2011: S.256). Über die Texte auf der Verpackung wurde
versucht genau das zu kompensieren, was verloren gegangen ist: Nähe und
Vertrauen.
Dieses Pseudo-Vertrauen wurde durch Lebensmittelskandale erschüttert. „Um der
Verbraucherverunsicherung entgegen zu wirken und um Lebensmittel unbeschwert
genießen zu können, besteht ein Bedarf nach Natürlichkeit, Glaubwürdigkeit und
Entanonymisierung.“ (Banik & Simons 2007). Bioprodukte decken diesen Bedarf
besser als konventionelle Produkte. Bio-Siegel müssen vertrauensbildend als
Garant wirken, dass bestimmte Kriterien bei der Herstellung eines Produktes
eingehalten wurden. Diese Siegel stellen eine extreme Komplexitätsreduktion der
vielfältigen Auswirkungen der Lebensmittelproduktion dar. Kaum ein Verbraucher
kennt die Richtlinien der verschiedenen Bio-Siegel oder weiß, was diese für den
Bauern, das Tier und die Ökobilanz bedeuten23 (vgl. BÖLW 2011 und Banik &
Simons 2007). Das Vertrauen kann sich nur auf das Siegel stützen, da der Kunde
auch bei den meisten Bio-Produkten nach wie vor keinen Kontakt zum Produzenten
wiedererlangt hat.
23
Dazu eine Antwort aus der Umfrage: „Wer kenn sich schon wirklich mit Biosiegeln aus?“.
Eine weitere: „Biosiegel *lach. Hat zwischenzeitlich ja jede Kette ein eigenes. Blickt der
Großteil der Bevölkerung doch gar nicht.“
33. 25
Weil dieser Kontakt verstärkt nachgefragt wird, gewinnen regionale Produkte immer
mehr Marktanteile, denn sie suggerieren eine Re-Koppelung zwischen
Konsumenten und Produzenten. Die geografische Nähe und kulturelle
Verwandtschaft zum Ursprung der Nahrung schafft bei regionalen Produkten
Vertrauen. So achten etwa die Hälfte aller Verbraucher beim Einkaufen auf
regionale Lebensmittel (Kunze 2012) und die Deutsche Lebensmittelgesellschaft
schreibt 2011, dass Regionalität ein Megatrend sei (DLG 2011).
Nun können regionale Produkte biozertifiziert sein oder nicht, und Bio-Produkte
können regional oder in Übersee hergestellt worden sein. Für den Verbraucher
bedeutet dies eine Verdoppelung der Komplexität. Erste Versuche, auch
Regionalität mit einem Siegel zu kennzeichnen und mit dem Bio-Siegel zu
verbinden, sind regionale Biosiegel etwa aus Baden-Württemberg und anderen
Regionen24. Innerhalb der Bioprodukte ist Regionalität für Verbraucher der
wichtigste Faktor vor artgerechter Tierhaltung (BÖLW 2011). Weil Regionalität auch
für Natürlichkeit steht, müssen regionale Produkte nicht unbedingt biozertifiziert
sein, um das Vertrauen des Verbrauchers zu gewinnen. Das Bio-Konzept ist
komplizierter als der Regionalitätsgedanke, so dass die beiden Konzepte auch in
einem Spannungsverhältnis stehen. Banik & Simons (2007) berichten von
Interviews zum Thema Regionalität, die „weitaus entkrampfter“ waren als zum
Thema Bio.
Trommsdorff (2009: S.182) nennt Zahlen, nach denen die Umwelt-Sensibilität in den
80er Jahren von 72 auf 98 Prozent gestiegen ist und das Umwelt-Verhalten von 23
auf 47 Prozent. Aber weil viele Verbraucher trotz der Bio-Siegel noch verunsichert
sind, besteht eine Lücke zwischen Intentionen und Handlungen – eine positive
Einstellung gegenüber Bio-Produkten führt nicht unbedingt zu entsprechendem
Verhalten. Kuckartz et al. (2007) sprechen dann von Umweltrhetorikern, zu denen
sie 22 Prozent der Konsumenten zählen. Ein weiterer Hinderungsgrund, sich
entsprechend der Intention zu verhalten, liegt im Fehlen von Transparenz und
Vertrauen zwischen Produzenten und Konsumenten (Heidbrink & Schmidt 2009:
S.29). Dieses mangelnde Vertrauen rührt auch daher, dass industrialisierte Nahrung
zunehmend als Risikofaktor wahrgenommen wird. „Natürlichkeit gewinnt bei den
Konsumenten an Bedeutung“ und Produktion, Handel und Konsum von
24
vgl.: http://www.bio-siegel.de/infos-fuer-verbraucher/regionale-bio-siegel/ (letzter Zugriff:
19. Juli 2012).
34. 26
Lebensmitteln sowie mögliche Alternativen werden zunehmend in der Öffentlichkeit
diskutiert. (Brunner 2011: S.211).
Bio-Nahrungsmittel und die entsprechenden Siegel werden also nach wie vor
nachgefragt. Noch eingängiger und vertrauenswürdiger ist zurzeit jedoch der
Gedanke an die geografische Nähe zum Herstellungsort der Nahrung. Doch
während sich hier einige auf Regionalität rückbesinnen, führt der globale
Ernährungswandel zu alten Problemen in neuen aufstrebenden Gesellschaften.
3.2 Globaler Ernährungswandel
Während der Fleischkonsum in einigen westlichen Industrieländern stagniert oder
zurückgeht, steigt er in sich wirtschafltich entwickelnden Ländern und global weiter
an (s. Kapitel 2.1). Wie in Abbildung 6 zu sehen, ist dieser Anstieg unter anderem
bedingt durch die sogenannte Nutrition Transition, nach der sich mit wirtschaftlichem
Wachstum, Urbanisierung, Rückgang körperlicher Arbeit und wachsendem Einfluss
von Massenmedien auch die Ernährungsgewohnheiten ändern (Caballero & Popkin
2002). Während in Ländern großer Armut viele Menschen darunter leiden, dass sie
wenig Fette und viel Kohlehydrate zu Verfügung haben, aber körperlich hart
arbeiten müssen, wird diese Diät in westlichen Überflussgesellschaften im Namen
der Gesundheit bevorzugt. Der wesentliche Unterschied ist jedoch, dass
hierzulande kein Nährstoffmangel besteht.
Zwischen Hunger und Überfluss kommt es zu einer Art Sättigung (in Abb. 6 Pattern
4), in der Zucker, Fett, Fleisch und Fast-Food zusammen mit dem Rückgang
körperlicher Arbeit zu gesundheitlichen Problemen, besonders Adipositas führen.
Weil die Nutrition Transition in Schwellenländern viel schneller abläuft als früher in
westlichen Staaten, kommt es zu Überreaktionen: Waskow & Rehaag (2011: S.145)
zitieren Hawkes, nach dem sich der Speiseölkonsum in China von 1995 bis 2005
verdoppelt hat. Anfangs ein Segen für Unterernährte, liegen die verzehrten Mengen
heute weit über den empfohlenen Mengen.
35. 27
Abbildung 6: Phasen der Nutrition Transition (aus Caballero & Popkin, 2002: S.3).
NR-NCD bedeutet Nutrition Related Non-Communicable Disease (nicht
übertragbare Krankheiten wie Diabetes, Osteoporose oder Adipositas, die
durch ungesunde Ernährung wahrscheinlicher werden). Abb. inkl. Pattern 1
und 2 (Jäger/Sammler und Hunger) s. Caballero & Popkin, 2002: S.112.
Die Änderung der Ernährungsgewohnheiten geht auch mit der zunehmenden
Urbanisierung und „Supermarktisierung“ einher. Die Liberalisierung der Agrarmärkte
fördert das Wachstum ohnehin schon großer Nahrungsmittelkonzerne und
Skalierungen bezüglich des massenhaften Absatzes von Produkten. Während in
westlichen Ländern der Markt materiell weit gehend gesättigt ist, gibt es in den
Schwellen- und Entwicklungsländern noch großes Absatzpotential für Produkte, die
hierzulande zunehmend in Verruf geraten25.
Dort wächst die Zahl der Supermärkte mit mehr und mehr erschwinglichen bunten
(aber ungesunden) Produkten. Hier kommt es zur Verhaltensänderung wie in
Pattern 5 der Abb. 6 beschrieben: Ständiges Sitzen (sedentarianism) in
Dienstleistungsgesellschaften wird durch Sport und andere Aktivitäten
ausgeglichen, die Ernährung erfolgt bewusster und gesundheitsorientierter. Dort
25
Die Verbreitung von Fernsehern fördert diesen Absatz nicht nur durch Werbung, sondern
trägt darüber hinaus auch zu einem inaktiven Lebensstil bei. (Caballero & Popkin, 2002: S.4)
36. 28
kommt es zu massiver Werbung, die den Western Lifestyle26 anpreist, der wiederum
zu Übergewicht führt und bei immer mehr Menschen die Lebenserwartung verringert
(„globesity“ wird dieses weltweite Phänomen auch genant). Hier sind regionale und
ökologische Nahrungsmittel zunehmend gefragt, und zurückhaltender, bewusster
Konsum ist auch medial ein Dauerthema27.
Nachdem der allgemeine Ernährungswandel in Deutschland, in westlichen
Gesellschaften und global betrachtet wurde, geht es nun um Fleischkonsum im
speziellen.
3.3 Faktoren des Fleischkonsumverhaltens
Verhaltensweisen beim Nahrungsmittelkonsum werden von vielen verschiedenen
Faktoren beeinflusst. Dazu zählen etwa soziökonomische und soziodemografische
Faktoren wie Alter, Geschlecht, Lebensstil, finanzielle Situation oder Bildungsgrad
aber auch situative Faktoren wie die momentane Gefühlslage, Atmosphäre oder
Gruppendynamik in der Verzehrsituation. Auch körperliche Dispositionen (etwa
Allergien) spielen eine Rolle (vgl. Ernährungsökologie bei Schneider & Hoffmann
2011). Ernährung wird auch durch kulturelle und religiöse Faktoren beeinflusst (vgl.
Palmer 2010: S.227ff.), als Statussymbol verwendet und befriedigt physiologische
(Nährwert) und psychologische (Genusswert) Bedürfnisse, die in einem emotionalen
Wert münden (Kofahl 2011: S.280).
Beim Fleischkonsum spielen neben dem zunehmenden Gesundheitsbewusstsein
und abschreckenden Tierseuchen und Skandalen auch Wertevorstellungen eine
Rolle. Das Image von Fleisch hat sich seit den 90er-Jahren verschlechtert, was
auch an der massenhaften, billigen Verfügbarkeit, der Sättigung des Marktes und
26
Und im Ursprungsland des Western Lifestyle, den USA, gibt es seit den 90er Jahren eine
wachsende Bewegung der „Voluntary Simplifiers“, die bewusst auf einen Teil ihres
Einkommens und materiellen Luxus verzichten. Die Simplifiers entspannen und vereinfachen
ihr Leben auch durch reduzierten Konsum, um glücklicher zu werden (Maniates, 2002
S:199ff.).
27
Etwa Kultur SPIEGEL, Januar 2012: „Abspecken“ (reduzierter Konsum); DIE ZEIT, 15.
Dezember 2011: „Unsere Gier nach Futter“ (globale Fleischindustrie); DIE ZEIT, 22. März
2012: „Bio“ als Titelgeschichte; STERN, 9. Februar 2012: „Unser täglich Fleisch“;
Neuerscheinungen wie das Magazin „enorm“ (nachhaltiger Konsum); zeo2 03/12: „Unsere
irre Lust auf Fleisch“.
37. 29
der Berichterstattung in den Massenmedien liegt (Alvensleben & Mahlau 1998).
„Auch eine zunehmende Entfremdung von der Landwirtschaft im Allgemeinen und
speziell zur Schlachtung von Tieren sowie der Wahrnehmung des Tieres als
Nutztier“ tragen dazu bei (Deimel et al. 2010: S.10).
Deshalb und im Zuge des in Kapitel 3.1 genannten Wandels ist Transparenz
gefragt. Während 1989 noch 50 Prozent Menschen bei einer Befragung sagten,
dass sie mehr Frischfleisch kaufen würden, wenn sie den Produzenten persönlich
kennen würden, waren es 1996 bereits 69 Prozent (Bei Wurst waren es 46 bzw. 63
Prozent) (Alvensleben & Mahlau 1998). Sich wandelnde Wertevorstellungen28 in der
Gesellschaft führen dazu, dass der Konsument nicht mehr einfach nur viele Proteine
für wenig Geld, sondern auch immaterielle Eigenschaften wie Verantwortung
gegenüber Mitmenschen, Tieren und Umwelt fordert. Mit Blick auf die Zahlen klafft
aber noch eine große Lücke zwischen Forderung und entsprechender Handlung:
Der Bio-Anteil bei Fleisch und Wurst betrug 2011 in Deutschland nur 1,1 Prozent.
Die Nachfrage ist allerdings um 28 Prozent gestiegen, und es könnte mehr Bio-
Fleisch abgesetzt werden, wenn das Angebot da wäre (BÖLW, 2012).
Menschen nutzen den Konsum auch als Statement über ihre Wertvorstellungen
(Deimel et al. 2010: S.5). Der Tierschutz ist dabei ein Wert, der im Zusammenhang
mit Fleischkonsum besonders an Bedeutung gewonnen hat. 2008 beurteilten 40
Prozent der Befragten einer Studie den Tierschutz als besonders wichtig (Schulze et
al. (2008) nach Deimel et al., 2010). Das am häufigsten genannte Motiv für den Kauf
von Bio-Nahrungsmitteln war 2012 noch vor der regionalen Herkunft an erster Stelle
die Tierhaltung (DIE ZEIT, No.13). Auch Deimel et al. (2010) konstatieren die
wachsende Bedeutung der artgerechten Tierhaltung für den Verbraucher. Die
Verknüpfung des Fleischkonsums mit dem Klimawandel ist noch nicht weit
fortgeschritten, was auch an dessen Abstraktheit und Distanz liegen mag (vgl.
Kapitel 2.3.3). 2007 gaben 22 Prozent der Befragten einer GfK-Studie an, weniger
Fleisch essen zu wollen, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Im
Zusammenhang mit dem Klimawandel bestimmen Stromverbrauch und Transport
28
Nach Trommsdorff (2009: S. 174) umfassen Werte Einstellungen zu Objekten, stehen
wegen ihres normativen Charakters mit Belohnung und Bestrafung in Verbindung und
verbinden den Einzelnen mit seiner Umwelt (sozialer Aspekt). Werte beeinflussen also das
Verhalten, weil durch sie der Soll-Zustand mit dem Ist-Zustand von Objekten abgeglichen
werden kann.
38. 30
(Auto, Flugzeug) das Bewusstsein der Menschen (Deimel et al. 2010: S.11).
Allerdings ist „grass-fed“ in den USA bereits ein Trend (Kühe werden nur mit Gras
gefüttert, was Nahrungsmittelkonkurrenz vermeidet und die Klimabilanz verbessert)
(Bäuerlein 2011: S.62).
Solche Einstellungen und Gefühle29 sind maßgebliche Einflussfaktoren des
spezifischen Kaufverhaltens, besonders beim Fleischkauf. So wird Fleisch zur
Jahrtausendwende (1999) in Deutschland kaum noch als Statussymbol oder
essentieller Eiweißlieferant betrachtet (Deimel et al. 2010: S.6ff.).
29
Gefühle werden auch durch den Kulturkreis beeinflusst, in dem man sich bewegt.
39. 31
4 MeinekleineFarm.org – Eine kleine Lösung für
ein großes Problem?
Kapitel 2.2 und 2.3 haben deutlich gemacht, dass massenhafter Fleischkonsum zu
ökologischen und ethischen Problemen führt. Das Projekt MeinekleineFarm.org
(MkF) will diesen Problemen entgegen wirken, indem es versucht, das Bewusstsein
und Verhalten der Konsumenten gegenüber Fleisch zu verändern30. Im Folgenden
wird kurz erläutert, wie MkF funktioniert, welche Annahmen dahinter stehen und wie
dabei Transparenz, Kommunikation und Storytelling zusammenwirken31.
4.1 Wie MeinekleineFarm.org funktioniert
Bei MeinekleineFarm.org kann man Wurst im Internet bestellen. Auf dieser Wurst ist
ein Foto von genau dem Schwein, aus dem diese Wurst hergestellt wurde. Der
Konsument kann quasi seiner Wurst in die Augen gucken. Er sieht das Antlitz des
Tieres, das er in Form von Leberwurst, Sülze oder anderem isst (Abbildung 7).
Bevor der Kunde die Wurst bestellt, muss er im MkF-Internet-Shop ein Schwein
auswählen32, von dem er Wurst bestellen möchte. Zwei ineinander greifende
Merkmale kennzeichnen MkF also aus: Die Entität ist das individuelle Tier, und
dessen Antlitz individualisiert das Produkt.
30
Im modernen Fleischkomplex ist der Konsument nur einer von vielen Beteiligten: Auf
politischer Ebene wird beispielsweise über Subventionen und Richtlinien entschieden, die
sich auf Art und Intensität der Fleischwirtschaft auswirken. Dieser mögliche Hebel der
Veränderung wird hier nicht betrachtet.
31
Ein ausführlicher Projektbericht, der auch das dahinter stehende Studium reflektiert, ist
hier abrufbar: http://storify.com/dennisbuchmann/meinekleinefarm-org-projektbericht (Letzter
Zugriff: 21. Juli 2012).
32
www.meinekleinefarm.org/schweine (Letzter Zugriff: 21. Juli 2012).
40. 32
Abbildung 7: Beispiel eines Aufklebers und wie dieser auf den Wurstprodukten von
MeinekleineFarm.org das entsprechende Schwein abbildet. Die Schweine
sind nummeriert, und neben dem ungefähren Geburtsdatum ist das
Schlachtdatum angegeben.
4.2 Annahmen hinter MeinekleineFarm.org
Ausgangspunkt für MkF war das politische Anliegen bewussteren
Nahrungsmittelkonsums. Nahrungsmittel sind insofern ein hochpolitisches Thema,
weil sie ein lebenswichtiger Teil jener knapper Ressourcen sind, um dessen
Verteilung es in der Politik geht. Durch Großkonzerne, Finanzspekulationen mit
Lebensmitteln, Nahrungsmittelkonkurrenzen (z.B. durch Fleisch oder Biokraftstoffe)
und sehr große Landverkäufe (Land-Grabbing) wird die Produktion zunehmend
globalisiert. Diese De-Regionalisierung führt zu weltweiten Abhängigkeiten und
reduzierter Resilienz (Anpassungsfähigkeit) des Systems gegenüber veränderten
Umwelteinflüssen33. Wie in Kapitel 3.1 angesprochen, sehen vor allem in westlichen
33
vgl. Fink-Keßler (2002): Mehr Sicherheit beispielsweise in bei der Fleischerzeugung kann
nur bedingt erreicht werden, indem die Vielfalt der Betriebe eingeschränkt wird. Wenn die
Produktion zentralisiert wird und kleine Handwerksbetriebe auf Großbetriebe abgestimmte
Vorschriften nicht einhalten können und aussterben, entsteht eine Art Monokultur: Schlüpft
dann ein Erreger durch die Sicherheitsvorkehrungen, haben Seuchen ein viel größeres
Zerstörungspotential als in einer diversen Landschaft von kleinen und mittelgroßen
Produzenten.
41. 33
Industriegesellschaften viele Menschen diese Entwicklung kritisch. Ein wesentlicher
Grund für diese Kritik und Verunsicherung ist die Entkoppelung des Konsumenten
vom Produzenten. Die Frage: „Wo kommt eigentlich mein Essen her?“, kann kaum
jemand beantworten, der in einer von Supermärkten geprägten Gesellschaft lebt34.
Die Frage wurde auf eines der wertvollsten Nahrungsmittel, das Fleisch, angewandt.
Was bedeutet die Entkoppelung für den Fleischesser, der ein halbes Hähnchen
fertig gegrillt für 2,25 € kaufen kann35? Wie das Wort Entkoppelung schon sagt: Es
bedeutet eine wachsende Distanz zwischen Konsument und Produkt. Deshalb freut
sich der Hähnchenesser über den günstigen Preis seiner Fleischmahlzeit und denkt
nicht an die Herstellungsbedingungen – will er auch nicht. Gäbe es auf der
Rückseite der Hähnchenbraterei eine große Glasscheibe, die den Blick in einen
konventionellen Hühnerstall frei gibt, ginge der Absatz der Grillhähnchen
wahrscheinlich zurück: Solch ein Anblick verdirbt den Appetit.
Folgt daraus also, dass man mehr schockierende Bilder von den Zuständen in der
industriellen Massentierhaltung verbreiten sollte, um Menschen zu einem
bewussten, reduzierten Fleischkonsum anzuregen? Problematisch dabei ist, dass
diese negative Herangehensweise vor allem über Schuldgefühle funktioniert, die
verdrängt und dann gemieden werden. Zwar wird wahrscheinlich bei vielen
Menschen kurzfristig die Instanz des Gewissens angesprochen. Aber die Botschaft
lässt sich nur sehr schwer zeitlich und örtlich mit der relevanten Handlung
zusammenbringen: Der Besitzer der Hähnchenbraterei wird es nicht zulassen, dass
schockierende Poster seinen Kunden den Appetit verderben. Doch wenn das
schlechte Gewissen und die ursächliche Handlung nicht zusammen kommen, ist
eine Verhaltensänderung unwahrscheinlich. Wer hier einen Bericht über die
Auswirkungen massenhaften Fleischkonsums liest oder sieht und vom emotional
wirksameren Tierleiden betroffen ist, sieht dort am nächsten Tag wieder das Foto
der Hähnchenidylle bei der Braterei. Zusammen mit dem appetitanregenden Geruch
werden so eher positive Emotionen ausgelöst, und Emotionen sind in
Entscheidungssituationen von großem Gewicht36 (Kroeber-Riehl et al. 2011: S.102).
Negative Bewertung von Informationen über die Massentierhaltung (etwa aus den
34
zur weltweiten Supermarktisierung siehe Wasko & Rehaag 2011: S.148
35
Etwa beim „Hühnerhaus“, Skalitzer Straße, Ecke Görlitzer Straße, 10999 Berlin-
Kreuzberg.
36
Dazu jemand aus der unten stehenden Umfrage: „Ach, die armen KZ-Hühnchen, die beim
Hähnchenstand immer so verführerisch duften…“
42. 34
Medien) kann vom limbischen System nicht direkt mit der entsprechenden Handlung
in Verbindung gebracht werden (bzw. höchstens mit der Handlung des Sitzens oder
ähnlichem im Moment des Rezipierens der Informationen). Und im Moment der
Handlungsentscheidung ist das negative Gefühl, das hemmend wirken könnte,
bereits verblasst. Die Erinnerungsfähigkeit an negative Emotionen ist ohnehin
eingeschränkt, und emotionale Belastung ist bei beabsichtigter Verhaltensänderung
nicht förderlich (vgl. de Jong-Meyer, 2009).
Auch die Ausgangsrahmenbedingungen des Projektes sprachen dagegen, mit
negativen Botschaften zur industriellen Massentierhaltung zu arbeiten, da mit
großem Widerstand seitens der Verkäufer konventionellen Fleisches gerechnet
werden musste. Es ist auch unwahrscheinlich, als Einzelner eine besondere
Wirkung zu erzielen mit einer Methode, die Vegetarier- und Tierschutzverbände
schon seit Jahrzehnten einsetzen.
Bei MkF wird deshalb eine positive Botschaft direkt mit der Konsumhandlung
verknüpft. Bevor man die Wurst auf das Brot schmiert, kann man dem Schwein, aus
dem sie gemacht ist, in die Augen gucken. Zusammen mit der Transparenz auf der
Webseite, wo zu lesen ist, von welchem Hof das Tier stammt, unter welchen
Bedingungen es aufgewachsen und wo es geschlachtet worden ist, vermittelt dies
im Moment des Konsums ein positives Gefühl und ein Gefühl des Vertrauens, so die
Annahme. Dieses Positive ist der tierisch-ethische Aspekt, dass es dem Tier, das
man gerade isst, besser ging als jenen aus der industriellen Haltung. Das Gewissen
(Kapitel 2.3.2 und 2.3.3), dessen Kriterien sich bei vielen Menschen im Zuge des
Gesellschaftswandels geändert haben (Kapitel 3), wird „beruhigt“. MkF appelliert
also nicht an die Verantwortung gegenüber der Umweltauswirkungen hohen
Fleischkonsums. Denn, so die Annahme: Die positiven Umweltauswirkungen
reduzierten Fleischkonsums lassen sich schlecht darstellen und wirken weniger
emotional – sie sind abstrakt und „weit weg“.
Und: Konsumentscheidungen als Teil menschlichen Verhaltens setzen sich immer
aus einer rationalen und einer emotionalen Komponente zusammen. Emotionen
wirken als Stimuli direkter, sie bedürfen keiner Begründung. Rationale Stimuli
hingegen müssen erst verarbeitet werden, sie beruhen auf der Interpretation von
Daten (Chaudhuri 2006: S.30ff.). Während bei anonymem Fleisch eher ein
emotionales Defizit herrscht (es kann keine Beziehung zum Produzenten oder Tier
hergestellt werden), versucht MkF diese Lücke mit positive Emotionen zu füllen.
43. 35
Ziel ist, dass der Konsument sein Bewusstsein und seine Einstellung zu Fleisch
dauerhaft ändert – von sich aus. Denn Ernährungsgewohnheiten von Menschen
lassen sich kaum durch einfache Empfehlungen oder normative Apelle ändern
(Hayn, 2005: S.284). Aber die positiven Anreize der „Wurst mit Gesicht“ wirken
motivierend, weil der Konsument sich als Teil der Lösung für die oben genannten
Probleme fühlen kann (zumindest für das tierisch-ethische Problem). Statt mit
Schuldzuweisung und Sanktionierung zu drohen, bietet MkF dem Konsumenten
einen leichten Weg, über den er sich ohne absoluten Verzicht engagieren kann. Es
ist eine Art des „sanften Stupsens“ (Reisch & Gwozdz 2011: S.331), das keine
Bedrohung von Alltagsgewohnheiten darstellt oder dem Konsumenten Anstrengung
abverlangt. Im Gegenteil: Das Produkt ist Teil der Lösung und der Fleischesser
kann nach wie vor Wurst essen. Über diesen minimalinvasiven Weg soll er lernen,
dass sich reduzierter Fleischkonsum vielfach positiv auswirkt.
Und „gelernt wird nicht einfach alles, was auf uns einstürmt, sondern das, was
positive Konsequenzen hat.“ (Spitzer 2007: S.177). Diese positiven Konsequenzen
aktivieren das Dopaminsystem im menschlichen Gehirn, was zur Freisetzung von
Opioiden führt – eine Belohnung. Mit Belohnungen verbundener Input (Reize,
Erfahrungen) werden mit erhöhter Wahrscheinlichkeit abgespeichert. An negativen
Erfahrungen ist das Dopaminsystem hingegen nicht beteiligt (Spitzer 2007: S.181).
MkF wirkt sich außerdem positiv auf das Belohnungssystem aus, weil es neu ist:
Während viele Menschen wissen (aber verdrängen), dass die industrielle
Massentierhaltung ethisch-problematische Haltungsbedingungen für die Tiere mit
sich bringt, konnte man bislang noch nicht per Internet von einem bestimmten
Schwein Wurst bestellen, dessen Gesicht dann auch auf jener prangt.
Darüber hinaus schafft die Transparenz auf der Webseite nicht nur Vertrauen,
sondern bietet Möglichkeiten des Lernens, etwa über ein animiertes Video, das die
globale Fleischproblematik vermittelt oder über Texte unter den Schweinen, die
Haltungsbedingungen und ökonomische Zwänge des Bauern thematisieren. „Wer
lernt, kann Schwarzweiß-Anteile seines Weltbildes durch differenziertes Verständnis
ersetzen. Aus diesem Verständnis heraus ist es möglich, sich selbst und anderen
gegenüber verantwortlich und ethisch zu handeln.“ (Buchmann 2011: S.1).
MkF hat also das ambitionierte Ziel, das Fleischkonsumverhalten von Menschen zu
verändern. Zwar sind die Aussichten auf Erfolg durch positive Incentivierung besser
als durch negative Sanktionierungen und Schuldzuweisungen. Aber ambitioniert
44. 36
bleibt das Ziel trotzdem, denn der Mensch ist ein „Gewohnheitstier37“ und ändert
sein routiniertes, allgemeines Verhalten nur ungern – er ist dies bezüglich träge
(Ben Larbi 2010: S. 31). „Insbesondere alltägliche Kaufentscheidungen sind oft stark
habitualisiert, d. h. sie werden lediglich aus Gewohnheit getroffen.“ (Sigg 2009: S.1).
MkF will ein Lösungsansatz für das Fleischproblem sein. Es geht aber nicht darum,
möglichst viele Menschen zum absoluten Fleischverzicht zu bewegen. „Weniger
Fleisch aber besseres – diese Botschaft ergibt am meisten Sinn“, schreibt auch
Bäuerlein (2011: S.98).
Dass MkF sich in einem komplexen Themenfeld bewegt und von vielen externen
Faktoren beeinflusst wird, zeigt die Wirkungslogik in Abbildung 8.
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Abbildung 8: Wirkungslogik von MeinekleineFarm.org. Der unmittelbare Output
wurde bereits geleistet, der mittelfristige Outcome wird in dieser Arbeit auf
seine prinzipielle Möglichkeit hin untersucht und der Impact wird auch in
Zukunft kaum kausal mit Mkf verbunden werden können (Komplexität der
Wechselwirkungen mit externen Einflussfaktoren). Eigene Darstellung.
37
Aus einer E-Mail der Kundin E. S. an MeinekleineFarm.org vom 24. Juli 2012: „Aber der
Faktor Gewohnheit bzw. Bequemlichkeit ist neben dem finanziellen Mehraufwand leider
nicht zu unterschätzen.“