Ein Buch über die Entwicklung des Arztstandes im 19. Jahrhundert in der Habsburg-Monarchie. (inspiriert von Ivan Illich und Michel Foucault und).
Basierend auf meiner Diplomarbeit aus dem Jahr 1992, Universität Wien, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
3. 3
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einführung: Zur Genealogie des medizinischen Experten. ..... 7
2 Einleitung: Zwischen Selbstbestimmung und Enteignung .... 13
2.1 Marginalien zu einem gegenwärtigen Dilemma, Ivan Illichs
Polemik gegen die Schulmedizin: .......................................... 13
2.1.1 Verlust an Autonomie............................................................. 16
2.1.2 Aspekte einer Medizinkritik und einer Kritik des Begriffs
Gesundheit .................................................................... 20
2.2 Zur Erfindung der Krankheit und der souverän
konzeptualisierten Heilkunde. ................................................ 22
3 Wissenschaft, Macht und Norm ............................................. 27
3.1 Die Szientifizierung der Medizin........................................... 27
3.1.1 Der leidenschaftslose Blick der Klinik................................... 27
3.1.2 Rudolf Virchow, die Medizin als Schnittstelle einer
ultimativen naturwissenschaftlichen Anthropologie............. 34
3.2 Bedingungen einer Sozialdisziplinierung und
Professionalisierung................................................................ 40
3.2.1 Medizinischer Diskurs und Normvermittlung........................ 40
3.2.2 Der Begriff des Monopols und der Macht: ............................ 46
3.2.3 Sozialdisziplinierung: ............................................................. 50
4 Medizin und Verwaltung ........................................................ 54
4.1 Die Medizinalreformen als Agitationsforum.......................... 54
4.1.1 Exkurs: traditionale Strukturen im Arzt-Patient-Verhältnis .. 56
4.1.2 Die Medizinalgesetzgebung als obrigkeitliche Intervention
und Fürsorge .................................................................... 57
4.1.2.1 Elemente einer kameralistischen Gesundheitspolitik ............ 58
4. 4
4.1.2.1.1 Der Protomedikus - sanitätspolizeilicher
Administrator und Sonde 62
4.1.2.1.2 Der Kreisphysikus - das Vordringen mediko-
administrativer Fürsorge 65
4.1.2.2 Die provisorische Organisation der öffentlichen
Medizinalverwaltung .................................................. 69
4.1.2.2.1 Zur Organisation im Detail 72
4.1.2.2.2 Theorie und Praxis, zur Durchführung und
Kritik des Provisoriums 75
4.1.3 Aspekte einer existentiellen Krise am Gesundheits-
markt .................................................................... 78
4.1.4 Strategeme einer Verselbständigung .......................... 80
4.1.4.1 Dezentralisierung......................................................... 81
4.1.4.2 Medizin als Sozialwissenschaft................................... 83
4.1.4.3 Liberalistische Mahnungen.......................................... 85
5 Medien und Professionalisierung ................................ 90
5.1 Die Professionalisierung des Ärztestandes ................. 90
5.1.1 Der Begriff der Professionalisierung........................... 91
5.1.2 Heterogenes Nebeneinander versus Autonomie.......... 93
5.1.2.1 Strategeme einer Homogenisierung............................. 95
5.1.2.1.1 Illegalisierung der Konkurrenz 95
5.1.2.1.2 Exkurs: Ausbildung und Prüfungen des
heilärztlichen Personals 98
5.1.2.1.3 Integration und Einebnung der Vielfalt 102
5.1.3 Autonomiebestrebungen und staatlicher
Interventionismus ..................................................... 108
5.1.3.1 Ärztekammern: Institute der Autonomie................... 113
5. 5
5.1.3.2 Staat und Arzt: Aspekte einer Wechselwirkung ....... 116
5.1.3.2.1 Staatsdienst als Prestigegewinn 129
6 Fazit ................................................................................... 138
7 Abkürzungen ..................................................................... 142
8 Bibliographie .................................................................... 144
7. 7
1 Einführung: Zur Genealogie des medizinischen Ex-
perten.
Die Medizin und deren Repräsentanten, die Ärzteschaft, präsentie-
ren sich heute als geschlossene Profession in einer konzeptualisierten
Heilkunde. Die Medizingeschichtsschreibung gibt sich als heroische
Erfolgserzählung zu erkennen: erzählt wird mehrheitlich der techni-
sche Fortschritt der Medizin, die vermehrte Durchsetzung der ärztli-
chen Erklärungsmuster in Krisenfällen und die Biographie relevanter
Standesvertreter sowie die Geschichte der Institutionen. Alles in al-
lem eben die Erfolgsstory, die allgemein bekannt ist, die die autorita-
tive Geste der „Götter in weiß“ legitimiert. Ein gebrochenes Selbst-
verständnis, ein nicht länger finanzierbarer Gesundheitsmarkt und
wiederaufflammende Renitenz der Klientel ermöglichten den Blick
auf die Konstituierung dieses Sektors der bürgerlichen Lebenspraxis.
Seit den 70er Jahren erfolgt eine kritische Betrachtung des neuzeit-
lich-rationalen Konzepts Gesundheit und damit des Heilpersonals, das
auf dem Gesundheitsmarkt reüssiert hat. Der Impuls ging von Texten
Michel Foucaults, Thomas S. Szasz, Thomas McKeowns
(s.Bibliographie) und polemisch zugespitzt von einem Text Ivan Il-
lichs (s.u.) aus. All diesen Texten gemeinsam war die kritische Analy-
se einer etwas mehr als hundert Jahre alten sozialen Praxis. Die Kri-
senintervention im psycho-physischen Bereich wurde einer Berufs-
gruppe überantwortet, die die Ausbildung und Kontrolle ihrer Tätig-
keit weitgehend autonom regelt; eine Profession, die die Wahrneh-
mung und die sozialen Sanktionen ausgesuchter vitaler Phänomene
entscheidend mitbestimmt, in manchen Situationen exklusiv verwal-
tet. Ein Regelwerkzeug, das, ob seiner weitreichenden Zugriffsmög-
lichkeit - die Aufhebung der Körpergrenze, naturgemäß das Interesse
der Verwaltung, des Staates weckte, der es auch verstand sich das Po-
tential einer solchen Registratur und solcher Handlungsanleitungen
zunutze zu machen.
Neuerdings stellte der sozialhistorisch orientierte Neuzeithistoriker
Robert Jütte (s. Bibliographie) das Interesse für seinen Gegenstand,
der medizinische Alltag in der frühen Neuzeit in Köln, in den Zu-
sammenhang mit einem Unbehagen an der gegenwärtigen „medikalen
8. 8
Kultur“. In Deutschland entwic??kelt sich, soziologisch bzw. sozial-
historisch orientiert, in den 80er Jahren eine interessierte Forschungs-
tätigkeit an den Aspekten der Medizingeschichte, die bislang einer
professionalistischen Historiographie zum Opfer gefallen waren (s.
Bibliographie). Das Außerachtgelassene, das Verdrängte. Die Effekte
und Instrumente der medikalen Intrige.
Das heteronome Interesse an der Instrumentalisierung von Gesund-
heit und Krankheit sowie an deren Agenten rückt ins Zentrum histori-
scher Analyse. Mich interessierten die Strategien der Konsolidierung
des Arztstandes, d.h. Abgrenzung nach außen, Konsolidierung nach
innen; Autonomie und Monopol auf dem Gesundheitsmarkt. Als
Scharnierstelle bot sich die Periode vor der wichtigen Neuordnung
des Gesundheitsmarktes in Österreich, der Medizinalgesetzgebung
von 1870, an. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann sich der
akademische Arzt zu etablieren; hier interessierte mich dessen inter-
ner Konsolidierungsdiskurs. Ziel der vorliegenden Studie war es über
den Umweg einer äußeren Geschichte der Fakten, Verordnungen und
objektivierbarer Entwicklungen, d.h. solcher Entwicklungen, die auf
uns gekommen sind und unbewußt die Verlierer im Gepäck mit sich
herumtragen bzw. damit beschäftigt sind den ehemaligen Triumph
abzusichern, Ziel war es den Strategien der Verselbständigung eines
Berufsstandes nachzugehen.
Was interessiert nun an den rhetorischen Strategien? Einerseits las-
sen sich relevante Aspekte der Professionalisierungstheorien bestäti-
gen. Andererseits kann mit Hilfe der aus den Professionalisierungs-
theorien abgeleiteten Kriterien eine historisch bedeutsame Entwick-
lung erfaßt werden. In unserem konkreten Zusammenhang handelt es
sich um den Versuch, den gelungenen Versuch, der Ärzteschaft auf
dem Gesundheitsmarkt eine dominante Stellung zu erringen. Die Pro-
fessionsliteratur ist daher nicht im Sinne einer Abbildtheorie Wider-
schein einer Realität, auch nicht verzerrter, sondern eher im Sinne ei-
ner Diskurstheorie als Forum zur Schaffung symbolischer Identifika-
tionsstiftung zu verstehen. Damit bietet sie allerdings die Möglichkeit
historische Verlaufsanalysen herzustellen. D.h. der Prozeß der Stan-
desetablierung erfolgte als integrales Element auch auf symbolischer
Ebene. Der Stand schuf eine damit befaßte Standespresse, die Nach-
9. 9
richtenpresse räumte naturgemäß der Konsolidierung des Ärztestan-
des wenig Platz ein. Ihr Ringen hinsichtlich administrativ-
bürokratischer Einflußnahme bezeichnet den thematischen Raum des
Diskurses.
Der Aufstieg des Arztes im 19. Jahrhundert wird in diesem Text ü-
ber disparate Fragestellungen verfolgt. Als Beleg für die Relevanz der
Themenstellung wird einleitend ein Text Ivan Illichs referiert, der auf
polemische Art und Weise die Schulmedizin decouvriert, indem er
ihre enteignenden Konzepte bezüglich der Sorge um den Körper und
das Krisenphänomen Krankheit/Tod decouvriert. Als vergeltende Ra-
che - „Nemesis“ - konstatiert er den pathogenen Charakter moderner
Heilkundekonzepte. Von dieser Folie ausgehend interessierte ich
mich für einen entscheidende Moment in der Entwicklung des Ärzte-
standes und versuchte wie mit einem Stroboskop Licht auf einige As-
pekte der Professionalisierung der Ärzte in Österreich im vorigen
Jahrhundert zu ziehen.
Die methodische Orientierung eruierte im wesentlichen zwei diskre-
te Kontexte:
• die zunehmende Verwissenschaftlichung weiter, v.a. städtischer
Lebensbereiche mit Konzentration auf die Effekte im medizini-
schen Sektor. Ein wichtiges Moment ist die Erfassung des Ortes,
von dem aus der wissenschaftliche Arzt, der Medicus spricht, von
wo bezieht er seine Legitimation und wer legitimiert den Ort?
Was sind die Kriterien dieser räumlichen Wechselbeziehung?
Anamnestische Aufzeichnungen, Expertisen, epidemiologische Re-
gistratur und meteorologische Iuxtaposition, nosologisches Hie-
rarchien - Bauelemente des Diskurses der Ärzte im 19. Jahrhun-
dert. Die zwingende Frage lautet: wer spricht? von wo? wo findet
man den Ort, das Epizentrum? Der Status des Arztes garantiert
die Wirksamkeit des ärztlichen Wortes, es kann nicht irgendwer
sprechen. Dieses magische Statut ausgestattet mit der Macht Le-
ben und Tod zu bannen erfährt an der Wende vom 18. zum 19.
Jahrhundert eine fundamentale Wendung: die Gesundheit wird
zum normativen Parameter einer ökonomisch ausgerichteten Be-
völkerungspraktik. Die Kriterien des Wissens und der Kompetenz
werden reformuliert; neue Räume werden kolonialisiert.
10. 10
Welcher Ort? Das Krankenhaus ist der institutionelle Platz, der legi-
time Ursprung. Auch die Privatpraxis, das Laboratorium und die
Bibliothek. Das Krankenhaus läßt die Privatpraxis hinter sich. So
wuchert die Bibliothek, das traditionelle Buch, der Glossaristenei-
fer tritt hinter die massenhafte, dokumentarische Registratur der
Maschine Krankenhaus zurück.1
Das Krankenhaus ist dieser dramatische Ort der Konstituierung. Ü-
bereinstimmend konstatiert die diesbezügliche Literatur eine Zä-
sur um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.2 Das Hospital,
ehemals Verwahrungsanstalt, Asyl und auch Heilanstalt avanciert
zum Krankenhaus, d.h. die Implementation neuer Rhythmen,
Strukturen, eines andersartigen Regimes bestimmt die "totale In-
stitution Krankenhaus". Ein für den Fortschritt der Profession
maßgeblicher Moment. Die Arzt-Patient-Beziehung erfährt eine
prinzipielle Neuordnung. Im Krankenhaus ist alles anders als im
Haus der Kranken. Es gibt keine Öffentlichkeit, keine Kontrolle
durch anwesende Verwandte bzw. konkurrierendes Heilpersonal.
Der Arzt hat exklusiven Zugriff auf den Kranken, die Möglichkei-
ten für die Patienten die Kooperation zu verweigern sind einge-
schränkt. Rigide Hausordnungen disziplinieren den Kranken, sie
integrieren ihn in ein rationelles Zeit-, Observations-, Dokumen-
tations- und Verhaltensregime. Das Krankenhaus war v.a. Diszip-
linierungsinstrument der Unterschichten.
Das wichtigste moralische Problem, das von der Idee der Klinik aufgewor-
fen worden war, lautete: Mit welchem Recht durfte man einen Kranken,
den die Armut gezwungen hat, im Spital Hilfe zu suchen, zum Objekt der
klinischen Beobachtung machen. Der Kranke wollte eine Hilfe, deren abso-
lutes Objekt er war, insofern sie für ihn konzipiert wurde; nun aber braucht
man ihn für einen Zweck, für den er Objekt ist, und zwar relatives Objekt,
da dessen Entzifferung dazu bestimmt ist, andere Kranke besser erkennen
zu können.3
Das Krankenhaus bzw. das Konzept der Hospitalisierung war in eine
Art double-bind-Situation verstrickt. Einerseits gestattete es dem
1 Vgl. Foucault (1992), S.77-79.
2 Vgl. Göckenjan (1985), S.214-237.
3 Foucault (1988), S.98-99.
11. 11
Bösen, der Krankheit zu erscheinen, die Wahrheit konnte dort
nicht länger verborgen bleiben: ein Bestiarum von Kranken und
Krankheiten. Andererseits sollte der homogene, diskrete Raum
den Kranken von den schädliche Einflüssen seines privaten Mi-
lieus befreien und die wahre Natur der Krankheit produzieren.
Die Ambiguität dieses Konzepts, hier Ort der Erkenntnis, da La-
bor mit pathologischen Substanzen, erhält dann Relevanz, wenn
Ivan Illich die iatrogenen (=durch medizinische Intervention ver-
ursachte) Leiden als Beleg für seine Thesen heranzieht.
Die sektorale Auflösung der Körperintegrität übergeht die
Individualitäten; die Zuordnung erfolgt nach Krankheitsbildern.
Die Individualität des Kranken wird als hinderlich ignoriert, der
Kranke wird so zum passiven Zeichenträger. In den objektivierten
Ordnungsraum strömen die Kliniker und Studenten, hier ergeben
sich neuartige Forschungs- und Lehrmöglichkeiten. Die Klinik
der Krankenanstalt bietet ein reichhaltiges Forschungsmaterial.
Ungehindert durchlaufen die Ärzte diesen Trainingsparcour, von
hier geht auch die Spezialisierung der Fächer aus. Allen voran die
Etablierung der pathologischen Anatomie. Ausgehend von einer
Physikalisierung der Untersuchungsmethoden wird der Kranke
vermessen und kategorisiert. Die Autopsie avanciert zur zentralen
Bestimmung von Krankheits- und Therapieverlauf. Die hippokra-
tische Verlaufsbeobachtung wird abgelöst von einer neuen physi-
kalischen Investigation, geleitet von der postmortalen Sektion e-
tablieren sich erstmals systematische pathologische Einheiten.
Erst von der Autopsie fiel Licht auf das Wesen der Krankheit.
Zwei wesentliche Aspekte kulminieren also im Krankenhaus: einer-
seits die Schaffung eines kollektiven, homogenen Raumes, der
exklusiv vom Arzt beherrscht wird. Andererseits entwickelt sich
in der Klinik ein wissenschaftlicher Krankheitsbegriff bzw. eine
wissenschaftliche Methode, die wiederum die alleinige Kompe-
tenz des Arztes fordert. Krankheit ist nun auch sprachlich verwis-
senschaftlicht. Der medizinische Jargon indiziert den Übergang
medizinischen Laienwissens in einen spezialisierte Domäne.
12. 12
• die Einbettung der analysierten Berufsgruppe in umfassendere
Konzepte von Macht, Machtausübung, Monopol, v.a. relevant als
eine enge, professionspolitisch bedeutsame Verflechtung von
Staat und Medizin unterstellt wird. Der vorgestellte Machtbegriff
nimmt Abstand von einer solaren Konzeption, die einer Person
oder einer Gruppe Macht zuspricht und geht von einem dichten
Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten aus. Macht wäre die Be-
zeichnung dieses Konzepts. Dies bedeutet nicht, daß alle Invol-
vierten gleich positioniert sind; was bleibt sind strategisch günsti-
gere Positionen. Kein Ort ist von der Macht unabhängig, kein Ort,
keine Person, keine Gruppe emittiert sie exklusiv.
Die dualistische Verfahrensweise, die sich aus og. Absichten ergibt
tendiert im Prozeß ihres Einsatzes zur Einebnung der methodischen
Differenzen. Der Autor versteht sich nicht als Schöpfer eines
kohärenten Ausschnittes historischer Wirklichkeit. Da die
Wiederauferstehung des Abwesenden, der Geschichte als ineffiziente
Illusion abgelehnt wird, der Historiker als Gestalter der vorgestellten
Wirklichkeit auftritt, wird in zunehmenden Maße die Involvierung
des Autors in die Analytik des Textes beobachtet.
13. 13
2 Einleitung: Zwischen Selbstbestimmung und Ent-
eignung
2.1 Marginalien zu einem gegenwärtigen Dilemma, Ivan Il-
lichs Polemik gegen die Schulmedizin:
Während der letzten Generationen hat das ärztliche Monopol über das Ge-
sundheitswesen sich unkontrolliert ausgedehnt und unser Recht an unserem
eigenen Körper beschnitten. Den Ärzten hat die Gesellschaft das aus-
schließliche Recht übertragen, zu bestimmen, wer krank ist oder sein darf
und was für ihn getan werden soll. Abweichung ist heute nur dann »legi-
tim«, wenn sie eine medizinische Interpretation und Intervention verdient
und letztlich rechtfertigt.4
Die Effizienz ärztlicher Bemühungen, Krankheit bzw. den Begriff
davon zu kontrollieren, ist der von Priestern gleichzustellen. Epi-
demien beispielsweise machten ihr Auftreten und Verschwinden von
medizinischen Abwehrstrategien niemals abhängig. Illich5 meint, daß
etwa die Tuberkulose ohne ärztliches Zutun zum Zeitpunkt der Ent-
deckung des Bazillus durch Robert Koch bereits ihre Virulenz einge-
büßt hatte, und daß, als die Antibiotika-Therapie zur Routine wurde,
um 1945-50 die Erkrankungsrate auf 48 von 10000 Einwohnern ge-
sunken war. Für den Höhepunkt der Tb in New York gibt Illich eine
Rate von 700 an. Gleiches gilt für Cholera, Ruhr und Typhus. Für die
Kinderkrankheiten, wie etwa Keuchhusten, Scharlach verzeichnet er
einen 90%igen Rückgang der Mortalitätsrate in der Zeit von 1860 bis
1965, also bevor verbreitet Antibiotika und Schutzimpfungen einge-
setzt wurden. Illich macht dafür die Verbesserungen auf hygieni-
schem Gebiet, der Wohnungsverhältnisse und im Bereich der Er-
nährung verantwortlich. Dem Faktor der Ernährung scheint besondere
Relevanz zuzukommen, als daß in Ländern der Dritten Welt die Mor-
talitätsrate, unabhängig von der ärztlichen Versorgung, höher ist. Das
Kommen und Gehen unterschiedlichster Krankheiten im Laufe von
wenigen Generationen ist nicht Verdienst ärztlicher Praxis. Die Mor-
talität, oder besser Veränderungen in dieser, war immer abhängig in
4 Illich (1983), S.12.
5 Ebenda.
14. 14
Funktion von Umweltbedingungen, vom soziokulturellen Lebenskon-
text. Die Analyse der Krankheitstrends von einem Jahrhundert kürt
die Umwelt zur bestimmenden Determinante des gesundheitlichen
Allgemeinzustandes einer Population. Elemente der Umwelt sind Er-
nährung, Hygiene und soziopolitische Gleich- oder Ungleichheit.
Moderne Kultur-Techniken wie Seife, Impfnadel, Kondom, also
keine ursprünglich medizinischen Gerätschaften, oft von Ärzten ein-
gesetzt und entwickelt, bedingten eine Verschiebung der Mortalität6,
die Lebenserwartung stieg; indes kein spezifisch medizinischer Pa-
rameter steht in signifikantem Zusammenhang mit dem Rückgang der
Krankheitslast. Illich registriert lediglich eine Forderung zur Neudefi-
nition von Morbidität, aber keine Verringerung, dort wo z.B. neue
Diagnose- und Therapietechniken eingesetzt werden.7
Der ärztliche Exklusivitätsanspruch gründet keineswegs auf objektiv
verifizierbaren Therapieerfolgen, wenngleich der Berufsstand dies
suggerieren will - solcherart lautet die Elementarthese Illichs. Der ur-
sprüngliche, angestammte Bereich des Arztes, die Diagnose und die
Therapie, sollte sich als nicht ausreichende Legitimationsbasis her-
ausstellen; der Staat als Apellationsinstanz, die Integration des Arztes
in staatliche Kontroll- und Machtstrukturen und die Patronanz der
staatlichen Bürokratie erwiesen sich wesentlich förderlicher im Rah-
men einer Konsolidierung der ärztlichen Profession.
Ein wesentlicher Parameter in der Illichschen Argumentation ist der
Begriff der „sozialen Iatrogenesis“(s.u.), er verkörpert die pathogenen
Effekte der vergesellschafteten Medizin. Die Wirklichkeit der 1970er
Jahre, die Illich als Vorlage seiner Betrachtung diente, stellt einen
kumulativen Höhepunkt in der Entwicklungsgeschichte der Professi-
on dar.
Die Ärzteschaft initiierte ihr soziales Avancement im Kontext der
bürgerlichen Aufklärung; zunächst emanzipierte sich Gesundheit als
zentraler gesellschaftlicher Wert, als Distinktionsmerkmal des auf-
geklärten Bürgers gegen die Aristokratie und als Indikator bzw. Ga-
6 Zur Begriffsfestlegung vgl. Vasold (1991), S.8.
7 Vgl. Illich, S.20-28.
15. 15
rant für eine nationalökonomisch erfolgreiche und wehrfähige Nation.
Die Medizin wurde zum Index eines umfassend verstandenen Auf-
schwungs - nichts belebte die Hoffnung auf ein besseres Leben mehr,
als die Hoffnung für das Leben selbst. Das Streben nach Glück be-
gann mit dem Streben nach Gesundheit. Die Aufklärung, im wesentli-
chen eine philosophische Revolution, verknüpfte die Medizin mit den
Naturwissenschaften. Die Proponenten dieser Bewegung sahen sich
als Ärzte/Heiler einer kranken Zivilisation. Die Gesundheit erstrahlt
als Fokus eines jeden Geheimnisses. Selbst der philosophische Geist
ist in funktionaler Abhängigkeit einer allgemeinen Gesundheit.
Medicine, it seemed, was transforming itself from a medival mystery, from
the furtive ally of alchemy and astrology, into a thoroughly philosophical
science, and this association of the new philosophy with the art of healing
proved to the thinkers of the day the strength of both.8
Gesundheit/Krankheit als Metaphern für gut/böse. Diese ‘medizini-
sche’ Metaphern legitimierten das destruktive Potential der philo-
sophes, der Kampf gegen ein mittelalterliches Christentum präsentiert
sich als gerechter Krieg gegen eine böse Krankheit.
In the rhetoric of the Enlightenment, the conquest of nature and the con-
quest of revealed religion were one: a struggle for health. If the philosophes
were missionaries, they were medical missionaries.9
Im 19. Jahrhundert intensivierte sich die Kooperation zwischen Pro-
fession und Staat; die medizinische Inventarisierung der Bevölkerung,
ihre politische Anatomie und die regulierende Kontrolle der Bio-Poli-
tik10 als subtiles Herrschaftsinstrument adelte die ausführenden
Ingenieure mit den Vorrechten einer Profession11. In dem Moment,
wo die Bevölkerung eines Staates als Ressource erkannt wird, geben
sich Variablen ihrer Konstitution zu erkennen; Geburtsrate,
Mortalität, Morbidität und Letalität werden zu Indizes der Wert-
schöpfung. Die Ökonomie des Körpers und der von den Produktiv-
kräften geschaffene Mehrwert werden zum Objekt der Begierde des
8 Gay (1977), S.13.
9 Ebd., S.16.
10 Vgl. Foucault (1983), S.166.
11 Zum Begriff der Profession: Freidson (s.u.)
16. 16
Mehrwert werden zum Objekt der Begierde des kapitalistischen Staa-
tes. Die Totenbeschau und die gerichtliche Obduktion erweiterten den
Zugriff auf den toten Körper. Differenzierte Überwachungs- und Kon-
trollsysteme werden notwendig; die Klassifizierung, Hierarchisierung
und Qualifizierung von Individuen mittels naturwissenschaftlicher
Diagnostik avanciert zum elementaren Sortier- und Normierungskri-
terium.
Sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja
die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königin der
Wissenschaften.12
2.1.1 Verlust an Autonomie
Illichs Begriff der „sozialen Iatrogenesis“ stellt den Kristallisations-
punkt dieser Kulturkritik dar. Soziale Iatrogenesis bedeutet eine
Funktionalisierung des Körpers, eine Bürokratisierung, eine Institu-
tionalisierung der Leiden, eine Einschränkung der autonomen Ent-
scheidung des Individuums bezüglich seines Körpers, eine Ausschal-
tung der Selbstverantwortung zugunsten eines Molochs, der seine ei-
genen Kunden produziert bzw. die Erkenntnisfähigkeit im Einzelnen
unterdrückt. Sie ist Folge des radikalen Monopols13, so Illich, der
Ärzteschaft, bei gleichzeitiger Suppression der Autonomie.14
Die maligne Ausbreitung der Medizin [...]: sie macht die gegenseitige Pfle-
ge und den selbstverantwortlichen Gebrauch von Heilmitteln zum De-
likt.15
Die soziale Kontrolle der Bevölkerung durch das medizinische System [ist-
T.B.] eine der wichtigsten ökonomischen Aktivitäten.16
12 Foucault (1976), S.84.
13 Ein radikales Monopol kann nur Anspruch bleiben, zumindest Reste autono-
mer, individueller Therapie sind nicht auszuschließen.
14 Vgl. Illich (1983), S.48-50.
15 Ebd. S.50.
16 Ebd. S.51.
17. 17
Medizin schafft immer Krankheit als sozialen Status. Der gesell-
schaftlich anerkannte Heiler vermittelt den Individuen soziale Mög-
lichkeiten, sich als Kranke zu verhalten.
Medizin ist eine moralische Größe, sie hat die Macht zu bestimmen
wer angepaßt oder abweichend ist und vergibt dementsprechend Zen-
suren, sie akzeptiert Leid und Tod, oder sie negiert beides, je nach
Kodex.
Die aufgesetzte Trennung von Medizin und Moral ermöglichte erst
den ungeheuren Autoritätszuwachs, die Rückbindung der Medizin auf
wissenschaftliche Prinzipien abseits von Gesetz und Religion, erlaub-
te den Nimbus der wertfreien Aussage.17
Die einzelnen politischen Systeme organisieren die Pathologie nach ver-
schiedenen Krankheiten und schaffen damit unterschiedliche Kategorien
von Nachfrage, Versorgung und unbefriedigten Bedürfnissen.18
Illich weist darauf hin, daß die Macht des Arztes ebenso soziale Ka-
tegorien schafft; die Gesellschaft gruppiert sich zu Mengen von sol-
chen, die arbeitsunfähig sind, von solchen, die Soldaten werden dür-
fen, die den Führerschein erwerben oder nicht erwerben dürfen, von
solchen, die in andere Länder einreisen oder nicht einreisen dürfen,
von solchen, die tot sind, die krank sind, die gesund sind etc. Die Tat-
sache, daß der Arzt über Gesundheit und Krankheit entscheidet und
die Menschen begutachtet, kategorisiert und zuordnet, entzieht den
einzelnen Mitgliedern einer Sozietät die autonome Ent-
scheidungsfähigkeit über den eigenen Status, der Unmündigkeit und
Bevormundung ist damit der Weg bereitet.19,20
Die[se] Lebensfrist beginnt mit der pränatalen Untersuchung, bei der der
Arzt entscheidet, ob und wie der Fötus zur Welt kommen darf, und es en-
det mit einer Eintragung in die Krankenakte, die den Abbruch der Wieder-
17 Vgl. Temkin (1981).
18 Illich (1983), S.65.
19 Vgl. ebd. S.93-95.
20 Die autonome Beschäftigung mit der eigenen Körperlichkeit wird an institu-
tionelle Monopole delegiert; regelmäßige „check-ups“, vom Arbeitgeber fi-
nanziert, bestimmen den sozialen Standort und entheben den Einzelnen
gänzlich der Verantwortung für sein Leben.
18. 18
belebungsversuche auf der Intensivstation anordnet. Zwischen Geburt und
Exitus fügt dieses Paket bio-medizinischer Kontrollen sich bestens in eine
urbane Landschaft ein, die wie ein mechanischer Uterus gebaut ist.21
Illich versteht unter einer Medikalisierung des Lebens die über-
mächtige Entscheidungsgewalt und das Manipulationspotential der
Medizin (oder der Ärzteschaft) von der pränatalen Eugenik über
Kreißsaal, Pubertät, Mensis, bis zu Klimakterium und Pensionie-
rungsperiode zuungunsten eines autonomen Körperverständnisses des
einzelnen.
Er versteht die Medizin nicht nur als Spiegel einer Gesellschaft, de-
ren soziale Kokons, i.e. die Familie, die Nachbarschaftsbeziehungen,
die Subsistenzfunktion der Umwelt, zerstört wurden, seiner Meinung
zufolge verstärkt und reproduziert die Medizin diesen Prozeß. Sie
biologisiert, die als nach Therapie rufend verstandenen Äußerungen
des Individuums und prägt damit eine Konsumhaltung, die Vorbe-
dingung einer kapitalistischen Wertschöpfung und Produktionsideo-
logie ist.22
Zu den Konsequenzen dieser Diagnose:
In jedem Fall fügen sie dem biophysikalischen Zustand einen sozialen Sta-
tus hinzu, der sich auf ein vorgeblich autoritatives Urteil stützt.23
Grundsätzlich überträgt der Arzt dem diagnostizierten Menschen
Rechte, Pflichten, Erleichterungen und temporäre Stigmata, wenn es
sich um reversible Phänomene handelt.
Eine medizinische Diagnose unterwirft den Betroffenen der Autori-
tät von Spezialisten:
Sobald eine Gesellschaft sich zur präventiven Treibjagd auf die Krankheit
rüstet, nimmt die Diagnose epidemische Formen an. Dieser letzte Triumph
der therapeutischen Kultur verwandelt die Unabhängigkeit des durch-
schnittlich Gesunden in eine unzulässige Form der Abweichung.24
21 Illich (1983), S.96.
22 Vgl. ebd. S.107.
23 Ebd. S.108.
24 Ebd. S.117.
19. 19
Die Konsequenz ist die verpflichtende Prävention, wenn mit den
volkswirtschaftlichen Schäden argumentiert wird. Das System schafft
bei Strafandrohung seine eigenen Kunden.
Der erste Berufsstand, der die Gesundheitspflege monopolisiert, ist der
Arzt im späten 20. Jahrhundert.25
Illich vermerkt, daß bei vermehrter Aufmerksamkeit für eine tech-
nisierte Medizin, die symbolische, nichttechnische Funktion zunimmt.
Als nichttechnischen Eingriff versteht er gewissermaßen den Placebo-
Effekt, den Eintritt des Patienten in den Mythos Medizin, der Arzt als
Schamane. Als heilend in diesem Sinne kann auch ein negativer Pla-
cebo, eine unnötige Medikation, ein Gift, eine unnötige Operation
verstanden werden. Nach Illich, sind die gesundheitsschädlichen Ne-
benwirkungen von Eingriffen solcher Art die dominierenden.26 „Die
Ärzte behalten sich das unbestrittene Recht vor, zu definieren, was
Krankheit ist [...].“27
Illich konstatiert die Entwicklung des modernen Begriffs von der
Krankenrolle etwa um die Jahrhundertwende. „[Diese Krankenrolle-
T.B.] definiert Abweichung als Sonderfall legitimen Verhaltens vom
offiziell selektierten Konsumenten in einem industriellen Milieu.“28
Mit Foucault vermerkt Illich eine Veränderung in der Rolle des Arz-
tes; weg vom Moralisten, hin zum wissenschaftlichen (klinischen),
aufgeklärten Unternehmer, dessen Hauptaufgabe darin bestand, dem
Kranken die Verantwortung für seine Krankheit abzusprechen. Neue
Krankheitskategorien waren nötig, Krankheit wurde für den Arzt zum
Gegenstand von Bio- oder Soziotechnik.
Dieses Rollenbild konnte nur solange existieren, wie Ärzte an den
unbeschränkten Erfolg ihrer Therapien glaubten, ihn zumindest be-
haupteten und die Bevölkerung diesen Optimismus teilte.29
25 Ebd. S.135.
26 Vgl. ebd. S.137.
27 Ebd. S.140.
28 Ebd. S.143.
29 Vgl. ebd. S.144-145.
20. 20
2.1.2 Aspekte einer Medizinkritik und einer Kritik des Begriffs Ge-
sundheit
Parallel zur Etablierung eines Höchststandes einer technoiden Mo-
nopolmedizin setzte eine massive Kritik an dieser Medizin ein. Sie
wurde nicht zuletzt als subtiles Machtinstrument enttarnt, mit Illich
gerierte sie sich als Nemesis einer in die Irre geleiteten hochindu-
strialisierten Gesellschaft. Von der frühen Kritik eines Michel Fou-
cault, Thomas Szasz mit wissenschaftlichem Anspruch bis zur popu-
lären Medienkampagne sah und sieht sich die Medizin inmitten einer
Identitätskrise.30 Medizin und Gesellschaft, als dialektische Relation
gedacht, erfahren einen Bruch ihres Selbstverständnisses. Wissen-
schaft, Praxis und die Organisation der vergesellschafteten Versor-
gungsansprüche wurden und werden zusehends von Nicht-Experten,
Laien (sic!), diskursiv seziert: Historiker, Soziologen, Mediziner, Po-
litiker, Ökonomen et cetera nehmen am Revitalisierungsprozeß teil.
Revitalisierung deshalb, weil ich glaube, daß der Dekonstruktion ob-
soleter Inhalte eine differenzierte Rekonstruktion eines ‘zeitgemäßen’
Verständnisses von Medizin folgt, das meint, daß in einem Zivilisati-
onsprozeß einmal etablierte Standards gesellschaftlich überformt, wie
auch immer, weiterleben.
Das Lamento einer verlorengegangenen Autonomie, die eitle Ent-
mündigung des Laien, die Restitution ebendieser Selbstverantwor-
tung, die so heftig betrieben wird, ist nichts anderes als „die Selbstin-
tegration in das Weltsystem zum kategorischen Imperativ“31 zu erhe-
ben, im Sinne eines Eliasschen Konzepts von Selbstzwang und Lang-
sicht(s.u.). Illich einst erbitterter Verfechter der Wiedereinsetzung von
Gesundheit als Funktion von Selbstverantwortung denunziert nun
diese Begriffe als abgelutschte Hülsen neuzeitlicher Rationalität. Der
Nimbus der Machbarkeit, die Objektivierung von Gesundheit hat statt
in einer Welt subjektiver Vernunft32. Illich verabschiedet sich von
diesen aufklärerischen Idealen, er nennt es Selbstbegrenzung: „Um
30 Vgl. Labisch (1992), S.8-10.
31 Illich (1992), S.51.
32 Objektive versus subjektive Vernunft, nach Horckheimers „Kritik an der in-
strumentellen Vernunft.“
21. 21
jetzt würdig leben zu können, muß ich entschieden auf Gesundheit
und Verantwortung verzichten“33. Er meint „epistemologische Aske-
se“, wenn er auf etablierte, aufklärerische Axiome verzichtet. Illichs
pointiert vorgeführter Begriff von Gesundheit/Leben der postindus-
triellen Gegenwart als Erhaltung und Selbststeuerung des Immunsy-
stems, wird von ihm als Devianz vom okzidental-christlichen Myste-
rium des Lebensbegriffes, von dessen Konnex zu einer objektiven,
göttlichen Vernunft, gesehen. „Objektivierte sich das Verhältnis
der Menschen zur Natur, wurde auch das Verhältnis der Menschen zu
ihrem Körper objektiviert.“34 Diese Objektivierung der Welt, die der
Inthronisation der subjektiven Vernunft entspricht, entzaubert das Le-
ben als magischen Text.
Illich, der bessere Christ: „So gesehen ist die Vorstellung vom Le-
ben, das sich auf die Erhaltungsphase eines Immunsystems reduzieren
läßt, nicht nur Idol, nicht nur Fratze, sondern Lästerung“35. Die Aske-
se, der Verzicht auf Gesundheit/Leben und Verantwortung dafür er-
möglicht, so Illich, eine der Gegenwart entsprechende Praxis der Lei-
denskunst.36 Illich redet einer Verweigerung, der nicht zuletzt durch
ihn beförderten Decouvrierung des neuzeitlich-aufklärerischen Axi-
oms ‘Gesundheit’, das Wort. Neuzeitliche Rationalität gewährleistet
keine Orientierung mehr, die Restitution einer objektiven, vielleicht
christlichen, Vernunft mittels asketischer Selbstbegrenzung wird Il-
lich zum Programm.
Ivan Illich vereint in sich nun zwei grundsätzlich gegenläufige Hal-
tungen der Kritik beispielhaft. Einerseits die rationale Analytik der
Medizin mit der Konsequenz des Tyrannenmordes, der Sturz des Ex-
perten und die Inthronisation des selbstverantwortlichen Laien. Ande-
rerseits, zwanzig Jahre später im Anschluß an eine postmoderne Kri-
tik an der Moderne, stößt er sein eigenes Konzept von sich und ent-
33 Illich (1992), S.51.
34 Labisch (1992), S.25.
35 Illich (1992), S.52.
36 Mir dämmert hier eine Rückwendung zu einem mittelalterlichen Gesund-
heitsbegriff: Gesundheit einer transzendentalen Sinnstiftung untergeordnet,
also marginalisiert.
22. 22
läßt sich und sein Programm aus der Fetischisierung der Gesundheit.
Seine Argumentation präsentiert sich linear, der Enthüllung der Me-
dizin als selbstgerechte Verwalter von Gesundheit/Leben folgt die
Enthüllung der Gesundheit als Metapher/Formel/Paradigma der neu-
zeitlich-rationalen Gesellschaft. Von daher kommt das Interesse die-
ser Diplomarbeit an einer Sequenz im Prozeß einer neuzeitlich-ra-
tionalen Verfestigung, an der Professionalisierung der Ärzteschaft,
die ich nicht nur, wie Foucault, als Effekt und Instrument eines Kon-
textes sehe, sondern mit Illich als aktive Teilnehmer.
2.2 Zur Erfindung der Krankheit und der souverän konzep-
tualisierten Heilkunde.
Die Französische Revolution transformierte den Zustand der Krank-
heit aus der Privatsphäre ins Licht des öffentlichen Interesses. Das
Postulat, die Gesellschaft in einen Zustand ursprünglicher Gesundheit
zurückzuführen, gründete auf der Vorstellung, daß Freiheit, Brüder-
lichkeit und Gleichheit das Übel Krankheit vertreiben sollten. Ge-
sundheit wurde zum Bürgerrecht und zur Bürgerpflicht; Gesundheit
wird unabdingbar für ein bürgerliches Leben, denn gesund ist syn-
onym für moralisch opportun.37 Die Betreuung fiel noch den Angehö-
rigen bzw. der Nachbarschaft zu. Doch diätetische Aktionsprogramme
sollten bereits die Volksgesundheit garantieren. Die Illusion einer
krankheitsfreien Gesellschaft begann als politisches Programm.
Krankheit sei ein Symptom politischer Korruption und würde eliminiert,
sobald die Regierung in Ordnung gebracht wäre.38
Mit der Restauration erstand die Idee, der Arzt solle Krankheit ver-
meiden, besser beseitigen. Der Arzt wurde zum Kulturheros, vor al-
lem aufgrund eines magischen Rituals, welches die Vorstellung von
der gesunden Volksgemeinschaft, Gesundheit als erstes Bürgerrecht,
gewährleisten sollte. Die Verquickung von Krankheit und Gesundheit
mit öffentlichen Mitteln erforderte eine Operationalisierung der bei-
den Begriffe.
37 Vgl. Labisch (1992), S.107.
38 Illich (1975), S.116.
23. 23
Bisher galt die Heilkunst als integrierter Bestandteil einer allgemei-
nen Krisenbewältigung, die Krise selbst war ein Element der Syste-
merhaltung, sie war Sanktion für grenzüberschreitendes Verhalten;
noch fehlte eine eigenständig konzeptualisierte Heilkunde. Um solch
eine Konzeption zu etablieren, mußten Wert- und Normsysteme im
Zuge der Aufklärung überformt werden.39
Leiden mußten in objektive Krankheiten verwandelt werden. Spe-
zifische Krankheiten mußten klinisch definiert und verifiziert werden,
damit Funktionäre sie in Klinikstationen, Berichten, Budgets und Mu-
seen unterbringen konnten.40 „Der kranke Mensch »verschwand aus
der medizinischen Kosmologie«. Aus der »Krankengeschichte« wur-
de die »Krankheitsgeschichte«.“41
Die Verselbständigung einer konzeptualisierten Heilkunde korre-
spondiert mit herrschenden gesellschaftlichen Organisationsformen,
d.h. mit der Verteilung der Kontrolle über die in einer Gesellschaft
verfügbaren Mittel. Unschuld42 unterscheidet zwischen primären
Mitteln, das wären medizinisches Wissen, medizinische Fähigkeiten,
medizinische Technologie u.s.f. und sekundären Mitteln, worunter er
die gesellschaftlich vorgesehenen Vergütungen für die Inanspruch-
nahme primärer Mittel oder Dienstleistungen subsumiert. Die Ver-
selbständigung oder Professionalisierung legitimiert sich nicht aus
sich selbst heraus, aus einer internen Logik, sondern konstituiert sich
in einer Verflechtung gesellschaftlicher Differenzierung, die einem
Expertentum Vorschub leistet. Das 19. Jahrhundert organisiert sich
nun zunehmend als arbeitsteilige Industriegesellschaft; die Kontrolle
und Handhabung der Mittel fällt in die Hände von Experten oder
umgekehrt, die Formierung des Expertentums fungiert als Antwort
auf eine soziale Differenzierung.
39 Vgl. Unschuld (1978), S.523.
40 Vgl. Illich (1975), S.118.
41 Labisch (1992), S.109.
42 Vgl. Unschuld (1978), S.525.
24. 24
Ob es die Anfertigung von Kleidungs- oder die Produktion von Nahrungs-
mittelrohstoffen ist, sie alle sind weitestgehend der Kontrolle der Allge-
meinheit43 entzogen und derjenigen von Experten überantwortet.44
Die Medizin argumentierte bereits in einen präparierten Raum hin-
ein, die Verräumlichung des spezialisierten Wissen. Daher fordert die
Medizin politische Macht, aus sich selbst heraus, nicht religiös oder
obrigkeitlich legitimiert, beanspruchte sie normative Kraft. Medizi-
nisch-wissenschaftlich erfaßte Gesundheit wurde zu einem Flucht-
punkt instrumentalisiert, der die in vielerlei Machtzentren zerfallende
bürgerliche Gesellschaft45 außerhalb formal organisierter Institutio-
nen ordnen sollte.
Diese [Normalitätsvorstellungen/Gesundheit-T.B.] konnten eine aus immer
kleineren sozialen Einheiten bestehende Gesellschaft sinnhaft orientieren,
soweit der Körper und die Deutung seiner Normalität in irgendeiner Form
als Bezugspunkt angenommen werden konnten.46
Das Dilemma der Gegenwart erschöpft sich nicht in der Paradoxie
von faktischer medizinischer Insuffizienz und radikalem Monopolan-
spruch; der Kampf um Erhaltung ärztlicher Monopolstellungen hat er-
neut begonnen. Zunehmend erweitert sich die Berufsgruppe - der Ge-
sundheitsmarkt erweitert mit einem immer differenzierteren Angebot
die Inventarisierung der Gesellschaft. Der etablierte Ärztestand
kämpft um alte Privilegien.
Die amtliche Macht über die Definition von Realität hat ihren Gipfel er-
reicht und ist im Abstieg begriffen. Derzeit arbeitet eine verwirrende Mix-
tur von High-Tech und Kräuterweisheit, bioengineering und autogenen
Körperübungen an der Schaffung empfundener Realität, einschließlich des
Körpers.47
43 Gilt für städtische Siedlungsformen; allerdings erfolgte die Etablierung einer
konzeptualisierten Heilkunde hier zuerst.
44 Unschuld (1978), S.530.
45 Die bürgerliche Sozialisierung ersetzte das eine solare Machtzentrum durch
eine Vielzahl von hierarchischen Einbindungen.
46 Labisch (1992), S.111.
47 Illich (1987), S.49.
25. 25
Die Tatsache einer Differenzierung des Gesundheitsmarktes im spä-
ten 20. Jahrhundert läßt die Betrachtung eines entscheidenden Mo-
ments in der ehemals aufstrebenden Karriere des Ärztestandes schon
als Ouvertüre eines Dominanzverlustes oder zumindest einer Ver-
schiebung erscheinen. Das 19. Jahrhundert spiegelt so einen profes-
sionspolitischen Kampf, der mit anderen Vorzeichen im späten 20.
Jahrhundert fortgesetzt wird. Ziel und Resultat der Professionspolitik
der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert war die Monopolisierung und eine
autonome Organisations- und Kontrollstruktur. Die Folie und die
Strategeme dieser Ambitionen interessieren uns.
27. 27
3 Wissenschaft, Macht und Norm
3.1 Die Szientifizierung der Medizin.
3.1.1 Der leidenschaftslose Blick der Klinik
Einen grundlegenden Impuls erhält die Konsolidierung des Ärzte-
standes ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Einzug der naturwis-
senschaftlichen Fundierung in die Epistemologie der Medizin schafft
eine neuen Bezugsrahmen. Der Paradigmawechsel im abendländi-
schen Denken, der die mathematische, cartesianische Methode zum
ersten Epistem erhob, reüssierte in der Medizin erst um die Mitte des
19. Jahrhunderts.
Der Wissenschaft eignet v.a. im deutschen Sprachraum ein massiv
integrierendes Potential. Da eine Kluft zwischen Führungsansprüchen
und -fähigkeiten und den konkreten Herrschaftsmitteln bestand, übte
die Wissenschaft eine stärkere soziale Funktion aus, als in den Frank-
reich oder England. Kollektive, bürgerliche Identität definierte sich
über die Bindung an Bildung und ultimativ an die Wissenschaft. Die
Medizin als Naturwissenschaft vorgestellt ist nur der erfolgreichste
Vertreter einer funktionalisierten Wissenschaft. Eine ganze Schicht
und eine kollektive Versicherung stützten diese Unternehmung.
Krankheit, Gesundheit und Medizin sind nur ein Spielfeld in der Kon-
solidierung und Sublimierung der bürgerlichen Gesellschaft. Schieras
Studie kreist um diese Fragestellung:
Es soll gezeigt werden, wie neue Schichten, im Übergang vom ständischen
Sozialgefüge zur bürgerlichen Gesellschaft, dank des Wechselverhältnisses
von Wissenschaft, Bildung und öffentlicher Meinung zunächst die ihnen
gemäße soziale und politische Wissenschaft entwickelten und dann, unter
Anwendung ideologisch und wissenschaftlich abgestützter Verteidigungs-
und Absicherungsstrategien, ihre gesellschaftliche Führungsstellung
etablierten und ausbauten.48
Was auf Erden noch Utopie war, wurde in die virtuelle Realität der
Wissenschaft verschoben. Die Medizin im deutschsprachigen Bereich
hatte mit der romantischen, naturphilosophischen Weltsicht einen
48 Schiera (1992), S.19.
28. 28
starken Gegenpol zu überwinden. Die Ergebnisse der Wiener und Pa-
riser Medizin sickerten denn auch zäh ein.49
Die Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt von der Vorstellung ei-
ner Medizin bzw. von der Imagination eines Krankheitsbegriffes, der
den anatomischen Blick zum Primat erhob. Das anatomische Verfah-
ren korrespondierte mit den Ideen des Positivismus, der nach Auguste
Comte die Erkenntnis der Gesetze der Phänomene von der positiven
Denkweise, d.h. einer Methode, die frei von Spekulation und Meta-
physik ist, ermöglicht sah und lediglich die realen Erscheinungen er-
faßte und sie mithilfe exakter wissenschaftlicher Methoden analysier-
te.50 In der Medizin bedeutete dies, daß durch die Analyse der einzel-
nen Teile die Gesetze ihres Baus und ihres Wirkens gegeben seien.
Der Körper erschien als technischer Automat, der durch die Vernunft
des Mechaniker-Arztes darstellbar und verständlich wurde. Die patho-
logische Anatomie oder vielmehr die anatomische Pathologie war
Fundament einer Heilkunde, die lokalisierte, organgebundene Idee
vom Sitz der Krankheit.51 Der lokale Befund, die Organveränderung
galt als Bedingung und Ursache der Symptome. Die Krankheit hatte
ihren organischen Sitz. Die Wiener Schule ging in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts über rein sachliche Erörterungen hinaus, sie be-
gab sich auf das Feld der Metaphysik, es finden sich „spekulative Er-
örterungen der natürlichen Heilaktionen, teils noch im Banne der hu-
moralen Krisenlehre oder der solidaren, vitalistischen Systeme, teils
im Geiste der mannigfachen modifizierten Naturphilosophie.“52
Rokitansky, ein Kliniker der zweiten Wiener Schule, stellt exem-
plarisch den idealistischen Arzt dar, der den Hippokratischen Grund-
satz vertritt und die Naturheilkraft proklamiert: die Natur bei ihren
Heilbestrebungen nicht hemmen53; gleichwohl Rokitansky, jetzt als
49 Vgl. Shryock (1940), S.159.
50 Vgl. Göckenjan (1985), S.308.
51 Vgl. Berghoff (1947), S.145.
52 Ebd. S.139.
53 Diese distanzierte Haltung äußert sich verdichtet im 'therapeutischen Nihi-
lismus' der Zweiten Wiener Schule um Rokitansky, Skoda und Joseph Dietl.
29. 29
Initiator der Szientifizierung, die deutschsprachige Heilkunde aus ih-
rer naturphilosophischen Spekulation54 zu stoßen gedachte. Die Wie-
ner Medizinal-Halle, eine Fachzeitschrift zitiert den Medizinhistoriker
Hirschel aus Dresden, der Rokitansky als den Begründer der neuen
pathologischen Anatomie apostrophiert, wenigstens für das gegen die
französischen Leistungen gleichgültig gebliebene Deutschland.
Sie [Rokitansky und Skoda -T.B.] stürzten das Reich der Träume und der
Theorien und setzten die Erfahrung dafür auf den Thron.55
Ein zeitgenössisches Enkomion auf Rokitansky, anläßlich seiner
Rede zur Jahressitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaf-
ten, positioniert seine Arbeit als Ergebnis einer physikalischen Rich-
tung beim Studium der physiologischen Zustände des Gesund- und
des Krankseins:
er [Rokitansky -T.B.] weist nach, wie die Medicin, nachdem sie sich von
der Annahme einer von den bekannten Naturkräften verschiedenen Le-
benskraft lossagte, in die Reihe der Naturwissenschaften eingetreten, dass
sie selbst eine Wissenschaft sei.56
Eine Wissenschaftlichkeit mit Einschränkung allerdings, diese Rich-
tung vermag niemals das Rätsel des Lebens völlig zu lösen, so der
Kommentar. Die Ambiguität seiner Person demonstriert sich in die-
sem Feld, hielt er doch an einer Restauration der Humoralpathologie
fest, seine Krasenlehre postulierte den Sitz der Krankheit im Blut, der
Krase.57 Rokitanskys spekulative Theorie wurde bald von Virchow
54 Die naturphilosophische Richtung bzw. die romantische Medizin gründet auf
der These vom Leben als galvanischer Prozeß. Eine allgemeine Naturkraft
wirkt in dieser Dynamik von Expansion oder positiver Elektrizität und Kon-
traktion oder negativer Elektrizität; ein sich unaufhörlich perpetuierender
Zirkel von Reproduktion und Desorganisation. Die Krankheit bestimmt sich
so als von inneren, dynamischen Lebenskräften organisiert. Vgl. Lesky
(1965), S.103.
55 Medizinal-Halle (1862, Nr.15), S.140.
56 AMZ, (1858, Nr.35), S.137.
57 Vgl. Lesky (1965), S.134-135.
30. 30
widerlegt und kann als eine der letzten Nachwehen nicht-rationaler
Wissenschaftlichkeit gewertet werden.58
Zentrum seiner rational-empirischen Forschungen war der Lei-
chenhof des Wiener Allgemeinen Krankenhauses59, die Prosektur
versorgte ihn mit einem Forschungsmaterial, das neuartige Episteme
des kranken bzw. toten Körpers gebar.
Das 19. Jahrhundert war die Hoch-Zeit der Sektion, der Vormachtstellung
der Pathologie. Während seiner Laufbahn als Pathologe soll Karl von Roki-
tansky, einer der Begründer dieses Faches, um die 25.000 Diagnosen ge-
stellt haben. Seine Abteilung am Allgemeinen Wiener Krankenhaus nahm
während seiner Amtszeit rund 2.000 Leichenöffnungen (einen großen An-
teil stellen dabei Irre) pro Jahr vor - insgesamt über 80.000 nach dieser
Schätzung -, wahrscheinlich mehr als in der gesamten vergangenen Ge-
schichte der Medizin.60
Erst spät tauschte Rokitansky seinen Arbeitsplatz, der einem Koh-
lenmagazin zur Ehre gereichte, mit einer repräsentativen Bühne ein.
1862 wurde das pathologisch-anatomische Institut eröffnet. „Eine
Zierde der Residenz.“61
Leskys Fazit versteigt sich in eine pittoreske Momentaufnahme in-
tellektueller Patho- bzw. Nekrophilie.
Denn mit der ganzen naiven Sinnenhaftigkeit seiner Anschauung hat er
sich dem sicht- und wahrnehmbaren Krankheitsprodukt hingegeben.62
Allerdings zeugt ein anderer Text von der Obsession Rokitanskys.
Im März 1866 beging R. die dreißigtausendste, durch ihn vorgenommene
Leichensection festlich im Kreise mehrerer Freunde.63
Die Diskursivierung des Leichnams initiierte eine neuartige Patho-
logensprache, ein objektivierendes, abstrahierendes Lexikon. Das pa-
thologische Produkt trat aus der subjektiven, mythischen Semiologie
58 Vgl. Shryock (1940), S.164.
59 Vgl. Martin (1847), S.91-92.
60 Laqueur (1992), S.214.
61 WIZ (1862), Nr.27, 5. Juli.
62 Lesky (1965), S.131.
63 Wurzbach (1874), S.289.
31. 31
ein in die Korrelation von innerem Organ-Geschehen und sichtbaren
Befund - in die Kausalität von anatomischem Substrat und klinischem
Symptom. Gegen die naturphilosphische Vorstellung einer von diffu-
sen Kräften verursachten Gleichgewichtsstörung behauptet Roki-
tansky die Idee des nachweisbaren „Krankheitsprozesses“, der sich in
Funktion der Zeit entwickelt.64 Diese organizistisch-makroskopische
Pathologie legitimierte die moderne Medizin als esoterischen Diskurs
über die Endlichkeit des Menschen, gleichzeitig bot sie als positive
Wendung die Hoffnung eines restaurativen Eingriffs in den ehemals
verschlossenen, nun zugänglichen und sprachlich konstituierten
Raum.
Das Problem der damaligen klinisch-anatomischen Befunde war die
Unkenntnis der Pathogenese, der Ätiologie, die Befunde waren immer
nur Produkt der Krankheit, nie sie selbst. Es fehlte noch ein Konnex
zwischen physiologischer Leistung des Organismus und der durch
eine Pathologie veränderten. Noch fehlte eine pathologische Physio-
logie, die abseits von naturphilosophischen Modellen argumentiert.65
Mit Johannes Müller, der eine Kooperation von anatomischen und
physiologischen Grundlagen forderte, tritt nun diese Physiologie in
die Welt.
Die Entdeckung der kernhaltigen Zelle im tierischen Organismus
durch Schwann veränderte die gültigen Konzepte vom menschlichen
Organismus; die Einheit alles Organischen, die Zelle als letzte mor-
phologische Einheit des Lebens zu erkennen, eröffnete die Gelegen-
heit, die elementaren Krankheitsphänomene an der Zelle kennenzu-
lernen. Der Blick dieser differenzierten Lokalisation erscheint als
konsequente Weiterentwicklung der organgebundenen Pathologie und
der von Xavier Bichat entfalteten Pathologie der Gewebe. Der Blick
auf immer kleinere anatomische Partikel verstellte zunehmend den
Blick auf den Kranken, allein die Krankheit stand im Vordergrund.66
64 Vgl. Lesky (1965), S.132-135.
65 Vgl. Berghoff (1947), S.135.
66 Vgl. Shryock (1940), S.125 u. 135.
32. 32
Rudolf Virchow (s.u.) konnte darauf aufbauend seine Zellularpatho-
logie formulieren, „die Zelle war nicht nur der anatomische Ele-
mentarorganismus, sondern auch die Stätte physiologischen und pa-
thologischen Geschehens“67. Sie hat ein Eigenleben, ihre Existenz
vollzieht sich demnach in Form von Reaktionen auf nutritive, forma-
tive und funktionelle Reize. Krankheit erscheint demgemäß nicht
mehr als abgeschlossenes Phänomen, sondern als ein Prozeß, der den
selben Gesetzen gehorcht wie der physiologische Organismus;
Krankheit ist somit nicht mehr der Gegensatz von Gesundheit, son-
dern nur noch graduell different. Die Zelle war nun Sitz der Krank-
heit. Das Wesen der Krankheit solle am Ort ihrer Erscheinung er-
forscht werden. Virchows Theorie wandte sich gegen die ontologi-
sche Krankheitsauffassung der naturhistorischen Schule, die einen
Parasiten als Krankheitsursache bestimmte; andererseits wurde seine
Lehre als ‘ontologische’ bezeichnet, da „ein scharf umschriebenes
wesenhaftes Objekt“, das allerdings keine eigene Existenzform war,
„sondern nur den durch die abnormen Bedingungen veränderten Kör-
perteil darstellte“68, zum Ausgangspunkt der Krankheit gemacht. Die
örtliche-anatomische Krankheit sollte anhand der klinischen Bilder
ermittelt werden.
Die Medizin verkehrte dieses Bild, allein von der Krankheit aus ist
die Gesundheit zu verstehen.
Die Verschmelzung von pathologischer Anatomie und Physiologie bedeu-
tet die konzeptionelle Verschmelzung von Gesundheit und Krankheit aus
der Perspektive des Endzustandes: Krankheit ist das natürliche Experiment
des Körpers, Gesundheit ist eine erkennbare Entwicklungsstufe hin zum
Leichenbefund.69
Der unproblematische Begriff der Gesundheit mutiert zu der Idee
eines Kontinuums von Krankheit und Gesundheit, zum gleitenden
Übergang vom Normalen zum Pathologischen. Als Konsequenz ergibt
sich die Inthronisation des medizinischen Eingriffs als Konzept der
Gesunderhaltung, medizinische Normen substituieren die tradi-
67 Berghoff (1947), S.150.
68 Ebd. S.151.
69 Göckenjan (1985), S.254,
33. 33
tionellen sozialen Krankheitskoordinaten. Die Abschaffung der
Selbstregulationsfähigkeit eines positiven Körperkonzepts bildete die
Grundlage einer Absicherung gegen einen systematischen Zweifel an
der Kompetenz der Ärzte - ein professionspolitisches Argument.70
Der anatomisch-pathologische Krankheitsbegriff auf physiologi-
scher Basis konnte zweifellos nicht alle bekannten Krankheitspro-
zesse, wie zum Beispiel die Neurosen, erklären. Hier tritt nun der
funktionelle Krankheitsbegriff in Erscheinung, der auf der Dichoto-
mie Suffizienz und Insuffizienz gründet und die Pathologie be-
herrscht. Als Vergleichsreferenz dient eine physiologische Lei-
stungsbreite. Diese funktionelle Diagnostik führt weg von der Vir-
chowschen Morphologie; die klinische Empirie, die experimentelle
Physiologie sucht eine Verbindung von Zellularpathologie und den
klinischen Phänomenen herzustellen. Die klinische Analyse sollte den
Sitz der Krankheit ans Licht befördern, die exakte Analyse führte zu
einer Differenzierung der physikalischen Diagnostik, wie zu einer
Ausweitung des Krankheitsbegriffes.71
Die Krankheit löst sich von der Metaphysik des Übels, mit der sie jahrhun-
dertelang verbunden war, und findet in der Sichtbarkeit des Todes die ad-
äquate Form, in der ihr Gehalt positiv erscheint.72
Der anatomisch-klinische Blick entstand im Zuge einer epistemo-
logischen Reorganisation der Krankheit. Diese positive Methodik
zerrt die ‘Gegen-Natur’, den Tod, das Übel ans Tageslicht; um diese
Erkenntnisform zu etablieren, mußte der Kranke, so Foucault, in ei-
nen kollektiven und homogenen Raum installiert werden. Im selben
Augenblick definierte sich ein wissenschaftlicher Diskurs, der eine
objektive Korrelation zwischen dem Sichtbaren und dem Aussagbaren
konzipierte. „Man macht sichtbar, indem man sagt, was man sieht.“73
Der Leichnam wurde zum diskursiven Raum, „aus der Einfügung des
Todes in das medizinische Denken ist eine Medizin geboren worden,
70 Vgl. ebd. S.254-255.
71 Vgl. Berghoff (1947), S.153-154.
72 Foucault (1988), S.207.
73 Ebd. S.207.
34. 34
die sich als Wissenschaft vom Individuum präsentiert.“74 Die Trans-
formation des memento mori: vor dem Tod sind alle gleich.
Die vorerst unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen geben sich
als medizinisch gleich zu erkennen, arm und reich erleben unter na-
turwissenschaftlichem Blick Krankheit und ärztliche Fürsorge glei-
chermaßen; daraus leitet sich folgerichtig eine Egalisierung der Ärzte
ab. Die Etablierung repräsentativer Vertretungsorgane sollte ärztliche
Interessen in der Gesellschaft durchsetzen. Hinter diesen Forderungen
verbirgt sich kein ökonomischer Zwang, sondern pro-
fessionspolitische Probleme in zeitgenössischem Gewand. Das ärztli-
che Klientel, das Publikum, thematisiert die fachliche Kompetenz.
Der Bürger verschwindet als Adressat, als Vermittler ärztlicher Stan-
desbemühungen. Der Staat avanciert zur primären Apellationsinstanz,
er soll organisatorische Grundlagen der öffentlichen Medizin bereit-
stellen, die Medizin als staatspolitisch relevante Produktivkraft aner-
kennen. Der Ausschluß der Laien, der einheitliche, regulationsbefugte
Stand entspringt, so Göckenjan, aus der These der Bedrohung durch
eine Emanzipation der Laien. Bloß diese Propaganda blieb Rhetorik,
eine ärztliche Vereinigung fand bis über die Mitte des 19. Jahrhun-
derts nicht statt.
Als Realprozeß findet diese »von oben« statt. Staatsverwaltungen versu-
chen, sich Beratungs- oder bestimmte Implementationsinstanzen zu schaf-
fen.75
3.1.2 Rudolf Virchow, die Medizin als Schnittstelle einer ultimativen
naturwissenschaftlichen Anthropologie
Mit Virchow etabliert sich die Medizin als Träger naturwissen-
schaftlicher Erkenntnisse als soziale Wissenschaft. Aus dem Geist der
Seuchenabwehr entwickeln sich die Anfänge einer Sozialmedizin.
Bakteriologie und Assanierung der Städte prägen die Initiative einer
sozial definierten Medizin. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kon-
vergieren beschleunigte Industrialisierung, Massenproletariat und E-
pidemien. Die Stadt wird zum Hort der Unruhe und des Aufstandes.
74 Ebd. S.207.
75 Göckenjan (1985), S.278.
35. 35
Allen voran die Cholera-Epidemien konstituieren den phantasmati-
schen Anteil, der als rhetorische Strategie in die Medizinierung der
Politik und die Politisierung der Medizin eingeht. In Deutschland zielt
das Projekt einer Medizinalreform auf eine Öffnung des gesamten öf-
fentlichen und privaten Raumes für den sanitär-politischen Blick.
Virchow setzt sich mit seinem Text über die Seuchen und die Volks-
krankheiten von der Rhetorik der bürgerlich-feudalen Gesundheits-,
Hierarchie- und Eigentumsmodell und der „medizinischen Polizey“
des 18. Jahrhunderts völlig ab. Sympathie für die Armen, Kritik an
der Polizei, der Bürokratie und der Nonchalance des Beamtenappara-
tes und der besitzenden Klassen. Bildung und patriotisches Pathos -
eine Volk, ein Staat, alle sind füreinander verantwortlich - sind Ele-
mente der neuen Sozialmedizin.
Vor einem Hintergrund aus Kriegen, Seuchen, Revolutionen und bürgerli-
chem Wahn sieht man, wie sich Redeweisen aus der Medizin, der Hygiene,
der Psychiatrie, der Ökonomie, der soziologischen Betrachtung, der Politik,
der Kolportage, des journalistischen und polemischen Stils, des Mahnrufs
sowie des Pessimismus und der Anklage überlagern.76
Politik und Medizin geben sich als zwei Aspekte eines Anliegens zu
erkennen, der Integration und Verwaltung der Bevölkerung zum
volkswirtschaftlichen Nutzen des Staates und der Affirmation einer
rational-wissenschaftlichen Methodik. Öffentliche Gesundheitspflege
als Existenzsicherung des Staates, aber natürlich auch des Standes.
Das Jahr 1848 brachte mit Rudolf Virchow eine revolutionäre Zäsur
in der Medizin mit sich. Er erklärte die Medizin zur Totalwis-
senschaft, sie ist der Kern der Entwicklungstheorie und der Motor al-
ler Sozialbewegung. Diese Vorstellung von der Medizin als Mission
einer hygienischen Kultur konstatiert Schipperges77 nicht nur bei
Virchow; besonders die Versammlung der Deutschen Naturforscher
und Ärzte hielt sich für den Nabel der Welt. Schipperges zitiert den
Historiker und Arzt Julius Petersen, der eine hygienische Medizin als
die kommende postulierte; „[die Medizin hat den Auftrag-TB] die
76 Friedrich/Tietze (1994), S.22.
77 Schipperges (1984).
36. 36
physiologischen Verhältnisse des Organismus zu allen ihn umgeben-
den Medien und Lebensbedingungen festzustellen.“78
Die Medizin wurde zum umfassenden Sozialprogramm. Die
naturwissenschaftliche Methode avanciert zur leitenden
Epistemologie in allen Bereichen der Gesellschaft.79
Anstelle des philosophischen tritt das naturwissenschaftliche Zeital-
ter. Um die Jahrhundertmitte erfolgte dieser Paradigmawechsel. Der
Arzt als Iatrochemiker und Iatrophysiker analysiert die Phänomene
des menschlichen Organismus, die ausschließlich chemisch-physika-
lisch, oder davon abgeleitet, erfaßt werden können.80 Nicht zuletzt
diese Ausschlußhypothese läßt Alexander von Humboldt formulieren:
„In dem Maße als die philosophischen Systeme in den Hintergrund
gedrängt wurden, sind die nüchterne Beobachtung und der gesunde
Menschenverstand in ihr Recht getreten.“81 Virchow fügt denn auch
noch die quasi gesellschaftlich-staatliche Nützlichkeit hinzu:
Es bedarf keiner besonderen Beweisführung mehr, daß diese Art der Wis-
senschaft eine nützliche sei. Jedermann im Volke sieht es, welchen Nutzen
Staat und Gesellschaft von den neuen Anstalten haben. Das alte Wort Ba-
cons von Verulam ist eine Wahrheit geworden: Scientia est potentia.82
Claude Bernard, einer der Mediziner, die eine Heilserwartung an die
experimentelle, wissenschaftliche Medizin stellten, beschwor die
Wende; die Zeit der Theorien würde durch experimentell nachvoll-
ziehbare Hypothesen ersetzt werden: „Sie[die Medizin-T.B.] wirft
nicht nur das Joch der Philosophie und der Theologie ab, sie duldet
auch nicht die persönliche Autorität in der Wissenschaft.“83
Das Primat der wissenschaftlichen Methode war eingesetzt.
78 Zitiert nach Schipperges (1984), S.25.
79 Vgl. Schiera (1992), S.81-83.
80 Vgl. Zeller (1977), S.515.
81 Zit. n. Schipperges (1984), S.50.
82 Ebd. S.50.
83 Ebd. S.51.
37. 37
Virchow befördert die Medizin zur Zentralwissenschaft vom Men-
schen;
Obwohl dem Wortlaut nach nur Heilkunst, hat sich die wissenschaftliche
Medizin immer die Aufgabe gestellt und stellen müssen, die einzige Lehre
vom Menschen zu enthalten.(1849)84
Schipperges formuliert drei Punkte dieser Idee von der Zentralwis-
senschaft:
a) die naturwissenschaftliche Methode, die empirisch die Gesetze der
Mechanik anwendet
b) die Analogiebildung hinsichtlich einer Idee vom sozialen „Zellen-
staat“, die Naturwissenschaft wurde zur Sozialwissenschaft
c) ein Sendungsbewußtsein, das den Arzt zum Hohepriester einer E-
volution zum ‘Höheren’ bestimmt, ein kosmopolitischer Aspekt, der
in einer naturwissenschaftlichen Anthropologie mündet.85
„Ihre letzte Aufgabe als solche ist die Konstituierung der Gesell-
schaft auf physiologischer Grundlage.(1849)“86
Fazit Virchows:
Für alles und jedes hat daher die Medizin ein Wort mitzusprechen. (...)
Niemals mehr wird man vergessen dürfen, daß es die Medizin ist, die alle
Kenntnisse von den Gesetzen hat, welche den Körper und den Geist zu be-
stimmen vermögen.87
Den Nachweis aus der Praxis erbringt Salomon Neuhauser wenig
später, der nach den Erkenntnissen einer medizinischen Studie einer
Stadt das Postulat aufstellt: „Die medizinische Wissenschaft ist eine
soziale Wissenschaft.“88 Das Recht auf Gesundheit wird ausgerufen,
Sachwalter dieser Interessen kann nur die wissenschaftliche Medizin
sein, die Gesundheit tritt endgültig aus der privaten Sphäre des Halb-
schattens ans Licht der staatlichen Öffentlichkeit; Die Konditional-
84 Ebd. S.52.
85 Vgl. Schipperges (1984), S.53.
86 Virchow, zit. n. Schipperges (1984), S.53.
87 Ebd. S.55.
88 Ebd. S.55.
38. 38
hygiene verkörperte Wirkung und Instrument öffentlich propagierter
Gesundheit.
Daß die meisten Krankheiten nicht auf natürlichen, sondern auf ge-
sellschaftlichen Verhältnissen beruhen, tritt nun immer mehr in das
Bewußtsein der Wissenschaftsgeschichte.
Der Arzt sollte künftig soziale und politische Entscheidungen tref-
fen, die exakte naturwissenschaftliche Methode sollte den menschli-
chen Fortschritt garantieren. Die Wissenschaft ist zur Religion ge-
worden;
Ausschlaggebend für den Fortschritt wird die Erhebung der Medizin zur
Naturwissenschaft im höchsten Sinne des Wortes, als Wissenschaft vom
Menschen, als Anthropologie im weitesten Sinne sein.89
Der bestimmende Platz der Medizin in der Gesamtarchitektur der
Humanwissenschaften beruht auf ihrer Nähe zu einer anthropologi-
schen Tiefenstruktur; die Gesundheit, die naturwissenschaftlich in-
struierte Gesundheit wird zum Religionssubstitut:
Denn die Medizin hält dem modernen Menschen das hartnäckige und be-
ruhigende Gesicht seiner Endlichkeit vor; in ihr wird der Tod ständig be-
schworen: erlitten und zugleich gebannt; wenn sie dem Menschen ohne
Unterlaß das Ende ankündigt, das er in sich trägt, so spricht sie ihm auch
von jener technischen Welt, welche die bewaffnete, positive und volle
Form seiner Endlichkeit ist.90
Die Gewährleistung der Lösung der „sozialen Frage“, als ein we-
sentliches Demonstrationsfeld ärztlicher Kompetenz, geht von einer
Profession aus, die kollektiv assoziiert ist; allein eine einheitliche
Standesgruppe vermag diese Sozialreform durchzusetzen; gegenüber
dem Volk, den Laien muß ein Monopolstatus garantiert werden, da
die Zielsetzung sonst unerreichbar bleibt.91
Die Pädagogisierung der Gesellschaft, d.h. die liberale Durchge-
staltung nach den Prinzipien von Gleichheit und Fortschrittsfähigkeit,
Grundsätze und Methoden der Naturwissenschaft, fällt ebenso in den
89 Virchow, zit. n. Schipperges (1984), S.58.
90 Foucault (1988), S.208.
91 Vgl. Göckenjan (1985), 280-282
39. 39
Aufgabenbereich der Medizin, da sie Trägerin der neuen naturwissen-
schaftlichen Fundierung des Lebens, wie Neugestaltung der Politik
nach naturwissenschaftlichen Prämissen ist. Schritte einer Medi-
kalisierung der Gesellschaft.
Und die Ärzte liefern zu allem neutralistisch das nötige Know-how, das
Personal und die effektivste Organisationsform! Die Phantasmagorie ärztli-
cher Professionspolitik, Probleme nur als technisches Optimierungskalkül
anerkennen zu wollen.92
Die Medizin als technische Integrationswissenschaft durch staatli-
che Autorisierung eines homogenen Expertenstandes mit dem Recht
auf Selbstregulation - das ist die liberale Programmatik der ärztlichen
Profession.
Abschließend läßt Göckenjan durchblicken, daß die Medikalisierung
der Gesellschaft vielmehr an staatliche Regelungsinteressen gebunden
bleibt als an die autonomen Ambitionen einer Berufsgruppe.93Schiera
bestätigt in seiner Studie das Integrationspotential wissenschaftlich
instruierter Normen, v.a. dann, wenn die politische Einflußnahme in
einer bürgerlichen Gesellschaft wenig effektiv bleibt - Wissenschaft
als Sublimierung kollektiver Identität.94
92 Ebd. S.285.
93 Vgl. ebd. S.286.
94 Vgl. Schiera (1992).
40. 40
3.2 Bedingungen einer Sozialdisziplinierung und Pro-
fessionalisierung95
3.2.1 Medizinischer Diskurs und Normvermittlung
Der historische Prozeß, in dem medizinisches Wissen soziale Autorität ge-
winnt, der politische, ethische, juristische und literarische Diskurse quasi
unterworfen sind, tritt in seine entscheidende Phase mit dem 18. Jahrhun-
dert. Die normative Kraft dieser Begriffsbildung umfaßt alle Entschei-
dungen, die den Wert menschlichen Lebens im weitesten Sinn umfassen,
sie dient der Dramatisierung, da sie vorgibt, existentielle Fragen zum The-
ma zu haben.96
Alfons Labisch ortet in der Erfassung des Gesundheitsbegriffs eine
prinzipiell normative Kraft und zwar gewissermaßen anthropologisch,
wenn er normal und funktionierend97 gleichsetzt.98 Mit der multifak-
toriellen Ätiologie pathologischer Phänomene erfolgt eine »ganzheit-
liche« Ausweitung des medizinischen Blicks, d.h. eine weitere Ver-
strickung in normative Diskurse; medizinisches Wissen wird multi-
funktional verwertbar und ideologiepolitisch verwendbar.99
Anz benennt besonders den Zusammenhang der Geschichte der Vor-
stellungen von Krankheit und Gesundheit und der allgemeinen Nor-
men- und Wertediskussion. Er verweist auf die Verwendung „medizi-
95 Der Begriff der Professionalisierung leitet sich vom englischen Sprachge-
brauch ab; die Priesterschaft, die Juristen und die Mediziner werden tradi-
tionell als 'professions' bezeichnet. Der deutsche Sprachgebrauch identifi-
ziert damit nicht die Abgrenzung einer Reihe von Gruppen von anderen
Gruppen und deren unterschiedliche historische Entwicklung, sondern die
Dichotomie: Profi versus Amateur, laienhaft versus berufsmäßig, speziali-
siert. Das deutsche Äquivalent für 'profession' wäre 'Stand' bzw. 'Standes-
beruf'. Als wesentliches Standesmerkmal gilt die Autonomie. Unschuld
führt daher als Alternative den Begriff „Verselbständigung“ ein. Vgl. Un-
schuld (1978), S.518 und 520-521.
96 Anz (1989), S.XI.
97 Funktion ist eine moderner Tautologie zu Gesundheit, aber auch ältere Ge-
sundheitsvorstellungen rekurrieren auf eine Normalität, eine Ordnung.
98 Vgl. Labisch (1992), S.14-17.
99 Vgl. Anz (1989), S.XIII.
41. 41
nische[r] Argumente zur Durchsetzung ethischer und ästhetischer
Normen.“100
Die Allianz medizinischer und moralischer Diskurse hat für die nor-
mativen Konstruktionen moderner, säkularisierter Gesellschaften eine
erhöhte Anziehungskraft. Denn als normsetzende Sanktionsinstanz
muß hierbei kein metaphysisches Wesen mehr angenommen werden
und auch keine soziale Autorität, deren Legitimität sich bezweifeln
läßt. Die menschliche Natur selbst ist es, die physische und die
psychische, an der man sich nicht straflos versündigen darf.
Die Rache der Natur, gegen den Frevel abweichenden Verhaltens,
realisiert als Krankheit, ist nichts anderes als die säkularisierte Ver-
sion der von einer Gottheit gesandten Mahnungen und Bestrafungen.
Gesundheit gilt als positive Sanktion, die normentsprechendes Ver-
halten honoriert und bestärkt. Interpretationen von Gesundheit ver-
weisen auf vorweggenomme Ordnungen.101
Mit diesen Belegen verknüpft Anz eine soziologische Kommunika-
tionstheorie, d.h. die Beziehung Mensch-Natur funktioniere gleich
einem Prozeß sozialer Interaktion, welcher wiederum auf der Idee der
erwarteten Erwartung102 aufbaut, das nun heißt:
Normen werden legitimiert unter Berufung auf die »Gesetze« der
Natur, während sie vielmehr abgeleitet sind von den kulturspezifi-
schen Vorstellungen, die man sich über diese »Gesetze« macht.
Anz weist denn darauf hin, das diese enge Verknüpfung medizini-
scher und moralischer Diskurse besonders das ausgehende
18.Jahrhundert betraf.103
In den 30er Jahren des 19.Jahrhunderts trat eine Veränderung des
ärztlichen Blicks ein, die moralistische Interpretation psychischer
100 Ebd. S.XIII.
101 Vgl. Labisch (1992), S.12.
102 In sozialen Interaktionsprozessen orientiert sich der Normadressat nicht an
den tatsächlichen Erwartungen, sondern an der Vorstellung, die er von die-
sen Erwartungen hat. Vgl. Anz (1989) S.5.
103 Vgl. ebd. S.6-7.
42. 42
Krankheiten stieß zunehmend auf Ablehnung, wobei die normvermit-
telnde Argumentation und Strategie des Diskurses, wenn auch mit
anderen Inhalten, erhalten blieb. Die psychischen Erkrankungen er-
schienen nun als Begleiterscheinungen organischer Pathologien, d.h.
der moralistische Impetus verlor an Legitimität; die Vertreter dieser
Richtung waren Somatiker benannt. Damit wurde auch die moralische
Selbstverantwortlichkeit für das Leiden in Frage gestellt.
Diese heute fragwürdige Position stellt in den 30er Jahren des vori-
gen Jahrhunderts allerdings eine Gegenposition zum politisch restau-
rativen Moralismus der „Psychiker“ dar. Bereits in den 40er Jahren
hatte sich die Position der „Somatiker“ durchgesetzt.
Ein Lehrbuch der Psychiatrie behauptet so, daß zwischen Geistes-
krankheit und moralischem Lebenswandel keinerlei Zusammenhang
besteht, wenngleich psychische Entstehungsursachen geltend gemacht
werden können; hier wird also bereits eine Trennung von Psyche und
Moral vorgenommen und damit die radikale Abtrennung der Somati-
ker, die exklusiv organisch ausgerichtet waren, d.h. psycho- und sozi-
ogenetische Ursachen aus den Augen verloren, überwunden. Der
ganzheitliche, moralisierende Blick der Psychiker und die Befreiung
des Blicks von dem Aspekt der Sittlichkeit war eng verbunden mit der
semantischen Entkopplung der Begriffe „Moral“ und „Psyche“.104
Dem psychopathologischen Blick war der moralisch-sittliche inhä-
rent.
Die Exkulpierung der psychisch Kranken, der Verzicht auf einen
moralistisch-pejorativen Krankheitsbegriff war noch nicht vollzogen.
Anz charakterisiert die Entwicklung des medizinischen Diskurses
von 1800 bis etwa 1850 als naturwissenschaftlichen Positivismus;
damit einher geht eine Monopolisierungstendenz, die dem Mediziner
das alleinige Verfügungsrecht über den Bereich Krankheit zuspricht.
Dem naturwissenschaftlichen ärztlichen Blick allein obliegt die Kom-
petenz, „alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und mora-
104 Vgl. ebd. S.7-9.
43. 43
listischen Auffassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntnis nur
vom allergeringsten Werthe.“105
Die Grenzen zwischen dem medizinisch-naturwissenschaftlichen
und dem literarischen Diskurs über Krankheit verlaufen dort, wo mo-
ralgenetische und psychogenetische Erklärungsmuster für Krank-
heiten übereinstimmen, dort wo eine positivistische Medizinwissen-
schaft Exklusivität hinsichtlich der Beschäftigung mit Krankheit be-
ansprucht.
Je weiter sich der Horizont medizinischer Pathologie und Therapie
zum ganzheitlichen Verständnis von Krankheiten hin öffnet, desto
durchlässiger wird er für (möglicherweise mißbräuchliche) Normset-
zungen, die die gesamte Lebenspraxis betreffen.
Interessant erscheint Anzens These bezüglich des Begriffspaares
„krank und gesund“, das voller moralischer Implikationen steckt, die
noch dazu größtenteils vorbewußt bleiben; er meint, daß es dabei um
höchste Werte säkularisierter Kulturen geht, um die Existenz
schlechthin; deswegen bestimmen die kulturellen Vorstellungen über
Genese, Symptomatik und Therapie von Krankheiten soziale und in-
dividuelle Verhaltensweisen und Verhältnisse - Glück und Heil der
Nation stehen auf dem Spiel.
Die Logik normvermittelnder Argumentation:
Einhalten der Norm = gesund
Nichteinhalten der Norm = pathogen.
Das Recht auf Wohlbefinden, Gesundheit war schon erklärtes Ziel
der aufgeklärten Moralisten, die den Kranken schuldig sprachen,
normwidriges Verhalten an den Tag zu legen, ihm also die alleinige
Schuld an seiner Krankheit zuwiesen. Die „postaufgeklärte Medizin“
hingegen trachtet, den Kranken zu exkulpieren und die sozialen und
kulturellen Normen als pathogene Faktoren zu beschreiben.106
105 Arzt Griesinger, zit. nach Anz (1989), S.12
106 Vgl. ebd. S.15-18.
44. 44
Also eine Art Kollektivierung, nicht mehr das Individuum, sondern
das Normenkollektiv wird haftbar gemacht. Veränderungen dieser
Werte erscheinen als notwendige Konsequenz.
Eine Veränderung, ein Perspektivenwechsel erfolgt ab Mitte des
19.Jahrhunderts in dem Maße, indem die Medizinwissenschaft mit-
hilfe epidemiologischer Forschung eine Korrelation zwischen der Zu-
gehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen und der Anfälligkeit für
bestimmte Krankheiten feststellt;107 in dem Maße überkommen sich
die tradierten bürgerlichen Wertvorstellungen, sie sind nicht mehr Ga-
ranten für Gesundheit und Wohlbefinden, sondern im schlimmsten
Fall pathogen und letal. Was der Natur zuwiderläuft, wird krank und
wirkt pathogen. Die Natur als Leerformel, die zu jeder Zeit mit ande-
ren Inhalten angefüllt werden kann; die Natur als auratische Autorität,
die metaphysische Spekulationen oder Gewißheiten ersetzt.108
Neben dem medizinischen Diskurs, namentlich der Ätiologie, der
Tabus und Vermeidungsregeln bei Strafandrohung produziert, eröff-
net ein weiterer medizinischer Diskurs ein weites Feld mit normativen
Implikationen: die Therapeutik, Diätetik und Hygiene. Also Bereiche,
die der Lebenserhaltung, der Förderung oder der Erhaltung der Ge-
sundheit dienen, die aktiv (oder aggressiv) in die Lebenspraxis ein-
greifen.
Mit der im 18.Jahrhundert expandierenden Diätetik und Hygiene ge-
rät auch der Alltag des Gesunden (als einem immerhin potentiellen
Patienten) in verstärktem Maße in den Einflußbereich medizinischen
Wissens.
Die von therapeutischen, diätetischen und hygienischen Vorstellun-
gen gestützte Logik norm- und wertvermittelnder Diskurse legitimiert
bestimmte, hochgewertete Verhaltens- und Lebensformen.109
Einhalten gewährleistet Gesundheit, Zuwiderhandeln hat Krankheit
zur Folge - die Natur gilt wieder als Sanktionsinstanz.
107 Vgl. Friedrich/Titze (1994), S.20-30.
108 Vgl. Lepenies (1992), Kapitel über Wissenschaft und Angst.
109 Vgl. Anz. S.24-25.
45. 45
Die Sprache, in der die Natur ihre Vorschriften kundtut, bedarf frei-
lich, wie die Gottes, professioneller Vermittler, die sie zu entziffern
und zu übersetzen verstehen.
Der Arzt avanciert zum Priester, der tendenziell Monopolansprüche
anmeldet, da er quasi Sprecher der höchsten Autorität, wie des höchs-
ten bürgerlichen Wertes ist.
Mit der Aufklärung wird Gesundheit zum sozialen Distinktionsmit-
tel, ein quasi bürgerliches Atout im Kampf gegen den an Macht und
Einfluß verlierenden Adel. Die Gesundheit wird zum Ausweis der
Überlegenheit bourgeoiser Normen.
Die Tatsache, daß Gesundheit in der bürgerlichen Kultur zu einem
absolut positivem Wert heranwächst, Krankheit hingegen zum abso-
luten ‘Unwert’ degradiert wird, erklärt das ausgeprägte Interesse an
der Definition beider Begriffe, ein Interesse, das naturgemäß über ei-
nen fachspezifischen Diskurs hinausgeht, da es weithin als norm-
legitimierendes Argument im rhetorischen Rahmen eingesetzt wird.
Die Ausschließungprozedur, als normative Präskription, d.h. das
Benennen bestimmter Verhaltensweisen als »krank«, agiert als nega-
tive Sanktion im Mantel wertfreier Deskription. Der soziale Druck,
der mit der Etikettierung »krank« einhergeht, ist ein weit höherer als
der, der mit den Begriffen »häßlich« oder »böse« verknüpft ist.
In dieser Version normativer Diskursstrategie wird nicht mit Krank-
heit als Vergeltung normwidrigen Verhaltensweisen gedroht, sondern
die Stigmatisierung der Normwidrigkeit als »krank« ist bereits die
Sanktion.
Krank zu sein, kann vor Sanktionen im strafrechtlichen Diskurs be-
wahren, kann ein Mittel der Arbeitsverweigerung bzw. der Ver-
weigerung als solcher sein, dabei gesellschaftlich akzeptiert, es ent-
bindet ebenso von mancherlei sozialen Verpflichtungen; andererseits
mindert ein Krankheitszustand die vollwertige Mitgliedschaft in der
Gesellschaft; die Verpflichtung gesund zu werden und fachkundige
Hilfe zu konsultieren ist obligatorisch.
Das Stigma »krank« droht im normkonstituierenden Diskurs mit so-
zial negativen Sanktionen, es erinnert an Sanktionen, die mit Angst
46. 46
besetzt sind; »krank« zu sein bedeutet aus dem „vernünftigen“ Dis-
kurs exkommuniziert zu werden.110
In diesem Kontext geriert sich die Medizin als mediko-juristischer
Komplex; die Familie, die Schule, die Fabrik, das Militär, die Politik,
das Gericht werden zum Betätigungsfeld einer umfassenden Medizin,
sie funktioniert als Mechanismus der sozialen Kontrolle. Das
19.Jahrhundert fußt im Angelpunkt des Übergangs vom theologischen
zum therapeutischen Staat; vom Polizeystaat - wobei „Polizey“ nicht
als Zwangsfunktion, sondern als umfassender Begriff von Führung,
Regierung und Unterwiseung zu verstehen ist - zum Rechtsstaat.
Soziale Kontrolle gibt sich als Therapie bzw. öffentliche Fürsorge zu
erkennen. Der Medizin kommt die Aufgabe zu, die Verwirklichung
einer Normalisierungsgesellschaft zu gewährleisten.
Die Medikalisierung der Gesellschaft gibt sich als Profilierungsfeld
v.a. der Ärzteschaft zu erkennen.
Die Perspektive der Gegenwart, das Unbehagen an einer medizini-
schen Totalvereinnahmung des menschlichen Körpers bietet den An-
laß, richtungsweisende Impulse in der Vergangenheit einer Profession
aufzuspüren, die nahezu monopolistischen Zugriff auf den intimen,
persönlichen Körper hat.
3.2.2 Der Begriff des Monopols und der Macht:
Die Verwendung des Monopolbegriffs konstituiert sich in unserem
Zusammenhang mehrheitlich aus den Studien Norbert Elias’.
Der Mechanismus der Monopolbildung: In einer gesellschaftlichen
Entität kämpfen kleinere Einheiten, die durch die größeren interde-
pendent korrespondieren, und nicht durch schon vorhandene Mono-
pole behindert werden am jeweiligen Markt um Subsistenz- und Pro-
duktionsmittel. Elias geht von der Wahrscheinlichkeit aus, daß in-
folge immer weniger über immer mehr Chancen verfügen, d.h. daß
immer mehr in Abhängigkeit von einer kleineren Menge oder Gruppe
geraten.111 Dieser Effekt der Verschiebung der Stärkeverhältnisse
110 Vgl. ebd. S.28-30.
111 Vgl. Elias (1989), Bd. 2, S.144.
47. 47
gibt sich sehr vereinfacht, er umgeht mögliche Variationen, intendiert
ist lediglich die Präsentation der Oberflächenstruktur eines Prozesses.
Elias’ Pointe ist nun die Tatsache, daß in jeder höher differenzierten
Gesellschaft die Verteilung der Abhängigkeit umschlägt; je um-
fassender im Rahmen des Monopolmechanismus die Anzahl der Ab-
hängigen gewachsen ist, desto größer wird die gesellschaftliche Stär-
ke der Abhängigen als Ganzes. Die Monopolisten benötigen zur Ab-
sicherung, Erhaltung und Bewirtschaftung ihres Monopols immer
mehr Abhängige. Es entwickelt sich ein Herrschaftsfeld mit spezifi-
scher gesetzlicher Dynamik: je differenzierter und umfassender dieses
Monopolareal ist, desto komplexer die Abhängigkeiten;
der oder die Monopolherren [werden-T.B.] zu Zentralfunktionären eines
funktionsteiligen Apparats, mächtiger vielleicht als andere Funktionäre,
aber kaum weniger abhängig und gebunden als sie.112
Die akkumulierten Chancen tendieren dazu den Händen der Mono-
polherren zu entgleiten, in die Hände von Abhängigen zu fallen. Das
Monopol vergesellschaftet sich, es wird zum öffentlichen, zum Staats-
monopol.
Das immer reicher funktionsteilige Menschengeschlecht als ein Ganzes hat
ein Eigengesetz, das sich jeder privaten Monopolisierung von Chancen
immer stärker entgegenstemmt. Die Tendenz der Monopole, etwa des Ge-
walt- und Steuermonopols, aus „privaten“ zu „öffentlichen“ oder „staatli-
chen“ Monopolen zu werden, ist nichts anderes als eine Funktion der ge-
sellschaftlichen Interdependenz.113
Das System strebt einem Gleichgewicht zu, indem die Akkumula-
tion der Chancen in den Händen einiger weniger verunmöglicht wird;
eine Art Entropie - die gleichmäßige Verteilung von funktionalisierter
Abhängigkeit und Macht.
Man muß sich also von der Vorstellung befreien, daß Macht etwas
ist, was man besitzt oder das eine Gruppe besitzt, also beispielsweise
die Monopolqualität der Medizin. Foucault akzeptiert den politischen
112 Ebd. S.148. Diese Anschauung greift später Foucault auf, er spricht von
der lediglich strategisch günstigeren Position in einem Spannungsfeld von
Dependenzen.
113 Ebd. S.152.
48. 48
Wert der Formel: „Sie haben die Macht.“ Analytisch besehen ist die
Macht eine Funktion ihrer Wirkung, die bis in kleinste Elemente des
Sozialen vordringt.
Sie kommt zur Wirkung oder nicht, das heißt, die Macht ist immer eine be-
stimmte Form augenblickhafter und beständig wiederholter Zusammenstö-
ße innerhalb einer bestimmten Anzahl von Individuen.114
Die Macht entspricht nicht der Polarisierung von Passivität versus
Aktivität. Zwar räumt Foucault ein, daß eine privilegierte Gruppe in
der Gesellschaft existiert, die strategisch eine Polarisierung vor-
täuscht, allein die Wirkung von Macht geht von kleinen Partikeln aus.
Sie wirkt niemals von einem Zentrum aus. „Die Macht ist niemals
monolithisch.“115 Foucaults Machtbegriff grenzt sich gegen die Idee
der Regierungsmacht, gegen die Idee einer Suppression der einen zu-
gunsten der anderen ab; er begreift die Macht schließlich nicht als ge-
regelte Form der Gewalt. Die Souveränität eines Staates, der juridi-
sche Diskurs der Gesetze sind allenfalls Endprodukte: staatliche Insti-
tutionen, Gesetzgebung strategische gesellschaftliche Hegemonien
sind Kristallisationen eines Machtbegriffs, der sich als Feld vielfälti-
ger Kräfterelationen versteht - ein Areal in dem heterogene Vektoren
(die Impulse der Kräfte) ein Spiel wechselseitiger Abhängigkeit, Be-
dingtheit, Isolation und Aporien inszenieren. Die Effekte der Macht
dringen in die periphersten Winkel vor, nicht trotz der Tatsache dieses
instabilen Kraftfeldes, das infolge seiner Ungleichheit permanent
transitorische Machtzustände hervorbringt, sondern gerade weil die
Abkehr von der Vorstellung eines Machtzentrums, einer Sonne der
Souveränität den Blick freimacht für die dissoziierte Macht, die nicht
unter dem Aspekt der zentralen Einheit, sondern unter dem Aspekt
der dezentralen, augenblicklichen Konstitution wirkt.
Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die
Macht überall. [...] Die Macht ist der Name, den man komplexen strategi-
schen Situationen in einer Gesellschaft gibt.116
114 Foucault (1976), S.114.
115 Ebd. S.115.
116 Foucault (1983), S.114.
49. 49
Die Macht als Chiffre bzw. Wirkung und Effekt von Kräfterelatio-
nen ist auf unzählige Punkte verteilt. Foucault schreibt ihr eine posi-
tive, d.h. kreative Funktion zu. Eine Machtbeziehung repräsentiert
also keinen Überbau der lediglich regulierend (affirmierend oder zen-
surierend) eingreift, nein, die Macht wirkt unmittelbar gebärend; sie
ist etwa ökonomischen Prozessen oder sexuellen Beziehungen nicht
äußerlich, sondern immanent.
Element der Machtbeziehungen sind Intentionalität und Nicht-Sub-
jektivität. Die Macht impliziert ein Kalkül, Zielsetzungen, eine Ra-
tionalität, allerdings abseits einer Bindung zu einem historischen bzw.
juristischen und natürlichen Subjekt. Die Rationalität der Macht ist
eine Rationalität der Taktiken. Den Kräfteverhältnissen ist eine Stra-
tegie immanent, deren Kenntnis bzw. Dekodierung erst ein Ver-
ständnis ermöglicht. Das Feld der heterogenen Vektoren ist kein
fremdbestimmtes.
Es geht also darum, sich einer Machtkonzeption zuzuwenden, die das
Privileg des Gesetzes durch den Gesichtspunkt der Zielsetzung ablöst, das
Privileg des Verbots durch den Gesichtspunkt der taktischen Effizienz, das
Privileg der Souveränität durch die Analyse eines vielfältigen und bewegli-
chen Feldes von Kräfteverhältnissen, in denen sich globale aber niemals
völlig stabile Herrschaftswirkungen durchsetzen. Das strategische Modell
soll also das Modell des Rechts ablösen. Und das nicht aufgrund einer spe-
kulativen Wahl oder einer theoretischen Vorliebe, sondern weil es einer der
grundlegendsten Züge der abendländischen Gesellschaften ist, daß die
Kräfteverhältnisse, die lange Zeit im Krieg, in allen Formen des Krieges,
ihren Hauptausdruck gefunden haben, sich nach und nach in der Ordnung
der politischen Macht eingerichtet haben.117
Die Amalgamierung von Staat und Medizin als teleologische Hypo-
these eines Prozesses repräsentiert die Vorstellung, daß jeder Punkt
der Machtausübung ein Ort der Wissensbildung ist, bzw. daß eta-
bliertes, diskretes Wissen die Ausübung von Macht garantiert.
Das heißt, daß jeder Agent der Macht denen, die ihm die Macht übertragen
haben, ein bestimmtes und der von ihm ausgeübten Macht entsprechendes
Wissen wird zurückerstatten müssen.118
117 Ebd. S.124.
118 Foucault (1976), S.119.
50. 50
In diesem Wirkungsfeld versucht sich einerseits die Medizin zu e-
tablieren, andererseits engagiert der Staat seine Agenten als Wis-
sensproduzenten. Dieses Wissen ist seinerseits nun Machtmittel im
Sinne seiner Kontroll- und Sanktionspotenz.
Die exzessive Verbannung der Autonomie im subjektiven Thera-
pieverhalten durch den naturwissenschaftlich ausgebildeten, profes-
sionellen Mediziner wird im späten 20. Jahrhundert zur existentiellen
Bedrohung; zur Bedrohung nicht nur des Einzelnen, sondern auch zu
der aggregierter Körpermassen, zum nationalökonomischen und frie-
denspolitischen Menetekel. Das nicht mehr finanzierbare Gesund-
heitssystem, eine Stagnation bei Diagnose u.v.a. bei Therapieinno-
vationen nagen an den Wurzeln eines Gesellschaftssystems, welches
auch mittels des öffentlichen Gesundheitsdiskurses seine gegenwär-
tige Struktur etablierte. Der existentielle Fortbestand der okzidentalen
Kultur wird von einem Paradigmawechsel abhängig gemacht; eine
ungestüme Kulturkritik heftet die Befreiung des Subjekts aus dem
Joch der naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulmedizin auf ihre
Fahnen.
3.2.3 Sozialdisziplinierung:
Zweck dieses kurzen Exkurses ist die Eingrenzung des Begriffs, wie
er in unserem Kontext verstanden wird, es handelt sich nicht um eine
Darstellung der Forschungssituation.
Der Begriff der Sozialdisziplinierung ist als der Aggregatzustand zu
verstehen, der der Disziplinargesellschaft vorangeht. Der Diskurs der
öffentlichen Gesundheit äußert sich als elementares Konstituens im
Kondensationsprozeß einer Gesellschaft, die durch Implementierung
eines neuartigen Diskurses eine Veränderung der Machtgefüge indi-
ziert, die letztlich durch Internalisierung eines zunächst äußeren
Zwanges, dem Zwang zum Selbstzwang, den Weg in Richtung einer
differenzierten Disziplinargesellschaft einschlägt. Zum Selbstzwang
tritt die Langsicht. Augenblickliche Affekte werden Zwecken unter-
geordnet, die weit in der Ferne liegen können. Relevant bleibt die
Tatsache, daß dieser Vorgang nicht von einem oder wenigen Zentren
aus gelenkt wird; der Impuls geht von dezentralen, singulären Teilen
manchmal gleichzeitig, öfter versetzt aus. In einem Funktionskonti-
51. 51
nuum äußern sich Machtansprüche als Wirkungen, die nicht erzwun-
gen werden, sondern sich als Korrelationsfunktion zu erkennen ge-
ben. Norbert Elias nennt das den „Prozeß der Zivilisation“; die Im-
pulse sind nicht von rationalem Kalkül emittiert, nichts Geplantes.
„Hier hat man es mit Erscheinungen, mit Zwängen und Gesetzmä-
ßigkeiten eigener Art zu tun,“119 die weder rationaler noch irrationa-
ler Natur sind. Movens dieses Zivilisationsprozesses ist die fortlau-
fende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen infolge eines
starken Konkurrenzdruckes.
Um eine funktionsteilige Gesellschaft aufrecht zu erhalten, bzw. die
Existenz in ihr, bedarf es einer komplexen Regulierung der sozialen
Beziehungen der einzelnen Mitglieder; Elias, der dabei keineswegs an
einen bewußten Vorgang denkt, forciert die Vorstellung einer un-
bewußten Veränderung des psychischen Apparats, eine Art ange-
züchteten Automatismus’, „als Selbstzwang, dessen er [der Einzelne-
T.B.] sich nicht erwehren kann, selbst wenn er es in seinem Bewußt-
sein will.“120 Elias komplettiert dieses Konzept mit der These von der
„Triade der Grundkontrollen“, eine Gesellschaft verknüpft dynamisch
Kontrollen über außermenschliche Ereignisse mit solchen über inner-
gesellschaftliche Zusammenhänge und solchen über individuelle
Affekte.121
Der Vorgang der Sozialdisziplinierung ist nicht als gerichtete Inter-
vention zu verstehen, wenngleich einige Wenige strategisch einen
privilegierten Platz einnehmen.122 Die Sozialdisziplinierung ist Ef-
fekt und Movens eines diskursiven Gefüges, es handelt sich um
Verfahren, die nicht mehr mit der Ausnahme, sondern der permanenten
Kontrolle operieren, die nicht die punktuelle Abschreckung, sondern die
dauernde Reglementierung in den Vordergrund stellen123
119 Elias (1989), S.476.
120 Ebd. S.317.
121 Elias (1970), Was ist Soziologie? Zitiert nach Labisch (1992), S.31.
122 Foucault (1976), S.115.
123 Breuer (1986), S.56.
52. 52
Das Feld der öffentlichen Gesundheitspflege ist ein weiteres In-
strument der Verfeinerung der Disziplin; die Ärzteschaft profitiert
von dieser Entwicklung, sie beschleunigt sie aus professionspoliti-
schen Interessen, der Staat seinerseits als operationalisierte Dachorga-
nisation der Gesellschaft nützt die dadurch geschaffen Möglichkeiten
einer legitimierten Inventarisierung seiner Mitglieder. Nochmals wie-
derholt sei die Position Foucaults, der sich gegen die Vorstellung ei-
nes institutionalisierten Machtzentrums stellt.
Nach Foucault hat die Disziplinierung nicht nur den Effekt, die Individuen
gefügiger und berechenbarer zu machen. Sie macht sie zugleich effizienter,
leistungsfähiger und - individueller.124
Die Ärzteschaft und der Staat wären lediglich die strategisch privi-
legierten Institutionen dieses Zivilisationsprozesses.
Die Technisierung und Industrialisierung der Gesellschaft um die
Mitte des 19. Jahrhunderts initialisierte eine neuerliche gesellschaft-
liche Differenzierung; der Zivilisationsprozeß erforderte eine Verhal-
tensanpassung.
Die 1831 in Europa einsetzenden Cholera-Epidemien wurden zugleich ein
Fanal für die Gefahr, die der Allgemeinheit aus den industriellen Agglome-
rationen mit ihren bislang kaum bekannten und ungelösten Versorgungs-
problemen erwuchs.125
Ein Vektor, der über die Popularisierung zur Internalisierung ad-
äquater Gesten führt. In diesem dezentralen, verzahnten Prozeß tritt
nun der Arzt als Stratege auf und konzipiert die naturwissenschaftli-
che Medizin bzw. Hygiene als letzte Instanz bürgerlicher Kultur, Me-
dizin und Ethik sind lediglich zwei Objektivationen der Naturwis-
senschaft.126 Im Rahmen der Durchsetzung dieses Anspruchs wird
der Arzt zum Mediator der sozialen Differenzierung. In dem Moment,
in dem Gesundheit als wissenschaftliche Kategorie akzeptiert wird,
wenn wissenschaftlich begründetes Verhalten als sozial erwünscht
124 Ebd. S.60.
125 Labisch (1986), S.272.
126 Vgl. Labisch (1986), S.273.
53. 53
gilt, avanciert der ehemals marginale Arzt127 zum strategischen
Nutznießer. Andererseits wird die Medizin im Netzwerk inter-
dependenter Abhängigkeiten operationalisiert. Der unbestimmte Vek-
tor der Differenzierung erfaßt den Arzt.
Über das sekundäre128 Ziel der Gesundheit liefert die Medizin folglich ein
in seinem Begründungszusammenhang beliebig austauschbares theoreti-
sches Argumentationsinventar, das einen gesellschaftlich gesetzten An-
spruch an ein bestimmtes Handeln und Verhalten rationalisiert.129
127 Vgl. Frevert (1984), S.36-44.
128 Sekundär deshalb, weil wissenschaftliche Episteme ihrerseits auf Denk-
und Wertsystemen beruhen.
129 Labisch (1986), S.281.