Betriebswirtschaftslehre (B.Sc.) an der Universität Duisburg Essen
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Vergiss mein nicht!
Eine kleine französische Dorfkirche in Nordhessen
Eine Reise durch Zeit und Raum
von: Lara Maraun
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Vergiss mein nicht!
Eine kleine französische Dorfkirche in Nordhessen
Vergiss mein nicht? Besondere Orte? Denkmäler!?
Was soll ich denn dazu schreiben? Was für ein Denkmal? Was für eine Geschichte?
Wo bekomme ich denn dazu Informationen? Was hat denn ein Denkmal mit mir zu
tun? Gibt es ein blöderes Thema?
Da kommt mir eine Idee! Eine kleine Kirche! In der ich getauft wurde! In Nordhessen!
Darüber schreibt zumindest hier in Fulda keiner. Kennt ja keiner! Aber was soll ich
darüber bloß schreiben? Eine kleine Dorfkirche in Leckringhausen. Und der Name
lässt andere eher fragen „Wie heißt das?“ Ein Ortsteil von Wolfhagen. Kennt doch
auch keiner!
Gut, da wurde ich getauft. Aber was hat diese Kirche denn sonst noch so zu bieten?
Interessiert doch keinen!
Papsi hat doch mal erzählt, dass das Dorf irgendwas Geschichtliches hatte. Er muss
das doch wissen. Schließlich ist er dort aufgewachsen.
Irgendwas mit Frankreich, mit Glaubensflüchtlingen. Ist ja doch irgendwie aktuell.
Auch heute fliehen immer noch viele Menschen, weil sie wegen ihres Glaubens
verfolgt werden. Christen, Moslems und viele andere müssen ihr Zuhause verlassen,
weil Ihre Nachbarn sie wegen ihres Glaubens bedrohen und vertreiben. Ich glaube
zwar, dass der Glaube oft nur vorgeschoben ist und es bei den Nachbarn mehr
darum geht, das Eigentum ihrer Nachbarn sich unter den Nagel zu reißen, spielt aber
keine Rolle.
Aber kann man daraus eine Geschichte machen?
Auf alle Fälle interessiert mich die Geschichte. Ist ja immerhin die Geschichte der
Kirche, in der ich getauft wurde.
So dann mal los. Erstmal nach Informationen suchen. Was sagt denn Google? Da
gibt es ein kleines Museum zur Dorfgeschichte! Mal sehen. Es ist auch eine
Ansprechpartnerin mit Telefonnummer angegeben. Also anrufen. Termin
ausmachen. Das war ja gar nicht so schwer!
Papsi kennt doch sicher alle dort. Ich muss ihn morgen mal fragen. Dann kann er mir
auch gleich sagen, wie er die Idee findet.
Jetzt aber erst mal ins Bett und vor dem Einschlafen noch eine erste Vorabrecherche
im Internet.
Ich bin so müde….
Was ist denn das für ein Lärm? Das ist doch eine Glocke! Wir wohnen doch gar nicht
neben einer Kirche!
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Was? Wo bin ich? Wie komme ich denn nach Leckringhausen? Die Kirche erkenne
ich. Bin ja dort getauft worden. Aber ansonsten sieht das hier ganz anders aus. Viel
weniger Häuser und viel kleiner. Den Weg zum Haus von Opi kann ich auch nicht
sehen. Wie sieht denn die Straße aus? Wird hier etwa alles umgebaut? Oder warum
ist die nur geschottert und mit Erde befestigt? Und seit wann laufen den hier auf der
Straße, beziehungsweise dem Schotterweg, so viele Tiere rum? Hunde und dahinten
auch Ziegen. Sehe ich dort drüben etwa einen Hahn und Hühner? Die waren doch
noch nie hier
Hier stimmt doch was nicht!
„Bonjour, je m´appelle Belle! Et toi?“ sprach mich ein blondes Mädchen an.
„Warum wird denn hier Französisch gesprochen? Ich, ich heiße Lara! Was ist denn
hier passiert“
Das Mädchen, das mich ansprach, hat auch komische Kleider an. So was trägt doch
kein Mensch!
„Du sprichst wohl kein Französisch? Dann kommst du wohl nicht von hier?“ fragte
das Mädchen, das sich mit Belle vorgestellt hatte.“ „Ja, nein, ich spreche zwar
Französisch, ich lerne es ja in der Schule, aber wo bin ich denn hier? Was ist denn
hier los?“ stotterte ich verwundert.
„ Wir feiern die Segnung der neuen Kirchenglocke“ antwortete Belle. Das ist ein ganz
besonderer Tag für unsere hugenottische Kirchengemeinde und für Leckringhausen,
oder „ferme“1
wie wir unser Dorf auch nennen.“
„Wie? Segnung der neuen Glocke? Was? Wann? Die Kirche ist doch schon viele
hundert Jahre alt? Warum eine neue Glocke?“ fragte ich.
„Viele hundert Jahre alt?“ „Mais non!“ unsere Kirche wurde gerade erst vor acht
Jahren, am 31. Juli 1774, von unserem Pfarrer, Jean Bernhardis2
, geweiht!“ sagte
Belle verwundert.
„Das würde ja heißen, dass heute das Jahr 1782 ist!“ rief ich. “Das kann doch gar
nicht sein. Ich bin doch eben erst eingeschlafen und zwar im Jahr 2018! Ich glaube,
dass du mich auf den Arm nehmen willst!“
„Mais non“ antwortete Belle. „Du kannst mich gerne mehr über unsere Geschichte
fragen. Vielleicht glaubst du mir dann. Ich weiß vieles, was ein Kind in 250 Jahren
sicher nicht wissen kann.“
„Na dann mal los. Was heißt denn überhaupt Hugenotten?“ fragte ich und war mir
sicher, dass nun nichts mehr kommen würde.
„Das ist doch nicht schwer!“ sagte Belle. „Immerhin sind meine Großeltern 1699 als
Vertriebene hierhergekommen. Hugenotten nennt man schon seit über 200 Jahren in
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4. 4
unserer französischen Heimat die Anhänger des Reformators Calvin. Wir sind also
die französischen Protestanten.“3
„Wer war denn dieser Calvin?“ fragte ich neugierig. „Das hat mir mein Vater ganz
genau erzählt.“ sagte Belle. „Er wurde 1509 geboren. Calvin studierte in Paris und
Orléans Jura und insbesondere Theologie. Er schloss sich der Reformation an und
zog später in die Schweiz, nach Genf, um dort die Lehre der Reformation
einzuführen.4
„Und wie kommt ihr aus Frankreich hierher?“ wollte ich nun wissen. Ehrlich gesagt
glaubte ich Belle immer noch nicht.
„Das ist eine lange Geschichte.“ antwortete Belle. „Ach,“ sagte ich, „wenn wir heute
das Jahr 1782 haben, dann sollte ich ja genügend Zeit haben.“
„Meine Vorfahren kamen ursprünglich aus Südfrankreich“ erklärte Belle. „ Calvin
hatte sie mit seiner Sicht des Glaubens begeistert. Die französischen Katholiken,
insbesondere die Könige, wollten unseren Glauben aber nicht, da sie der Ansicht
waren, dass in einem Land wie Frankreich alle Einwohner den Glauben des Königs
haben müssten. Es kam daher zu blutigen Kriegen, in denen wir brutal verfolgt
wurden. Erst 1598 gab uns ein neuer König, Heinrich der IV. von Frankreich das
Recht, unser Bekenntnis frei zu leben und wir bekamen auch eine weitgehende
politische Selbstständigkeit. Dies wurde uns in einem Schreiben des Königs
eingeräumt, welches Edikt von Nantes genannt wird“5
„Dann war doch alles in Ordnung“ sagte ich. „Warum seid ihr dann
hierhergekommen? In Südfrankreich war ich schon mal im Urlaub! Ist doch sehr
schön da – und viel wärmer als hier!“
„Ja schon,“ erwiderte Belle. „Aber die Katholiken mochten uns trotz des guten
Wetters nicht.“ Die Katholische Kirche schickte einen religiösen Orden nach
Frankreich, die Jesuiten, die sollten dafür sorgen, dass auch wir wieder zur Kirche
Roms zurückkehren.“ Die waren in Frankreich und wurden besonders von König
Ludwig der XIV. unterstützt. Der machte uns das Leben mit Verwaltung und
Drohungen zur Hölle. Auch schickte er immer wieder seine Armee, um uns zu
gängeln. Am 22. Oktober 1685 hob er dann das Edikt von Nantes auf. Mit dem
sogenannten Edikt von Fontainbleau begann für meine Vorfahren eine schreckliche
Zeit. Sie konnten unsern Glauben nur noch im Geheimen ausüben. Unsere Pfarrer
wurden aus Frankreich gewiesen, die Kirchen wurden zerstört. Kirchliche aber selbst
private Treffen der Hugenotten wurden verfolgt und bestraft. Meine Vorfahren lebten
nur noch in Angst. Sie versteckten sich und man musste fast allen Katholiken
misstrauen. Es muss schrecklich gewesen sein. Sonst wären sie sicher nicht auf die
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4
Jochen Desel , Die Hugenotten – Die Hugenotten in Frankreich http://www.hugenotten-
waldenserpfad.eu/historie/hugenotten-frankreich.html
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Leckringhausen 1699-1999 – 300 Jahre Geschichte eines Hugenottendorfes, Seite 33
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Idee gekommen, ihre Heimat, ihre Häuser und einfach alles dort, was sie liebten
aufzugeben.
Sie packten alles, was sie auf einen Wagen bekamen, ein und zogen erstmal in die
Schweiz. Damals flohen hunderttausende Hugenotten in die protestantischen
Nachbarländer..“
„Warum denn in die Schweiz?“ fragte ich. „War es denn dort für euch besser?“
„In der Schweiz lebten damals schon viele unserer Freunde.“ antwortete Belle “Ich
hab ja schon gesagt, dass auch der Reformator Calvin in die Schweiz gezogen war.
Von dort versuchte er, so gut er konnte, mit unseren Freunden in Frankreich Kontakt
zu halten. Er schickte Briefe um meine Vorfahren aufzumuntern und um sie zu
unterstützen, gab Rat und Hilfe. Er konnte aber natürlich nicht verhindern, dass
meine Vorfahren und ihre Glaubensbrüder und -schwestern von der Katholischen
Kirche und dem Französischen Staat verfolgt und unterdrückt wurden.“
„Jetzt will ich dir aber erstmal unsere Kirche zeigen.“ brachte Belle unser Gespräch
auf ein anders Thema. „Wir sind sehr stolz auf die Kirche und besonders auf unsere
neue Glocke. Komm mal mit hoch in den Glockenturm.“
Zusammen stiegen wir beide den engen Turm hinauf. Oben hing sie. Eine neue
Glocke. Nicht riesig, aber für die kleine Dorfkirche sehr schön.
„Was steht denn da drauf?“ wollte ich wissen, neugierig wie ich bin. „ Na, das Thema
unter dem die Glocke immer läuten soll!“ antwortete Belle. „Assemblez-vous en ce
lieu, fideles, car mon son vous y appelle.“
“Assemblez-vous” heißt versammelt euch.“ übersetzte ich. „Mon son vous y appelle“
heißt glaube ich „Mein Ton oder Klang ruft euch hierher” Aber was bedeutet „lieu
fideles car?“
„Den Spruch könntest du mit „Versammelt euch ihr Gläubigen, an diesem Ort, denn
mein Klang ruft euch hierher.“ übersetzten.“ sagte Belle. „Für uns hat er eine ganz
wichtige Bedeutung. Mit unserer Kirche haben wir einen Ort gefunden an dem wir
unseren Glauben, für den meine Urgroßeltern und Großeltern so viel Leid und
Unterdrückung erlitten und auf sich genommen haben, für den meine Großeltern ihre
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Heimat verlassen mussten, endlich frei und ohne Nachteile oder Verfolgung leben
können. Wir können hier nach unserem Glauben zu Gott beten, ihn feiern und seiner
gedenken.“
Hinter der Glocke konnten wir nach draußen sehen. „Der Blick ist ja toll.“ sagte ich.
„Ist das da hinten Wolfhagen? Das war damals aber noch klein! Wolfhagen kenne ich
viel größer. Mit vielen Wohngebieten.“ „Was sind denn Wohngebiete?“ wollte Belle
wissen. „Das sind Gebiete, in denn nur Wohnhäuser stehen.“ „Wie? Nur
Wohnhäuser? Und wo arbeiten dann die Leute?“ fragte Belle ganz nachdenklich.
„Die arbeiten in Firmen in der Stadt oder auch in Kassel.“ antwortete ich. „Wie die
arbeiten in Kassel?“ Belle konnte es kaum glauben. „Da kommt man doch gar nicht
hin, wenn man hier wohnt! Da ist man doch den ganzen Tag auf dem Weg.“ „Doch!“
antwortete ich. „Wir haben Autos, das sind Fahrzeuge mit denen man in einer guten
halben Stunde auch nach Kassel fahren kann.“ „Na, ob ich dir das glauben kann?“
Belle hatte wohl erhebliche Zweifel. „Schau mal da hinten!“ rief ich als ich auf der
anderen Seite aus dem Turm sah. „ Da sind ja Gänse, Hühner und Ziegen!“
„Natürlich,“ sagten Belle. „Habt ihr denn keine?“ „Nein!“ antwortete ich, „wozu denn?“
„Na ohne die hätten wir doch keine Milch und keine Eier.“
Langsam bekam ich oben auf dem Turm Angst. „Komm bitte wieder mit nach unten.
Hier ist es mir zu eng.“ sagte ich. „ Unten kannst du mir ja dann erzählen, wie ihr aus
der Schweiz hierher nach Leckringhausen gekommen seid.“
Wir kletterten über die enge Leiter aus dem kleinen Kirchturm wieder hinab.
Im Kirchenraum fiel mir der Abendmahlstisch auf. Der sah schon genauso aus wie
der heutige Altar. „Der Abendmahlstisch ist für uns Hugenotten sehr wichtig,“ sagte
Belle, die bemerkt hatte, dass ich mir den Tisch genau ansah. „Der Abendmahlstisch
ist für uns das Zentrum der Kirche und unseres streng gelebten Glaubens.“6
Wir liefen aus der Kirche und standen gleich wieder unter den feiernden Menschen.
6
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„Komm!“ rief Belle. „Ich will dir meine Freunde vorstellen.“ „Pierre! Pierre Hallo!
Komm mal bitte her! Pierre, das ist Lara. Du wirst es nicht glauben, Lara kommt aus
dem Jahr 2018.“ „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen,“ antwortete Pierre. „Lass
uns lieber tanzen.“ „Pardon, dazu hab ich eben gar keine Lust,“ erwiderte Belle. Ich
will lieber noch mehr von Lara erfahren.“
„Also,“ fragte ich nochmal nach „wie war das denn jetzt mit eurem Weg hier nach
Nordhessen?“
„Das war ganz schön schwierig und spannend für meine Urgroßeltern und
Großeltern.“ sagte Belle. „Sie wussten ja zuerst gar nicht, wo sie letztendlich landen
würden.“
„Im Frühsommer 1698 hatten meine Vorfahren einen ehemaligen Offizier, Jacques
Jouvencel-Couchet, in der Schweiz beauftragt in der Landgrafschaft Hessen-Kassel
einen Ort zu suchen, an dem sie sich ansiedeln könnten. Der dortige Landgraf Karl
hatte, wie einige andere Herrscher in deutschen Ländern, entschieden, dass in
seinem Land Flüchtlinge aus Frankreich angesiedelt werden sollten.7
Im Sommer 1699 hatte er einen Ort mit dem Namen Wolfhagen besichtigt und
festgestellt, dass dort fast 80 Bauplätze vorhanden waren.8
Meine Vorfahren konnten
in der Schweiz kaum noch bleiben. Sie waren dort zunächst in Lausanne
untergekommen. Aber die dortige Regierung hatte entschieden, dass meine
Urgroßeltern zusammen mit ihren Glaubensgenossen aus Frankreich abreisen
sollten. Die Gegend um Lausanne war durch die vielen Flüchtlinge überbevölkert.
Viel zu viele Menschen mussten dort leben. Es war für keinen, weder für meine
Vorfahren noch für die Schweizer Bevölkerung mehr auszuhalten.9
Im Mai 1699
brachen meine Vorfahren dann, zusammen mit 29 anderen Familien in Lausanne
auf. Es waren allein 25 kleine Kinder dabei, die nicht älter als 10 Jahre waren. Die
Führung hatte Pfarrer Pierre Borel. Schon Anfang Juni verließen meine Vorfahren,
zusammen mit vielen anderen, die Schweiz auf dem Rhein.
Pfarrer Borell, meine Vorfahren und die anderen „Wolfhager“ stiegen bei Gernsheim
aus dem Schiff und trafen am 17. Juni 1699 in Wolfhagen ein.
Kurz nach der Ankunft in Wolfhagen bemühte sich der Offizier, der für meine
Vorfahren und ihre Freunde Wolfhagen als neuen Wohnort entdeckt hatte,
Jouvencel, um ein kleines Dorf in der Nähe. Das kennst du ja. Genau, es geht um
Leckringhausen.
Dieses Dorf war schon vor einiger Zeit von seinen früheren Bewohnern aufgegeben
worden. Die Wolfhager waren davon nicht begeistert. Aber Landgraf Karl entschied,
dass das Dorf für eine neue Kolonie an meine Vorfahren und die anderen
Hugenotten gehen sollte.10
Sie erhielten Äxte und Sägen und begannen mit dem
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Aufbau. Schon zwei Jahre später, Ende 1701, hatten die meisten „Leckringhäuser“
ihre Häuser gebaut und konnten einziehen. Da sie immer noch recht arm waren, ihr
Geld war durch den Hausbau fast aufgebraucht, baten Sie den Landgrafen um Öfen
für den Winter. Jede Familie bekam einen. Damals gab es außer einem
Zimmermann und zwei Schuhmachern nur Bauern in unserer neuen Kolonie.11
Das
ist heute aber anders.“
„Jetzt hast du mir aber erstmal genug über euren Weg hierher erzählt.“ sagte ich.
„Was können wir denn sonst heute hier noch machen?“
„Naja,“ antwortete Belle. „Vom wilden Feiern wie die Katholiken halten wir nicht sehr
viel. Wir haben zu essen und zu trinken und etwas Musik. Was mir aber Spaß macht,
sind die Ziegen. Ich passe gerne auf die Ziegen auf und spiele mit Ihnen. Die haben
nur Unsinn im Kopf. Aus der Milch machen wir dann Käse. Das macht auch viel
Spaß“.
„Was machen eigentlich Deine Eltern? Wo arbeiten die denn?“ fragte ich?
„Na die arbeiten den ganzen Tag bei uns zuhause. Alle haben hier natürlich
zumindest etwas Landwirtschaft, um das Wichtigste selbst zu ernten.“ antwortete
Belle.
Aber inzwischen haben wir eine ganz neue Technik nach Deutschland gebracht. Das
Strumpfwirken.“ „Das was?“ fragte ich ungläubig. Ich war mir sicher mich verhört zu
haben: „Strumpfwirken? So was gibt es doch nicht! Davon habe ich noch nie
gehört!“. Ich war mir sicher, dass es im 18. Jahrhundert keine Technik geben könnte,
von der ich aus dem 21. Jahrhundert noch nie gehört hatte.
„ Das Strumpfwirken“ erklärte Bell ganz langsam. „Mein Vater, Jean Guillaume Brun,
ist Strumpfwirker und gleichzeitig Aufsichtsmeister in unserer Strumpfwirkerzunft.
Das ist der Zusammenschluss aller Strumpfwirker in Leckringhausen.12
„Aber was sind denn Strumpfwirker?“ fragte ich immer noch ungläubig.
„Strumpfwirkerei ist eine Technik die vom Stricken abgeschaut wurde.“ erklärte Belle
etwas besserwisserisch. „Damit werden Strümpfe hergestellt. Entwickelt wurde diese
Technik schon gegen 1600 von einem protestantischen Geistlichen in England,
William Lee. Sein Strickapparat bestand fast ganz aus Eisen, wie unsere
Strumpfwirkstühle noch heute. Das Besondere ist, dass der Apparat versucht, den
komplizierten Bewegungsvorgang des Handstrickens nachzuahmen. Es sind aber
grundverschiedene Vorgänge. Während beim Handstricken, das du sicher kennst,
immer eine Masche nach der anderen gestrickt wird, wird beim Strumpfwirken gleich
immer eine ganze Reihe von Maschen auf einmal hergestellt. Tolle Erfindung. Ich
liebe es, meinem Vater beim Wirken zuzusehen.“
„Und wie kam das Strumpfwirken dann hierher?“ fragte ich. „Nachdem der Erfinder
William Lee zunächst nach Frankreich zog, da er in England nicht die nötige
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Unterstützung bekam, starb er dort.13
Die Technik wurde aber von hugenottischen
Wirkern weitergetragen und kam so auch nach Deutschland14
und auch nach
Leckrínghausen.“ erklärte Belle. „Keiner der ursprünglichen Zuwanderer nach
Leckringhausen war Strumpfwirker, Es ist doch toll, wenn man einen Vater hat, der
sich mit sowas auskennt“ sagte Belle und war sichtlich stolz auf ihren Vater.
„Und wie kamen dann die Strumfwirker nach Leckringhausen?“ fragte ich.
„Das fing mit einem Schlosser, Pierre Richard, an, der hier bei uns den ersten
Strumpfwirkstuhl baute.“ erklärte Belle. “Wir Hugenotten haben viele Kontakte
untereinander. So hat Monsieur Richard gelernt, wie so ein Stuhl gebaut und bedient
wird. Einige unserer Freunde begannen dann bei Strumpfwirkermeistern in der
Nähe. So zum Beispiel in Frankenberg bei Meister Lorenz Heral. Dort lernte auch
Jean Charles Rey, der noch heute hier seinen eigenen Stuhl hat.“15
Ihr seid also gut connected“ meinte ich. „Connected? Was soll das denn heißen?
Das Wort kenn ich ja überhaupt nicht!“ meinte Belle. „Connected heißt, dass ihr gute
Kontakte zu Hugenotten in anderen Orten habt.“ „Das ist doch klar.“ antwortete Belle.
„So weit weg von unserem ursprünglichen zu Hause muss man doch
zusammenhalten. Deshalb sprechen wir auch noch viel Französisch. Insbesondere
in der Kirche wird der Gottesdienst noch immer ganz auf Französisch gehalten.“
„Jetzt will ich aber doch noch wissen, was du und die anderen Kinder hier ansonsten
so machen.“ fragte ich. „Ihr müsst doch auch spielen oder euch anders erholen!“
„Dafür bleibt in unserem Leben nicht viel Zeit!“ rief Belle. „Wir machen eigentlich den
ganzen Tag etwas für unsere Familie oder gehen in die Schule. Wenn wir aber doch
mal Zeit übrig haben, dann gehen wir gerne in den Wald. Unsere Eltern wollen das
zwar nicht, da sie meinen, dass das viel zu gefährlich wäre, aber heimlich gehen wir
dann doch. Wir stauen den kleinen Bach, der dort hinten aus dem Wald kommt.
Dabei haben wir schon großen Ärger bekommen, da die letzte Wiese vor dem Wald
ganz überschwemmt war“.
„Das gibt´s doch nicht!“ rief ich. „Von sowas hat mir auch mein Vater erzählt. Als er
hier aufwuchs haben er und zwei Freunde den Bach auch gestaut und haben auch
einen Mordsärger bekommen! Manches ändert sich wohl nie!“
„Wann war das denn“? wollte Belle wissen. „Das muss ungefähr 1980 oder so
gewesen sein“ erwiderte ich. „Mein Vater ist 1966 geboren.“
„Jetzt habe ich dir aber schon viel von mir und uns hier in Leckringhausen erzählt.“
sagte Belle. „Jetzt will ich aber auch was von dir wissen! Warum bist du überhaupt
hier? Warum bist du so an uns, unserer Geschichte und unserem Leben,
insbesondere an unserer Kirche interessiert?“
13
Verschwundene Arbeit, E-Book, Stichwort: Strumpfwirker
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Verschwunden Arbeiten, E-Book, Stichwort Strumpfwirker
15
Leckringhausen 1699-1999 – 300 Jahre Geschichte eines Hugenottendorfes, Seite 39
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„Das ist nicht ganz einfach und hängt mit der Schule zusammen. Wir sollen etwas
über ein Denkmal oder ein altes Gebäude schreiben, malen oder einen Film drehen.“
„Was ist denn ein Film?“ fragte Belle. „Das sind bewegte Bilder, die man immer
wieder abspielen kann“ antwortete ich. „Das hört sich aber sehr nach Zauberei an.“
sagte Belle zweifelnd. „Ist das denn erlaubt“.
„In meiner Zeit schon!“ rief ich. „Ich hab mir überlegt, etwas über eure, unsere Kirche
hier in Leckringhausen zu schreiben. Ich bin hier nämlich im Jahr 2001 getauft
worden.“
„Dann haben wir ja etwas gemeinsam, auch wenn du fast 300 Jahre jünger bist als
ich,“ lachte Belle. „Ich könnte deine Ur-Ur-Ur-Ur-Großtante sein, wenn wir verwandt
wären!“ „Wahrscheinlich kämen noch ein Paar Ur mehr dazu!“ lachte ich.
„Und solche Sachen macht ihr in der Schule?“ fragte Belle. „Wir lernen fast nur lesen,
schreiben und rechnen. Wir natürlich auf Deutsch und auf Französisch. Und wir
lernen auch viel über unsere Religion und Geschichte.“
„Eigentlich schreibe ich diese Geschichte nicht direkt für die Schule“ sagte ich. „Es
gibt bei uns einen „Europäischen Wettbewerb“. Da können Schüler aus ganz
Deutschland mitmachen und zu verschiedenen Themen Arbeiten einreichen.“ „Aus
ganz Deutschland?“ fragte Belle ungläubig. „Es gibt doch gar kein Deutschland!
Anders als Frankreich besteht Deutschland doch aus vielen selbstständigen
Staaten.“ „In meiner Zeit ist das ganz anders,“ erwiderte ich. „Deutschland ist schon
lange ein gemeinsamer Staat. Auch die europäischen Staaten arbeiten bereits seit
vielen Jahren zusammen. Jeder kann innerhalb Europas selbst und frei entscheiden,
wo er wohnen und wo er arbeiten will.“
„Das ist ja fantastisch!“ rief Belle. „Davon können wir ja nicht einmal träumen. Wir
müssen für viele Sachen erstmal die Erlaubnis von unserem Kurfürsten in Kassel
einholen.“
„ Wie gesagt möchte ich etwas über eure, oder unsere, Kirche hier in
Leckringhausen schreiben. Kannst du mir dabei helfen?“ fragte ich.
„Du weißt jetzt ja schon einiges über die Geschichte der Kirche und über uns
Hugenotten.“ erklärte Belle. „Die heutige Kirche war aber nicht die erste Kirche, die
wir hier hatten. Bereits 1706 bauten meine Großeltern und die anderen Einwohner
ein Kirchen- und Schulhaus.16
Der Bau der Kirche die du jetzt siehst, wurde 1768
begonnen und die Kirche wurde vor 8 Jahren, am 31.07.1774 eingeweiht.“17
„Toll!“ sagte ich. “Dann habe ich ja auch die wichtigen Daten zur Kirche.“ „Interessant
finde ich aber, dass der Abendmahlstisch, den ihr schon habt, genauso aussieht wie
der in meiner Zeit. Der kann doch nicht schon mehr als 200 Jahre alt sein. Der sieht
nämlich noch fast wie neu aus.“
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17
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„Jetzt aber mal eine ganz andere Frage!“ sagte Belle. „Wie kommst du denn wieder
aus unserer Zeit zurück, damit du die Geschichte in deiner Zeit auch schreiben
kannst?“
„Gute Frage, ich weiß ja nicht einmal wie ich hierhergekommen bin. Ich bin einfach in
meinem Bett eingeschlafen und wurde hier wach. Hoffentlich geht es genauso
einfach zurück! Vielleicht ist der Trick ja nur der Wunsch etwas zu erfahren etwas zu
lernen. Beim Einschlafen dachte ich über die Geschichte unserer Kirche in
Leckringhausen nach. Ich hätte aber nicht geglaubt, eine solche Reise zu machen.
Nun möchte ich aber gerne mit euch noch feiern. Schließlich reist man nicht jeden
Tag 200 Jahre in die Vergangenheit. Wenn ich wieder zurück bin, kann ich in
„Geschi“ viel erzählen.“
„Was ist den „Geschi“? fragte Belle. „Na das ist das Unterrichtsfach „Geschichte!“
antwortete ich. „Noch so ein Wort das ich nicht kenne! Ich glaube die Sprache
verändert sich bis in deine Zeit ganz schön stark.“ sagte Belle.
„Was gibt es denn so bei einem Fest bei euch zu essen und zu trinken?“ fragte ich.
„Da unterscheiden wir uns noch etwas von unseren deutschen Nachbarn in
Wolfhagen. So haben unsere Vorfahren z.B. das Weizenbrot mitgebracht, das früher
in Deutschland nicht gebacken wurde. Auch essen wir viel mehr Salate und
Gemüsesuppen. Besonders lecker sind unsere Waffeln aus Hefeteig mit Butter,
Creme, Eiern und Früchten.“18
Aber wir merken schon, dass sowohl die Deutschen
als auch wir voneinander lernen und die Gewohnheiten untereinander sich
vermischen.“ sagte Belle.
Mittlerweile wurde es bereits dunkel. Belle`s Eltern sagten, dass sie nun ins Bett
gehen sollte. Zu mir sagten Sie, dass ich auf einem Strohsack neben Belle`s Bett
schlafen könnte. Das hörte sich ja nicht sehr gemütlich an. Aber was blieb mir denn
anderes übrig. Irgendwo musste ich ja schlafen. Nach diesem Tag war ich auch
wirklich müde.
Belle und ich quatschten noch lange an diesem Abend. Ich erzählte aus meiner Zeit.
Ich sagte Belle wie schön der Tag mit ihr gewesen sei, dass ich mir aber nun nichts
sehnsüchtiger wünschen würde, als wieder in meine Zeit zurückzukommen.
Irgendwann schliefen wir beide dann ein.
Was ist denn das für eine Musik? Feiern die denn immer noch? Nein Justin Biber
kannten die Hugenotten doch sicher nicht!
Ich machte meine Augen ganz vorsichtig auf und sah als erstes meinen großen
weißen Stoffbären. Ich lag auch nicht auf dem Strohsack sondern in meinem
schönen breiten Bett unter meiner Decke. Na siehst du, dachte ich. Der Trick ist wohl
wirklich, dass man sich etwas nur ganz stark wünscht.
18
Hugenotten und Waldenser – Recherche Präsentation der PROJECT M GmbH http://www.hugenotten-
waldenserpfad.eu/images/stories/content/Hugenotten_und_Waldenser.pdf
12. 12
Ich sprang aus dem Bett, zog mich an und ging runter ins Wohnzimmer. Papsi war
schon auf und hatte Frühstück gemacht. Ich rannte auf ihn zu und drückte ihn ganz
fest in meine Arme. „Na du hast wohl einen großen Schmusebedarf“ sagte er. „Und
ob!“ rief ich. „Ich war letzte Nacht in Leckringhausen und zwar im Jahr 1782!“
„Na du hast ja eine blühende Fantasie“ sagte er. Aber dann erzählte ich ihm die
ganze Geschichte. „Irgendwas muss ja an dieser Reise, oder diesem Traum dran
sein.“ sagte mein Vater. „Viele Einzelheiten kannst du zumindest in einer Nacht nicht
erfahren haben. Schön finde ich insbesondere dass du mir ja wohl doch manchmal
zuhörst. Die Geschichte mit dem gestauten Bach hab ich dir ja schon vor langer Zeit
erzählt.“
„Jetzt hab ich aber noch eine Frage an dich. Wie ist das mit dem Abendmahltisch in
der Kirche in Leckringhausen? Dass kann doch heute nicht derselbe Tisch sein wie
vor mehr als 200 Jahren!“
„Nein nicht ganz.“ antwortete mein Vater. „Wenn ich mich richtig erinnere, steht der
alte Tisch im Museum in Wolfhagen. Heute steht in der Kirche ein maßstabsgetreu
nachgearbeiteter Tisch, der irgendwann in den 80. Jahren gefertigt worden ist.“19
„Weißt du was ich super interessant finde?“ fragte ich. „Nein.“ antwortete mein Vater.
„Das der Blick von der Kirche das Dorf hinunter heute gar nicht so unterschiedlich ist
wie damals. Natürlich ist alles viel moderner, die Straße ist asphaltiert. Aber der
Charakter ist immer noch fast der Gleiche.“
„Ja! Gutes sollte immer erhalten bleiben. Jetzt dürftest du aber genügend
Informationen haben, um eine spannende Geschichte über die Kirche in
19
Leckringhausen 1699-1999 – 300 Jahre Geschichte eines Hugenottendorfes Seite 23
13. 13
Leckringhausen, das Dorf und die Hugenotten zu schreiben. Wer kann schon von
sich sagen, das sie eine Reise durch die Zeit gemacht hat?“
Als ich aus der Schule wieder nach Hause kam, ging ich gleich an meinen
Schreibtisch.
„Vergiss mein nicht! Eine kleine französische Dorfkirche in Nordhessen“ waren
meine ersten Worte.
Während der nächsten Stunden dachte ich viel an Belle und die Geschichte der
Hugenotten, und auch an spätere Flüchtlinge die nach Deutschland kamen. Was
wären wir nur ohne sie, wie langweilig wäre unser Leben. Und wie wichtig sind
Gebäude wie die kleine Kirche in der ich getauft wurde. Ohne sie würde ein wichtiges
Zeichen für unsere Geschichte verloren gehen. Diese Geschichte ist wichtig,
spannend und oft auch sehr schön.
Hoffentlich mache ich noch viele solcher Reisen durch Zeit und Raum und treffe
vielleicht auch Belle wieder.
14. 14
Literaturverzeichnis:
- Leckringhausen 1699-1999 300 Jahre Geschichte eines Hugenottendorfes
Schriften des Vereins Regionalmuseum Wolfhagen, Bearbeitung Irmgard Winter,
1999
- www.hugenotten-waldenserpfad.eu (Internetseite des Hugenotten- u.
Waldenserpfad e.V)
- www.hugenotten-waldenserpfad.eu „Hugenotten und Waldenser Recherche“
Präsentation der PROJECT M GmbH (http://www.hugenotten-
waldenserpfad.eu/images/stories/content/Hugenotten_und_Waldenser.pdf)
- Verschwundene Arbeit, R. Palla, E-Book, Christian Brandstätter Verlag, 2010
Bilder: Die Bilder der Kirche (Innen- und Außenaufnahmen) und der Blick nach
Leckringhausen wurde von Lara Maraun 2018 aufgenommen.
Das Bild der Glocke stammt aus dem Buch: „Leckringhausen 1699-1999
300 Jahre Geschichte eines Hugenottendorfes“ Schriften des Vereins
Regionalmuseum Wolfhagen, Bearbeitung Irmgard Winter, 1999