Die Idee der intelligenten Produktion fordert nicht nur deutsche Unternehmen heraus. Sie stellt nicht nur neue fachliche Anforderungen an Ingenieure und Techniker, sondern auch an Führungskräfte: Tradierte Managementmodelle stehen auf dem Prüfstand. Der Maschinenbauunternehmer Manfred Wittenstein erläutert, wie Industrie 4.0 die Führungskultur prägen wird, wie er sein Unternehmen und Führungskräfte weiterentwickelt und welche Rolle die St.Galler Business School hier spielt.
1. Ab Seite 28: Karriereberatung und Stellenmarkt für technische Fach- und Führungskräfte
TECHNIK WIRTSCHAFT GESELLSCHAFT
15. Januar 2016 · Nr. 1/2 www.vdi-nachrichten.com Einzelpreis 3,00 Euro 6867
Technik & Gesellschaft
Steinkohle – vorletzte
Ruhrpott-Zeche schließt
-Seite 6
EU verspielt die Chance für
mehr Recycling
-Seite 7
Technik & Wirtschaft
Keine Langeweile auf dem
Smartphone-Markt
-Seiten 12 und 13
Big Data unterstützt das
Team im Operationssaal
-Seite 21
Technik & Finanzen
Geldprofi Gottfried Heller:
In Europa geht es aufwärts
-Seite 24
Management & Karriere
Special Bauindustrie:
Bedarf übersteigt Angebot
-Seiten 28 und 29
Technik & Kultur: Kunst
trifft auf die Digitalisierung
-Seiten 38 und 39
Aus dem VDI -Seite 40
Personalexperten
geben Tipps
VDI nachrichten, Düsseldorf, 15. 1. 16, ps
Bei unserer telefonischen
Karriereberatung stehen
Ihnen Astrid Steinkötter,
Personalreferentin M Plan,
und Thomas Sundermann,
Personalleiter Carcoustics,
Rede und Antwort. ps
Donnerstag, 21. 1. 16,
14 Uhr bis 18 Uhr
0211 17600-401
Astrid Steinkötter
0211 17600-402
Thomas Sundermann
Karrieretelefon
Foto:privat
Foto:privat
Die nächste Ausgabe
erscheint am 29. 1. 2016
VDI nachrichten, Düsseldorf, 15. 1. 16, pek
Emissionen: Das Vorurteil
scheint tief verwurzelt: Land- und
Baumaschinen verschmutzen die
Luft stärker als moderne Pkw.„Das
hat mit der Realität leider wenig zu
tun“, widerspricht Marcus Gei-
mer, Leiter des Lehrstuhls für Mo-
bile Arbeitsmaschinen am Karls-
ruher Institut für Technologie
(KIT). Das Problem sei, dass die
Emissionen für Pkw auf eine Stre-
cke bezogen sind (g/km), wobei
die der Land- und Baumaschinen
in g/kWh gemessen werden – ein
Bagger im Einsatz fährt eben keine
Strecken. Es hapert an der Ver-
gleichbarkeit. Dieses Manko hat
eine aktuelle Studie des KIT besei-
tigt und widerlegt das lang gehegte
Vorurteil mit Zahlen, Daten und
Fakten. pek SSeite 19
Mobile Maschinen oft
sauberer als moderne Pkw
VDI nachrichten, Düsseldorf, 15. 1. 16, cb
Ingenieurfonds: Alle Zähler
stehen wieder auf null, unser Bör-
senspiel geht in die neue Runde.
Wer bis 30. Juni den besten Aktien-
riecher beweist und die höchste
Rendite erzielt, gewinnt ein
MacBook. Doch an den Börsen
bläst gerade mächtiger Gegen-
wind. Dass die Ingenieure auch
bei stürmischen Zeiten einen küh-
len Kopf bewahren und die richti-
ge Aktienstrategie parat haben,
gilt es jetzt zu beweisen. Außer-
dem wird unter allen Mitspielern
ein Tablet-PC verlost. cb -Seite 25
Börsenspiel: Mitmachen und
gewinnen!
Videoüberwachung
ist kein Allheilmittel
VDI nachrichten, Düsseldorf, 15. 1. 16, rb
Überwachung: Nach den Gewaltta-
ten in der Silvesternacht in Deutschland
fordern Politiker und Bürger mehr Video-
überwachung, wie sie in anderen europäi-
schen Großstädten (Foto: London) zum All-
tag gehört. Doch ihre Wirkung ist umstrit-
ten. Thomas Feltes von der Ruhr-Universi-
tät Bochum warnt: „Videoüberwachung
ist nur so gut wie die Person, die in Echt-
zeit die Monitore beobachtet und Maß-
nahmen einleiten kann.“ Von intelligenter
Überwachung mit Mustererkennungssoft-
ware sind die Systeme noch weit entfernt.
„Tanzen und eine Schlägerei könnten ähn-
lich aussehen“, weiß Sicherheitsexperte
Nils Zurawski. rb -Seite 10
Foto: Getty Images
VDI nachrichten, Düsseldorf, 15. 1. 16, ciu
Industrie 4.0 – Manfred Witten-
stein kann den Begriff kaum noch
hören. Durch inflationären Ge-
brauch sei er zur „Plakette für
manchen Unfug“ geworden, ver-
deutlichte er gegenüber den
VDI nachrichten.
Der Maschinenbau-Unterneh-
mer fürchtet, dass die Debatte
hierzulande Schlagseite hat. Es
werde viel über neue Geschäfts-
modelle, Fertigungstechnologien,
Rechtsfragen und Datensicherheit
diskutiert. Zu kurz kommen seiner
Meinung nach zwei Fragen, die für
den Erfolg der intelligenten Fabrik
entscheidend sein könnten: Wel-
chen Herausforderungen sieht
sich das obere Management ge-
genüber? Wie geht es damit um?
Immer häufiger müssten Füh-
rungskräfte außerhalb von hierar-
chischen Systemen für Ziele, Ori-
Abschied vom Absolutismus
entierung und Konsequenz sor-
gen, konstatiert Wittenstein. „Zu-
nehmende Geschwindigkeit und
Vernetzung, die Gleichzeitigkeit
und Interdependenzen von Ereig-
nissen, unternehmensübergrei-
fende Kooperationen und vieles
mehr sorgen für zusätzliche Dyna-
mik und Komplexität.“
Die Zeit des absolutistischen
Managers ist für ihn abgelaufen:
„Klassische Führung über hierar-
chische Mechanismen funktio-
niert in Zeiten von Industrie 4.0
immer weniger.“ Intelligenten
Wertschöpfungsnetzwerken, die
sich je nach Aufgabe immer wie-
der neu konfigurieren, gehörten
die Zukunft. Diese aber stellten
„enorme Anforderungen an die
Kommunikation im Unterneh-
men“. Wittenstein hat in seinem
Unternehmen dazu Kommunika-
tionsforen eingerichtet, bei denen
Management: Sauber, leise, komplett vernetzt – so stellen
sich Forscher die Fabrik der Zukunft vor. Doch nicht nur die
Werkshallen werden sich verändern. Auch die Führungskultur
muss vielerorts angepasst werden. Zum neuen Leitbild wird
der wohlinformierte, mündige Mitarbeiter.
derVorstand regelmäßig allen Mit-
arbeitern in kleineren Gruppen
Rede und Antwort steht.
Das ist Wasser auf die Mühlen
von Sabine Pfeiffer. Die Professo-
rin an der Uni Hohenheim hat in
einer Studie festgestellt, dass die
Belegschaft in den Fabriken fit ist
und keine Angst vor Industrie 4.0
haben muss. Es hapere eher bei
den Führungskräften. Die seien
schlecht vorbereitet, die Füh-
rungskultur in Deutschland hinke
hinterher. Was alle lernen müss-
ten, sei, mit großen Datenmengen
umzugehen. Man dürfe sich keine
Illusionen machen, die Digitalisie-
rung solle im Kern menschliche
Arbeit ersetzen. Den viel beschwo-
renen Satz „Der Mensch steht im
Mittelpunkt“ könne sie so nicht
sehen. Umso wichtiger sei es, jetzt
die richtigen Weichen für die Zu-
kunft zu stellen. „Das ist nur zu er-
reichen, wenn es auch durchge-
setzt und zum Teil erkämpft wird“,
sagt Pfeiffer.
Um dem Mittelstand den digita-
len Wandel zu erleichtern, hat das
Forschungsministerium ein För-
derprogramm erstellt, das am
Mittwoch vorgestellt wurde. Klei-
ne und mittlere Unternehmen sol-
len mit dieser Hilfe z. B. ihre Ar-
beitsorganisation auf den neues-
ten Stand bringen können.
Die Veränderung des Arbeits-
umfelds wird auch auf der VDI-Ta-
gung „Industrie 4.0“ am 27. und
28. Januar in Düsseldorf ein The-
ma sein. cer/ps/ws
n Seiten 2, 3, 8 und 16 bis 18
Foto:MarijanMurat/dpa
„Klassische Führung
funktioniert bei
Industrie 4.0
immer weniger.“
Manfred Wittenstein,
Chef der Wittenstein AG
Foto: [M] istockphoto
2. 2 MEINUNG VDI nachrichten · 15. Januar 2016 · Nr. 1/2
VDI nachrichten, Igersheim, 15. 1. 16, ps
„Industrie 4.0“ ist seit einiger Zeit in
aller Munde, mitunter gar inflationär
in Gebrauch und Plakette für so man-
chen Unfug. Im Kern ist es jedoch
fraglos ein Thema von höchster Rele-
vanz gerade für hoch entwickelte
Volkswirtschaften und Schlüsselbran-
chen wie den Maschinen- und Anla-
genbau. Für mein Unternehmen, mit
seinem Anspruch, Weltmarktführer
auf dem Gebiet mechatronischer An-
triebstechnik zu sein, allemal.
Inzwischen ist die cyber-physische
Wertschöpfungsvision gezeichnet, die
volkswirtschaftlichen Potenziale für
Deutschland wurden ermittelt. Die
Ergebnisse stimmen optimistisch. Auf
staatlicher, verbandspolitischer und
unternehmerischer Ebene – überall
wird heftig diskutiert über Fra-
gen der Geschäftsmodellinnova-
tion, der Fertigungstechnologien
und -prozesse, der rechtlich-in-
stitutionellen Gegebenheiten,
der Datensicherheit, der Aus-
und Weiterbildung der Mitarbei-
ter. Längst gibt es vielerorts be-
eindruckende Umsetzungserfol-
ge von hohem Nutzen.
Und doch: Mich umschleicht seit
Langem der Verdacht, dass eine ent-
scheidende Frage zu wenig Beachtung
findet. Eine Frage, deren erfolgreiche
Beantwortung am Ende des Tages
kriegsentscheidend sein kann, die
Frage nämlich „Welchen neuen He-
rausforderungen sieht sich das obere
Management gegenüber und wie geht
es damit intelligent um?“
Nicht dass plötzlich alles anders
wäre. Aber die Anforderungen an er-
folgreiche Führung sind gestiegen.
Immer häufiger müssen Führungs-
„Bei Führung 4.0
ist konstruktives
Stören erwünscht“
kräfte außerhalb von hierarchischen
Systemen für Ziele, Orientierung und
Konsequenz sorgen. Zunehmende
Geschwindigkeit und Vernetzung, die
Gleichzeitigkeit und Interdependen-
zen von Ereignissen, Digitalisierung,
das Verschmelzen verschiedener
Technologien und Disziplinen, unter-
nehmensübergreifende Kooperatio-
nen und vieles mehr sorgen für zu-
sätzliche Dynamik und Komplexität.
„Klassische“ Führung über hierar-
chische Mechanismen funktioniert
seit Längerem immer weniger. Indus-
trie 4.0 beschleunigt diese Entwick-
lung. Zugegeben: Auch ich weiß nicht,
wie künftig optimale Führung – nen-
nen wir Sie „Führung 4.0“ – aussieht.
Und ganz gewiss habe ich in meinem
Leben vieles falsch gesehen und falsch
gemacht. In einem aber bin ich mir si-
cher: Man muss ständig auf der Suche
nach Antworten sein. Es ist die urei-
genste Aufgabe eines jeden Unterneh-
mers, sich dieser Herausforderung zu
stellen.
Und bei aller Unsicherheit: Einige
Muster zukunftsfähiger Führung sind
schon erkennbar: Nachdem Hierar-
chien, die Dominanz eigener fachli-
cher Kompetenzen sowie die Struktu-
ren des eigenen Unternehmens vieler-
orts an Bedeutung verlieren, gilt es,
Mehrwert in intelligenten Wertschöp-
fungsnetzwerken zu schaffen. Diese
Netzwerke werden sich je nach Aufga-
benstellung immer wieder neu konfi-
gurieren.
Das Ausrichten dezentraler Intelligenz
und Autonomie auf übergeordnete
Zielsetzungen, noch dazu bei einem
immer größer werdenden Beeinflus-
sungsbereich – das ist die schwierige
Aufgabe. Wie lässt sie sich lösen? Sta-
tisch, zentralistisch und entlang von
Berichtslinien: wohl kaum! Anpas-
sungsfähig über Begeisterung und
Orientierung dennoch kritisch-ratio-
nalistisch: schon eher!
Das eigene Unternehmen muss da-
rüber hinaus zu einem attraktiven
und anschlussfähigen Hochleistungs-
gebilde entwickelt werden, das für sei-
ne Partner und Kunden ein zuverlässi-
ger Beschleuniger ist. Klar ist bei alle-
dem auch: Dazu braucht es Multipli-
katoren und „Satelliten“ – innerhalb
und außerhalb des eigenen Unterneh-
mens. Alleine kann niemand führen.
Als vor mittlerweile fast zehn Jahren
in meinem Unternehmen erkennbar
wurde, dass die im Kern recht zentra-
listische Führung an ihre Grenzen
stieß und dies nicht dem starken Un-
ternehmenswachstum alleine zuge-
rechnet werden konnte, machten wir
uns auf den Weg. Der Veränderungs-
prozess lief damals noch nicht unter
der Überschrift „Industrie 4.0“. In ei-
nem ersten Schritt haben wir „Rollen
Regeln“ für das Zusammenspiel der
Management: Die Idee der
intelligenten Fabrik fordert die
deutsche Industrie heraus. Sie
stellt nicht nur neue Anforderun-
gen an die Ingenieurwissenschaf-
ten, sondern auch an die
Betriebswirtschaft. Tradierte
Managementmodelle stehen auf
dem Prüfstand. Der Maschinen-
bauunternehmer Manfred Wit-
tenstein erläutert, wie Industrie
4.0 die Führungskultur prägen
wird.
zentralen Konzernsteuerung einer-
seits, der dezentralen Unternehmens-
einheiten andererseits definiert.
Auf dieser konstitutionellen Basis
aufbauend, findet seitdem für unsere
Top-Führungskräfte eine auf Dialog
setzende, über mehrere Monate lau-
fende Schulung statt, unser soge-
nannter FührungsDialog.
Es ist wichtig zu erkennen, dass oh-
ne die richtige Geisteshaltung der ein-
zelnen Führungskräfte die definierten
„Rollen Regeln“ nicht funktionieren
können, die Zielsetzung von mehr de-
zentraler Autonomie und einem star-
ken strategisch-normativen Überbau
nicht erreicht werden kann.
Nur bei maximalem Verständnis auf
individueller Ebene lässt sich der Vor-
teil von Kleinteiligkeit nutzen, Füh-
rung vervielfältigen, ohne dass Hete-
rogenität zur Beliebigkeit verkommt.
Und nur dann entwickelt sich das Un-
ternehmen mit seinen dezentra-
len Einheiten hin zu einer stra-
tegischen Managementholding.
Diese Managementholding soll
auch von außen als attraktives
Hochleistungsnetzwerk mit ex-
zellenten Möglichkeiten zur An-
dockung wahrgenommen wer-
den, sich somit positiv aufladen
und immer wieder neu konfigu-
rieren. Verständnis und Veränderung
von innen nach außen – das ist der
Weg, für den wir uns entschieden ha-
ben.
Umfassend verstanden, stellt dieser
Weg enorme Anforderungen an die
Kommunikation und den Austausch
im Unternehmen. Das Durchdringen
der Organisation von innen nach au-
ßen führt – bildlich gesprochen –
durch jeden einzelnen Mitarbeiter.
Nur so kann das Gebilde als intelli-
gentes und anpassungsfähiges Hoch-
leistungsnetzwerk funktionieren, nur
so entsteht auch nach außen die
größtmögliche Attraktivität und An-
schlussfläche.
Wie gehen wir dabei konkret vor?
Wir nutzen seit den Jahren der Wirt-
schafts- und Finanzkrise regelmäßig
Kommunikationsforen, auf denen der
Vorstand allen Mitarbeitern in über-
schaubaren Gruppengrößen persön-
lich Rede und Antwort steht. Auf diese
Art und Weise erreichen wir größt-
mögliche Authentizität und minimie-
ren „Sickerverluste“.
Der Vorstand trägt hier enorme Ver-
antwortung und ist Nukleus für die In-
telligenz des Unternehmens und sei-
ner Anschlussfähigkeit. Deshalb ha-
ben wir uns bei der Auswahl unserer
neuen Vorstandsmitglieder bewusst
Politisches Prisma
Schmusekurs
Matthias Müller:
Möchte das Vertrauen
der US-Kunden in VW
zurückgewinnen.
Foto: Volkswagen AG
Während der Detroit Motor Show bemüht sich
VW-Chef Matthias Müller um Imagepolitur.
Schwer lastet der Skandal um manipulierte
Dieselmotoren auf seinen Schultern. Um das
Vertrauen der Amerikaner in VW wiederzuge-
winnen, steht der Rückkauf von über 100000
Wagen im Raum. Darüber hinaus erweitert VW
sein Gutscheinprogramm, dabei werden je-
dem vom Abgas-Skandal betroffenen Kunden
1000 $ geboten. Bundesverbraucherschutzmi-
nister Heiko Maas forderte bereits im Novem-
ber, dass betroffene deutsche VW-Kunden die-
selben Hilfen vom Konzern erhalten wie jene
in den USA. Doch wie es derzeit aussieht,
müssen sich die meisten deutschen Kunden
mit einer kleinen Plastikröhre in ihrem Fahr-
zeug zufriedengeben. Damit werden die Abga-
se reduziert. 1000 € Entschädigung – geschwei-
ge denn ein Rückkauf – bleibt wohl nur ein
Wunschtraum. pek -Seite 19
Aufwertung
Gerhard Bosch:
Fürchtet, dass die
berufliche Bildung auf
der Strecke bleibt.
Foto: Carolin Weinkopff/
Uni Duisburg-Essen
Das Image der industriellen Ausbildung müsse
verbessert werden, fordert der Arbeitsmarkt-
forscher Gerhard Bosch vom Institut Arbeit
und Qualifikation an der Universität Duisburg-
Essen. Derzeit studieren in Deutschland 58 %
eines Jahrgangs, 2003 waren es noch 39 %. Der
Anteil der Arbeitsplätze, für die eine akademi-
sche Bildung vorausgesetzt wird, liegt aber
nach seinen Angaben unter 25 %. Der Run auf
Hochschulen führe dazu, dass „das Potenzial
für gute Bewerber für die Berufsausbildung
austrocknet“. Ein wichtiger Schritt zur Aufwer-
tung der Berufsbildung ist nach Ansicht von
Bosch die Gleichstellung von Meistern und
Fachwirten mit Bachelor-Absolventen. Die
Unternehmen müssten aber auch gute Per-
spektiven für beruflich Ausgebildete bieten.
Wenn diese Perspektiven aber nur in Sonn-
tagsreden vorkommen, wird der Run auf die
Hochschulen anhalten. has
Nach Plan
Patrick Graichen:
Fordert Ausstieg aus
der Kohle bis 2040.
Foto: Agora
„Agora Energiewende“ heißt ein politischer
Thinktank in Berlin, der sich Gedanken macht
über – na klar, die Energiewende. Am Montag
wurden seine Ideen zum Ausstieg aus der Koh-
le bekannt. Raus bis 2040 – in elf Punkten skiz-
zieren die Hauptstädter, wie das gehen könnte.
Denn es eilt, glaubt man Agora-Chef Patrick
Graichen: „Wenn wir jetzt nicht offen über die
Zukunft der Kohle reden, droht uns die gleiche
Debatte wie einst bei der Atomkraft.“ Die
Schließung der vorletzten Zeche im Revier ist
ein guter Anlass, sich rechtzeitig Gedanken
über den Kohleausstieg zu machen. Und der
Zeitraum? Wer in die Leitstudie zur Energie-
wende der Bundesregierung schaut, stellt fest:
Der weitgehende Rückzug der Kohle aus der
Stromerzeugung steht da längst drin: Bis 2040
soll es so weit sein. swe -Seite 6
lschneider@vdi-nachrichten.com/hsteiger@vdi-nachrichten.com
Zur Person
Manfred Wittenstein ist
Aufsichtsratsvorsitzender
der Wittenstein AG, Welt-
marktführer auf dem Ge-
biet der mechatronischen
Antriebstechnik. Der ehe-
malige Präsident des
VDMA und BDI-Vizeprä-
sident ist „Entrepreneur
des Jahres“ und Mitglied
in der Hall of Fame der
weltbesten Unternehmer.
ps
„Bei uns steht der Vorstand allen
Mitarbeitern in überschaubaren
Gruppen persönlich Rede und Antwort.
So minimieren wir Sickerverluste.“
Manfred Wittenstein,
Aufsichtsratsvorsitzender der Wittenstein AG
3. VDI nachrichten · 15. Januar 2016 · Nr. 1/2 MEINUNG 3
für eine in Persönlichkeit und Fach-
disziplin heterogene Gruppe junger
Leute entschieden. Wir erhoffen uns
davon eine hohe „Sendeleistung“ so-
wie große Anschlussfläche – intern
und extern.
Der gerade skizzierte Ansatz er-
scheint mir zielführend, doch ob er
wirklich zum Erfolg führt, weiß ich na-
türlich nicht. Und doch habe ich nicht
zuletzt auch deshalb ein gutes Gefühl
dabei, weil um die einzelnen Schritte
jeweils intensiv gerungen wird. Sie
sind Zwischenergebnisse eines per-
manenten Prozesses ohne aktionisti-
sche Hauruck-Maßnahmen. Auf den
Einblicke: Manfred Wit-
tenstein erläutert, wie
er Führung 4.0 in seinem
Unternehmen realisiert.
Foto: Marijan Murat/dpa
VDI-Tagung Industrie 4.0
Am 27. und 28. Januar bietet das
VDI Wissensforum auf der Fach-
tagung „Industrie 4.0“ eine Platt-
form zum Erfahrungsaustausch.
Geleitet wird die Veranstaltung
von Michael ten Hompel (TU
Dortmund) sowie Fraunhofer-
IML und Fraunhofer ISST. Das
Tagungsprogramm finden Sie im
Netz. ps
- vdi-wissensforum.de
Punkt gebracht: Auch „Führung 4.0“
ist wohl eher evolutionär als revolu-
tionär.
Und noch etwas möchte ich in aller
Offenheit anmerken: Wenn es um die
Weiterentwicklung des Unterneh-
mens und dessen Führungskräfte
geht, ist es nicht gut, im eigenen Saft
zu schmoren. Achtsamkeit und Be-
scheidenheit sind hier gewiss die bes-
seren Berater als Egozentrik und
Überheblichkeit. Konstruktives Stö-
ren, fachliche Expertise und Erfahrun-
gen von außen sind der Beifahrer, den
man gerade bei schnellen Fahrten im
Nebel ab und an sehr gut gebrauchen
kann. Das gilt vor allem dann, wenn er
das Auto (Unternehmen), den Fahrer
(Unternehmer/Management) und die
Strecke (Strategie) schon gut kennt.
Mit der St. Galler Business School
und ihrem Geschäftsführenden Direk-
tor Christian Abegglen haben wir seit
Jahren einen solchen Partner, der Wit-
tenstein durch die verschiedenen
Phasen der Unternehmensentwick-
lung begleitet. Diese Partnerschaft hat
strategischen Charakter und durch-
zieht den hier beschriebenen Prozess
als Konstante von Anfang an – vom
Projekt „Rollen Regeln“ über den
„FührungsDialog“ bis hin zur Neu-
konfiguration des Vorstands.
Warum erwähne ich das ausdrück-
lich? Weil ich unterstreichen möchte,
dass es meines Erachtens geradezu
„Führung-4.0-inhärent“ ist, sich auch
in Führungsfragen zu vernetzen. Da-
bei schafft Konstanz das erforderliche
unternehmensspezifische Wissen, oh-
ne jedoch den Blick von außen zu ver-
nebeln.
Ich erwähne es zudem, weil noch
etwas deutlich werden soll: Institutio-
nelles Renommee ist womöglich ein
taugliches Auswahlkriterium für den
externen Partner. Überzeugungsfä-
higkeit, Glaubhaftigkeit undVertrauen
jedoch werden letztlich an Personen
festgemacht. Daran wird sich nichts
ändern. Womöglich ist es sogar so,
dass der Erfolg von „Industrie 4.0“ da-
von abhängt, wie überzeugungsfähig,
glaubhaft und vertrauensvoll die Füh-
rung ist. MANFRED WITTENSTEIN
Sabine Pfeiffer sieht die Beleg-
schaften in der deutschen Industrie
gut gerüstet, die Führungskräfte
seien eher das Problem. Foto: A. Amann
VDI nachrichten. Hohenheim, 15. 1. 16, cer
VDI nachrichten: Gibt es aus-
reichend Ressourcen für die Ge-
staltung der neuen Aufgaben?
Pfeiffer: Ja, unbedingt. Die Be-
schäftigten in der Industrie haben
ein hohes Potenzial, das sie heute
schon unter Beweis stellen.
Ist das ein Wettbewerbsvorteil
für die Wirtschaft?
Wenn wir diesen Vorteil jetzt für
die Entwicklung der Technik und
Gestaltung von Industrie 4.0 ein-
setzen, und zwar von Anfang an,
dann ist schon viel erreicht. Alle
Techniklösungen müssen auf das
besondere Arbeitskräftepotenzial
setzen, das wir in Deutschland ha-
ben, es nutzen und weiter fördern.
Sind die Fachkräfte in Deutsch-
land denn etwas Besonderes?
„Jetzt die Weichen richtig stellen“
Wir setzen bei einem hohen und
breiten Qualifikationsniveau an,
das seines Gleichen sucht. Da-
durch können Lösungen für In-
dustrie 4.0 entstehen, die so
schnell keiner auf der Welt kopie-
ren kann.
Haben die Mitbewerber diesen
Qualifikationsvorteil nicht?
Die zentralen Wettbewerber wie
China oder die USA sind an die-
sem Punkt schlechter aufgestellt.
Wir haben eine Beschäftigten-
struktur, die im mittleren Bereich
durch die duale Berufsausbildung
schon sehr gut qualifiziert ist. Aber
auch die Ingenieurausbildung ist
auf hohem fachlichem Niveau.
Nutzen wir das, entsteht daraus ei-
ne sehr starke Ressource. Das
schafft einen nachhaltigen Wett-
bewerbsvorteil, den man nicht so
Industrie 4.0: Für die Wissenschaftlerin Sabine Pfeiffer
steht fest: Wer die aktuelle Komplexität in der Industrie
beherrscht, mit den Unwägbarkeiten der Arbeitswelt umgehen
kann, der hat mit Industrie 4.0 kein Problem. Mehr als zwei
Drittel der Beschäftigten in den Fabriken sind fit für die neuen
Aufgaben, hat sie in einer Studie festgestellt.
schnell mit noch so großem finan-
ziellem Aufwand kompensieren
kann.
Es ist also ein Vorurteil, dass die
Beschäftigten in der deutschen
Industrie nicht fit sind für die Di-
gitalisierung?
Die Beschäftigten in der Industrie
haben gelernt, ihre Antworten jen-
seits von Schema F zu finden. Sie
verlassen sich nicht nur auf ihr
theoretisches Fachwissen. Erfah-
rung spielt eine große und wichti-
ge Rolle.
Natürlich haben wir in der In-
dustrie auch schlecht qualifizierte
Beschäftigte, aber die brauchten
auch ohne Digitalisierung einen
Weiterbildungsschub. Der Bedarf
an Weiterbildung steigt für alle.
Müssen Ingenieure bei Industrie
4.0 umdenken?
Was Ingenieure immer noch nicht
so richtig gut können, ist, sich von
den technischen Möglichkeiten zu
lösen und in die Rolle des Anwen-
ders schlüpfen.
Was sind die Lernthemen?
Es gibt nur eine bahnbrechende
neue Qualifikation: Wir alle müs-
sen lernen, mit großen Daten-
mengen umzugehen.
Braucht es dafür nicht auch an-
dere Methoden des Lernens?
Ja, das ist komplementär. In der
Ausbildung sollten mehrere Beru-
fe gemeinsam an einem Projekt
arbeiten. Im Studium haben wir
das Problem, dass die Ingenieur-
disziplinen sich allenfalls noch im
Grundstudium begegnen.
Das muss sich ändern, und zwar
systematisch so, dass es nicht der
Kreativität des Lehrenden überlas-
sen bleibt, ob was passiert.
Was ist mit den Führungskräf-
ten?
Die sind schlecht vorbereitet. In
der Führungsetage sehe ich den
größten Bedarf an Weiterbildung.
Führung nach den Prinzipien von
1.0, nach tayloristischen Arbeits-
modellen, gibt es immer noch. Die
Führungskultur hinkt hinterher.
Sie fordern: Einmischen, hinter-
fragen und mitgestalten – kön-
nen das die Belegschaften?
Manche meinen, Social Media
mache quasi automatisch alles de-
mokratischer und hierarchieloser.
Das ist im Internet schon nicht so
und im Unternehmen allemal
nicht. Betriebe bleiben auch bei
Industrie 4.0 hierarchisch. Unter-
schiedliche Interessen spielen ei-
ne Rolle – das wird sich nicht auto-
matisch demokratisieren. Das
muss man schon wollen.
Die Frage ist nur, mit welchen
Prozessen und wer darf gestal-
ten?
Genau, das ist die Gestaltungsfra-
ge. Egal ob es smarte Handschuhe,
die Datenbrille, der Roboter oder
ein Software-Programm ist, die
Frage ist doch immer, an welche
Stelle setze ich eine sinnvolle Ar-
beitsteilung zwischen Mensch
und Maschine oder Algorithmus.
Je partizipativer, desto besser sind
die Lösungen.
Also alles wird gut?
Nein, so einfach ist das nicht. Man
darf sich keine Illusionen machen,
was die Digitalisierung in ihrem
Kern will: Sie soll menschliche Ar-
beit ersetzen. Es gibt den viel be-
schworenen Satz „Der Mensch
steht im Mittelpunkt“ – das sehe
ich so noch nicht. Das ist nur zu
erreichen, wenn es auch durchge-
setzt und zum Teil erkämpft wird.
Müssen wir Angst haben?
Ja, wenn wir nicht gut gestalten.
Gerade jetzt haben wir ein Zeit-
fenster, in dem viele Weichen zu
stellen sind. K. HEIMANN
Sabine Pfeiffer
-hat eine Ausbildung zur
Werkzeugmacherin ab-
solviert. Danach war sie
im technischen Support
von Industriefirmen tä-
tig. Sie studierte Soziolo-
gie, promovierte an der
FU Hagen.
-Jetzt ist sie Professorin
für Soziologie an der
Universität Hohenheim
in Stuttgart.
Langfassung des
Interviews
- vdi-nachrichten.com/heimann-online
Die Idee der Studie
-Auf Basis der Daten der
BIBB/BAuA-Befragung (die
Studie sammelte 2012 Infor-
mationen über 20 000 Er-
werbstätige und deren Ar-
beitsplätze) hat Sabine
Pfeiffer die Frage unter-
sucht: Haben die Beschäf-
tigten ausreichende Kom-
petenzen für die Gestaltung
von Industrie 4.0?
-Dabei entstand der Arbeits-
vermögen-Index (AV-In-
dex), der die Komplexität
und Unwägbarkeit in der
Arbeit abbildet.
-Sabine Pfeiffer und Anne
Suphan haben eine Kurzfas-
sung (15 Seiten) ihrer Studie
„Der Mensch kann Industrie
4.0“ im Netz veröffentlicht.
- sabine-pfeiffer.de/fi-
les/downloads/
2015_Mensch_kann_
Industrie40.pdf