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Eine transkontinentale Wasserstrasse
von Rotterdam bis Marseille: Zwischen Neuenburger-
und Genfersee ging diese Vision einst in
die Brüche. Wasser aber spielt bis heute eine Hauptrolle
in der Gegend um Orbe.
Erleben Canal d’Entreroches
Freie Fahrt
von Meer zu Meer
2. Appenzellerland Erleben
U
m ein Haar wäre dem mittelalterlichen
WaadtländerStädtchenOrbeeinezentra-
le Rolle im europäischen Fernverkehr zu-
gefallen. Und zwar wegen der Katholiken, der Protes-
tanten und der Piraten. Aber eigentlich wegen der
Holländer. Die eroberten nämlich im
17. Jahrhundert als Handelsmacht die
Welt. Das Problem: In Europa tobten Reli-
gionskriege. Die Segler der Holländer
(protestantisch) mussten an den Spaniern
und Portugiesen (katholisch) vorbei, bevor
sie bei Gibraltar ins Mittelmeer einbogen.
Hinter der Meerenge warteten die ge-
fürchteten nordafrikanischen Seeräuber
nur darauf, die fetten Handelsschiffe aus-
zunehmen wie gestopfte Gänse.
Die Lösung des Problems? Ganz ein-
fach: statt aussenherum einfach mitten-
durch, nämlich den Rhein hoch bis Basel,
dann von Genf die Rhône
hinunter bis Marseille. Ab
Basel ginge es Rhein und
Aare hoch, dann via Solo-
thurn und Bielersee in den Neuenbur-
gersee. Einzig die Verbindung von
Yverdon-les-Bains nach Lausanne fehlte
noch zum grossen transkontinentalen
Wasserweg zwischen Nordsee und
Mittelmeer.Mickrige40KilometerKanal
müssten doch machbar sein, sagten sich
einige Visionäre. Kein Problem für die
Holländer, deren Ingenieure Erfahrung
hatten mit einheimischen Schleusen,
Entwässerungssystemen und Grachten.
Investoren waren schnell gefunden,
das benötigte Kapital zu zwei Dritteln
beisammen. Aus Holland, Genf, Frankreich und von
der damaligen eidgenössischen Grossmacht Bern
fliesst das Geld, und ab 1638 wurde gegraben: Von
Yverdon-les-Bains am Neuenburgersee in Richtung
Südwesten, in Richtung Genfersee. Zwei Jahre später
ist die sumpfige Orbe-Ebene durchquert und die eu-
ropäische Hauptwasserscheide erreicht: der Hügel-
Anreise
Mit dem Postauto 680 ab
Yverdon-les-Bains nach
Orbe poste.
Mit der SBB von Yverdon-
les-Bains nach Chavornay.
Umsteigen auf die Privatbahn
nach Orbe. Aussteigen in
St-Eloi (Halt auf Verlangen).
sbb.ch
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Der Verein Développement 21 hat zwei Ziele: Zum einen soll er das
architektonische und das Naturerbe würdigen, wo immer das Thema
Wasser eine Rolle spielt. Zum andern will er zu einer solidarischeren
Gesellschaft beitragen, indem er sich in der beruflichen Wiedereinglie-
derung Arbeitsloser engagiert. Konkret: Développement 21 verantwortet
unter anderem Renovation und Unterhalt der alten Mühle in Orbe,
organisiert Ausstellungen, erstellt Dokumentarfilme und Publikationen.
«So sind Sozialhilfebezüger aus dem Kanton Waadt Teil unserer Mission»,
sagt Pierre-André Vuitel. «Hier können sie arbeiten und sich weiter-
entwickeln. Ausserdem helfen wir bei der Arbeitssuche.» Der Verein
leistet also einen nachhaltigen Beitrag, indem er ein historisches Erbe
bewahrt und gleichzeitig die berufliche Neueingliederung fördert.
eau21.ch
Soziales und kulturelles Engagement
Blick auf Altstadt und Fluss Orbe.
Pierre-André Vuitel kümmert
sich um die historischen
Schätze rund ums Wasser
(oben). Die pittoreske
Rue du Moulinet in Orbe.
Canal d’Entreroches Erleben
Text:Gaston Haas; Fotos:Niels Ackermann
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zug des Mormont, «le milieu du monde». Ein Regen-
tropfen, der südlich der Krete niedergeht, fliesst in die
Rhône. Nördlich der Krete tröpfelt er in Richtung
Rhein. Hier, an der Klus von Entreroches, wühlen,
grabenundsprengensichdieArbeiterdurchdenBerg.
Fünf Jahre später gelingt endlich der Durchstich, doch
er kommt zu spät. Das Kapital ist verbrannt, ganze
Vermögen gehen im wahrsten Sinn des Wortes den
Bach hinunter. Der Genfersee wird nie erreicht.
Eine Region erfindet sich neu
Ein paar Jahrzehnte lang wird auf den Kanälen in der
Orbe-Ebene noch Wein, Salz und Getreide transpor-
tiert, bis Solothurn, manchmal hinunter bis Basel.
Aber die Binnenschifffahrt hat keine Zukunft. Im
Frühling verschütten Erdrutsche die Wasserwege, im
Sommer fehlt es an Wasser, die Kähne laufen auf
Grund. Im Winter schliesslich gefriert alles. Ausser-
demverschlingtderUnterhaltderKanäleundSchleu-
sen Unsummen. Das definitive Ende kommt 1855, als
die Eisenbahnlinie Yverdon–Morges eröffnet wird.
Die Bahn ist schneller, zuverlässiger, günstiger, kurz:
rentabler. Auch zwischen Rotterdam und Marseille.
«Eine grosse europäische Idee war gescheitert»,
sagt Pierre-André Vuitel, der uns durch die aufwendig
gestaltete Ausstellung geführt und die alten Kanäle
bei der Bahnstation Eclépens gezeigt hatte. Vuitel ist
LeiterdesProjektsPatrimoineaufildel’eau(wörtlich:
das Erbe an den Wasserläufen, siehe Box Seite 13) –
und ein wandelndes Lexikon, das uns mit jedem Satz
die Begeisterung für Geschichte und Gegenwart seiner
Region spüren lässt. «Aber die Region fing sich wirt-
schaftlich auf», sagt er, als er uns durch die wunderbar
renovierte Mühle von Orbe an der
Rue du Moulinet 33 führt. Schon
vor vielen hundert Jahren liessen
die Bauern hier ihr Getreide zu
Mehl mahlen, die Orbe trieb das
Mühlrad an. Später übernahmen
moderne Turbinen diese Aufgabe,
bis 1990 die Mahlwerke endgültig
stillstanden.
Vuitel ist ein Getriebener im allerbesten Sinn. Bei
seinen Schilderungen hört man die Mühlräder wieder
ächzend Wasser schaufeln, Mühlsteine zerreiben
schleifenddasKornzufeinstemMehl,undmanmeint,
Erleben Canal d’Entreroches
«Einegrosse
europäischeIdeewar
gescheitert.»
Pierre-André Vuitel
Christelle und Marc Antoine: Ihr Blumengeschäft an der Rue du Moulinet verzaubert die ganze Strasse.
4. Canal d’Entreroches Erleben
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draussen die Fuhrmänner fluchen zu hören, wenn sie
die schweren Säcke verladen.
Die Dokumentarfilme des «Patrimoine» lassen
Zeitzeugen zu Wort kommen und hauchen längst ver-
gangenen Jahrzehnten Leben ein. Die Sechstage-
woche der Arbeiter, ihr Stolz trotz all der Mühen, die
Hochwasser der Orbe, der Bau des kleinen Kraft-
werks: Vuitel kennt die Geschichten, die Geschichte
lebendig machen. Voller Stolz zeigt er uns seine Fotos
mit dem Biber, der sich im Untergrund vor der Mühle
äusserst wohl zu fühlen scheint; erklärt den Lift, der
die Forellen über das Wehr beim Kraftwerk hoch-
bringt. Und natürlich führt er uns über die älteste
Steinbrücke der Schweiz, die noch genauso aussieht
wie bei ihrer Eröffnung 1424.
Alles dreht sich hier ums Wasser
Kanäle, Mühlen, Brücken, die Orbe – alles dreht sich
hier ums Wasser. Alles fliesst, entwickelt sich weiter,
lässt Neues wachsen. Vor Kurzem ist ein Kultur-
zentrumentstandenmiteinemkleinenTheater,indem
100 Besucher Platz finden. Und im Spätsommer (Pro-
gramm unter www.eau21.ch) bietet ein Kulturfestival
während zehn Tagen ein abwechslungsreiches Pro-
gramm. Eine vergessene Region erfindet sich neu. ■
Brot und Mehl
Sinnliches Brot
Im Ort L’ Abergement macht Marc
Haller Brot. Er tut dies mit einer
Liebe zum Beruf, die ihresgleichen
sucht. Seine Backkurse öffnen den
Blick für das Ursprüngliche und den
Respekt vor der Natur.
lespainsdemonchemin.ch
SciFi, Bäder, Pestalozzi
Yverdon-les-Bains ist für seine
Thermalquellen berühmt. Aber
wussten Sie, dass hier das erste
Sciene-Fiction-Museum Europas
steht? Oder dass Pestalozzi hier
wirkte? Unbedingt entdecken!
ailleurs.ch
TippsinundumOrbe
Schluchten und Schlösser
Kanäle und Thermen
Schloss Grandson
Über dem Neuenburgersee steht
eines der bekanntesten Schlösser der
Schweiz. Seine Geschichte umfasst
mehr als 1000 Jahre, eine Besichti-
gung ist ein Erlebnis für die ganze
Familie.
chateau-grandson.ch
Die Schluchten der Orbe
Tief hat sich der Fluss in das Kalk-
gestein gefressen. Wer sich hinein-
wagt in die Schluchten zwischen Orbe
und Vallorbe, wird mit einer Wande-
rung durch verzaubertes Gebiet
belohnt (rund 4,5 h).
orbe-tourisme.ch
Die Mühlen von Orbe
Vor bald 600 Jahren wurde hier
erstmals Korn zu Mehl vermahlen.
Heute sind die Mühlen stillgelegt,
aber Wechselausstellungen und
Dokumentarfilme lassen die
Geschichte lebendig werden.
eau21.ch
Historische Kanäle
Von Orbe nach La Sarraz führen zwei
Rundwege von 13 und 19 Kilometern
Länge. An mehreren Stationen sind
Informationstafeln zum Thema
Wasser aufgestellt. Picknickplätze
laden zur Rast am Wasser ein.
lasarraz.ch
Die Natur hat den
Kanal – hier in der
Schlucht von
Entreroches – längst
zurückerobert (oben).
1985 legten
Kantonsarchäologen
Teile des histori-
schen Kanals frei
und entdeckten
meterhohe Stütz-
mauern.
Fotos:OfficedutourismedOrbeetenvirons/ClaudeJaccard/DoldThomas/MarioDelCurto/NathalieGasser/ArtgraphicCarinSA;Pierre-AndréVuitel