1. Poliskulte bei Theokrit und Kallimachos: das Beispiel Milet
Author(s): Norbert Ehrhardt
Source: Hermes, Vol. 131, No. 3 (2003), pp. 269-289
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/4477554
Accessed: 30/03/2010 05:12
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2. POLISKULTE THEOKRIT
BEI UND KALLIMACHOS:
DAS BEISPIELMILET*
zum 65.
ADOLFKOHNKEN Geburtstag
Die hellenistische Dichtung enthalt zahlreiche Hinweise und Anspielungen auf
Kulte und Mythen griechischerPoleis. Manches davon war schon den zeitgenos-
sischen Lesem kaum verstandlichund gab deshalb AnlaB zu gelehrten Erklarun-
gen und Kommentaren.Gerade bei ,,dunklen"Autoren wie etwa Lykophron ist
auch fur den modemen Leser die Heranziehungvon Scholien unverzichtbar.In
Verbindung mit der ubrigen literarischen Hinterlassenschaftder Antike sowie
Quellen anderer Gattungen besitzt man hinsichtlich der Kulte aber eine reiche
Uberlieferung,die sich vor allem durch epigraphischeNeufunde standig verbrei-
tert. Gerade Inschriften und Miinzlegenden kommt eine wichtige Rolle zu, da
derartigeQuellen die antiken Namen - Epikiesen, Feste, Orte - meist in unver-
falschter Form enthaltenund somit zur Verbesserungder handschriftlichenUber-
lieferung beitragenkonnen.I
*
Mit diesem kleinen Beitragdankeich Adolf Kohnkenherzlichfur langjahrige kollegiale
Zusammenarbeit, insbesondereauch fiir philologische Belehrung,die meine Arbeit an den
griechischen Inschriften dem kleinasiatischen
aus Miletwesentlichforderte. derErarbeitung
Bei
dieses AufsatzeskonnteSekundarliteratur Verwendung Kohnkens
unter von umfassendem For-
zu
schungsbericht Theokrit(Lustrum37, 1995, 203-307; 41, 1999, 9-73. 197-204) bequem
ermitteltwerden.Furdie kritischeDurchsicht erstenFassungdieses Beitragsbin ich Anja
der
Bettenworth RobertKirstein(beide Munster) groBem
und zu Dankverpflichtet.
Nurmit dem Namendes Herausgebers werdenfolgendekommentierte Textausgaben zitiert:
=
BECKBYH. BECKBY,Die griechischenBukoliker.Theokrit-Moschos-Bion, Meisenheim1975
(Beitragezur Klassischen Philologie,49)
=
BORNMANN Callimachi Hymnusin Dianam.Introduzione, testocriticoe commentoa curadi F.
BORNMANN, Florenz1968 (Bibliotecadi StudiSuperiori, 55)
DOVER= K. J. DOVER,Theocritus, Select Poems.Withan Introduction Commentary,
and London
1971
Gow = Theocritus, with a Translation Commentary A. S. F. Gow, 2 Bde. Cambridge2
ed. and by
1952
HUNTER = Theocritus. Selection.Idylls 1, 3,4,6,7, 10, 11 and 13,ed. by R. HUNTER,
A Cambridge
1999 (Cambridge GreekandLatinClassics)
PFEIFFER = Callimachus. Ed. R. PFEIFFER, 2 Bde. Oxford1949/ 53
1ZumNachteilderWissenschaft findetderartiger Zuwachsan Kenntnisoft erst mit Verzug
den Weg in kritischeApparate Kommentare. Beispiel sei auf die Forschungsgeschichte
und Als
zum ToponymAulai verwiesen,die L. ROBERT skizzierthat (BCH 101, 1977, 82-88 = ders.,
Documentsd'Asie Mineure,Paris 1987, 40-46). Die richtigeNamensform Aulai - die Manus-
kriptebieten TAAI- dieses von Paus. 10, 32, 6 genannten,im Territorium Magnesiaam
von
Maander gelegenenOrteskonnteaufgrund Munzlegenden
von Magnesias ermitteltwerden:Das
hatteWILAMOWrrZ sa clairvoyancehabituelle"
,,avec (ROBERT82) erkannt, abereher en passant
3. 270 NORBERT EHRHARDT
In diesem Beitrag soll es allerdings nicht darumgehen, was die hellenistische
Dichtung dem (Religions-)Historiker zu bieten vermag. Vielmehr soll die Per-
spektive umgedrehtund unterliteraturwissenschaftlichem Aspekt gefragtwerden,
welchen Grundein hellenistischer Dichter gehabt haben konnte, einen bestimm-
ten Poliskult zu erwihnen. Die Frage scheint zunachsteinmal banal zu sein, sie ist
es aber keineswegs: Mag auch der moderne Historikermehr oder weniger unbe-
wuBtdavon ausgehen, daBjeder bedeutendeantike Kult die Chance hatte, irgend-
wann literarisch verewigt zu werden, so war doch der antike Dichter bei der
Materialauswahlweitgehend frei, da er nie primarWissen vermitteln wollte. Im
Vordergrundstand stets die poetische Konzeption, der die Auswahl des Stoffs
untergeordnetblieb. Selbst dort, wo sich eine fiktive Handlungan einem konkret
benanntenOrt abspielte, war der Dichter keineswegs gezwungen, eine systemati-
sche oder gar vollstandige Aufzahlung von Realia zu bieten. Als ein Beispiel sei
nur das bekannte, im folgenden noch heranzuziehende 7. Idyll Theokrits, die
,,Thalysien",2mit seiner eigenwilligen Verschrankungvon literarischerFiktion
und topographischemRealismus angefuhrt.Die Handlung,das Zusammentreffen
des StadtersSimichidas und seiner Begleiter mit dem HirtenLykidas und der sich
anschlie3ende Sangerwettstreit(in Form von zwei Liedem), wird auf Kos ange-
siedelt, und zur Verstarkungdes realistischen Elements3nennt Theokritmehrere
koische Toponyme, wobei er einige der historischverburgtenNamen anscheinend
bewuBtvariiert.4Bei der Auswahl der Toponyme war Theokritaberrelativfrei, da
es eben nicht darum ging, Kenntnisse uber Kos zu vermitteln. Zentral blieb die
dichterische Handlung, die ein weites Spektrumvon Themen wie Liebe, Dicht-
kunst, Verhaltnisdes Stadterszum Landlebenund anderesmehr enthalt.
Die Frage nach den Motiven von Dichtem, einen bestimmtenKult zu erwah-
nen, soll hier an zwei milesischen Kulten, dem der Aphroditevon Oikus und dem
der Artemis Chitone (Kithone), exemplifiziert werden. FUrersteren stellt Theo-
mitgeteilt(in seiner Besprechung von 0. KERN, Die Inschriften von Magnesiaam Maeander
[Berlin 1900], GGA 1900, 572 Anm. 3 = Kleine SchriftenV 1, Berlin 1937, 359). Die richtige
Form(unterVerweisauf WILAMOWITZ) derPausanias-Ausgabe M. H. ROCHA-PEREIRA,
in von VOI.
III(Teubner; 1981, 21989).
2 Die Literatur diesemIdyll,dasnebenid. 1 zu denmeistbesprochenen
zu gehort,verzeichnet
A. KOHNKEN, Lustrum 1995, 279-96; 41, 1999, 71. Vgl. auchKOHNKENS
37, einleitendeBemer-
kungenzu seinemForschungsbericht (Lustrum1995, 205 f.).
3 Vgl. schon G. LAWALL, Theocritus'CoanPastorals, Washington-Cambridge, Mass. 1967,
75: ,,anair of topographical reality".
4 W. G. ARNOT7,The Moundof Brasilasin Theocritus' SeventhIdyll,QUCC32, 1979,99-
106;N. KREVANS, Geography Literary
and Tradition Theocritus TAPhA113, 1983,201-20
in 7,
(die Aufsatzekurz charakterisiert KOHNKEN,Lustrum 1995, 288 Nr. 543 und 292 Nr.
von 37,
560). ZurTopographie Kos auchS. SHERWIN-WHITE,
von AncientCos, Gottingen1979(Hypom-
nemata,51), passim.- U. VON WILAMOWrrZ-MOELLENDORFF, HellenistischeDichtungin der Zeit
des Kallimachos, Berlin 1924,11137 f., wertetedie Nennung Ortsnamen Reverenzan die
der als
koischeGesellschaft,furdie das Idyll zunachst gedichtetwordensei.
4. Poliskultebei Theokritund Kallimachos:das Beispiel Milet 271
krit, fur letzteren Kallimachos die literarischeHauptquelledar. Durch die archao-
logische Erforschungdes antiken Milets unter der Leitung V. VON GRAEVES ist
unsere Kenntnis der beiden Kulte in den letzten Jahrzehntenbetrachtlichvergro-
Bert worden. Die Ergebnisse werden im folgenden darzulegen sein, denn es ist
auch im Rahmender hier verfolgten Thematiknicht unwichtig zu wissen, welchen
Stellenwert die beiden Kulte in Milet und moglicherweise uber die Stadt hinaus
besaBen. Ich mochte zeigen, daB die eingangs gestellte Frage hinsichtlich der
beiden Dichter im konkretenFall ganz unterschiedlichbeantwortetwerden muB.
Wesentliches findet man schon bei WILAMowIrz, dessen Arbeiteneinmal mehr mit
Gewinn herangezogen (und mit Genuf gelesen) wurden.5
1. Theokritund die Aphroditein Oikus
Das Lied des Simichidas in TheokritsThalysia, dem m,Emtefest", 7, 96-127)
(id.
enthalteine Liebeserklarung Sangersan eine Myrtosowie ironischeBemerkun-
des
gen zur Liebe des Aratoszu Knaben.In diesem KontextruftSimichidasdie Eroten
herbei, die den sch6nen Philinos mit ihrenGeschossen treffen sollen (v. 1 15-19):6
115 8''?E' YeT8o; cai Biupki&o; 68i Xir6vrT?;
va&a Kai Oixoi3vta, 4avoa; E6o; aiitv Atcxi;,
J gikotatv "Epons; epEUO0gVOo1V 6OR10It,
06 tot t64ota tr6v igp6vevtca DtXivov,
dxXT', Etr& TV 4EIVOV0 81XTtopo; OUK ?Xcct xeU.
0 ihrEroten,verlaBt Byblis undHyetisholde
der
FlutenundOikushoch oben,das HeimderblondenDiona,
ihr,die ihraussehtwie Apfel mit purpurnenWangen,ich bitte:
Trefftmirmit euerenPfeilenden schonenKnabenPhilinos,
trefftihn, da sich derArge nichtmeinesFreundes
erbarmet!
5 Vor allem das Anm. 4 genanntezweibandigeWerkzur hellenistischen Dichtung.Wie so
haufig, hat WILAMOWITz Zentralesen passantgesagt oder in Anmerkungen untergebracht; zu
Beispielensiehe hier Anm. 1 (Aulai) und Anm. 11 (Oikus).- Zu Wilamowitzals Editorund
Kommentator kallimacheischer DichtungA. KOHNKEN, Callimachihymniet epigrammata. Wila-
mowitz' Interessean hellenistischerDichtung,in: W. M. CALDERIII/M.C. DUBISCiAR/M. HOSE/
G. VOGT-SPIRA(Hrsgg.), Wilamowitzin Greifswald.Akten der Tagungzum 150. Geburtstag
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Greifswald, 19-22. Dezember 1998, Hildesheim/
in
Zurich/New York2000 (Spudasmata, 605-15.
81),
6 Text nachGow. Siehe auchdie Ausgabevon C. GALLAVOrlT, Rom 31993, 102(derText der
hier zitiertenVerse wie Gow). Ubersetzung: BECKBY.- Die Deutung der Verse 115 ff. ist in der
philologischenLiteratur umstritten: Charakterisierung Philinosals eines Eromenos,
Die des der
seine beste Zeit schon hintersich hat (,,reiferals eine Bime", v. 120; dazu A. HENRICHS, Riper
thana Pear:ParianInvectivein Theokritos, ZPE39, 1980, 7-27), soll dem Aratosvielleichtnur
klarmachen, Philinoses nichtwertist, umworben werden.IndiesemSinneK.-H.STANZEL,
daB zu
Liebende Hirten.TheokritsBukolik und die alexandrinische Poesie, Stuttgart/Leipzig 1995
(Beitragezur Altertumskunde, 278.
60),
5. 272 NORBERTEHRHARDT
Die Scholiasten erklaren,daBes sich bei Hyetis und Byblis um Quellen handelt,
die in Milet flossen; ebenfalls in Milet lage der Ort (t6oEo;)Oikus, wo sich ein
Heiligtum (cpo6v) der Aphrodite befinde.7 DaB das Heiligtum von Oikus in der
Tat zu Milet gehorte, ergibt sich auch aus den Eingangsversen des 28. Idylls
('AXaicdta,,,die Spindel"),v. 1-7:
rxai6)ca;, OtXpt0' aXacdta, &bpov 'AOavda;
y6vai4tv VOO5;oibco4Xia; aitatv Endpoko;,
09ceto' dlitv iit6pq n6Xwv?; NeiXeo; atyXdav,
onna K-nrpt8o; ipov icaXdgo)XXQ)pov 6mdX.
)nv'
Tuike yap ntXov Euavrgov aivigeOa n&pAio;,
6iuuQ t?VVOV E4LoVTEpWoV-O V icVdtotkq&O(L,
Ntdiav, XapiToV i4Epo006V 0Vepov 4Urov.
Spindel, Freundin des Garns, du, das Geschenk Pallas' mit blauem Aug,
Werkzeug fur eine Frau, deren Gemut ganz sich dem Hause weiht,
komm, besuche mit mir heiteren Sinns Neileus' beriihmte Stadt,
wo im zarten Gebusch grun der Bezirk Kyprias sich erhebt.
Dorthin bitte ich Zeus mir fur die Fahrt giinstigen Wind zu leihn,
daB begliickt bei dem Freund Nikias ich liebend-geliebt verweil,
bei dem gottlichen Mann, der aus dem Chor singender Grazien sproB.
Die Ortsbestimmung erfolgt hier mittels einer umschreibendenFormulierung- die
Neleusstadt-, also durchdie Nennung des GrundersMilets (v. 3). DaBder Freund
Nikias, den Theokritzu besuchen beabsichtigt,wirklich in Milet lebt, wird durch
die explizite Nennung der Stadt in v. 21 endgultig klar.
Die beiden Erwahnungen des milesischen Aphroditeheiligtums,8 das
moglicherweise auch von Kallimachos genannt wurde,9 sind bei Theokrit zwar
kurz, enthalten aber wichtige Informationen:zum einen lernt man das Toponym
7 Scholia in Theocritum vetera, rec. C. WENDEL, Leipzig 1914 (Teubner), 107 Scholion
e. Oiei3vrca ?V MtXkq Or6to;, (9vOa) itp6v 'A4po6iM;.
f. i4tpe; 8' Yvri5o; Kai Bv,i6oq np6;? oiv; Epma; r6v k6yov 6ir(arpTpee icai rlcat. di
iXoit; 6Ogotot"Epeq, TovrTeTIv ppuOpoi.YEr't; Se cai Bup4:t; cpilvat MtXAiro-,E'vOa Kai
iEpov 'A0poSini;. Im Rahmen seiner Veroffentlichung der archaischen Weihung aus Oikus
(dazu unten) druckte P. HERRMANN, AA 1995, 284 die Scholien e und f im Wortlaut ab. Zur
Problematik von Scholion b siehe hier Anm. 30.
8 Die von Theokrit id. 7, 116 als Inhaberin des Kultplatzes genannte Dione ist die Mutter der
Aphrodite. Die eben zitierten Scholien bezeichnen aber Aphrodite selbst als Gottin in Oikus.
Gow II 160 folgt den Scholiasten, Dover 163 denkt an einen gemeinsamen Kult von Dione und
Artemis. Vgl. HERRMANN ,AA 1995, 284 Anm. 125 (mit weiterer Literatur).
9 Fr.229, 13 PFEIFFER: ... OiKcoi]tov e6; i[aJTu (Branchosgedicht). derStellegehtes
... An
aber um den Apollon Delphinios, den Hauptgott der Stadt; im Kommentar auBert sich PFEIFFER
denn auch zuruckhaltend: ,,Fortasse Call. non Mileti nomine utitur , sed antiquissimam illam
partem a Mileto heroe conditam Obco-crtov damunominat, ut Nicaenet. fr. 1, I Pow. ". Auf die
mit Oikus verbundenen Grundungstraditionen gehe ich nicht ein; dazu Angaben bei HERRMANN,
AA 1995, 285 und J. L. LIGHTFOOT, Parthenius of Nicaea. Edited with introduction and commen-
taries, Oxford 1999, 433 ff., vor allem 438. - Zu fr. 229 siehe auch hier Anm. 71.
6. Poliskulte bei Theokrit und Kallimachos: das Beispiel Milet 273
Oikus kennen, wo sich das Heiligtum befand;zum anderenerfahrtman etwas uber
die Ortslage, offenbarein an Quellen gelegener, schilfbewachsenerHugel. Diese
Realia hat WILAMOWITZ kenntnisreichkommentiert,und zwar als Rezensent des
1914 erschienenen Delphinion-Bandes, in dem die von der deutschen Milet-
Grabungunter der Leitung TH. WIEGANDSim Heiligtum des Apollon Delphinios
durchgefuhrteAusgrabungdokumentiertworden war.10Die erhellenden Bemer-
kungen WILAMowrrz',11 jungst von P. HERRMANNgewurdigt,12seien hier noch
einmal im Wortlautabgedruckt,da sie nicht nurWILAMOWITZ' Kenntnisseund sein
10 Das Delphinionin Milet. Von G. KAWERAU und A. REHM, Berlin 1914 (Milet 1 3). Die
Besprechung durchWILAMOWFrZ den GGA 1914,65-109 = KleineSchriften 1, Berlin 1937,
in V
417-66. - W[LAMowrrz denVerlauf 1899in Miletund 1906in Didymaunter Leitung
hatte der der
Th. WIEGANDSbegonnenendeutschenAusgrabungen sowie WIEGANDSTatigkeit an anderen
Grabungsplatzen groBerAufmerksamkeit
mit verfolgt. Auf WIEGANDwar WILAMOWIrz schon
frihzeitig aufmerksam geworden;1894sprach WIEGAND
er seineAnerkennung dessenDisser-
fur
tationaus (vgl. C. WATZINGER, TheodorWIEGAND. deutscher
Ein Archaologe1864-1936, Mun-
chen 1944, 56). Ende 1904 schriebWILAMOWIrz einen Brief an WIEGAND,in dem er ihn zum
Erscheinen Priene-Publikation
der (Berlin1904)begluckwunschte; WIEGAND zeigte sich daruber
sehr erfreutund sah seine Arbeit von kompetenter Seite gewurdigt(in Milet verfaBter Brief
WIEGANDS seine Frau vom 5. 11. 1904; abgedruckt:
an Th. WIEGAND, Halbmondim letzten
Viertel.BriefeundReiseberichte deraltenTUrkei TheodorundMarieWIEGAND1895bis
aus von
1918, hrsg. underlautert G. WIEGAND,Munchen1970, 63). Im selbenJahr1904 veroffent-
von
lichte WILAMOWrrZ Vorjahrim milesischen Delphiniongefundenesund nach Berlin
ein im
gebrachtesepigraphisches 'Highlight',die Kultsatzung bzw. Prozessionsordnung Molpoi,
der
die 450/49 v. Chr.redigiert wordenwarundeine altereBestimmung 479n8 enthalt(Satzun-
von
gen einer milesischenSangergilde, SBBerlin 1904, 619-40. Der Text dannbei REHM, Milet 1 3
Nr. 133. Wiederabgedruckt F. SOKOLOWSKI, sacreesde l'Asie Mineure,
von Lois Paris 1955 Nr.
50; bibliographische und
Nachtrage deutscheUbersetzung HERRMANN,
P. MiletVI 1, Berlin1997,
168 f. Vgl. zurInschrift Anm.72 und73). DerTextmit seinenzumTeil seltenenWortern
hier (zu
den y6kXotuntenmit Anm.73) undbemerkenswerten grammatischen Formen hatteWILAMOWrrZ
offenbargereizt.Die 1906von P. WILSKIerstellteunderlauterte KartedermilesischenHalbinsel
(Milet I 1, Berlin 1906) rezensierteWILAMOWITZ noch im selben Jahr(GGA 1906, 635-40 =
Kleine SchriftenV 1, 369-75); dabei steuerteer aufgrundseiner Kenntnisder Schriftsteller
Wesentlicheszu Fragender historischen Geographie Topographie Im Marz1905 hatte
und bei.
auf
WILAMOWITZ Einladung WIEGANDS eine Kleinasien-Reise an
unternommen, derauchF. HILLER
VON GAERTRINGEN teilnahm. Die Tour- mit WIEGAND begannin Troja,undim weiterenVerlauf
-
wurdenunteranderem Priene,Milet und Didymabesucht;danachreistendie Gelehrten zum 1.
Internationalen Archaologen-Kongress Athen.Uber diese Reise undden tiefen Eindruck,
nach
den die kleinasiatische Landschaft ihn machte,berichtete
auf WILAMOWT selbst (Erinnerungen
1848-1914, Leipzig21929,271 ff.). ZurReise auchWATZINGER, TheodorWiegand152. 190 und
W. SCHINDLER, Archaologieim Rahmenvon Wilamowitz'Konzeption Altertumswissen-
Die der
schaften,in: W. M. CALDERIII/H.FLASHAR/1H.LINDKEN(Hrsgg.), Wilamowitznach 50 Jahren,
Darmstadt 1985, 251.
IGGA 1914, 70 mit Anm. I (= KleineSchriften 1, 422f.).
V
12 HERRMANN, AA 1995, 285: ,,Es gibt in der neuerenLiteratur hinsichtlichdes Lokalisie-
rungsproblems von Oikus keine bessere Zusammenfassung eine Anmerkungvon U. v.
als
Wilamowitz
7. 274 NORBERTEHRHARDT
Einfiihlungsvermogen dokumentieren, sondern auch alles enthalten, was man
seinerzeit uber Oikus wutte:
,,Die Besiedelungist in Miletvon WestennachOstenfortgeschritten; altestenScherben
die
habensich am Deirmen-Tepe nochwestlichvon deraltenStadtgefunden.Mindestensalles, was
ostlichder spaterenHauptstraBe warvorstadtisch,
lag, dennderdortangesiedelteAsklepioshat
den Beinamenxp6 n6kwoqweitergefuhrt, ich mochteden Aphroditetempel
und hinzufugen, der
in dem Vororte Oikuslag, zwischenzwei Bachen,am schilfbewachsenen Meeresufer.
Anm. 1:
,,Wirkennendas aus Theokrit7, 115 mit Scholien und 28: sein Freund,der Arzt Nikias,
wohntin Oikusbei dem Aphroditetempel Schilfe. Da flieBendie BacheHyetis;derhattealso
im
nur bei Regen Wasser,und Byblis; der hieBnach dem Schilfe. Ein Arzt wohntnicht leicht in
einem Dorfe:OiK6ctqcir tXt6e-aaa heift der xcZpo;, die Hausernp6 1r6XEO
weil zahlreich
wurden.NatiirlichweiB ich nicht, wie weit die Vorstadtreichte,und die Bache wirdmanjetzt
schwerlich bestimmen konnen.Alexander nimmtbeim Anrickendie etw t6xtq;den Mauerring
seiner Zeit wird man kaum unterscheiden, aber ich will nicht bestreiten,daB es schon der
bekannte war.Zu dieser?oi n6Xtq Ohcoi; gehort.DaBNikainetos
hat (Parthenios 1) voneinem
I
Oicolatov dacy)furdie Urzeitredet,verschlagt nichts."
Die zitierten Verse Theokrits stellen das zentrale literarische Zeugnis fur den
milesischen Aphroditekultin Oikus dar und wurden in der archaologischenLite-
raturentsprechendangefuhrt,wenn es um die Kulttopographie Milets ging. 3 Die
deutschen Ausgraber scheinen aber weder zu WIEGANDS Zeiten noch nach der
Wiederaufnahmeder Grabungenin Milet nach dem Zweiten Weltkrieg versucht
zu haben, die Kultstattezu lokalisieren. Das ware allerdings auch nicht einfach
gewesen. Zwar ergab sich aus den literarischenStellen, daB Oikus vor der Stadt
lag und mit Milet durch eine Brucke verbundenwar,14 aber nirgendwo erscheint
die explizite Angabe, daB sich - wie wir heute wissen - das ,,ippige Schilf' (id.
28, 4)15mit der Lage am Meer erklart.WILAMOWrz hattedas aber intuitiverfaBt.'6
Der Zufall fiihrtedann 1989 zur Lokalisierung:Bei der Begehung des Zeytintepe,
eines sudwestlich des Stadtgebiets von Milet gelegenen Hugels von etwa 45
Meter Hohe, fanden U. GANSund M. HEINZ ein Votiv in Ohrform,Marmorfrag-
mente und ,,eben herausgewuhltemarmomeArchitekturteile eines groBenGebau-
des".'7 In den Folgejahrenwurden unter der Leitung von R. SENFF systematische
Grabungenuntemommen, die bis heute andauernund deren Ergebnisse fortlau-
Die Ruinenvon Milet,Berlin 1968,43.
13 Verwiesensei nurauf G. KLEINER,
BeideStellenbei
Lage);Schol.ad Dion.Perieg.825 (Brucke).
14Paus.7, 24, 5 (vorstadtische
HERRMANN, AA 1995, 285.
15Zu den Bemuhungen modemenTheokrit-Kommentatoren, zu erklaren, HERR-
der dies
MANNebd. 284 mit Anm. 126. Die Ubersetzung stammtvon D. EBENER(von HERRMANN zitiert).
16 siehe Zitatoben S. 274.
17Die Grabung demZeytintepe,
auf MDAI(I)41, 1991, 137-40;dasZitat137.ZurTopogra-
phie vgl. mandie Kartenskizze Neuen Pauly8 (2000) 171 f. (innerhalb Artikels,,Mile-
im des
wordenzu sein: so V. VON
tos"). Der Zeytintepescheint vor 1989 nicht intensiv untersucht
GRAEVE, AA 1995, 199.
8. Poliskulte bei Theokrit und Kallimachos: das Beispiel Milet 275
fend publiziert wurden.18 Die Funde erweisen, daBsich schon in archaischerZeit
eine Terrassierungauf der HUgelkuppebefand. Die dort aufgefundenenArchitek-
turreste ,,sprechen fur einen Sakralbau ionischer Ordnung aus spatarchaischer
Zeit".19FigurlicheTerrakotten beweisen, dass der Kult dort spatestensseit dem 7.
Jh. v. Chr. bestand.20Hohes Alter ist auch mittels der orientalischenFundstiicke2'
beweisbar;die Aegyptiaca22sind zum Teil ,,ganz typisch fur das 7. Jh. v. Chr.".
Aufgrund dieses Befundes wird man auf eine uberregionale Bekanntheit des
Heiligtums schlieBen dfirfen.24DaB der Kultplatzauf dem Zeytintepe tatsachlich
der Aphroditegehorte, war aufgrundder zahlreichgefundenenGraffitiund Dipin-
ti auf Keramik, in denen der Name der Gottin erscheint, sehr bald gesichert.25
Hinzu kommt ein bereits 1990 gemachter, archaologisch wie historisch auBerst
bedeutsamerFund, namlich das Fragmenteiner beschrifteten Miniaturbasisaus
dem 6. Jh. v. Chr.26Die 1995 von P. HERRMANN veroffentlichteund von ihm in die
Zeit zwischen 550 und 525 v. Chr. datierteWeihinschriftlautet:27
18Publikationen Funde
der undErgebnisse: SENFF,MDAI(I)
R. 42, 1992, 105-8; M. HEINZ/R.
SENFF,AA 1995,220-24; dies., AA 1997, 114-17; V. VONGRAEVE,AA 1999,241-61; G. HOLBL
ebd. 345-71. Zusammenfassender Uberblick: SENFF,Das Aphrodite-Heiligtum Milet,in:
R. von
E. WINTER (Hrsg.), Aktuelle Forschungenzur ReligionsgeschichteKleinasiens,Asia Minor
Studien(im Druck).
19M. HEINZJR.SENFF,AA 1995, 223. Vgl. auchdies., AA 1997, 114 (,,marmornerTempel").
20 AA 1995, 223. Als weitere Funde werdenu. a. ein spatarchaisches Gespannpferd aus
Bronze,ein Votivschildmit Pegasus-Darstellung eine Taubeaus Blei erwahnt.
und Vgl. auchV.
VONGRAEVEebd. 199.
21 Ebd.223.
22 G. HOLBL,Fundeaus Milet,VIII.Die Aegyptiaca vom Aphroditetempel dem Zeytinte-
auf
pe, AA 1999,345-7 1.
23 HOLBLebd. 345.
24 HOLBLebd. 346 spricht von ,,uberregionaler Bedeutung und Intemationalitat des Heilig-
tums". In diesem Punkt ist Vorsicht geboten: Sollte die Masse der Fundstucke aus dem Orient
von Milesiern stammen, als SoidneroderHandler ostlichenMittelmeerraum gewesen
die im tatig
waren- mandenkenuran Naukratis undanlaBlich
- ihrerRUckkehr die Heimatdie Orientalia
in
weihten,wareIntemationalitat milesischenHeiligtumsnichterwiesen.
des
25 R. SENFF, MDAI(I)42, 1992, 107 undTaf. 19,3; SEG 43, 1993, 846; M. HEINZ/R. SENFF,
AA 1995, 224 mit Abb. 26. Vgl. auch V. VONGRAEVEebd. 199. Der Nameder Gottinerscheint
meist in abgekiirzter
Form.
26 Milet, Grabungsinventar Z(eytintepe)90. 33. 1. Es handeltsich um das Fragment einer
einst annahernd quadratischenMiniaturbasis Kalkstein,von der sich eine Ecke und zwei
aus
Seiten erhaltenhaben. Innen befindet sich eine rechteckigeVertiefungzur Aufnahmedes
Weihgeschenks. MaBe: groBteHohe 1, 6 cm, Seitenlangen 1 und4, 9 cm. Die Inschrift
4, (siehe
folgendeAnmerkung) zweizeilig, bedecktdie beidenSeitenflachen Ganzeund lauftUber
ist zur
Eck.Die Buchstabenhohe betragt(nur)0,45-0,65 cm.
27AA 1995,282-86 Nr. Ia mit Abb.82a undb; angezeigtim SEG45, 1995, 1613undvon W.
BLOMEL,Kadmos34, 1995, 166. HERRMANN im Rahmen
hat seinerPublikation
auchdie Bemer-
kungenvon WILAMOWrrZ Oikusgewurdigt. Den Inschriftenfund
ZU - habenbereitsU. GANS/M.
HEINZ, MDAI(I) 41, 1991, 138 erwahnt, wobei sie sich hinsichtlichdes Inhalts(Aphrodite-
Weihung) auf eine briefliche Mitteilung P. HERRMANNS
berufen konnten.
9. 276 NORBERTEHRHARDT
/ nrv
1'AjOpo6iTqt Oi6c6vTltl Der Aphrodite Oikus
in
['A]XadXTI
&V/"I6ErV 6E1K6rTq] weihte (dies)alsZehnt.
Alpale
Z. 1: Thv = Cti v
Die von einer Milesierinmit dem seltenen, altionischenNamen Alpale28gestiftete
Miniaturbasis,die eine Aphroditestatuettegetragen haben wird, ist wegen der
Nennung des (griechischen)29 Ortsnamensvon groBtemWert: der Neufund be-
weist, daBTheokrits Heiligtum auf dem Zeytintepe lag und daBdas Areal bereits
in archaischerZeit denselben Namen, eben Oikus, trug.30
Es kannkein Zweifel daranbestehen, daBdas Aphrodite-Heiligtum archa-
seit
ischer Zeit zu den bedeutenden KultstattenMilets zahlte, stark frequentiertwar
und mit kostbarenWeihgaben ausgestattetwurde. Nach dem gescheiterten loni-
schen Aufstand wurde der Tempel sehr wahrscheinlich von den siegreichen
Persem zerst6rt; der Kult wurde aber am selben Ort in nachpersischer Zeit
offenkundig weitergefuhrt.Oikus blieb ein Vorort, der spatestens seit hellenisti-
scher Zeit durcheine Brucke mit Milet verbundenwar.31
Was aberveranlaBte Theokrit,geradedieses Heiligtum zweimal zu erwSihnen?
Er war zumindestim 7. Idyll, dessen Handlungja auf Kos spielt, ziemlich frei, wie
er die Herbeirufungder Eroten bewerkstelligte.32 DaB er sie aus dem nicht allzu
weit entferntenMilet kommen lieB, ist zwar plausibel, war aber nicht zwingend.
Aufgrund des geschilderten archaologischen Befundes konnte man zunachst er-
wagen, daB das Heiligtum uberregionalbekannt war und sich deshalb fur eine
Erwahnunganbot. Dafur scheint es sogar ein zeitgenossisches Zeugnis zu geben,
und zwar ein Epigrammdes Poseidippos von Pella, in dem die Gottin Aphrodite
angerufenwird (Anth. Pal. XII 131):33
28 HERRMANN,
AA 1995, 283 mit Belegen aus Ephesosund der milesischenSchwarzmeer-
ApoikieApolloniaPontica.Ebd.283 f. auchzurEtymologiedes Namens.
29 Oikusist kein karischerOrtsname, V. VONGRAEVE,AA 1995, 199 meint,sondemgut
wie
griechisch.Zumindest miBverstandlichtrotzBerufung Nikainetos HUNTER187:,,a Carian
- auf -
town not farfromMiletos".
30 Eigenartig das Scholion b zu id. 7, 115 (von HERRMANN
ist [hierAnm. 7] nicht zitiert):
'
6Y Kai BukXt;6pI KcaiKprlvat MXAToU Es ist unklar,
... woraufsich die Angabe6pTI,
_,Berge" ,,HUgel",
bzw. bezieht.Zwarist dasGelandehUigelig derZeytintepe Hugel,aber
bzw. ein
trugdas GelandedenselbenNamenwie die Quellen?Vielleichtwollte der ScholiastnurTheo-
kritse6o; aixi6erklaren. Byblisunddas sonstnichtbezeugteHyetiswarenaufjedenFallNamen
von Quellen,wie aus Theokrit Scholionf eindeutighervorgeht.
und
31 Quellenangabe hierAnm. 14.
32 Die Verbindung Eroten
der mit Aphrodite im KontextderLiebesthematik
ist naheliegend
undauch im erotischenEpigramm iiblich.Zu Anrufungen Aphrodites J.
KATHRYN GUTZWILLER,
PoeticGarlands. in
HellenisticEpigrams Context,Berkeley/Los Angeles/London 1998, 126 ff.
33 Text und Ubersetzung: BECKBY,AnthologiaGraeca.Griechisch-Deutsch,
H. Munchen
1957. Verwiesen sei auch auf die neuere Ausgabe von R. AUBRETON,AnthologieGrecque
Premiere Partie:AnthologiePalatine, Tome XI, LivreXII, Paris 1994 (hier47). Das Epigramm
des Poseidippos auchbei HERRMANN, 1995, 285.
AA
10. Poliskulte bei Theokrit und Kallimachos: das Beispiel Milet 277
"A K-6npovd Te KM5ippa Kai & MiXov ?X0to v6t;
Kcat Kcakv Iupiri; ilEOKp6toou 86asSov,
9X0ot; iXao; KaWmiq) i6v I pwyotiv
0ol6lroT OiKCCtO)V (iXEv alo npO0KpCOV.
Die du das Eiland Kythera, Miletos und Kypros besuchest
und des syrischen Lands rossedurchstampftes Gefild,
o du, nahe dich huldvoll und segnend Kallistions Hause,
die einem liebenden Mann niemals die TUre verschloB.
Es handelt sich hier offenbar um eine Aufzahlung bedeutender Kultstattender
-
Aphrodite, unterdenen - etwas uberraschend34 auch Milet erscheint. Dennoch
beweist das Epigramm keinesfalls zwingend eine uberregionale Bedeutung des
milesischen Kultes: Poseidippos, der fur die Zeit von ca. 280 bis 240 quellenma-
Big faBbarist und der zwischen 280 und 270 auch in Agypten wirkte,35 kann seine
Kenntnis Milets als eines Kultorts der Aphrodite aus Theokrits Idyllen bezogen
und in seinem Epigramm,,untergebracht" haben. Falls also literarischeAbhangig-
keit vorliegt, lieBe sich Poseidippos nur noch sehr eingeschranktals Zeuge ver-
wenden. Der archaologische Befund legt fur Oikus in hellenistischer Zeit auch
eine eher bescheidene Kultpraxisnahe.36
Ein anderer Erklarungsversuch,warum Theokrit die milesische Aphrodite
erwiihnthat, ist politischer Art. Nachdem R. HUNTEReinen Zusammenhangzwi-
schen der ptolemaischen Vorherrschaftuber Milet nach 279 v. Chr. und den
Versen Theokrits bezuglich Oikus' vermutet hatte,37ging jiingst LAURA Rossi38
noch einen Schritt weiter. Ausgehend von der schon lange bekanntenTatsache,
daB Ptolemaios II. Philadelphos und seine Schwester-GemahlinArsinoe II. den
34 AUBRETON ebd., Kommentar: ,,On attendaitplutotCnideque Milet".Die Zusammenstel-
lungvon Kythera Zypern Kultstatten
und als Aphroditesfindetsich schonbei Herodot 105, 3).
(1,
Grunddafurist, daB- lautHerodot beide Kultstatten Askalonaus gegrundet
- von wurden.
35 Zur Vita des PoseidipposW. PEEK, RE 22, 1 (1953) 428-46 s. v. PoseidipposNr. 3;
GUTZWILLER, Poetic Garlands f. 151 f.; M. G. ALBIANI, Der Neue Pauly 10 (2001) 199 f. s. v.
18
PoseidipposNr. 2. Zu den bislangbekannten Epigrammen durcheinen Mailander
sind Papyrus
zahlreicheneue hinzugekommen; Edition:G. BASTIANINI/C. GALLAZZI, Posidippodi Pella, Epi-
grammi, Mailand 2001 (nondum vidi). Vgl. auchA. HARDER,DerNeue Pauly15, 2 (2002) 76 s. v.
Papyri,literarische.
36 M. HEINZ/R. SENFF,AA 1995, 223 Anm. 1: ,,Die Bedeutung des Heiligtumsin hellenisti-
scherZeit drucktsich wenigerin den archaologischen Fundenaus als vielmehrin den literari-
schen Uberlieferungen ". Unter den Fundenbefindensich kleinere Marmortafelchen
... mit
Weihinschriften, aus der Kaiserzeitstammenund samtlichvon Frauendediziertwurden;
die
Publikation: HERRMANN, AA 1995,286-88 Nr. b undc = SEG45, 1995, 1614und 1615.Hinzu
P.
kommteine noch unveroffentlichte Weihung,in der wahrscheinlich Frauenname
der Kalliope
erganztwerdenkann.
37 HUNTER 187 (zu id. 7, 115). Konkreter ausgefuhrt er diese Vermutung
hat abernicht.Zu
PtolemaiosundMilet sowie zurChronologie siehe untenmit Anm. 83-86
38 L. Rossi,The Epigrams ascribed Theocritus,
to Lowen2001 (Hellenistica Groningana, 5),
243 f.
11. 278 NORBERT EHRHARDT
Aphroditekultin ihremHerrschaftsbereich bezog Rossi Theo-
intensiv forderten,39
krits 28. Idyll in ihre Uberlegungen ein und hob dabei auf die Charakterisierung
der Theugenis, der Ehefraudes Nikias, ab:
,,Ifreadin factagainstthebackground the idealmarriages
of propagandised thecourt,the-
by
presenceof Aphrodite no longerexplainedas the mentionof the patron
can goddessof thecity of
Miletus... Herpresencecan be understood a referenceto the guardian
as deity of conjugallove
that in this case is embodiedin the exampleof Theugenis... The wife of Nicias is thus placed
underthe protection Athena(1. 1) as an excellentspinner underthatof Cypris(1. 4) as an
of and
ideal wife. "40
Rossi glaubt bei Theokritalso ptolemaische Ehepropaganda erkennenzu k6nnen,
exemplifiziert bzw. personalisiertin Theugenis. Abgesehen davon, daBAphrodite
in keinem Fall als die ,,patrongoddess" von Milet gelten kann, klingt dies wegen
der Bedeutung, die das Konigspaar im Leben und Werk Theokrits einnahm,
zunachst plausibel, ist aber problematisch.Das 28. Idyll hat keinerlei offiziellen
Charakter,sondem ist in einem sehr personlichenTon gehalten,41der gerade auf
Privatheit verweist. Fur id. 7, 115 ergibt Rossis Deutung keine hinreichende
Erklarung.42
Meines Erachtensbietet das 28. Idyll tatsachlich einen Schliissel, und zwar
einen, der zugleich fur id. 7, 115 paft. Im 28. Idyll43geht es, wie zitiert, um einen
Besuch Theokrits bei seinem milesischen Freund Nikias. In den - hier nicht
-
abgedruckten Versen 8 ff. fuhrtTheokritaus, daBer eine elfenbeineme Spindel,
die er direkt anredet, der Theugenis zum Geschenk machen wolle. Die Spindel
werde auf immer in dem ,,unter den loniem lieblichen Milet" (v. 21: oi q
Katct MikkaXov 'pdvvav ns8 'Iczo6ov)wohnen. Formal stellt sich das Idyll als
eher konventionell gestaltetes Anathematikondar,44 aber inhaltlich sind eben die
personliche Note und der Realitatsgehalt auffallig: Nikias war eine historische
Personlichkeit, die in Milet lebte. Im Werk Theokrits erscheint er noch an drei
anderen Stellen, charakterisiertals Arzt und Dichter.45 Man vermutet, daB es
39 Dazu JOAN B. BURTON,Theocritus'UrbanMimes, Berkeley/Los Angeles/London1995,
133 ff.; Rossi 241 ff. Zur Gleichsetzungder (verstorbenen) G.
Arsinoemit Aphrodite HOLBL,
Geschichtedes Ptolemaerreiches, Darmstadt 1994,97.
40Rossi, ebd., 244.
41 WILAMOWITZ, Hellenistische DichtungII 141.
42 Rossi ist Ubrigens Auffindung
die der Ortslagevon Oikusentgangen,wie sich aus den
AusfUhrungen Anm. 17 ergibt.Auch LIGHTFOOT,
244 Parthenius Nicaea 438 (vgl. auch hier
of
Anm. 9) und B. EtE, Theokrit, Gedichte.Griechisch-deutsch, Dusseldorf/ZUrich (Tuscu-
1999
lum) 264 (zu id. 7, 115) kennennochnichtdie neuenGrabungsergebnisse.
43 Dazu die Kommentare Gow II 495-503, DOVER268-72 und BECKBY518 f. Scholien
von
existierenzu diesemIdyllnicht.
44 Unterdiesem gattungsgeschichtlichen Aspekt analysiertvon F. CAIRNS, Distaff of
The
Theugenis- Theocritus, Idyll 28, Papersof the LiverpoolLatinSeminar1 (1976) 293-305.
45 AuBerin id. 28 noch in id. 11, id. 13 undim Epigramm VIII(Anth.Pal. VI 337). Vgl. R.
PETRONELL, AuferungenTheokritsuberseine Personund seine Dichtung,Diss. Hamburg
Die
12. Poliskultebei Theokritund Kallimachos:das Beispiel Milet 279
dieser Nikias ist, der im ,,Kranz"des Meleagros genannt wird (Anth. Pal. IV 1,
19 f.) und unterdessen Namen acht Epigrammeuberliefertsind.46
DaBTheokritNikias kannte, schatzte und wohl wiederholttraf, ergibt sich aus
den Stellen in seinem Werk. Man wird deshalb die Seereise, von der das 28. Idyll
handelt, durchausals Reminiszenz an einen Milet-Besuch werten durfen. Auf der
moglicherweise von Kos aus untemommenen Fahrt47muB Theokrit am hoch
aufragendenAphrodite-Heiligtumvon Oikus vorbeigesegelt sein. Furden antiken
Betrachterstellte gerade die Hugel- bzw. Hohenlage des Heiligtums (id. 7, 116:
6So;aix6) eine Auffalligkeit dar, die sich heute auf dem Zeytintepe bestens
verstehen und erleben lJBt.48 Auch das ,,ippige Schilf"' (id. 28, 4), das das
Heiligtum umgab, ist gut vorstellbar,da die einstige Kustenlinie am Hugel noch
erkennbar ist. ,,Schilfbewuchs mag bis an den heiligen Bezirk herangereicht,
vielleicht auch noch einen Teil von ihm bedeckt haben".49Theokritdiirftebei der
Anfahrt auf Milet von der auffalligen Lage des Heiligtums beeindrucktworden
sein;50erst nach der Vorbeifahrtan Oikus eroffnete sich der Blick auf Milet.51
1965, 23. Zweifel an der Echtheitdes 8. Epigramms auBertRossi, The Epigramsascribedto
Theocritus193-98.
46 WILAMOW1Tz, Hellenistische Dichtung1 144, 11104;J. GEFFCKEN, 17, 1 (1936) 335 f. s.
RE
v. Nikias Nr. 24; Gow II 208 f.; PETRONELL,
AuBerungen Theokrits21-24; W. SCHOrr, und
Arzt
Dichter:Nikiasvon Miletos,Munchen1976 (non vidi); ALBERTA LAI,II Xxoep6vaiou4opov di
Nicia, medico-poeta milesio, QUCC51, 1995, 125-31; M. G. ALBIANI,Der Neue Pauly8 (2000)
914 s. v. Nikias Nr. 4. Siehe auch den Beitrag von R. KIRSTEINin diesem Band. - In der
milesischenOnomastik der Name Nikiasrelativselten (sechs Belege: MiletI 9 Nr. 386 c 1 2;
ist
VI 2 Nr. 422, 8 und610, 1. 3; IvDidymaNr. 50, 1 A 43; 134 und312, 5). Der Eindruck konnte
allerdingstauschen,da auch die ,,prosopographie exteme" zu beachtenist; so gibt es allein
dreizehnMilesiernamensNikias,die im kaiserzeitlichen Athenbezeugtsind (M. J. OsBORNE/S.
G. BYRNE,The ForeignResidents Athens,Lowen 1996 [StudiaHellenistica,
of 33], 220 f.). - Ein
inschriftlichals LenaensiegerbezeugterKom6diendichter 3. Jhs. v. Chr. (IG 1122325 +
des
Fragment MDAI(A)92, 1977, 230 = PoetaeComici GraeciVII [1989137: Ntt-) konntenach
Meinungvon D. PEPPAS-DELMoUsou, MDAI(A) 1977, 236 mit dem Milesier Nikias identisch
sein. Vgl. B. BABLER,Der Neue Pauly8 (2000) 914 s. v. NikiasNr. 5.
47 Wegender Angabein v. 17,daBdie Spindelin Syrakus angefertigt wurde,scheintGow II
495 an eine Reise von Syrakusnach Milet zu denken.Unentschieden BECKBY518. - Versuche,
die vita Theokritszu rekonstruieren die Entstehungsorte Idyllia zu ermitteln,bleiben
und der
weitgehendspekulativ;zu dem wenigen, was man uber Theokritsicher weit, vgl. man die
Dissertation PETRONELL Anm.45) undzuletztR. HUNTER,Der Neue Pauly 12, 1 (2002)
von (hier
360 s. v. TheokritosNr. 2. Zu literafischen Abhangigkeiten zwischen den ,,groSenDichtem"
zuletztA. KOHNKEN, HellenisticChronology: Theocritus, Callimachus, ApolloniusRhodius,
and
in: TH. D. PAPANGHELIS A. RENGAKOS
- (Hrsgg.),A Companion ApolloniusRhodius,Leiden/
to
Boston/K6ln2001, 73-92.
48 ZurOrtslage auchV. VON GRAEVE,AA 1995, 198.
49 HERRMANN ebd. 286.
50 HERRMANN ebd.: ,,Das auf dem heutigenZeytintepeaufragende Apollonheiligtum muBte
dem Seefahrer ... geradezu als Landmarke und Orientierungspunkt erschienen sein
51 HERRMANNebd. 286 Anm. 133 kniipft an seine Ausfuhrungen Topographiedie
zur
13. 280 NORBERT EHRHARDT
Theokritkannte also Oikus und das dortige Heiligtum - zumindesthat er es vom
Schiff aus gesehen. DaBer es in seiner Dichtung nennt,kannman mit WILAMOWITZ
als Reverenz gegenuber Nikias (und seiner Frau)verstehen.52 der freundlichen
In
Charakterisierung Milets als ,,lieblich" (v. 21) wird man ebenfalls eine freund-
schaftliche Geste gegenUberseinen Gastgebem sehen durfen. Als Ganzes stellt
sich das 28. Idyll als ein ,,echtes Gelegenheitsgedicht"53 dar, das Theokrit fur
Nikias und Theugenis verfasste.
Demnach warenes Autopsie und das BedurfnisTheokrits,milesischen Freun-
den Dank abzustatten,die dem Aphroditeheiligtumvon Oikus einen Platz in der
Dichtung verschafften.Fur die Erwahnunggerade dieses Heiligtums hatte Theo-
krit rein personliche Grunde.
2. Kallimachos und die ArtemisChitone (Kithone)
In seinem Hymnus auf Artemis erwahnt Kallimachos auch Milet unter den
Kultstatten,die die Gottin besaB (hymn. in Dianam 225-27):54
n6tvta noukugikaOpe, Xatpe,XtT6TvT1
iotXoncokt,
MtXk~tc jge. a? y&pxoticaao NTIXiKv
ini
?
iiyr.govivoweviqjaiv dtvyf-ryoKvKpolriTlOrv.
Heil, Chitone,Herfin,mit vielen TempeinundStadten,
Die Du Miletbewohnst!Dich wahlteals FiuhrerinNeleus,
Als er mit seinenSchiffenvom Landedes Kekrops See stach.
in
Zur Beantwortungder auch hier zu klarendenFrage, welche Bedeutungder Kult
in Milet besaB und weshalb der Dichter auf ihn zu sprechen kommt, seien
zunachst drei Aspekte angesprochen:Das Alter des Kultes, seine Funktion und
sowie ein Fest, das im Rahmen des Kultes bestand und mit aitiologischen Ge-
schichten verbundenwar.55
Was die Bezeugung in Milet angeht, besitzt man neben den Versen des
Kallimachos (und Scholien: dazu unten) seit 1908 eine archaologisch-epigraphi-
Bemerkung: ,,Bei dieserDeutungkannaufdie Annahme Wilamowitz, ArztNikiassei in
von der
dem VorortOikuswohnhaft gewesen,verzichtetwerden".
52 HellenistischeDichtung II 140 Anm. 1: ,,Die Eroten ruft er (sc. Theokrit)aus dem
Aphroditetempel Milet,den er in derSpindel4 erwahnt,
von eine Artigkeitgegen seinedortigen
Freunde".
53 Hellenistische DichtungI 191 f. AndersCAIRNS,Papersof the LiverpoolLatinSeminarI
(1976) 300, deran einen offiziellenAnlaBdenktunddaruber spekuliert, Theugenisin Milet
daB
Athena-Priesterin gewesensein konnte.
54 Text nach PFEIFFER. DeutscheUbersetzung: HOWALD/E.STAIGER,Die Dichtungen
E. des
Kallimachos, Griechisch Deutsch,Zurich1955 (Tusculum).
und
5SDie im folgendenzu besprechenden Quellenauchim Kommentar BORNMANNS (106 f.) und
in den Aufsatzen von W. GUNTHER(Anm. 59) und A. HERDA(Anm. 69).
14. Poliskultebei Theokritund Kallimachos: Beispiel Milet
das 281
sche Quelle aus der Stadt, die zugleich einen Hinweis auf die Lokalisierung des
Heiligtums liefert. Es handelt sich um einen beim milesischen Sudmarktverbau-
ten Antenblock, auf dem ein kurzes Kultgesetz (13 Zeilen) mit Reinheitsvor-
schriften aufgeschrieben ist.56 Die Inschrift, in der die ionische Namensform
Kithone verwendet wird (Z. 4), stammt aus dem 1. Jh. n. Chr. Das Heiligtum
befand sich wahrscheinlich in der Nahe des Fundorts des Steins. Wie im eben
besprochenenFall der Aphroditein Oikus laBtsich mittlerweile auch dieser Kult
bis in die archaischeZeit zuruckverfolgenund genau lokalisieren. Zeugnis dafur
ist ein bereits 1906 auf dem Kalabaktepegefundenes Fragmenteines marmomen
Perirrhanterions(Weihwasserbecken),57das eine spatarchaische Weihinschrift
tragt.58 wurde 1988 veroffentlicht:59
Sie
4at
['Apt4ru6tq] KtO)[vq;] Ich bin (Eigentum) [Artemis]Kithone.
der
Das Perirrhanterion stellte sicherlich ein Weihgeschenk fur die Artemis Kithone
dar - die Epiklese auch hier in der ionischen Form -, wobei die griechische
Formulierung,eben das selbst sprechende Objekt, die Gottin als Eigentumerin
ausweist. Aufgrund des Fundorts und des Fundzusammenhangs kann man
inzwischen mit Sicherheit sagen, dass sich auf der Ostterrassedes Kalabaktepein
archaischer Zeit ein Tempel der Kithone befand.60Es wurde wohl nach dem
Ionischen Aufstand von den Persern zerstort. Auf dem Kalabaktepeist der Kult
danach nicht mehr restauriertworden. Vielmehr verlegte man ihn zu einem uns
nicht bekanntenZeitpunktin das ZentrumMilets - der Kalabaktepeblieb auBer-
halb des Mauerringsder nachpersischenStadt-, wo wiederumein Tempel errich-
tet wurde.
Die Funktion des Kultes im Leben der Burger Milets kannte man schon aus
einem Scholion zu einer Stelle in Kallimachos' Zeushymnus (zu Vers 77). Der
Scholiast spekuliert hier daruber, ob die Artemis ihren Beinamen von einem
attischenDemos namens Chiton hatte oder von einer Sitte, daBder Gottin von den
56 Veroffentlicht Berlin 1924 (Milet I 7)
von A. REHMin: Der SUdmarkt, Nr. 202 mit Abb.
279. REHM hielt es fur moglich, daBes sich um die Neuaufzeichnung eines alterenGesetzes
handelt und daB das Erhaltenenur einen Nachtragdarstelit.- Die Inschriftwurde wieder
abgedruckt F. SOKOLOWSKI, sacreesde l'Asie Mineure,
von Lois Paris1955,Nr.51. Bibliographi-
sche Nachtrage Ubersetzung: HERRMANN,
und P. Inschriften Milet, 1, Berlin/NewYork 1997
von
(Milet VI 1), 199. AuchBORNMANN die Inschrift
hat registriert
(106).
57Die MaBe links,rechtsundhintengebrochenen
des Randstuicks Hohe5 cm, Breite 14
sind:
cm, Dicke 5 cm. Das Fragment nichtmehrauffindbar.
ist
S8Milet,Inschriften-Inventar abgeschrieben
997, 1906 von A. REHM.
59W. GONTHER, ,,Vieuxet inutilisable"dansun inventaire in6ditde Milet, in: D. KNOEPFLER
(Hrsg.), Compteset inventaires dans la cite grecque,Neuchatel/Genf1988, 236 f. mit Fig. 2
=
(Photographie Abklatsches) SEG 38, 1988, 1213.
des
60Grabungsergebnisse: KERSCHNER, 1995, 214-20; ders.- R. SENFF,AA 1997, 120-
M. AA
22; KERSCHNER, 1999, 7-51. KERSCHNER sich auchbemUht, von GONTHER
AA hat die veroffent-
lichte spatarchaische Weihungin den archhologischen Kontexteinzuordnen.
15. 282 NORBERTEHRHARDT
WochnerinnenGewandergeweiht wurden.LetztgenannteAltemative ist die rich-
tige. Das geht aus der eben genanntenmilesischen lex sacrahervor,die unterden
Arten von Unreinheit auch das Kindbett der Frau auffuhrt.Zudem liBt sich die
Sitte der Kleiderweihung,die man bisher vor allem aus Brauronkannte, auch fur
Milet wahrscheinlich machen. Eine 1988 von W. GUNTHERveroffentlichte In-
schrift aus dem 2. Jh. v. Chr.61stellt sich inhaltlich als Inventardar, in dem eine
Vielzahl von Kleidungsstucken aufgelistet wird. GUNTHERdeutete die Kleider
uberzeugend als Weihgaben fur Artemis Kithone (und veroffentlichte deshalb
auch die archaische Weihung von Kalabaktepe).Der Kult der Artemis Kithone
war also ein Kult insbesonderefur Schwangere und Wochnerinnen.62
Zum Kult gehorte in Milet auch ein Fest namens Neleis.63Es erscheint in den
Aitia des Kallimachos: Am Fest spielt sich die Liebesgeschichte zwischen dem
milesischen Konigssohn Phrygios und dem Madchen Pieria aus Myus ab.64Eine
ausfuhrliche, sicher auf Kallimachos zuruckgehende Version findet man unter
anderem bei Plutarch.65 Der Inhalt der Geschichte - Krieg zwischen Milet und
Myus, Vermittlung durch Pieria - zielt auf Frieden und gute Beziehungen zwi-
schen den beiden ionischen Stadten ab und konnte in der Zeit des Kallimachos
politische Aktualitatbesessen haben:Milet gewann uberMyus die Oberhand,und
seit dem ausgehenden 3. Jh. v. Chr. wurde Myus sukzessiv in den milesischen
Staat eingegliedert.66Der Festname Neleis fuhrt auf eine andere Tradition,nam-
lich die Vorstellung, daB Milet - wie auch die anderen ionischen Poleis - von
Athen aus gegrundet wurde, und zwar unter der Fuhrungdes Kodrossohns Ne-
Ieus.67 Diese Herkunftsangabe erscheintexpressis verbis in den hier abgedruckten
Versen des Artemishymnus, wonach Neleus die Chitone zu seiner Hegemone
machte, als er nach Kleinasien aufbrach.68Ob dahinter ein umfangreicherer
61 Angaben hier Anm. 59.
62 In denselben Kontext fuhrt auch eine noch unveroffentlichte milesische Weihung, die der
Artemis Lochie gilt. Vgl. GUNTHER (Anm. 59) 235 mit Anm. 117; HERDA(Anm. 69) 33 Anm. 259.
- Als Helferin der Gebarenden erscheint die Gottin auch im Artemis-Hymnus v. 21 f.
63 Plut. mul. virt. 16 = mor. 253F-254A; Polyaen. 8, 35.
64 Aet. III fr. 80-83 PFEIFFER.
65 Wie Anm. 63.
66 Zu diesem Vorgang W. RUGE, RE 16, 2 (1935) 1430-37 s. v. Myus Nr. 2; P. HERRMANN,
Neue Urkunden zur Geschichte Milets im 2. Jahrhundertv. Chr., MDAI (I) 15, 1965, 93-96; W.
GUNTHER, Ein Proxeniedekret aus Myus, in: C. SCHUBERT (Hrsg.), Rom und der griechische Osten.
Festschrift fur H. H. SCHMIrr, Stuttgart 1995, 87-92. Zusammenfassend H. LOHMANN, Der Neue
Pauly 8 (2000) 654 s. v. Myus.
67 Zu der komplizierten Traditionsbildung beziiglich Athens als Mutterstadt der kleinasiati-
schen lonier F. PRINZ, Grundungsmythen und Sagenchronologie, Munchen 1979 (Zetemata, 72),
314-76.
68 Der Scholiast (zum Zeus-Hymnus, v. 77) bietet noch die Geschichte, daB Neleus aufgrund
eines Orakelspruchs ein Xoanon fur Artemis aus dem Holz einer attischen Eiche verfertigte und
es mit nach Kleinasien nahm. Somit erscheint der Kult in Milet ausdrucklich als Filialkult
Athens. - WILAMOWITZ, Hellenistische Dichtung II 59 sah in der Bezeichnung ,,Hegemone" bei
16. Poliskultebei Theokritund Kallimachos:das Beispiel Milet 283
Mythos stand, der Neleus in seiner Funktion als Stadtgrunder thematisierte, IiBt
sich schwer sagen, zumal der Ktistes Neleus in Milet anscheinend erst spat
heroische Verehrungerfuhr.69
Die Ubersicht verdeutlicht, daB es sich bei der Artemis Chitone (Kithone)
wiederum um einen bedeutenden Kult Milets handelt: Er reichte bis in die
archaische Zeit zuriick, besaB eine spezifische Funktion, und spatestens seit der
Zeit des Kallimachos war er mit Aitiologien und einer Griindungsgeschichte
verbunden. Es bleibt aber die Frage, was Kallimachos bewog, gerade diesen
milesischen Kult zu erwiihnen.Kultstattender Artemis gab es in groBerZahl, und
auf eine besondere Prominenzder milesischen Kithone weist nichts. Von person-
lichen Beziehungen des Kallimachos zu Milet oder gar zu einem Aufenthalt des
Dichters in der Stadt ist nichts bekannt.WILAMowITz allerdings gemeint, daB
hat
Milesisches im Werk des Kallimachos doch eine gewisse Rolle spielte: ,,Er (sc.
Kallimachos) hat auch Milet gut gekannt, im Branchosden Ahnherrnder Prophe-
ten von Didyma besungen, den Keraitesam heiligen Weg erwiahnt, Geschichte
die
vom weisesten Thales erzahlt".70 Die Werke bzw. Stellen, auf die WiLAMOWrrZ
Bezug nimmt, sind das Branchosgedichtund ein lambenfragment,in dem von der
Entsuhnungdes Volkes durchBranchosdie Rede war.71Der Keraiteserscheint in
der milesischen Kultinschrift der Molpoi, die die Prozession von Milet nach
Didyma regelte, als ein Haltepunkt,an dem geopfert wurde;72Kallimachos bot
eine Aitiologie des Namens.73Was den weisen Thales betrifft, so ist es die in
Kallimachoseine zweite Artemis-Epiklese.
Dagegen sprichtaberder inschriftliche
Befund in
Milet (das erwahnteKultgesetz).Hegemoneist sonst aberals Artemis-Epikiese
belegt (BORN-
MANN107).Zu einemneuenZeugnisfureine Aphrodite Hegemone(in Rhamnus) BEVtLACQUA,
G.
MGR 20, 1996, 55-66.
69 AndersA. HERDA,Der Kultdes Grunderheroen Neileos unddie ArtemisKithonein Milet,
JOAI67, 1998, 1-48 mit derThese, fur Neleus sei schon im archaischen Miletein Grunderkult
eingerichtetworden.
70GGA 1914,85 = KleineSchriften 1, 440. HinweisaufWILAMOWiTZREHMin seinem
V auch
Kommentar milesischenlex sacrafur die Kithone(Milet I 7, S. 289).
zur
71 Fr.229 PFEIFFER undiamb.IV fr. 194,26 ff. Vgl. PFEIFFERsKommentar sowie W. GONTHER,
Das Orakelvon Didymain hellenistischer Zeit, Tubingen1971, 13 Anm. 25; D. L. CLAYMAN,
Callimachus'Iambi,Leiden 1980 (MnemosyneSuppl.,59), 24; A. CAMERON, Callimachus and
His Critics, Princeton1995, 167 f.; B. AcoSTA-HUGHES, Polyeideia.The lambi of Callimachus
andthe ArchaicIambicTradition, Berkeley/Los Angeles/London 2002, 201.
72 A. REHM, Milet I 3 (1914) Nr. 133 Z. 30. 31 (= SOKOLOWSKI, sacrees de I'Asie
Lois
Mineure,Nr. 50). ZurInschrift hierAnm. 10.
vgl.
73 Fr.217. PFEIFFER verweistim Kommentar die eben zitiertemilesischelex sacra.- Die
auf
in derselbenInschrift 25) sowie im archaischen
(Z. milesischenOpferkalender (MiletI 3 Nr. 3 la,
Z. 2. 3) genannten yi6kXot, HESYCH(s. v.) viereckigeSteine, warenmoglicherweise
laut auchbei
Kallimachos erwahnt: Nachdem PFEIFFER Kommentar zu fr. 114, in dem von noXkuydvte 2)
im (v.
und 6et xpo%pot; (v. 3) die Rede ist, auf die milesischenyi-Uot hingewiesenhatte,erganzte
(als erster?)G. B. D'ALESSIO in seiner Kallimachos-Ausgabe (1996) das fr. 149, 2 Pf. zu
yli)Uo[;; vgl. G. MASSIMILLA, Callimaco,Aitia.Libriprimoe secondo,Pisa 1996, 129,Kommen-
17. 284 NORBERTEHRHARDT
iamb. I erzahlte Geschichte von der Schale des Bathykles,74 zuerst an Thales
die
ging, dann die Runde unterden sieben Weisen machte und schlieflich wieder zu
Thales gelangte; dieser stiftete sie mit einer von ihm verfasstenWeihinschriftdem
Apollon von Didyma.
Im Rahmen des umfangreichenkallimacheischen Werks mit seiner Fulle an
kultischen und mythologischen Bezugen nehmen sich diese Erwiihnungenbzw.
literarischenGestaltungenmilesischer Kultgegebenheitenquantitativgering aus.
Bei naherer Betrachtungzeigt sich aber, daB Kallimachos gerade die zentralen
Kulte Milets sowie die Grundergestalten Stadt und des Heiligtums von Didy-
der
ma behandelte:Im Branchosgedichterscheintder Apollon Delphinios, der Haupt-
gott der Stadt, und die Prozession der Molpoi, die am Keraites opfern, gilt
demselben Gott. Apollons gottliche Schwester ist als Chitone prasent, und
moglicherweise kam auch die Aphrodite von Oikus bei Kallimachos vor. Mit
Neleus wird der Grunderder Stadt, mit Branchos der von Didyma gewuirdigt.
Dieses Wissen durfte Kallimachos durch die intensive Heranziehung von
Lokal- und Grundungsgeschichtengewonnen haben - die Bathyklesgeschichte
stammtenach Diogenes Laertios von dem milesischen Lokalhistoriker Leandrios
-,75 und deshalb scheint es berechtigtweiterzufragen,was Kallimachosmit Milet
verband.Dies fiihrtauf die viel diskutierteund hier im Zusammenhangmit Rossis
These zu TheokritsSpindel schon angesprocheneProblematik,inwieweit man bei
hellenistischen Dichtem Zeitbezuge erkennen kann bzw. ob die Dichter auf
konkrete Ereignisse reagierten.76 Was den Artemishymnusdes Kallimachos an-
tar zu fr. 64 (= 1 14 Pf.). Zu den yXAkotauch U. KRON,Heilige Steine, in: Kotinos. Festschrift fur
E. Simon, hrsg. von H. FRONING/T. HOLSCHER/H. MIELSCH, Mainz 1992, 62 f. Es sei aber erwahnt,
daB REHMschon 1914 in seinem Kommentar zum oben genannten milesischen Opferkalender
Zweifel an der Bedeutung ,,Steinwiirfel" angemeldet hat und statt dessen ,,Korb mit Weihgaben"
(von yuWX; abgeleitet) in Erwagung zog.
74 Iamb. I fr. 191,31-77; zum Aufbau der Passage CLAYMAN, Callimachus' Iambi 11-16.
Interpretationvon iamb. I (mit Textabdruck und englischer Ubersetzung) ACOSTA-HUGHES, Poly-
eideia 21-59.
75 Diog. Laert. 1, 28 = Leandr(i)os, FGrHist 492 F 18. Diogenes erzahlt erst die Geschichte
von einem Dreifu3, der vom Volk der Milesier den Sieben Weisen gegeben wurde. Danach sagt
er, daB Kallimachos in seinen lamben die Geschichte anders dargestelit habe (Phiale des Bathy-
kles), wobei er seine Version vom Milesier Leandrios iibemahm. - In der antiken Literatur ist
neben Leandr(i)os ein Maiandrios bezeugt; die beiden konnten identisch sein: zum Problem
JACOBY,FGrHist III b, Kommentar, Text (1955) 404 f. Der Autor bzw. die Autoren gehoren
vielleicht in die Zeit um 330-300 v. Chr. (JACOBY 405).
76 Grundsatzliche Uberlegungen dazu unter anderem bei G. WEBER, Dichtung und hofische
Geselischaft. Die Rezeption von Zeitgeschichte am Hof der ersten drei Ptolemaer, Stuttgart 1993
(Hermes Einzelschriften, 62), 316 ff. WEBER ist recht skeptisch und denkt daran, daB die reihen-
weise Aufzahlung von Kultorten bestimmter Gottheiten bei den Dichtem primarauf Ausbreitung
geographischen Wissens abzielte (ebd. 366). - Zu Theokrits und Kallimachos' Stellung am Hof
F. T. GRIFFITHS, Theocritus at Court, Leiden 1979 (Mnemosyne Suppl., 55); CAMERON, Callima-
chus, bes. 3-23 (,,Cyrene, Court and Kings").
18. Poliskultebei Theokritund Kallimachos: Beispiel Milet
das 285
geht, der hier den Ausgangspunktbildet, hat WILAMOWITZ zeitgeschichtli-
einen
chen Bezug gesehen. Er machte daraufaufmerksam,daBder Hymnus eine eigen-
willige Auswahl und Reihung von Kultstattenaufweist.77Es erscheinen Doliche
(= die Insel Ikaros)und Perge (v. 187), spiiterdann- nach der Nennung kretischer
Stadte - noch Milet (225-27), Samos (228) und schlieBlich das zu erwartende
Ephesos (237 ff.). Bezuglich Perges und Ikaros', letzteres als ,,Dependenz von
Samos", bemerkte WILAMOWITZ,beide ,,damals agyptisch" gewesen seien.78
daB
In der Tat ist es gesichert, daB in der Zeit seit ca. 280 v. Chr. Ptolemaios II. in
Teilen Kleinasiens und der Agais eine Oberherrschaft ausubte. Hinsichtlich des
ptolemaischen Hegemonialbereichs, wie er sich am Ende der Siebziger Jahre
(nach dem Ersten Syrischen Krieg) darstellte, IaBtsich eine viel zitierte Passage
aus Theokritheranziehen.In id. 17, dem Enkomionauf Ptolemaios (II.),79 heiBtes
in den Versen 86-94 (Subjekt ist der Konig):
Kcai llv 4Dotviuca;dnorgveraC 'Appapia; te
cai Evpia; Atp-6a; t Xcatvv t Aiitoniv.
nlaji-Xotoi TE iRatS KaciaiXgtctai;KtXiKeoot
oaaaivet; AuKciouTc Ot XXonToX4totCi Tr Kapai
xai vdaot KuKX6aEGatV; ?nEl Oi Viva; PICataa
r6vTov ?nirXdCovui; o6Aaooa e niroa icat ata
icat noTapoi )ceXac8oVTE;avadaovrat HoRAEaico;
ioXXoi & irnfeS noXXot jitv 6itmt&tdat
e
XaXicCi paptaipovTt oaeaayRevoio6I4aypovrat.
Doch er nahmnoch ein Teil vom Landder Phoiniker, Syrer,
der
Araber, Libyersowie AithiopiensdunklenBewohnern.
Ganzaberhater die Machtob Pamphyliern, lanzenbewehrten
Kilikern,IykischemVolk, den kampfbegierigen Karem
undden kykladischen Inseln,dennsein sind trefflicheSchiffe,
die das Meerihm befahren; ganze See unddie Lande
die
samtden rauschenden FlUssen gehorchen dem WinkPtolemaios'.
Mengenvon reisigenMannemundMengenvon FuBvolk Schilden mit
scharensich ringsum ihn her,gewappnet funkeindem
mit Erze.
77 HellenistischeDichtungII 58. Der Genauigkeit halbersei abergesagt, daBWILAMOWITz
eine Reihevon Kultorten weglasst,die in den Versen187-237 erscheinen.Das andert E. aber
m.
nichtsan dervon ihm konstatierten Auffalligkeit.
78 Ebd.58 f. Hinsichtlich
Ikaros'als samischem Besitzhatsich WILAMOWITZ Chronolo-
in der
gie vertan.SamischeHerrschaft bestand seit dem Endedes 3. Jhs.v. Chr.undzunachstwohl
erst
nurin dem OTtThermai, nachgewiesenvon L. ROBERT,REG46, 1933,423-42 = OperaMinora
SelectaI 548-68. Vgl. N. EHRHARDT, Miletundseine Kolonien,Frankfurt/Main2 I 18 f., I1
1988,
282 f. Anm.67, undA. P. MATTHAIOU, Chiron29, 1999, 230.
79 UntereGrenze fiir die Datierungist der Tod Arsinoes, die 270 oder 268 starb(siehe
folgendeAnmerkung). Entstehung Funktion Idylls M. HOSE, Philologus 141, 1997,
Zur und des
60 f. (sei als WerbunggegenUber Ptolemaiosals potenziellem neuenAuftraggeber verstehen).
zu
19. 286 NORBERTEHRHARDT
Mit Hilfe historiographischer, allem aberepigraphischerQuellen IaBtsich die
vor
ptolemaische Dominanz hinsichtlich einiger Stadte recht genau datieren.80 Auf
Samos konnte Ptolemaios II. 281 v. Chr. FuB fassen,81 und seit den siebziger
Jahrenbestand die ptolemaische Herrschaftuber mehrerekarische Stadte.82 Hin-
sichtlich Milets ist die exakte Chronologie bekannt:83Noch 280(79 war der
Seleukide Antiochos eponymer Stephanephorosder Stadt gewesen,84aber schon
fur das Folgejahr wird in derselben Eponymenliste vermerkt, daB Milet (unter
dem StephanephorosAntenor) Land vom Konig Ptolemaios (II.) erhielt.85Der
ptolemaische EinfluBin Milet dauertebis 260/59.86Aus diesen zwanzig Jahrenist
einiges an Kontakten, diplomatischen Gesten und punktuellerKooperation be-
kannt.Wohl bald nach der Landschenkungerhielt die konigliche Familie von den
Milesiern Ehrenstatuen; erhaltenist die Basisinschriftfur Philotera,die Schwester
des Ptolemaios und seiner Schwester-Gemahlin Arsinoe.87 Arsinoe erhielt
80 Zum folgendenvor allem HOLBL, Geschichtedes Ptolemaerreiches ff. (mit der hier
35
abgedruckten Theokrit-Stelle); Huss, Agyptenin hellenistischer
W. Zeit 332-30 v. Chr.,Mun-
chen 2001, 262 ff. Zur AuBenpolitik Ptolemaios' II. auch B. DREYER, Untersuchungen zur
Geschichtedes spatklassischen Athen (322-ca. 230 v. Chr.),Stuttgart1999 (HistoriaEinzel-
schriften,137),244 ff. - Als Indizienfurptolemaische HerrschaftgeltenStadtbenennungen nach
Arsinoesowie Arsinoe-Kulte; geographischeUbersicht DREYER 383 Anm.35 und36. Umbenen-
nungenwie Einrichtung KultensindabervielfacherstnachdemTodderKoniginerfolgt,die
von
270 oder268 starb; neueren
zur Diskussionumdas Todesjahr DREYER 382 mit Anm.28; 384 mit
Anm. 37; 388-90.
81 K. HALLOF/CH. MILETA,Chiron 207.
27, 1997,283; DREYER,Untersuchungen 245; HALLOF,
IG XII 6, 1 (2000) 347.
82 M. WORRLE, Chiron8, 1978,214 Anm. 61; J. undL. ROBERT,Fouillesd'Amyzonen Carie,
1,Paris 1983, 118-24; HOLBL,Geschichtedes Ptolemaerreiches 35.
83 A. REHM,Kommentar Milet13 Nr. 139(grundlegend); PFEIFFER, Kallimachosstudien,
zu R.
MUnchen 1922, 17; CH.HABICHT,GGA 213, 1960, 149; W. ORTH, Koniglicher Machtanspruch
undstadtischeFreiheit,Munchen1977 (Munchener BeitragezurPapyrusforschung antiken
und
Rechtsgeschichte, 71), 31; HOLBL,Geschichtedes Ptolemaerreiches 35-38; Huss, Agyptenin
hellenistischer 262 mit Anm.63-65; GONTHER
Zeit (Anm.98) 196.
84 Milet I 3 Nr. 123 (= SIG3322), 37.
Z.
85Ebd.Z. 38-40.
86 Dazudie in Anm. 83 genannte Literatur.
87OGISNr. 35 = IvDidyma(1958) Nr. 115:BaatXioaav4tkanrpav paatkX'o losxgjai-
ou o 6ilgo; 6 MtiXiaiov'Apt96t nlo&iilt. Vgl. den Kommentar REHMS undCH.HABICHT
ebd.
(Besprechung ,,Inschriften Didyma"),
der von GGA 213, 1960, 149:,,Ausden beidenJahrzehn-
ten der ptolemaischen Herrschaft 279-259 stammtdie Statueder Prinzessin Statuen
Philotera".
furdas Konigspaar in Miletbzw. Didymanichtnachgewiesen,
sind aberzu vermuten. Philotera
-
stammte Ptolemaios undArsinoeausderEhePtolemaios'I. mitBerenike;
wie (II.) dazuPFEIFFER,
Kallimachosstudien ff. (ebd. 17 zur Inschrift Didyma).Zu Philotera, nach276, aber
14 aus die
noch vor Arsinoe verstarbund die wie diese Kult in Agyptenund den abhangigen Gebieten
erhielt,auchM. WORRLE, Chiron9, 1979, 104 f.; HOLBL,Geschichte Ptolemaerreiches 97
des 26.
und passim; W. AMELING,Der Neue Pauly 9 (2000) 895 s. v. Philotera;Huss, Agypten in
hellenistischer 305. 326.
Zeit
20. Poliskulte bei Theokrit und Kallimachos: das Beispiel Milet 287
spatestensnach ihremTod im Jahre270 oder 26888auch in Milet einen Kult.89 Als
colonia Milesiorum entstandum 270 im Zuge des Ausbaus und der Neuanlegung
ptolemaischerStutzpunkteder Ort Ampelone auf der arabischenHalbinsel.90 Um
262 belobigte Ptolemaios die Milesier wegen ihrerTreue;91 daraufhinvon den
ein
Milesiern verabschiedeterVolksbeschluB zu Ehren des Konigs enthalt eine Be-
stimmung uber die EinfuhrungwiederholterEidesleistung auf die Treue gegenu-
ber Ptolemaios.92
Bei dieser Sachlage bleibt WILAMOWIWZ' These, daB die von Kallimachos
vorgenommene Auswahl von Artemis-Kultstatten einschlieBlich Milets auf dem
Hintergrundder AuBenpolitik Ptolemaios' II. zu sehen ist, plausibel.93Wahr-
scheinlich wird man die ThematisierungzentralerKulte und Mythen Milets durch
Kallimachos insgesamt als Reflex der politischen Konstellationder Jahrevon 279
bis 259 werten diirfen. Das Bild laBt sich scharfer konturieren,wenn man sich
noch einmal klarmacht,welchen Stellenwert Didyma bei Kallimachos einnimmt.
Abgesehen davon, daBmit Branchosdie Grundergestalt gewurdigtwird, erscheint
88 Siehe Anm. 80.
89 Altare mit der Inschrift'Apiv6n; Otka6k4ou. Aus Milet kennt man bislang drei
Exemplare(Milet I 7 Nr. 288, 289 und ein Ineditum).Zu derartigenAltaren,die auch in
Alexandria und im ptolemaischen EinfluBgebietaufgestelltwaren,L. ROBERT,AmStP 1, 1966,
202-8 (= OperaMinoraSelecta VII 626-32). Der hier von ROBERTbesprochenePapyrustext
wurde inzwischen neu gelesen und kommentiert von S. SCHORN,Eine Prozessionzu Ehren
ArsinoesI1.(P. Oxy. XXVII2465, fr. 2: Satyros,Uberdie Demenvon Alexandreia), Punica-
in:
Libyca-Ptolemaica. FestschriftfUrW. Huss, hrsg. von K. GEUS/K. ZIMMERMANN, Lowen 2001,
199-220.
90Plin. nat.hist. 6, 159. DazuF. BILABEL,Die ionischeKolonisation,Leipzig 1920 (Philolo-
gus Suppl.,14,1),58; HOLBL,Geschichte Ptolemaerreiches (,,nordlich heutigen
des 56 des Jidda").
Davonzu trennen derOrtAmpeamTigris,an dem Dareiosnachdem IonischenAufstand
ist 494
v. Chr.die deportierten MilesieransiedeinlieB(Hdt.6, 20) undderbei Pliniusals Aple erscheint
(6, 134). Vgl. BILABEL f. undJ. OELSNER, Neue Pauly 1 (1996) 607 s. v. Ampe.
57 Der
91Brief des Konigsan Milet:Milet I 3 Nr. 139 A = C. B. WELLES,RoyalCorrespondence in
the HellenisticPeriod,London1934,71 ff. Nr. 14, Z. 7-10. Zur Datierungdes SchreibensP.
HERRMANN, Milet VI I p. 172 f. Eine deutscheUbersetzung Milet I 3, 139 A-C (vgl. hier
von
folgendeAnm.) bietenHERRMANN f. undK. BRODERSEN/W.
173 GUNTHER/H.H. SCHMrrT, Histori-
sche griechische Inschriften in Ubersetzung, II, Darmstadt 1996, 133-35 Nr. 331. - In seinem
Brieferwahnt Ptolemaios auchWohltaten
II. seines VatersgegenUber Milet.In welcheZeitdiese
zu datierensind,ist in derForschungumstritten; DiskussionHERRMANN 173(mitLiteratur).
zur P.
92 MilesischerVolksbeschluB: Milet I 3 Nr. 139 C, Z. 44-51. ZurAbfolge der Dokumente
undzumEidP. HERRMANN, romischeKaisereid,
Der Gottingen1968(Hypomnemata, 37-39.20),
In der Forschungwurde die EinfUhrung Eides oft als ,,Anziehender Ziigel" seitens der
des
Ptolemaer gedeutet:HERRMANN (mit Literatur) ORTH, Koniglicher
39 und Machtanspruch 31.
93Zwingende Gruinde, eine Datierung Artemis-Hymnus die Zeit vor 260 ausschlie-
die des in
Ben,gibt es m. W. nicht.Hinsichtlich Datierung
der legen sich die meistenGelehrten nichtfest,
so etwa BORNMANN ff. und P. M. FRASER,PtolemaicAlexandria,
VII Oxford 1972, I 652, 1I915
Anm. 287. Es gibt aberSpatdatierungen die Zeit BerenikesII.): vgl. L. LEHNUS,Der Neue
(in
Pauly6 (1999) 191 s. v. Kallimachos 3.
Nr.
21. 288 NORBERTEHRHARDT
Didyma in der Bathykles-Geschichtedadurchhervorgehoben,daBder Protagonist
den weisen Thales im Didymeion antrifftund daB Thales schlieBlich die Schale
dem Apollon von Didyma weiht; bei dem milesischen HistorikerLeandrios war
wahrscheinlichnoch der stadtmilesische Delphinios Adressat gewesen.94Darauf
verwies zuletzt H. W. PARKE, der das Interesse des Kallimachos an dem Orakel-
heiligtum ebenfalls mit den zwischen Milet und Ptolemaios bestehenden Bezie-
hungen erklarte.95 In der Tat liegt die Vermutungnahe, daB Ptolemaios II. nach
279 versuchte, das Thema Didyma ideologisch und praktischzu besetzen, denn
zuvor war das Heiligtum seit der Zeit Seleukos' I. beinahe durchgangigvon den
Seleukiden gefordert worden, die ihr Geschlecht auf Apollon zuruckfuhrten.96
Explizite Zeugnisse fur ptolemaische Aktivitatenexistieren zwar nicht, aberdoch
gewichtige Indizien:Der - namentlichnicht bekannte- Architekt,der das Saulen-
monument Ptolemaios' II. und Arsinoes - zugleich Anathem fur Zeus - in
Olympia errichtete, wirkte vorher sehr wahrscheinlich bei der Bauplanungdes
Didymeions mit.97 Es ist anzunehmen,daBder Konig diesen Mann nach Didyma
geschickt hatte, und man konnte sogar vermuten,daBauch ptolemaischesGeld in
den Tempelbau floB. In diese Richtung weist m. E. eine jungst veroffentlichte
milesische Inschrift, die in willkommener Weise unsere Kenntnis der ptolema-
94 Siehe hier Anm. 75. Die Sache ist nicht ganz klar. Diog. Laert. 1, 27 verweist auf
Kallimachos (Thales-Weihung Didyma)und zitiertdanneine Prosafassung,
in wonachThales
die Schaledem ApollonDelphiniosweihte.PARKE(hierfolgendeAnm.) 130 mit Anm. 28 geht
davonaus, daBdiese Fassungvon Leandrios stammt.
95 PARKE,The Templeof Apolloat Didyma, JHS 106, 1986, 121-3 1, bes. 129 f. Zustimmend
CAMERON, Callimachus167 ff.; zuruckhaltend AcoSTA-HUGHES,Polyeideia150.
96Belege nennen GUNTHER, Orakel Didyma23 ff. undORTH,Koniglicher
von Machtanspruch
18 ff.
97 So W. HOEPFNER, Zwei Ptolemaierbauten. Ptolemaierweihgeschenk Olympiaund
Das in
ein Bauvorhaben Alexandria,
in Berlin1971(Athenische Mitteilungen, Beiheft),50 f. aufgrund
1.
der von ihm konstatierten Ahnlichkeitenzwischen den Saulen in Olympia und denen des
Dodekastylosim Didymeion(ebd. 7. 42ff). Formalwar Kallikrates von Samos Dedikantin
Olympia, wie sich aus den Plinthen-Inschriften ergibt (IvOlympia306 und 307). Der gut
bezeugteNauarchin ptolemaischen Diensten(H. HAUBEN,Callicrates Samos, Lowen 1970
of
IStudiaHellenistica,18]; W. AMELING,Der Neue Pauly6 [19991 185 f. s. v. Kallikrates 9) Nr.
ergriffwahrscheinlichnichtselberdie Initiative,sondern handeltemit dem Einverstandnis oder
auf einen ,,Wink" Herrscherpaares so - neben anderen- BRIGIrrE HINTZEN-BOHLEN,
des hin:
Herrscherreprasentation Hellenismus,Koln/Weimar/Wien
im 1992, 79, und BARBARASCHMIDT-
DOUNAS, Geschenkeerhaltendie Freundschaft. Politik und Selbstdarstellung Spiegel der
im
Monumente, Berlin2000, 204. - G. HOLBL, Agyptischer EinfluB dergriechischen
in Architektur,
JOAI55, 1984, 1-18, hier 16 Anm.78 vergleichtdie Grundrisse Tempelsvon Edfuundvon
des
Didymaund konstatiert Ubereinstimmungen. vermutet, die Planerdes Didymeionseine
Er daB
,,bewuBte Agyptisierung" stelltaberkeinenZusammenhang derPhasedes lagidi-
anstrebten, mit
schen Einflussesin Milet her und erwahntauch nicht HOEPFNERS Forschungen. These von
Die
PARKE,daBdas groSePortalim Didymeionsein Vorbildin ,,audience-windows" pharaonischer
Palastehabe(JHS 106, 1986, 128), vermagich nichtzu beurteilen.
22. Poliskulte bei Theokrit und Kallimachos: das Beispiel Milet 289
isch-milesischen Beziehungen erweitert. Aus dem von W. GUNTHER publizierten
Fragment98 ergibt sich, daB als Reaktion auf einen milesischen Aufruf, den Bau
bzw. Weiterbaudes Apollon-Tempels in Didyma zu unterstiitzen, auch die Burger
von Naukratis aktiv wurden und Geld spendeten. GUNTHER argumentierteuber-
zeugend, daBdiese Hilfsaktion nur mit dem ,,wohlwollenden Einverstandnis" der
Ptolemaer untemommen worden sein konnte und wahrscheinlich in jene Jahre
fiel, als Milet zu Ptolemaios hielt,9 also die Zeit zwischen 279/78 und 260/59.
Anders als beim oben diskutiertenFall Theokrits scheint mir das Interessedes
Kallimachos an milesischen Kulten und Mythen am ehesten politisch erklarbar zu
sein. Zwar sollte man nicht ubersehen,daBKallimachos haufig an bereits behan-
delte Mythen ankniipfte'0 - uber Branchos stand schon etwas bei Hipponax,101
den die hellenistischen Dichter wiederentdeckten,102 - aber bei der Auswahl der
Materien, die er neu zu bearbeiten gedachte, wurde der Dichter nicht nur von
antiquarischenInteressengeleitet.
Miinster NORBERTEHRHARDT
98 W. GUNTHER, SpendenfurDidyma.Zu einerStiftungaus Naukratis, Festschrift W.
in: fur
Huss (AngabenhierAnm. 89) 185-98.
99Ebd. 196.
100 der umfangreichen
Aus Literatur diesemThemasei nurauf einen anregenden
zu Aufsatz
jungerenDatumsverwiesen:M. HOSE, alexandrinische
Der Zeus.ZurStellungderDichtkunst im
ReichdererstenPtolemaer, Philologus141, 1997, 46-64, bes. 55 ff.
101P. Oxy. XVIII 2175 fr. 5, 6 = fr. 105 West2=fr. 108 Degani2.Vgl. den Kommentar
PFEIFFERS ZU iamb.IV fr. 191,31 sowie DEGANI(Apparat) und ACOSTA-HUGHES, Polyeideia,201.
Iamb.I fr. 191, 1-2 Pf. 1aBMKallimachos Hipponaxauftreten danndie Geschichtevon
den und
der Phialedes Bathykleserzahlen.
102F. JUNG,Hipponax redivivus,Bonn 1929;E. DEGANI,Note sullafortuna Archilocoe di
di
in
Ipponatte epoca ellenistica,QUCC 16, 1973, 79-104; ders., Studi su Ipponatte, Bari 1984,
36 ff. 44 ff.; ACOSTA-HUGHES,Polyeideia,passim(siehe Register346). Vgl. auchE. BOWIE,Der
Neue Pauly5 (1998) 607 s. v. Hipponax (mit weitererLiteratur).