Immer mehr öffentliche Dienstleistungen werden über digitale Medientechnologien angeboten. Insbesondere durch die Bereitstellung von offenen Verwaltungsdaten3 , wird die Entwicklung neuer Dienste durch zivilgesellschaftliche Akteure oder privatwirtschaftliche Unternehmen angestrebt [e.g. Shak13]. Bislang ist der nachhaltige Erfolg dieser Bestrebungen jedoch ausgeblieben [SiJo15, LeAW15]. Denn das Bereitstellen offener Daten führt nicht automatisch zu mehr Transparenz, Bürgernähe und Effizienz in der Verwaltung [BrKu16]. Weiterhin variiert die Nutzung dieser Dienstleistungen seitens der Bevölkerung stark. Insbesondere die Erwartungen und Bedürfnisse älterer Bürgerinnen und Bürger werden offenbar mit solchen digitalen Diensten nicht erfüllt [OBHI17].
Mobile Age: Open Data Mobile Apps to Support Independent Living
Co-creation eines digitalen Stadtteilwegweisers für und mit älteren Menschen
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Lecture Notes in Informatics (LNI), Gesellschaft für Informatik, Bonn 2017 15
Co-creation eines digitalen Stadtteilwegweisers für und mit
älteren Menschen
Juliane Jarke1
und Ulrike Gerhard2
Keywords: Participatory Design, Civic Tech, Open Data
1 Extended Abstract
Immer mehr öffentliche Dienstleistungen werden über digitale Medientechnologien
angeboten. Insbesondere durch die Bereitstellung von offenen Verwaltungsdaten3
, wird
die Entwicklung neuer Dienste durch zivilgesellschaftliche Akteure oder
privatwirtschaftliche Unternehmen angestrebt [e.g. Shak13]. Bislang ist der nachhaltige
Erfolg dieser Bestrebungen jedoch ausgeblieben [SiJo15, LeAW15]. Denn das
Bereitstellen offener Daten führt nicht automatisch zu mehr Transparenz, Bürgernähe und
Effizienz in der Verwaltung [BrKu16]. Weiterhin variiert die Nutzung dieser
Dienstleistungen seitens der Bevölkerung stark. Insbesondere die Erwartungen und
Bedürfnisse älterer Bürgerinnen und Bürger werden offenbar mit solchen digitalen
Diensten nicht erfüllt [OBHI17].
Vor diesem Hintergrund möchte das EU-Projekt MobileAge4
ältere Menschen in den
Prozess der inhaltlichen und technischen Entwicklung von auf offenen Daten basierenden
Online-Diensten einbeziehen. Ziel des Projektes ist es einerseits durch die
gemeinschaftliche Definition und Entwicklung von Diensten, Anwendungen zu
entwickeln, die die Lebensumstände älterer Menschen verbessern sollen. Andererseits
sollen Methoden und Verfahrensweisen entwickelt und erprobt werden, die auch in
Zukunft älteren Menschen einen Mitgestaltungsraum für innovative Dienstleistungen
bieten sollen. Dies geschieht unter dem Begriff „co-creation“. Dazu werden in vier
europäischen Städten und Regionen in Großbritannien, Spanien, Griechenland und
Deutschland Methoden zur effektiven und umfassenden Einbindung älterer Menschen in
den Entwicklungsprozess entwickelt, erprobt und evaluiert. In MobileAge wird co-
creation als situativ-praxisorientierter Ansatz verstanden, um Services für eine alternde
Gesellschaft zu definieren, zu designen und zu implementieren. Co-creation setzt hierbei
1
Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib), Universität Bremen, Am Fallturm 1, 28359 Bremen,
jjarke@ifib.de
2
Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib), Universität Bremen, Am Fallturm 1, 28359 Bremen,
ugerhard@ifib.de
3
Offene Daten, sind Daten die ohne jegliche Einschränkungen genutzt, weiterverbreitet und weiterverwendet
4
Dieses Projekt wird finanziert von der Europäischen Union im Rahmen des Forschungs- und
Innovationsprogramm Horizon 2020 unter der Fördernummer 693319.
cbe doi:10.18420/in2017_63
Maximilian Eibl, Martin Gaedke. (Hrsg.): INFORMATIK 2017,
Lecture Notes in Informatics (LNI), Gesellschaft für Informatik, Bonn 2017 671
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im Alltagsleben älterer Menschen an, ihren Bedürfnissen und Resourcen.
Historisch, ist co-creation in zwei Strömungen verankert: Ein Ursprung findet sich in einer
Verlagerung des Fokus von privatwirtschaftlichen Unternehmen auf Kunden und Nutzer,
um deren Wünsche besser zu verstehen und externes Wissen für die Entwicklung von
Produkten und Services zu nutzen [PiIV10]. Mit Blick sowohl auf die Entwicklung und
Erbringung von Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger, als auch auf
zivilgesellschaftliche Beteiligungsprozesse, ist diese Servicelogik oder Nutzerzentrierung
insbesondere für öffentliche Verwaltungen interessant [AiSt15, NaNa13].
Ein weiterer Ursprung der Nutzerbeteiligung in IT-Gestaltungsprozessen stammt von drei
verschiedenen partizipativen Design Ansätzen (PD): der britischen ETHICS-Methode
[MuHe79, Mumf81], dem Skandinavischen Ansatz der bekannten DEMOS- und
UTOPIA-Projekte [Ehn88] sowie dem US-amerikanischen Ansatz des “Cooperative
Design” [GrKy91]. In dieser Tradition liegt der Fokus der Einbeziehung zukünftiger
Nutzerinnen und Nutzer auf ihrer “kollektiven Kreativität“ [SaSt08], welche sich
idealerweise durch den gesamten Designprozess zieht.
Die folgende Grafik gibt einen Überblick, über die verschiedenen Aktivitätenbereiche/
Interventionsbereiche eines Co-Creation-Prozess, wie er in den vier MobileAge
Pilotprojekten durchgeführt wird [JKGH17]. Diese Aktivitäten/Interventionen laufen
nicht sequentiell, sondern werden parallel durchgeführt und beeinflussen/bedingen sich
gegenseitig. Ältere Menschen, öffentliche Verwaltungen und andere Akteure sind in allen
Bereichen aktive Teilnehmende.
Abbildung 1: Verschiedene Co-Creation-Aktivitäten
Hier berichten wir von unseren Erkenntnissen in der Bremer Pilotstudie von Mai 2016 bis
Januar 2017: In einem offenen Entwurfsprozess haben eine Gruppe älterer Menschen
sowie verschieden lokale Akteure gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern sowie
Entwicklerinnen und Entwicklern einen digitalen Stadtteilwegweiser entwickelt.
Konkretes Ziel der Aktivitäten in Bremen ist es, einen digitalen Online-Dienst zu
entwickeln, der die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen unterstützt. Aufgrund des
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sich im Alter zunehmend einschränkenden Radius gilt die direkte räumlich-soziale
Umgebung (das Zuhause, die Nachbarschaft, der Stadtteil) als primärer Bezugspunkt für
das Wohlbefinden im Alter [Wolt11]. Die Idee hinter den Co-creation-Aktivitäten in
Bremen ist es, eine stadtteilbasierte Web-Anwendung zu entwickeln, die diesen sozial-
räumlichen Aspekt gesellschaftlicher Teilhabe durch das Bereitstellen von relevanten
Informationen und Funktionen unterstützen soll. Welche Art der Anwendung mit welchen
Funktionen und welchen konkreten Informationen dies leisten kann sowie die Art der
Darstellung und des Designs wurde und wird in enger Zusammenarbeit mit den
Zielpersonen vor Ort sowie verschiedenen lokalen Akteuren erarbeitet (z.B. Ortsamt,
Quartiersmanager, Dienstleistungszentren, Seniorenvertretung). Co-creation in diesem
Sinne meint also das gemeinschaftliche Entwerfen und Gestalten eines Dienstes mit den
verschiedenen Akteuren von Beginn an. Diese Akteure umfassen u.a. ältere Menschen
und/oder Seniorenorganisationen und Seniorenclubs, (pflegende) Angehörige,
Softwareentwickler, Dienstleistungsanbieter, öffentliche Verwaltungen, datenhaltende
Stellen.
Die späteren Nutzerinnen und Nutzer wurden und werden von Beginn an substantiell in
den Entwicklungsprozess einbezogen: Mit einer Gruppe von elf älteren Menschen im
Stadtteil Osterholz haben wir über einen Zeitraum von acht Monaten an der Erarbeitung
von Ideen, der Definition und Konzeption des Dienstes, der Sammlung von Daten, dem
Interfacedesign und der Evaluation der Anwendung gearbeitet. Die frühe Phase der
Ideengeneration wurde methodisch mit Cultural Probes [BoGB12, GaDP99, MSBB16]
umgesetzt, einer Selbstaufschreibungs- und Dokumentationsmethode aus der
Designforschung. Diese partizipative Untersuchung des Alltags der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer, ihrer sozial-räumlichen Vernetzung, ihrer Bewegungsmuster und ihrer
Mediennutzung soll die tatsächliche Relevanz des zu entwickelnden Services
gewährleisten und die Konstruktion der Nutzenden auf Grundlage von Stereotypen
vermeiden. In zwei- bis dreiwöchentlich stattfindenden Gruppendiskussionen und
Workshops wurden auf dieser Grundlage relevante Themen und Inhalte definiert und
verschiedene Funktionalitäten diskutiert, verworfen und ausgewählt. Daraufhin wurden
die notwendigen Datensätze identifiziert, validiert und z.T. von Teilnehmerinnen und
Teilnehmern selbst erhoben. Schließlich wurden die Art der Darstellung und das
Interfacedesign mithilfe von Papier-Mock-ups entworfen.
Entstanden ist ein digitaler Stadtteilwegweiser für einen Bremer Stadtteil, der über schöne
und geschichtlich interessante Plätze und Wege im Freien, kulturelle Veranstaltungen und
Einrichtungen, Treffpunkte und Bewegungsmöglichkeiten informiert. Die substantielle
Beteiligung älterer Menschen im gesamten Entwurfsprozess hat sich als dabei als
Herausforderung erwiesen. Unsere ersten Erkenntnisse betreffen folgende Dimensionen:
Die Prozessperspektive (Co-creation als Beteiligungsprozess) bezieht sich auf die
Zugänglichkeit, Relevanz, Effektivität und Transparenz des Co-creation-Prozesses.
Ein Beispiel ist die Rekrutierung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern, welche sich
schwierig gestaltet, wenn das Ergebnis zu Beginn des Prozesses offen ist. Gleichzeitig
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sollte eine zu enge Rahmung vermieden werden. Hinzu kommt, dass bei der Rekrutierung
einer festen Gruppe für den gesamten Prozess die Anforderung an die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer in zeitlicher wie inhaltlicher Art sehr hoch sind, was sich als Barriere im
Beteiligungsprozess erwiesen hat. Es erscheint zielführender für unterschiedliche
Aufgaben in den verschiedenen Phasen des Entwicklungsprozesses unterschiedliche
Personen zu gewinnen, die sich je nach Interessen und Fähigkeiten punktuell einbringen
können. Diese Rollen umfassen etwa die Identifizierung von Problemfeldern/-bereichen,
die Entwicklung von Lösungsansätzen und Ideen, das Identifizieren, Sammeln,
Validieren, Integrieren und Bearbeiten von relevanten Daten sowie Verfassen von
Informationstexten, das Co-Design und die kontinuierliche Evaluierung von Prototypen
sowie deren Verbreitung.
Die Produktperspektive (Co-creation zur Serviceentwicklung) bezieht sich auf die
Nutzerfreundlichkeit, Nachhaltigkeit und Relevanz des entwickelten Service. Es gibt eine
Vielzahl an Problemen und Bedürfnissen, die mit Hilfe von Technologie nur sehr begrenzt
bewältigt werden können (z.B. Infrastruktur, altersfreundliche Umgebungen). Die
Grenzen der Einflussmöglichkeiten technologischer Innovationen müssen im
Beteiligungsprozess von Beginn an reflektiert und transparent gemacht werden. Die von
unserem Vorhaben angesprochenen Menschen bilden eine recht homogene Gruppe aktiver
und verhältnismäßig gesunder Menschen, deren Interessen und Wünsche sich in der
entwickelten Anwendung widerspiegeln. Inwiefern ein solches Angebot für weniger gut
vernetzte und weniger mobile Menschen relevant ist, wird derzeit im Rahmen einer
Evaluation und einer zweiten Studie in einem anderen Bremer Stadtteil erhoben.
Die Datenperspektive (Datengetriebene Bürgerbeteiligung) bezieht sich auf die
Potenziale des zivilgesellschaftlichen Engagements auf Grundlage von offenen
Verwaltungsdaten: Die Vorstellung eines datengetriebenen, partizipativen
Entwurfsprozesses hat sich insofern als irreführend erwiesen, als für die von den
Teilnehmerinnen und Teilnehmern als relevant angesehenen Informationen kaum offene
Daten zur Verfügung stehen. Daher mussten die entsprechenden Daten in kleinteiliger
Arbeit gesammelt und aufbereitet werden. Diese Form der Co-creation von Daten birgt
jedoch das Potenzial auch Menschen mit geringem Interesse an und Erfahrung mit
Technologie für die Beteiligung zu gewinnen.
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674 Juliane Jarke, Ulrike Gerhard
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