Nr. 1/2024 - Mittelstandsfinanzierung + Nachhaltigkeit
Lobbying
1. Lobbying
I. Begriff und Bedeutung
Der Begriff „Lobbying“ steht für Bemühungen von (in erster Linie) Interessenverbänden,
spezifische Anliegen vor allem gegenüber Parlament, Regierung und Verwaltung geltend zu
machen und konkrete Entscheidungen – etwa ein Gesetz, eine Verordnung – erfolgreich zu
beeinflussen. Das lässt sich seit langem im Politikbetrieb einzelner Staaten beobachten und
prägt mittlerweile auch das Geschehen in der EU. Interessenverbände wurden vielfach als
„pressure groups“ bezeichnet; dieser Begriff drückte ein Verständnis von „Lobbying“ aus,
wonach Verbände einseitig Druck auf Parlament und Exekutive ausüben, um bestimmte Inte-
ressen durchzusetzen, dass es sich also um Kommunikationsbeziehungen nur in eine Richtung
handelt. Da sich der Politikbetrieb, also die Art, wie öffentliche Angelegenheiten behandelt
werden, stark verändert hat – das wird mit dem neuen Begriff „Governance“ ausgedrückt –,
passen früher verwendete Bezeichnungen nicht mehr. Im Rahmen von „Governance“ – so-
wohl im Staat als auch in der EU – interessiert, wie Interessenvertretung (insofern ein treffen-
derer Begriff als „Lobbying“, obwohl beide synonym verwendet und verstanden werden) er-
folgt. Brüssel gilt mittlerweile nach Washington als die (Haupt-)Stadt mit der größten Zahl
von Lobbyisten: Schätzungen nennen mehr als 3.500 Organisationen und weit über 25.000
Personen, die als Lobbyisten tätig sind; das EP gibt jährlich etwa 3.500 Ausweise an Personen
aus, die dann als Lobbyisten jederzeit Zugang zum EP haben, ohne sich für jeden einzelnen
Besuch gesondert anmelden zu müssen. Interessenvertretung („Lobbying“) spielt also in der
EU – bei Multi-Level Governance – eine zunehmend wichtige Rolle. Das hat verschiedene
Gründe: weil die EU ihren Aufgabenbereich erheblich ausgeweitet hat, sind immer mehr Be-
reiche von Maßnahmen der EU betroffen und Repräsentanten dieser Bereiche versuchen, sich
auf diese Situation einzustellen, also ihre Interessen und Anliegen wirkungsvoll einzubringen;
Interessenverbände haben registriert, dass Kommission und EP ihnen gegenüber „offen“, also
an Kommunikationsbeziehungen interessiert sind; es gab eine Art „Schneeball-Effekt“: nach-
dem einzelne Verbände mit Aktivitäten in Brüssel begonnen haben, folgten andere diesem
Beispiel nach; Verbände haben die Erfahrung gemacht, dass sich ihre Präsenz in Brüssel
„auszahlt“. Interessenvertretung („Lobbying“) hat sich im Politikbetrieb in der Brüsseler Are-
na also fest etabliert.
II. Die Vielfalt von Lobby-Akteuren
Bei der Analyse des Politikbetriebs in der EU lassen sich verschiedene Typen identifizieren:
Traditionelle Interessenverbände (früher vielfach „pressure groups“ genannt), wie et-
wa Bauernverbände (sie plädieren seit ihrer Entstehung bereits im 19. Jahrhundert für
protektionistische Maßnahmen zum Schutz der einheimischen Erzeuger und setzen
sich für Subventionen ein), Gewerkschaften (sie setzen sich für sichere Arbeitsplätze,
angemessene Vergütung, gute Arbeitsbedingungen und soziale Sicherung für ihre
Mitglieder ein), Arbeitgeber- und Unternehmerverbände, Berufsverbände (insbesonde-
re für Angehörige freier Berufe), Sektorenverbände (für unterschiedliche Branchen
und Produkte).
„Public Interest Groups“, die sich für allgemeine und „öffentliche“, also nicht Grup-
pen spezifische Interessen einsetzen. Sie werden vielfach als Nichtregierungsorganisa-
tionen (NGOs) bezeichnet und engagieren sich vor allem für folgende Bereiche: für
Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung (z. B. Greenpeace), für Verbraucher-
schutz, für die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten (z. B. Amnesty Internati-
2. onal), für spezielle Belange bestimmter Bevölkerungsgruppen (z. B. Frauen, Behinder-
te, Kinder, Homosexuelle, Flüchtlinge); auch Religionsgemeinschaften (insb. die
christlichen Kirchen) kann man diesem Typus zurechnen.
Firmen und Unternehmen, wobei Großunternehmen (ca. 250) jeweils eigene Büros
(Vertretungen) haben, während kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) sowie das
Handwerk mit besonderen Verbandszusammenschlüssen auftreten.
Eine besondere Kategorie bilden Regionen (im deutschen Fall die Länder), die mitt-
lerweile in großer Zahl (knapp 200) mit jeweils eigenen Vertretungen (die zunächst
„Informationsbüros“ hießen) in Brüssel präsent sind; sowie Kommunen, wobei Groß-
städte teilweise jeweils eine eigene Vertretung haben und sich zusätzlich in einem
Dachverband zusammengeschlossen haben, während kleine und mittlere Städte,
schließlich auch „Gemeinden“ ihre Anliegen über Dachverbände vertreten.
Schließlich müssen in diesem Zusammenhang auch große Anwaltskanzleien (ca. 125),
Beratungsfirmen (ca. 150) unterschiedlichster Provenienz, sowie die sog. Think Tanks
(„Denkfabriken“ mit sehr speziellen Beratungsangeboten) genannt werden, die in
Brüssel viel sichtbarer und wirkungsvoller in Erscheinung treten als wir das aus
Deutschland gewohnt sind.
Mit Ausnahme der beiden letztgenannten Typen muss für die anderen Lobby-Akteure nach
zwei getrennten Organisationsebenen unterschieden werden: es gibt zum einen nationale
Verbände und Organisationen, die ihre Aktivitäten allerdings nicht nur auf den jeweiligen
Heimatstaat und die Formulierung der nationalen Europapolitik beschränken, sondern zusätz-
lich in Brüssel vertreten sind; es gibt zum zweiten europäische (zum Teil über die EU hinaus-
gehende) Dachverbände. Das bedeutet beispielsweise, dass der Vertreter des Deutschen Bau-
ernverbandes für die Belange seines Verbandes eigenständig tätig wird und daneben seinen
Verband im europäischen Dachverband vertritt.
III. Funktionen und Ressourcen von Lobby-Akteuren
Wirksame Interessenvertretung ist, wie oben erwähnt, viel mehr, als Druck auf Entschei-
dungsinstanzen (in der EU sind das vorrangig der Rat, die Kommission und das EP) auszu-
üben. So haben in Brüssel angesiedelte Lobby-Akteure zunächst Funktionen ihren Mitglie-
dern bzw der entsendenden Organisation gegenüber: sie sollen das Geschehen in Brüssel (z.
B. die Vorbereitung eines Rechtsakts oder der Start eines neuen Programms) aufmerksam
beobachten, darüber nach Hause berichten (z. B. was der Rechtsakt für die Branche und be-
stimmte Personengruppen bedeutet oder welche Möglichkeiten mit einem neuen Programm,
bspw in den Bereichen Bildung und Forschung, Entwicklungspolitik, Energieversorgung ver-
bunden sind) und Ratschläge geben (wie am besten reagiert werden sollte, welche Bündnis-
partner man gewinnen könnte), schließlich auch Serviceleistungen für die Mitglieder oder die
Organisation (Hilfestellung bei der Antragstellung, Zugang zu für das jeweilige Dossier wich-
tigen Kommissionsbeamten und EP-Abgeordneten) erbringen. Lobby-Akteure haben anderer-
seits, ganz im Sinne des „Governance“- Konzepts, auch Funktionen für die EU-Institutionen,
vor allem für Kommission und EP: Sachwissen zur Verfügung stellen; eine innerhalb eines
europäischen Verbands bereits abgestimmte („einheitliche“) Position einbringen; als Reso-
nanzboden für das, was möglich ist oder wo es erheblichen Widerstand gibt, fungieren und
damit politische Spielräume für die vielfach sehr technischen Regelungen aufzeigen; Vorha-
ben der Institutionen unterstützen und damit Akzeptanz und Legitimität schaffen. Zu den Res-
sourcen, die Lobby-Akteure in ihren vielfältigen Kommunikationsbeziehungen einsetzen
können, gehören Expertise und Sachwissen, auf die die Angehörigen der Institutionen viel-
fach angewiesen sind; ihre Rolle bei der Implementierung neuer Regelwerke (EU-
Rechtsakte), die es geraten erscheinen lässt, sie bereits von Anfang an in den Beratungs- und
3. Entscheidungsprozess einzubeziehen; Mitgliederzahl und finanzielle Stärke, die es ihnen er-
laubt, zu mobilisieren und ggf. auch Kampagnen (über die Medien und der Öffentlichkeit ge-
genüber) durchzuführen; nicht zuletzt auch Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit als Partner in
den Kommunikationsbeziehungen.
IV. Formen und Strategien der Interessenvertretung
Im institutionellen Gefüge der EU gibt es zwei Einrichtungen, die institutionalisierte Interes-
senvertretung erlauben sollen: der Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) und der erst mit
dem Vertrag von Maastricht geschaffene Ausschuss der Regionen (AdR). Beide Institutionen,
die nicht den Status von Organen der EU haben, diesen also deutlich nachgeordnet sind, ha-
ben primär beratende Funktionen, spielen im Entscheidungsprozess der EU also nur eine mar-
ginale Rolle. Das wird, bezogen auf den WSA, von den darin vertretenen nationalen Verbän-
den ebenso gesehen, weshalb diese – zusammen mit ihren europäischen Dachverbänden – auf
andere (nicht institutionalisierte) Aktivitäten und Strategien setzen, die für „Governance“ in
der EU ganz typisch sind. Bezogen auf den AdR setzen die darin vertretenen Regionen und
Kommunen auch sehr viel stärker auf andere Aktivitäten und Strategien; das gilt insbesondere
für Regionen mit gesetzgeberischen Kompetenzen, die sich mit REGLEG ein eigenes Netz-
werk geschaffen haben, während die Parlamente dieser Gruppe von Regionen mit CALRE
ebenfalls eine eigenständige Organisation besitzen. Eine zweite Form der Interessenvertretung
folgt dem Konzept des Tripartismus und des Sozialen Dialogs. Der bereits 1970 geschaffene
Ständige Ausschuss für Beschäftigung, dem seitens der Sozialpartner der Europäische Unter-
nehmerverband (damals UNICE) und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) angehörten,
blieb ohne Wirkung. Das Konzept des Tripartismus wurde im Zusammenhang mit der Lissa-
bon-Strategie erneut erprobt: durch Beschluss des Rates wurde 2003 ein Dreigliedriger Sozi-
algipfel für Wachstum und Beschäftigung eingerichtet, dem die Sozialpartner (Arbeitnehmer
und Arbeitgeber) mit zwei gleich großen Delegationen (je zehn Vertreter, die vom EGB bzw
dem europäischen Industrie- und Arbeitgeberverband – jetzt mit dem Namen „Business Euro-
pe“ – koordiniert werden) angehören. Die Wirksamkeit dieses institutionalisierten Dialogs
wird, auch von den Beteiligten, sehr viel positiver eingeschätzt. Die dritte Form der Interes-
senvertretung lässt sich unter dem Sammelbegriff „Lobbying“ zusammenfassen, zu der ein
Bündel von Strategien gehört: die Identifizierung von Adressaten für Kommunikationsbezie-
hungen, insbesondere in Kommission und EP; die Nutzung formeller, also institutionalisierter
Kommunikationswege, aber auch von informellen Wegen, die im Brüsseler Politikbetrieb
eher noch zunehmende Bedeutung haben; sich einerseits auf die nationale Ebene des einzel-
nen Mitgliedstaats – mit Blick auf die Rolle des Rates – zu konzentrieren, sich andererseits
auf die Brüsseler Arena zu orientieren und beide „Wege“ miteinander zu koordinieren; „Net-
working“ als eine Strategie, die für die Besonderheiten von „Governance“ in der EU von zent-
raler Bedeutung ist, wobei Brüssel der sicherlich wichtigste Ort für diese Strategie ist;
schließlich auch die Beeinflussung und Mobilisierung anderer Organisationen sowie der Öf-
fentlichkeit.
V. Interessenvertretung und demokratische Legitimität
Quantitativ spielt „Lobbying“, also Interessenvertretung, in der EU eine große Rolle; dass
entsprechende Aktivitäten im Entscheidungsprozess funktional sein können, ist unbestritten;
unklar bleibt allerdings, wie erfolgreich Lobby-Akteure sind und ob einzelne von ihnen (z. B.
Wirtschafts-Interessen) aufgrund bestimmter Faktoren bessere Durchsetzungs-, also Erfolgs-
chancen haben; Fallstudien erlauben keine Verallgemeinerungen. Diese Unklarheit und die
Undurchsichtigkeit von Entscheidungsstrukturen und -Prozessen sind auf der anderen Seite
mitverantwortlich für das Legitimitätsdefizit der EU und ihrer Politik. Das erklärt Forderun-
4. gen, die Praxis von Interessenvertretung in der EU offener und transparenter zu machen. Das
beim EP vorhandene Register von Lobbyisten, die jährlich einen besonderen Ausweis be-
kommen, war ein Ansatz zu mehr Transparenz. Weiter gehende Vorstöße für ein Register, das
möglichst für alle EU-Institutionen gelten soll, wurden jahrelang kontrovers diskutiert. Strittig
war vor allem, ob die Registrierung freiwillig sein oder verpflichtend werden soll; außerdem,
welche Organisationen einbezogen werden (z. B. auch Kirchen) und wie umfangreich die
Informationen zu Personal und Finanzen der Lobby-Akteure sein sollen. Das EP hat im Mai
2011 einer im November 2010 erfolgten Vereinbarung mit der Kommission zu diesem Fra-
genkomplex zugestimmt. Danach wird es ein gemeinsames sog. „Transparenz-Register“ ge-
ben (der Verzicht auf die Bezeichnung „Lobbyisten-Register“ soll es Forschungseinrichtun-
gen und Think Tanks sowie Kirchen und religiösen Gemeinschaften ermöglichen, sich auch
registrieren zu lassen), wobei die Registrierung freiwillig ist. Organisationen, die sich regist-
rieren lassen, müssen eine Reihe weiterer Informationen geben; dazu gehören die Zahl der
Personen, die als Lobbyisten tätig sind, sowie die Höhe der Mittel aus EU-Quellen, die ihnen
zufließen. Der Ministerrat wird aufgefordert, sich am Register zu beteiligen. Das EP stimmte
außerdem dem Vorschlag zu, dass jedem Rechtsetzungstext eine „legislative Fußspur“ anzu-
fügen ist, die Auskunft darüber gibt, welche Interessenvertreter bei der Vorbereitung und Be-
ratung seitens des EP und seiner Abgeordneten konsultiert worden sind und dabei einen sig-
nifikanten Beitrag geleistet haben. Das Präsidium des EP soll hierfür einen konkreten Vor-
schlag ausarbeiten. Schließlich hat das EP eine Änderung seiner Geschäftsordnung beschlos-
sen, wonach die Abgeordneten verpflichtet sind, mindestens einmal jährlich eine Erklärung
über ihre finanziellen Interessen abzugeben. Die Einführung dieses Bündels neuer Regeln
würde zwar nicht alle Legitimitätszweifel beseitigen, aber dazu beitragen, sie zu vermindern.
Quelle: Rudolf Hrbek, Lobbying. In: Bergmann (Hg.), Handlexikon der Europäischen Union. Baden-Baden 2012