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Entwicklung und Bildung 1 Universität Wien – Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft  Institut für Bildungswissenschaft Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson GIULIA
Entwicklung und Bildung 1 Universität Wien – Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft  Institut für Bildungswissenschaft Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson 1. Erinnerung und Brückenschlag:
Hauptfrage des ersten Teils: Wie werden frühe psychische Strukturen durch Kommunikation und Interaktion gebildet und inwiefern zeichnen sich darin erste Bildungsprozesse ab? Entwicklung und Bildung 1
Erste Arbeitsdefinitionen: Entwicklung : Zeitbezogene Aspekte  des Aufbaus,  der Stabilisierung  oder Veränderung von  (Teil-)Prozessen und/oder Strukturen Entwicklung und Bildung 1
Erste Arbeitsdefinitionen: Bildung : (Ressourcen für das)  In-Sprache-Heben  des  Gewahrwerdens Entwicklung und Bildung 1
Erste Arbeitsdefinitionen: Kommunikation : Erschaffen und nutzen eines  gemeinsamen Bedeutungsraumes Entwicklung und Bildung 1
Erste Arbeitsdefinitionen: Interaktion : Gegenseitiges  Zur-Verfügung-Stellen von Strukturen und  Handlungen Entwicklung und Bildung 1
Erste Arbeitsdefinitionen: Psychische Struktur : Überdauernde Ordnung  innerer Wahrnehmungs-, Erlebens- und Handlungstendenzen Entwicklung und Bildung 1
Erste Arbeitsdefinitionen: Entwicklungspädagogik : Bildungsförderung unter dem speziellen Aspekt  zeitlicher  Voraussetzungen und Bedingungen von Bildung  Entwicklung und Bildung 1
1. Ergebnis: Der LV-Titel enthält differenziertere Informationen und bietet eine erste Antwort auf unsere Grundfrage Durch das Erschaffen und Nutzen eines gemeinsamen Bedeutungsraumes  und durch das gegenseitige Zur-Verfügung-Stellen von Strukturen und  Handlungen  werden erste Ressourcen für das In-Sprache-Heben des Gewahrwerdens aufgebaut, stabilisiert oder verändert,  indem überdauernde Ordnungen innerer Wahrnehmungs-, Erlebens- und Handlungstendenzen gefördert werden. Diese Förderung wird in dieser LV  unter dem speziellen Aspekt  zeitlicher Voraussetzungen und Bedingungen von Bildung betrachtet. Entwicklung und Bildung 1 Grundfrage: Wie werden frühe psychische Strukturen durch Kommunikation und Interaktion gebildet und inwiefern zeichnen sich darin erste Bildungsprozesse ab?
Entwicklung und Bildung 1 Universität Wien – Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft  Institut für Bildungswissenschaft Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson 2. Wir begegnen Giulia  und werden gewahr,  dass alles  viel früher begann...
GIULIA Beobachtung Nr. l – Giulia (65ff) Hintergrund Frau A., eine Frau Anfang Dreißig, erschien zur ersten Ultraschall-Beobachtung in Begleitung ihres Mannes. Noch bevor sie mir vorgestellt wurden, hatte mich der Anblick dieser künftigen Eltern beeindruckt, als sie mir auf dem Gang begegneten. Obwohl sie erst in der 13. Woche schwanger war, wirkte Frau A. in ihrem weiten Umstandskleid ungeheuer dick. Ihre beeindruckende Größe ließ ihren ohnehin eher kurzgewachsenen Mann - Herr A. ist Anfang Vierzig - noch kleiner erscheinen. Frau A. war an jenem Tag stark, aber sehr ungeschickt geschminkt; ihre dicken Lippen waren knallrot angemalt, dazu hatte sie leuchtendblauen Lidschatten aufgelegt und silbrig flimmerndes, hellrotes Rouge nachlässig auf den Wangen verteilt. Mit ihrem altmodischen, aber gewagten, tief ausgeschnitten Samtkleid und dem verschmierten, grellen Make-up erinnerte sie trotz aller Unbeholfenheit an eine alternde »Hure« aus einem Fellini-Film.
GIULIA Dieser »hurenhafte« Eindruck verschwand nach der ersten Beobachtung vollständig. Zu allen nachfolgenden Sitzungen erschien Frau A. blaß und erschöpft, in einem sittsamen karierten Kleid, in dem sie aussah, als habe die Mutterschaft sie in ein altersloses und unschuldiges Kind verwandelt. Seither sind nahezu sechs Jahre vergangen, und ich sah ihre »Hurenhaftigkeit« erst wieder, als sie mir - in absurder Steigerung — aus dem Gesicht ihrer Tochter entgegenblickte, die nach der Geburt eines Bruders zu mir in Behandlung gebracht wurde.
GIULIA Während der ersten Beobachtung trug Herr A., der sich mit seiner grotesk aussehenden Frau vor uns zu brüsten schien, eine provozierende Selbstgefälligkeit zur Schau. Da er so klein war, wirkte auch er wie eine Karikatur; sein sportliches Lederjackett, seine sackartig ausgebeulten Cordhosen, sein kariertes Jägerhütchen und der zugespitzte graumelierte Bart verliehen ihm das Aussehen eines bösartigen Zwerges. Während der Beobachtungen gab er sich zynisch und boshaft-reserviert, lachte überunsere »phantasievolle« Deutung der projizierten Bilder, ließ sich lang und breit über die Häßlichkeit aller Babys aus und demonstrierte eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber »dem Ding«, seiner Tochter, deren spärliche Bewegungen wir alle mit so großem Interesse auf dem Bildschirm verfolgten.
GIULIA Dennoch nahm ich unter dieser zur Schau getragenen Großspurigkeit von Anfang an liebevolle und tragische Züge an ihm wahr. Und nachdem ich ihn im Laufe der Jahre kennengelernt und gesehen habe, mit welcher Hingabe und Zärtlichkeit er sich um seine Frau und Tochter kümmerte und dabei die ganze Zeit über wußte, daß er aufgrund seines extrem hohen Blutdrucks und eines progressiven, durch eine seltene Deformation hervorgerufenen Nierenversagens ständig in Lebensgefahr schwebte, hat sich dieser erste Eindruck einer nur oberflächlichen Wichtigtuerei als völlig zutreffend erwiesen.

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  • 11. Entwicklung und Bildung 1 Universität Wien – Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft Institut für Bildungswissenschaft Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson 2. Wir begegnen Giulia und werden gewahr, dass alles viel früher begann...
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  • 13. GIULIA Beobachtung Nr. l – Giulia (65ff) Hintergrund Frau A., eine Frau Anfang Dreißig, erschien zur ersten Ultraschall-Beobachtung in Begleitung ihres Mannes. Noch bevor sie mir vorgestellt wurden, hatte mich der Anblick dieser künftigen Eltern beeindruckt, als sie mir auf dem Gang begegneten. Obwohl sie erst in der 13. Woche schwanger war, wirkte Frau A. in ihrem weiten Umstandskleid ungeheuer dick. Ihre beeindruckende Größe ließ ihren ohnehin eher kurzgewachsenen Mann - Herr A. ist Anfang Vierzig - noch kleiner erscheinen. Frau A. war an jenem Tag stark, aber sehr ungeschickt geschminkt; ihre dicken Lippen waren knallrot angemalt, dazu hatte sie leuchtendblauen Lidschatten aufgelegt und silbrig flimmerndes, hellrotes Rouge nachlässig auf den Wangen verteilt. Mit ihrem altmodischen, aber gewagten, tief ausgeschnitten Samtkleid und dem verschmierten, grellen Make-up erinnerte sie trotz aller Unbeholfenheit an eine alternde »Hure« aus einem Fellini-Film.
  • 14. GIULIA Dieser »hurenhafte« Eindruck verschwand nach der ersten Beobachtung vollständig. Zu allen nachfolgenden Sitzungen erschien Frau A. blaß und erschöpft, in einem sittsamen karierten Kleid, in dem sie aussah, als habe die Mutterschaft sie in ein altersloses und unschuldiges Kind verwandelt. Seither sind nahezu sechs Jahre vergangen, und ich sah ihre »Hurenhaftigkeit« erst wieder, als sie mir - in absurder Steigerung — aus dem Gesicht ihrer Tochter entgegenblickte, die nach der Geburt eines Bruders zu mir in Behandlung gebracht wurde.
  • 15. GIULIA Während der ersten Beobachtung trug Herr A., der sich mit seiner grotesk aussehenden Frau vor uns zu brüsten schien, eine provozierende Selbstgefälligkeit zur Schau. Da er so klein war, wirkte auch er wie eine Karikatur; sein sportliches Lederjackett, seine sackartig ausgebeulten Cordhosen, sein kariertes Jägerhütchen und der zugespitzte graumelierte Bart verliehen ihm das Aussehen eines bösartigen Zwerges. Während der Beobachtungen gab er sich zynisch und boshaft-reserviert, lachte überunsere »phantasievolle« Deutung der projizierten Bilder, ließ sich lang und breit über die Häßlichkeit aller Babys aus und demonstrierte eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber »dem Ding«, seiner Tochter, deren spärliche Bewegungen wir alle mit so großem Interesse auf dem Bildschirm verfolgten.
  • 16. GIULIA Dennoch nahm ich unter dieser zur Schau getragenen Großspurigkeit von Anfang an liebevolle und tragische Züge an ihm wahr. Und nachdem ich ihn im Laufe der Jahre kennengelernt und gesehen habe, mit welcher Hingabe und Zärtlichkeit er sich um seine Frau und Tochter kümmerte und dabei die ganze Zeit über wußte, daß er aufgrund seines extrem hohen Blutdrucks und eines progressiven, durch eine seltene Deformation hervorgerufenen Nierenversagens ständig in Lebensgefahr schwebte, hat sich dieser erste Eindruck einer nur oberflächlichen Wichtigtuerei als völlig zutreffend erwiesen.