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Entwicklung und Bildung 1 Universität Wien – Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft  Institut für Bildungswissenschaft Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson GIULIA,  PIONTELLI,  SATTLER u.a.  & ERIKSON
Entwicklung und Bildung 1 Universität Wien – Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft  Institut für Bildungswissenschaft Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson 1. Erinnerung und Brückenschlag: Auf welchen Ebenen und in welchen Modalitäten bestehen und wie wirken „emotionale Kontakte“ zwischen Kind und Umwelt (primäre Bezugspersonen)
Hauptfrage des ersten Teils: Wie werden frühe psychische Strukturen durch Kommunikation und Interaktion gebildet und inwiefern zeichnen sich darin erste Bildungsprozesse ab? Entwicklung und Bildung 1 Bildung : (Ressourcen für das)  In-Sprache-Heben  des  Gewahrwerdens
Giulia (Piontelli) „ Während ich Giulia beobachtete, hatte ich den Eindruck, daß sie ein ruhiger Typ ist und sich in ihrer intra-uterinen Welt wohl fühlt, aber irgendwie scheint sie auch ein sehr sinnliches Wesen zu sein - sie läßt sich einlullen, schaukelt sich selbst in den Schlaf, hält die Hände zwischen den Beinen; vor allem die ständige und offenbar gierige Aktivität der Zunge wirkt sehr sinnlich  „ (Piontelli 1992/1996, 67) Entwicklung und Bildung 1
Giulia (Piontelli) „   Zwischen dieser Sitzung und der Geburt habe ich Frau A. ein Mal im  Hause ihrer Mutter besucht, um die Vereinbarungen für die Beobachtungen nach der Geburt mit ihr abzustimmen. Ihr Mann war einige Tage  verreist, und Frau A. wohnte in dieser Zeit bei ihren Eltern. An jenem Tag  trug sie frischgebügelte und makellos saubere Kleidung und sagte, sie werde von ihrer Mutter umsorgt wie ein Baby. »Wenn ich bei meiner Mutter bin, rühre ich den ganzen Tag keinen Finger ... Ich lasse mich von ihr hegen und pflegen und füttern wie ein Baby . ..« Die Mahlzeiten, die sie von ihrer Mutter serviert bekam, hatten ohne Zweifel Spuren hinterlassen, denn Frau A. wog nun über 100 kg. Dann stellte sie mich ihrer Mutter vor, einer großen, kräftigen Frau mit freundlichem, warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie bot mir sofort Kaffee und Kuchen an, und wir setzten uns alle gemeinsam an den Tisch. Frau A. und ihre Mutter redeten ununterbrochen.“ Entwicklung und Bildung 1
Giulia (Piontelli) „   Frau A. klagte, daß sie sehr müde sei und nachts nicht schlafen könne. Sie hatte große Angst vor der Geburt, da sie fürchtete, daß ihr ein Kaiserschnitt nicht erspart bleiben würde. "Wieder sagte sie: »Ich bin zu dick ... sie wird niemals herauskommen .. .«  Sie erzählte mir auch, daß sie Angst habe, ihre Freiheit zu verlieren: Sie und ihr Mann hatten vor über neun Jahren geheiratet und waren es gewohnt, zu kommen und zu gehen und ihre Mahlzeiten zu sich zu nehmen, wann immer es ihnen paßte. Als Kind hatte sie ständig an ihrer Mutter gehangen, und nun fürchtete sie,daß es ihr mit Giulia genauso ergehen würde. Sie und ihr Mann kannten sich seit Kindesbeinen; er war mit einer ihrer Schwestern zusammen zur... Schule gegangen und praktisch von der ganzen Familie adoptiert worden. Alle Kinder des Dorfes liebten ihre Mutter, die während des Krieges auch zwei kleine Cousins bei sich aufgenommen und adoptiert hatte.  Entwicklung und Bildung 1
Giulia (Piontelli) Während Frau A. mir dies erzählte, wurde ihre Mutter rot vor Stolz und reichte mir noch etwas Kuchen. Ich fühlte mich ebenfalls adoptiert, aber zugleichauch in die Rolle eines Kindes verwiesen. Während all dieser Jahre haben sie sich praktisch nie nach mir selbst, nach meinem Mann, meinen Kindern usw. erkundigt, und jedesmal, wenn ich Frau A. in der Wohnung ihrer Mutter besuchte, hatte ich das angenehme, aber gleichzeitig beunruhigende Gefühl, in längst vergangene Zeiten, ins Kindesalter, zurückversetzt zu werden. Sowohl Frau A. als auch ihre Mutter fanden größtes Gefallen daran, mit mir zu reden, und jeder meiner Besuche gab ihnen Anlaß zu endlosen Erzählungen, die in meinen Ohren wie Verbalorgien klangen.“   (Piontelli 1992/1996, 76) Entwicklung und Bildung 1
Erikson, Erik H. (1959/1966): Identität und Lebenszyklus. – Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1981
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Unsere Themen im Thema „Giulia“: Kommunikation : Giulia, die Eltern und Piontelli erschaffen und nutzen einen  gemeinsamen Bedeutungsraum Entwicklung und Bildung 1 Interaktion : Giulia, die Eltern und Piontelli stellen einander g egenseitig  ihre Strukturen und  Handlungen zur Verfügung Psychische Struktur : Giulia, die Eltern und Piontelli weisen  überdauernde Ordnungen  innerer Wahr-nehmungs-, Erlebens- und Handlungstendenzen auf Entwicklungspädagogik : Piontelli betreibt Bildungsförderung unter dem speziellen Aspekt  zeitlicher  Voraussetzungen und Bedingungen von Bildung

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  • 2. Entwicklung und Bildung 1 Universität Wien – Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft Institut für Bildungswissenschaft Univ.Doz. Dr. Thomas Stephenson 1. Erinnerung und Brückenschlag: Auf welchen Ebenen und in welchen Modalitäten bestehen und wie wirken „emotionale Kontakte“ zwischen Kind und Umwelt (primäre Bezugspersonen)
  • 3. Hauptfrage des ersten Teils: Wie werden frühe psychische Strukturen durch Kommunikation und Interaktion gebildet und inwiefern zeichnen sich darin erste Bildungsprozesse ab? Entwicklung und Bildung 1 Bildung : (Ressourcen für das) In-Sprache-Heben des Gewahrwerdens
  • 4. Giulia (Piontelli) „ Während ich Giulia beobachtete, hatte ich den Eindruck, daß sie ein ruhiger Typ ist und sich in ihrer intra-uterinen Welt wohl fühlt, aber irgendwie scheint sie auch ein sehr sinnliches Wesen zu sein - sie läßt sich einlullen, schaukelt sich selbst in den Schlaf, hält die Hände zwischen den Beinen; vor allem die ständige und offenbar gierige Aktivität der Zunge wirkt sehr sinnlich „ (Piontelli 1992/1996, 67) Entwicklung und Bildung 1
  • 5. Giulia (Piontelli) „ Zwischen dieser Sitzung und der Geburt habe ich Frau A. ein Mal im Hause ihrer Mutter besucht, um die Vereinbarungen für die Beobachtungen nach der Geburt mit ihr abzustimmen. Ihr Mann war einige Tage verreist, und Frau A. wohnte in dieser Zeit bei ihren Eltern. An jenem Tag trug sie frischgebügelte und makellos saubere Kleidung und sagte, sie werde von ihrer Mutter umsorgt wie ein Baby. »Wenn ich bei meiner Mutter bin, rühre ich den ganzen Tag keinen Finger ... Ich lasse mich von ihr hegen und pflegen und füttern wie ein Baby . ..« Die Mahlzeiten, die sie von ihrer Mutter serviert bekam, hatten ohne Zweifel Spuren hinterlassen, denn Frau A. wog nun über 100 kg. Dann stellte sie mich ihrer Mutter vor, einer großen, kräftigen Frau mit freundlichem, warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie bot mir sofort Kaffee und Kuchen an, und wir setzten uns alle gemeinsam an den Tisch. Frau A. und ihre Mutter redeten ununterbrochen.“ Entwicklung und Bildung 1
  • 6. Giulia (Piontelli) „ Frau A. klagte, daß sie sehr müde sei und nachts nicht schlafen könne. Sie hatte große Angst vor der Geburt, da sie fürchtete, daß ihr ein Kaiserschnitt nicht erspart bleiben würde. "Wieder sagte sie: »Ich bin zu dick ... sie wird niemals herauskommen .. .« Sie erzählte mir auch, daß sie Angst habe, ihre Freiheit zu verlieren: Sie und ihr Mann hatten vor über neun Jahren geheiratet und waren es gewohnt, zu kommen und zu gehen und ihre Mahlzeiten zu sich zu nehmen, wann immer es ihnen paßte. Als Kind hatte sie ständig an ihrer Mutter gehangen, und nun fürchtete sie,daß es ihr mit Giulia genauso ergehen würde. Sie und ihr Mann kannten sich seit Kindesbeinen; er war mit einer ihrer Schwestern zusammen zur... Schule gegangen und praktisch von der ganzen Familie adoptiert worden. Alle Kinder des Dorfes liebten ihre Mutter, die während des Krieges auch zwei kleine Cousins bei sich aufgenommen und adoptiert hatte. Entwicklung und Bildung 1
  • 7. Giulia (Piontelli) Während Frau A. mir dies erzählte, wurde ihre Mutter rot vor Stolz und reichte mir noch etwas Kuchen. Ich fühlte mich ebenfalls adoptiert, aber zugleichauch in die Rolle eines Kindes verwiesen. Während all dieser Jahre haben sie sich praktisch nie nach mir selbst, nach meinem Mann, meinen Kindern usw. erkundigt, und jedesmal, wenn ich Frau A. in der Wohnung ihrer Mutter besuchte, hatte ich das angenehme, aber gleichzeitig beunruhigende Gefühl, in längst vergangene Zeiten, ins Kindesalter, zurückversetzt zu werden. Sowohl Frau A. als auch ihre Mutter fanden größtes Gefallen daran, mit mir zu reden, und jeder meiner Besuche gab ihnen Anlaß zu endlosen Erzählungen, die in meinen Ohren wie Verbalorgien klangen.“ (Piontelli 1992/1996, 76) Entwicklung und Bildung 1
  • 8. Erikson, Erik H. (1959/1966): Identität und Lebenszyklus. – Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1981
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