1. Proseminar „Copernicanische Wende“ 2 Atomismen
Atomismus und Fernwirkung 2.1 Vorsokratisches Griechenland
Johannes Hielscher, 11. Januar 2012, 2490 Alt-Ionischer Kosmos-Begriff Der Aufbruch vom Mythos zum Logos im
7./6. Jh. in Kleinasien (Thales et al) gilt als gemeinsamer Beginn der abendländi-
schen Tradition von Philosophie und Wissenschaft. Die Natuphilosophen begin-
1 Was heißt „copernicanisch“? nen, sich über die Gründe für Existenz und Vorgänge in der Natur Gedanken zu
machen, statt sie auf Götter zu schieben.
Sie nutzen den Begrif Kosmos κ´σ ος nicht mehr nur für „Ordnung und Schön-
ο
heit einzelner Dinge, sondern auf die Welt im Ganzen“.
Als Antriebs- und Grundstoff für alle Vorgänge, insbesondere Leben, vermuten
sie eine – durchaus stofflich-reale – Sonderrolle eines „Elements“: Thales (Wasser),
Anaximenes (Luft); Anaximander abstrahiert mit dem „Apeiron“ das Weltmedium auf
Spannungsverhältnisse (warm-kalt, trocken-feucht).
Heraklit postuliert das Logos als Grund für Existenz und Ordnung, und nur als
Metapher dafür das Feuer.
Stets bleibt die philosophische Motivation dominierend, einen Grund für die Be-
lebtheit und Ordnung der Welt zu begründen. In der Sichtweise auf die Natur als
realer Gegenstand konkreter Betrachtungen nehmen sie aber viele Gesichtspunk-
te der Naturwissenschaft voraus.
Parmenides löst das Logos aus seiner Rolle als Gerüst des Kosmos und belegt es
mit der Bedeutung des „Logischen“, der Vernunft. Er erklärt totale Abwesenheit
als unvorstellbar, unvernünftig und nicht existent.
Mit seinen Warnungen vor der Täuschbarkeit der Sinne trennt er das Logos von
der unmittelbar erfahrbaren Realität, und bindet – als Wegbereiter des Idealismus
– philosophische Leistungen an die Abstraktion von der Realität, und damit weg
von der Naturphilosophie und -„wissenschaft“
Empedokles und die Vier „klassischen“ Elemente ein Pythagoräer, führt
die Vier Elemente als „Wurzeln“ (mystischen Ursprungs und unveränderlich)ein.
Stoffe unterscheiden sich durch die Verhältnisse, zu denen sie aus diesen Elemen-
ten bestehen, und wandeln sich durch Austausch von Korpuskeln (also Element-
Quanten im weitesten Sinne) ineinander um. Der Wandel des Seins wird also mit
Austauschprozessen begründet.
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2. Bewegungen und Umwandlungen werden durch den mystischen Gehalt (Lie- Auf die Kritik, nicht robust gegenüber Sinnestäuschungen zu sein, und dass
be, Hass) der Korpuskeln, nicht durch Wechselwirkungen zwischen den Teilchen im mechanistischen Atomismus kein Platz für den λ´γος bleibt, erwidern
ο
vermittelt. sie pragmatisch-materialistisch mit einer (Vor)form des modernen Kausalitäts-
Die Zahl Vier entstammt der Zahlenmystik der Pythagoräer, die ihre Harmonie- Gedankens: Selbst wenn alles Wahrnehmbare Schein sein sollte, muss es eine Er-
gesetze überall in der Natur suchten. klärung geben, warum es genau so und nicht anders erscheint.
Trotzdem hat den Demokritschen Atomismus bis ins 19. Jahrhundert der Vor-
Anaxágoras führt die Elementlehre konsequent fort, indem er zum Einen die wurf der Seelenlosigkeit und des Atheismus verfolgt.
Existenz beliebig vieler verschiedener Elemente (kleine Bausteine von verschie-
denster Natur) vorschlägt, andererseits die Stofflichkeit des Seienden von ihrem
Geist νο˜ς trennt, und damit auch von der Notwendigkeit von mystischen Kom-
υ
ponenten zur Erklärung der Existenz und des Verhaltens der Elemente.
Er erschließt den Standort Athen für die griechische Philosophie, und als Dank
wird er verbannt, nachdem er (nur konsequent) der Sonne das Göttliche nimmt
und sie als „glühenden Klumpen“ bezeichnet.
Letztlich ist der Atomismus ein Kuriosum der griechischen Geistesgeschichte
Atomistischer Materialismus Fest mit den Namen der Parmenides-Schüler Leu-
geblieben. Zweitausend Jahre im Schatten von Aristoteles hat sie sich weder von
kipp und Demokrit verbunden, ist dieser eine Synthese aus
Philosophen noch Naturwissenschaftlern wesentlich weiterverfolgen lassen, und
• Parmenides’ Theorie der Rückführbarkeit des Beobachtbaren auf ein höheres war an der Entwicklung des modernen Atombegriffs bestenfalls ideell beteiligt.
Prinzip, Nachhaltiger ist der Erfolg von Demokrits terminologischer Präzision. Er ringt
Wörtern wie κίνεσις (Bewegung, Ortswechsel, aber auch qualitative Veränderung)
• mit der Idee des Anaxagoras, die Welt aus kleinsten Teilchen aufzubauen. eine Bedeutung für weiteres „wissenschaftliches“ Argumentieren ab.
Diese mechanistische Weltsicht erklärt alle Vorgänge durch Wechselwirkungen
real existierender, nicht weiter teilbarer Korpuskeln ( `το ος).
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2.2 Aristoteles: Positionen und Missverständnisse
Eigenschaften und Vorgänge sind aber nicht in der Natur der Atome selbst ko- Zu den gewichtigen Gegnern des Atomismus demokritscher Prägung zählt Aristo-
diert, sondern in deren Anordnung und Bewegung. Sie unterscheiden sich nur teles. Er lehnt einerseits die Diskretisierung des Raums in Bereiche endlicher Grö-
quantitativ in Größe, Menge und Packung. ße ab, da vom „intuitiven“ Natuverständnis alle Stoffe wie Kontinua wirken. Die
Nur auf Grund ihrer geringen Größe können Atome nicht wahrgenommen wer- Punktteilchen des Anaxágoras seien aber aus Argumentationen mit Unendlichkeit
den. Mit diesem Skalenproblem entziehen Leukipp und Demokrit ihre Theorie der (kein endliches Volumen aus volumenlosen Korpuskeln!) ebenfalls problematisch.
– in Griechenland sowieso unüblichen – experimentellen Überprüfbarkeit. Sie er- Die Zusammengesetztheit aller Stoffe aus den vier „klassischen“ Elementen er-
hält rein spekulativen Charakter, ein beliebter Angriffspunkt der „Gesunder Men- kennt er jedoch voll an, setzt diese aber wiederum an die Pole des Gegensatzpaar-
schenverstand“ und „Beobachtbarkeit“-Argumentierer. Paars heiß-kalt–feucht-trocken. Die Elemente tragen ausgeprägt kontinuierlichen
Dazu ist die Forderung nach der Existenz der Atome in absolut leerem, aber Charakter.
existierendem Raum ein krasser Bruch mit den Ideen ihres Lehrers Parmenides. Veränderungen geschehen als Verwirklichungen von Möglichkeiten, also in ei-
Dieser erklärt die Leere als absurd, jene benötigen die reale Existenz leeren Vo- ne gezielte Richtung. Im Gegensatz zum rein mechanistischen Atomismus ist dies
lumens als Raum, in dem sich die Atome bewegen können. eine teleologische Sicht, die jedoch ohne „kosmische Mächte“ auskommt.
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3. Er betreibt terminologische Grundlagenforschung. So unterscheidet er als ers- 3 Naturforschung in der Neuzeit
ter zwischen Gemengen von Stoffen und ´ , einer Durchmischung der Elemen-
ιξις
te (im heutigen Sinne „chemische Verbindung“), um so die Vielfalt der Stoffe bei 3.1 Empirie
der geringen Anzahl an Elementen zu erklären.
Im Spätmittelalter und der Renaissance setzt zaghaft eine systematische Naturbe-
Mit seinen häufig als naiv-oberflächlich empfundenen Naturerklärungen hat
obachtung ein, und ergänzt die deduktiv-theoretischen Erkenntnisse der Scholas-
Aristoteles, dessen philosophisches Werk sich mit großem Gewicht in die Geistes-
tik.
geschichte des Abendlandes geprägt hat, die weitere Entwicklung der Naturphilo-
Dass die (Himmels-)Mechanik den Befreiungsschlag der physikalischen Diszi-
sophie ausgebremst.
plinen in der frühen Neuzeit anführen kann, ist auch mit darauf zurückzuführen,
Dass im Allgemeinen die Rolle des Aristoteles für die Entwicklung der Natu-
dass deren Skalen für die qualitative Akzeptanz mechanistischer Deutungen un-
wissenschaft als eine schädliche angesehen wird, liegt weniger an ihm, als an
problematisch sind – der Eindruck der himmlischen Kreise als Musterbeispiel von
der unausgewogenen Rezeption im Umfeld zweier Jahrtausende, die kaum die
Gleichläufigkeit hat sich (fälschlicherweise!) fest in das Vokabular antiker und mit-
Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer ergebnisoffenen, „wissenschaft-
telalterlicher Physik gegraben.
lichen“ Wissenschaft liefern konnten.
Francis Bacon: Die induktive Methode Ein wichtiger Impuls für die Entwick-
2.3 Technik, Spätantike, Alchemie
lung aller natuwissenschaftlicher Disziplinen gibt F. Bacon: Er fordert das Experi-
In den handwerklich-pragmatischen Fertigkeiten, z. B. in der Werkstofftechnik, ment als „absichtliche Erfahrung“, um die systematischen Naturgesetze auf Basis
waren bereits die alten Ägypter sehr fortgeschritten. Es kam aber bis in die Neuzeit von Beobachtungen zu erforschen.
nie zu einer Synthese mit den „theoretischen“ Ansätzen der Philosophen. Die unzugänglichen Maßstäbe der Struktur von Materie verhindern jedoch ex-
Mit und nach dem Hellenismus (Stoa, Neuplatoniker, Wiederaufkommen von perimentelle Fortschritte und grundlegende Durchbrüche – in den Zeiten, in de-
Mystik und „Aberglauben“, beginnende tendenziöse Auslegung der klassischen nen die Mechanik, Optik, andere physikalische Disziplinen, und auch die Philoso-
Texte) geraten die Ansätze zu Naturwissenschaften aus dem Blick. phie der Wissenschaften zu erstaunlicher Reife kommen (Descartes, Newton, Huy-
Die Alchemie, die sich ab dem 4. Jahrhundert entwickelt, mischt Gedanken gens etc.).
von Empedokles, Aristoteles (und Interpretatoren) und der spätantiken Philosophie
und Mystik zu einem „esoterischen“ Bild von Substanzen und deren Umwandlun-
3.2 Kontroverse des 19. Jahrhunderts
gen.
Insofern ist sie aber als Vorläufer wirklicher Naturwissenschaft einzuordnen, Indizien für die Existenz von Atomen Im ausgehenden 18. Jhd. revolutioniert
da sie, anders als die Naturphilosophen, erstmals ihr Forschen und Handeln auf bzw. begründet Lavoisier die „Chemie“, indem er mit der exakten, beobachtenden
die Idee stützen, dass die Beschaffenheit von Stoffen von ihrer Zusammensetzung und quantitativen Untersuchung aus ihr eine Wissenschaft (im heutigen Sinne)
herrührt. macht. Er etabliert das moderne Verständnis von Elementen und Verbindungen,
Im Laufe des Mittelalters driftet die Alchemie zusehends in eine kryptische Ge- und ermöglicht eine Systematik, mit der die Chemie innerhalb eines Jahrhunderts
heimlehre ab. Erst mit Paracelsus, einem Zeitgenossen des Copernicus, beginnt eine zu den weit entwickelten physikalischen Disziplinen „aufschließen“ kann.
Versachlichung der Stofflehre. Er führt Vorgänge des Lebens auf chemische Pro- Faraday, Ampère und Avogadro finden Hinweise auf eine reale, konstante Unter-
zesse zurück und begründet damit die Pharmazie. teilung der Materie: Stoffmengen und Atommassen bei Gasen, Elektrizität und an-
Im Wesentlichen stagnierte die Natuphilosophie im Jahrtausend zwischen deren Experimenten stimmen übereinstimmen. Dalton formuliert seine Atomhy-
Spätantike und Renaissance, während die Technologie, Fertigkeiten und Erfah- pothese, nicht mehr spekulativ, sondern basierend auf den Gesetz der multiplen
rungen sich kontinuierlich(er) entwickelten. Proportionen bei chemischen Reaktionen.
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4. Maxwell und Boltzmann entwickeln die kinetische Gastheorie: Aus der mikro- Sinne, sondern benötigt nur eine stapelbare „Überstruktur“ des Wassers.
skopischen Mechanik von Gas-Atomen lassen sich die Gesetze, mit denen sich Es nimmt jedoch das (sich als korrekt herausstellende)
Gase beschreiben lassen, direkt ableiten. Verständnis vom Kristallaufbau um 200 Jahre vorweg.
Ab dem späten 19. Jahrhundert bedient sich gerade die organische Chemie un- Der Lichtwellen-Verfechter Huygens baut im glei-
bedarft einer Atomtheorie, die zentral um Geometrie der Anordnung und Symme- chen Bild Kristalle aus verformten Kugeln auf, um Er-
trie aufgebaut ist. Ein atomistischer Aufbau der Festkörper wird plausibel. klärungen für die Form von Bruchflächen und die Dop-
pelbrechung zu suchen.
Denken in Kontinua Insbesondere auf Grund der Erfolge der Wellenlehre, René-Just Haüy begründet Ende des 18. Jahrhunders
scheint ein Kontinuums-Ansatz dennoch der Mehrzahl der Wissenschaftler ein die moderne Kristallographie, indem er Kristalle aus
vernünftiger (bzw. hinreichend konservativer) Ansatz zu sein, Stofflichkeit zu be- regelmäßigen Polyedern zusammensetzt. Damit kann er geometrisch erklären,
schreiben. warum alle Kristallflächen in festem Winkel zueinander stehen.
Spätestens die Elektromagnetischen Wellen (Maxwell, Hertz) lassen den Streit
um die Natur des Lichts zu Ungunsten der Atomtheorie entschieden aussehen. Durchbruch An der Schwelle zum 20. Jahrhundert Experimentiertechnik, klas-
Hier wirft sich jedoch die Frage des Fortpflanzungsmediums auf – die Äther- sische Physik und Chemie bereits weit entwickelt, die Frage nach der eigentlichen
Hypothesen erblühen. Natur der Stoffe aber weiterhin offen, auch wenn immer mehr Befunde für Atome
Dem Unwohlsein in Bezug auf die pro-atomistischen Indizien entgegnen sie, sprechen.
dass die „Atome“ lediglich als Modell zu verstehen seien, die ein leichteres Ver- Aus dem Primat der Struktur, das die Praxis der organischen Chemie mit der
ständnis ermöglichen, aber nicht real seien (vgl. Epizykel). Haüyschen Kristallographie verbindet, entstehen konkrete Modelle der Atoman-
ordnung im Kristall.
Dann äußert Max von Laue 1913 die Überlegung, die Wellennatur der Röntgen-
3.3 Im Detail: Ideengeschichte des Kristalls strahlen an Hand der Bestrahlung von Kristallen nachzuweisen – und beweist da-
Schon seit jeher müssen den Menschen die Regelmäßigkeit und Symmetrie der mit den periodischen Aufbau der Kristalle aus kleinsten Teilchen. Mit der Rönt-
Struktur von Kristallen (Eis/Schneeflocken, Edelsteine, Mineralien) aufgefallen genbeugung steht erstmals ein Verfahren zur Verfügung, das in seiner Auflösung
sein. in atomare Skalen vorstoßen kann.
Den Bergkristall (κρ´σταλλος = Eis) sehen die Griechen als permanent gefrore-
υ In großem Tempo werden auch die kompliziertesten Strukturen experimentell
nes Wasser an. In der wenig systematischen antiken Stofflehre werden als „Kristal- nachweisbar (DNA, 1953). Kristalle haben nicht nur als Objekt der Forschung,
le“ aber wahllos auch z. B. Glas gezählt. sondern auch als Hilfsmittel eine enorme Bedeutung erlangt. Der Welle-Teilchen-
Es erscheint erstaunlich, dass gerade der Existenz kristalliner Materie, wo Auf- Dualismus von Licht, aber auch Atomen selbst, ist mit Kristallen beobachtbar ge-
bau und Form so nahe wie sonst nirgends beieinander liegen, in früher Zeit so worden.
wenig Beachtung bei geschenkt wurde.
Ansätze, Theorien, Hypothesen Als Nebenprodukt der Fragestellung, wie Beugung von Elektronen an einem Kristall (LEED).
Kanonenkugeln am sinnvollsten zu schlichten sind, erkennt Kepler sechszäh- Mit dieser Technik wurde die Wellennatur des
lige Symmetrien in der „dichtesten“ Packung. Daraufhin entwickelt er die Elektrons nachgewiesen.
Theorie, dass Schneeflocken aus kleinen Kugeln regelmäßig zusammenge-
setzt sind. Dies ist kein „Atomismus“ im demokritschen oder alchemischen
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