"Ki" ist in Ostasien ein Konzept, um "universelle Energie" zu beschreiben. Es spielt in etlichen Gesundheitssystemen und Kampfkünsten eine wichtige Rolle. In diesem Artikel (und nicht so sehr Vortrag) entwickle ich eine Erklärung dafür, wie diese Vorstellung sich entwickeln konnte und wie die damit beschriebenen Phänomene aus einer westlich-wissenschaftlichen Sicht heraus interpretiert werden können. Der Artikel ist 2013 im Aikido Journal 76DE Seite 26ff erschienen.
1. mit
Prof. Thomas Christaller
Was ist,,Ki"?
._.,*
Wenn ein neuer Aikido-Kurs beginnt,
gebe ich zuerst eine kleine Vorführung
ohne Worte, gefolgt von eln paar erläuternden Sätzen zur Geschichte des Aikido und auch einer Erklärung des Begriffs ,,Aikldo" selber. Dabei orientiere
ich mich an den Kanji, mit denen ,,Aikido" dargesteilt wird. Die erste Silbe,,Ai"
bedeutet,,Harmonie" oder,,Liebe" wie
in einer Familie, die unter einem Dach
lebt, entsprechend dem ersten Kanji,
das ein Haus symbolisiert. Die zweiSilbe ,,K'" steht fjr Lebensenerg e,
symbolisiert durch das Reisfeld und
den Wasserdampf im zweiten Kanjl.
Und schließlich ,,Do" bedeutet den Le-
ie
von, dass ,,Ki" auch das (fast) Vakuum
lm Weltall sel. Offensichtlich können
Aikido-Übende ein Sensorium entwickeln, um nicht nur die Anwesenheit
von
,,Ki"
zu spüren sondern auch seine
so unterschiedliche Bezeichnungen
hatten wie ,,Gedanke", ,,Gefüh|", ,,Wahr
nehmung",,,Gedöchtnis',,,Sprache",
,,Handeln",,,Gewissen",,,Problemlösen",
,,Planen" und vieles mehr.
Stärke oder lntensität. Einige sprechen
auch von,,gutem" und,,schlechtem Ki'i
Sie können aber auch ,,Ki" einsetzen, es
mlt dem ,,Ki" anderer Menschen zusammen bringen und im Falle einer
Aikido-Technik damlt einen Angriff
umlenken. Wieso ist ,,Ki" etwas lmmaterielles und man kann es gleichzeitig
körperlich spüren? Und wieso könn-on
wir es durch Körperübungen lrainie-
All diesen oft nur dem Menschen
zugeschrieben Fähigkeiten basieren
auf elektrochemischen P'ozessen
in
diesem ung aublich komplexen Neuronennetz, dem Gehirn. Vieles, was
früher unerklärlich war, ließ sich zunehmend mit neuronalen Modellen
erklären, wie z.B. die Gedächtnisfählg-
keit oder der Spracherwerb. Fur die
Kampfkünste ist vielleicht am interes-
bensweg, symbolisiert cjurch den stilisierten Fluss llnks in dem dritten Kanji.
ren, ,Ki" auf zu nehmen und ab zu
geben? Worin bestehen die Demonstrationen von ,,Ki"?
Soweir :ch rve ß, g or es reine spezi-
Zu den Zeiten, in denen das Konzept
ellen Übungen für ,,Ai" noch für ,,Do'
im Aikido. Aber es gibt viele, die als Kl-
,,Ki"
Ostasien entwickelt wurde,
wusste rnan dort und in Europa wenig
den. Ganz holzschnittartig scheint es
Übungen bezeichnet werden. Und es
über das menschliche Gehlrn, seine
(Augen, Ohren, Geschmack, Tastsinn
qibt nicht rr.,enige lehrer oder Lehre-
Arbeitsweise, Organisation und Aufgabenverterlung. Aristoteles glaubte,
und die
rinnen, die rvährend ihres Unterrichtes
in
dass das Gehirn ein Kühlungsorgan
Anweisungen geben wie ,,Lass Dein
Kl fließen" oder,,Du musst Dein Ki mit
für erhitztes Blut sei, der
dem des anderen zusammen bringen".
aber auch die
Es
gab und gibt Diskussionen sogar
Auseinandersetzungen innerhalb der
Aikido-Familie, ob in einem bestimmten,,Stil" oder lnterpretation des Aikido
Verstand
unsterbliche Seele,
wurden in verschiedensten Organen
vermutet. Erst in der europäischen
Aufklärung wurden die ersten ernst
zu nehmenden Beobachtungen und
santesten, wie in den Neurowissenschaften Wahrnehmung, lnterpretation derselben und daraus abgeleitete
(Körper-)Handlungen gesehen werso zu sein, dass unsere Sinnesorgane
,,Eigenwahrnehmung" (wo
beflnden sich meine Glieder, wie
ist meine Position im Raum. Dies ist
die sogenannte Propriozeptorik) die
Welt weder vollständig noch beliebig
genau wahrnehmen können. .Ja, es
geht sogar so weit, dass das Gehirn
zu jedem Zeltpunkt eine Erwartungs-
haltung hat, was das jeweilige Sinnesorgan als nächstes wahrnehmen wird.
Damit wird die Verarbeitu nsgeschwin-
von der in den ostasiatischen Kulturen
Experimente gemacht, aus denen die
heutigen Neurowissenschaften entstanden sind. Und selbst dann dauerte es noch viele Jahrzehnte bis die
ausgegangen wird, sie sei ,,universell",
Erkenntnis dämmerte, dass das Gehirn
wie die vielfältigen
befinde sich in allen belebten und
unbelebten Subjekten und Objekten
im Universum. Ja, einige sprechen da-
ein wunderbar komplexes Organ ist,
ln dem die unglaublichsten Prozesse
ablaufen, die in der Vergangenheit
gen zeigen und von denen Zauberer,
Betrüger und Kampfkünstler guten
,,Ki" eine
wichtige Rolle spielt oder nicht,
Aber was ist dieses,,Ki'i diese,,Energie",
AJ-i,r
'' I
N'76DE
Seire 25
digkeit dramatisch gesteigert, aber
das System wird auch fehleranfällig
Gebrauch machen.
Sinnestäuschun-
2. serieV_
Effizienz
reihe
wir
schmücken irn Laufe der lahre L{,nsere
Gedächtnisinhalte abds. Es werden immer
,, b
ess
ere" G eschichten,
Es sieht auch so aus, dass wir erst han_
deln bzw. uns bewegen, die dadurch
erzeugten Veränderungen in der
Wahrnehmung der Welt feststellen
und dann erst nachdenken und unse_
re Schlüsse daraus zu ziehen. Meistens
in der Form, dass wir eine angefange-
ne Bewegung stetig korrigieren und
an sich verändernde
Umweltbedin_
gungen bzw an unsere Erwartungen
davon anpassen. Ganz verkürzt lässt
sich sagen, dass wir sehen, hören und
fühlen, was wir wollen. Die realen Ereignisse in der Umwelt reiten sozu_
sagen auf unseren Vorurteilen und
Erwartungen, die wir uns nur zu gerne
bestätigen lassen.
dem nur die Erinnerungen an die
Ereignisse gespeichert werden, die
wir in dem Augenblick ftir
interes-
sant halten. Und jedes Mal, wenn wir
uns dann daran erinnern, verändern
wir dabei die Gedächtnisinhalte. Der
Fachbegriff lautet hier: Konfabulieren
bzw.
konfa-
bulieren (von lat. fabula ,Fabel, Geschichte, Mär
chen") versteht man in der psychopathologie
die
Produktjon objektiv falscher Aussagen oder Er
zählungen, die in verschjedenen Formen auftritt.
Einzelne beruhen auf falschen Wahrnehmungen,
andere auf Fehlfunktionen des Gedächtnisses, z.
B. wenn jemand mehr lnformationen
aus seinem
Gedächtnis abzurufen versucht als tatsächlich
gespeichert sind §eg. provozjerte Konfabula_
tionen)]. Wir schmücken im Laufe der
Jahre unsere Gedächtnisinhalte
Es
kleine Tricks nachhaltig manipu[eren
lassen.
aus.
werden immer,,bessere,, Geschich-
tex [Anm. d. Red.: aus Wikipedia _ oer
Moto(r)cortex (von lateinisch motor,Beweger,,;
von lateinisch cortex ,Rinde,,), auch motorische
bzw. somatomotorische Rinde, ist ein histologisch abgrenzbarer Bereich der Großhirnrinde
Es gibt ein Sinnesorgan, dass sich
so nicht täuschen lässt und dass ist
der Geruch. Der spielt aber bei den
Kampfkünsten keine Rolle, wenn auch
Kochen viel mit Kampfkunst zu tun
hat. Das ist aber ein eigenes Thema.
(Neocortex) und das funktionelle
System, von
dem aus willkürliche gewegungen gesteuert
und aus einfachen Bewegungsmustern
kom_
piexe Abfolgen zusammengestellt
werden.
bildet die übergeordnete Steuereinheit
Er
des
Pyramtdalen Sysrems und liegr in den hlnteren
(posterioren) Zonen des Frontallappens.]
ab
Wichtig erscheint mir bezogen auf
Körperbewegungen noch folgendes:
z.B. Osensei
Wenn wir eine uns unbekannte Bewe_
gung erlernen, dann wissen wir, dass
ger Neurone als ein Anfänger, um aus
bestimmten kleinsten Veränderungen
wir die nur langsam und oft genug
Auch unser Gedächtnis stellt sich als
ein sehr subjektives Sieb heraus, in
[Anm,d.Red.:Unter Konfabulation
ten. Wie viele Richter dies leidvoll er_
fahren, schlägt dies insbesondere bei
Zeugenaussagen durch, die sich durch
auch nur eckig ausführen können. Die
traditionelle Unterrichtsmethode
ver_
mittelt die,,richtige,, Bewegung durch
vormachen und die Schüler imitieren
diese so gut sie können und durch
endlose Wiederholung ein und
der_
selben Bewegungsabläufe.
Neuronal sieht es so aus, dass bei
Beginn des Lernprozesses sehr viele
Neurone aus ganz unterschiedlichen
Hirnbereichen beteiligt werden. Des_
halb können Anfänger Bewegungen
weder schnell noch flüssig durchfüh_
ren. Die Verarbeitungswege sind zu
lang und zu viele Neurone funken
lm Laufe des Lernpro_
dazwischen.
zesses werden dann immer wenlger
Neurone benötigt, um die Bewegung
zu steuern. Am Ende mag sogar nur
ein einzelnes Neuron ausreichen um
z.B. Irimi-tenkan als Bewegungssteue_
rungsmuster im prämotorischen
AJ
4/2013 N.76DE
Seire 27
Kor_
zu legen. Ein Bewegungsexperte wie
benötigte sehr viel weni_
in seiner Wahrnehmung komplexe Be-
wegungen kompromisslos, ohne zu
zögern, in unglaublicher präzision und
Vorhersage dessen, wie sich der Ande_
re nur bewegen kann, zu initiieren.
Ein solcher Bewegungsexperte
be_
nötigt also in einer Situation, die An_
fänger oder Unwissende völlig über_
fordern würde, nur einen winzigen
Bruchteil seines Gehirns, um eine sol_
che Situation zu meistern. Der Anfän_
ger dagegen ist (und wird dann auch)
überwältigt durch die Menge an nicht
einzuordnenden
Sinneseindrücken,
der Unfähigkeit, die passenden Bewe_
gungsmuster zu triggern
[Anm.d.Red.:
Schlüsselreize,
die einen Flashback auslö_
senl, hilflos ausgeliefert. Der Experte
dagegen hatjede Menge Gehirnkapazität frei, die fur die Bewegungssteue_
rung nicht benötiöt wird. Freie Gehirn_
kapazität bedeutet nicht, dass dann
sich die Neurone ,,ausruhen,, oder
_r,1
3. mrt
/r,r G esp rä c hs
,&
.+::
,,abschalten".
Anspan
sich um
rientierung,
drin enthalten
sind. Für
eine solche
t eine korrekte,
ngen
hlich ein
wird der
irrelevant, ob
sehr fest umklammere,
ausfüh
zu greifen.
ich
gungen abgelenkt
selber den Unterarm ei
Raumo-
eine oder andere schon
haben: Damit ist oft
des
ich nicht mehr so gut,
dann bewegt. Das
den
nd,
wir im Aikido
bunden, dass die
prn,
Zeitlupe sta
hann nicht dem Reflex
was als
fest zu zufassen.
Bewegu
eine solche
A
dies
, wie dies
bei Compu
benutzt
gen und
physikalische
objektive,
z.B.
in Warcraft
t
ist nul
dass
dem Gehirn
es ganz leicht,
als Ganzes
Bewegung
sich innen
ergener
muss und ob
es relevante
man zur
befreien. Und
gibt, die
htigen
kt, muss
anfänglich gar n
dass die Situation zu
ten sich verändeft und am
mehr verhindern kann,
5o, und
Konzept ,,Ki'i
haben ein Gedrückt sich dies
gefangene Bewegung immerzu Ende
durch, egal, ob Du zwischendurch
bemerkst, dass sie fehlerhaft ist. Aus
Wenn es
neuronaler Sicht ist es eben wichtiger,
unsere Sinnesorgane am besten arbeiten. Dazu gehört z.B. auch ein entspanntes Gesicht, ein weicher diffuser
Blick, ein ungerichtetes Hören, usw.
die Anzahl der beteiligten Neurone so
schnell wie möglich drastisch zu reduzieren und erst im zweiten Schritt,
die richtigen unnötigen Neurone aus
zu blenden. Deshalb kann man
ber beim Trainieren feststellen,
sel-
dass
ein Bewegungsablauf nie endgültig
gelernt wird, sondern es immer noch
Luft nach oben gibt, d.h. Verbesserungen bzw. Veränderungen sind immer
und lebenslang möglich.
Meine elgene Erfahrung und meine
Beobachtung
bei anderen
Kampf-
besser ganz natürlich
geregt zu bewegen, dann
5a-
kÖnnen
Und dann kann unser Gehirn durch
Selbstbeobachtung genau die Muster
erkennen, die charakteristisch slnd für
eine gelungene Bewegung! lm Auffinden von solchen Mustern ist unser
Gehirn von Natur aus hervorragend
geschaffen. Diese Muster beinhalten
nun nicht einfach Bilder, Tonsequenzen, etc. sondern die Gesamtheit, in
denen alle relevanten Sinneseindrücke, Gedächtnisinhalte, emotionalen
künstlern ist nun, dass die eigenen 5in-
Bewertungen,
nesorgane besonders dann sehr sen-
und die Eigenwahrnehmung
AJ
Muskelsteuerungen
!i/)li'ii
N' 76DE
Seite 28
über
Bewegung.
Wenn wir die Bewegungen unserer
großen Vorbilder im Aikido anschauen,
dann beurteilen wir diese in den allermeisten Fällen als ,,schöne Bewegungen". Nicht einfach nur,,effizlent' oder
,effektiv' oder,,stark". Wir sehen die Bewegung und sind emotional berührt.
Meine Hypothese ist, dass ,,Ki" eine
Abkürzung ist für diesen sehr komplexen Prozess und die sehr komplexe
eigene, subjektive interne Erfahrung
von schönen Bewegungen. ,,Spüre
das Ki des Anderen!' heißt nichts anderes als, verhalte, bewege Dich so
entspannt und natürlich wie möglich,
um aus den kleinsten Andeutungen
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