Was passiert nach der Digitalisierung? Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Digitalisierung physischer und der Physikalisierung digitaler Produkte: Beyond digital, post digital, das Internet der Dinge, das Ende des mooreschen Gesetzes und die Maker Kultur.
Das Zeitalter der Physikaliserung (NewBusiness Magazin)
1. new business Nr. 35 • 29.08.16 www.new-business.de
16 Kommunikation
Post Digital
Das Zeitalter der Physikalisierung
Das Internet of Things lässt die Grenzen des Bildschirms hinter sich und begibt sich in die physische
Realität. Das physische Erlebnis wird zum Ausgangspunkt für Innovationen. Auf diesem Terrain versuchen
sich Internetriesen wie Google – zum Teil ohne Glück, wie das Beispiel mit Boston-Laufroboter zeigt.
Von: Sebastian Brunner, Strategy & Space
Die Digitalisierung dominiert derzeit das Denken und
Handeln der Konzernbosse. Sie wird möglicherweise bald
von einem neuen Paradigma abgelöst, das als Physikali-
sierung der digitalen Realität beschrieben werden kann.
Das Internet of Things (IoT) lässt die Grenzen des Bild-
schirms hinter sich und begibt sich in die physische Rea-
lität. Damit wird in Zukunft das menschliche Erlebnis im
physischen Raum zum Ausgangspunkt für Innovationen.
Während das IoT einen Zustand beschreibt, bezeichnen
die Physikalisierung und die Digitalisierung den Prozess
hin zu diesem Zustand. Die zwei Konzepte stehen sich
diametral gegenüber. Während die Akteure der Digitali-
sierung als Physical Natives und Digital Immigrants noch
den Schritt in ein virtuelles Zeitalter machen müssen,
haben die Akteure der Physikalisierung als Digtial Nati-
ves und Physical Immmigrants die physische Wirtschaft
noch gar nicht erlebt und müssen sich ihre Prinzipien erst
aneignen. Beide Prozesse haben gemeinsam, dass sie her-
ausfordernd, schmerzhaft und riskant sind.
'Maker'-Subkultur nutzt einfache Technik
Der MIT-Professor Nicolas Negroponte hat in seinem
berühmten 'Wired Magazine'-Artikel 'Beyond Digital'
vorweggenommen, dass die digitale Technologie bald als
eine banale, selbstverständliche Grundvoraussetzung des
Lebens wahrgenommen wird. Computer werden a) lang-
weilig sein und b) in Dingen verschwinden, die eigentlich
Sebastian Brunner ist freiberuflicher Markenexperte in Berlin,
der Strategien für Erlebnisse im physischen und digitalen
Raum unter dem Motto 'Strategy & Space' entwickelt. Der Di-
plom-Sozialwissenschaftler blickt auf zehn Jahre Erfahrung in
Agenturen zurück, u.a. bei Brand Union und Triad (jeweils in
Berlin) sowie Grey und Uniplan. Er entwickelte Konzepte u.a.
für Mercedes-Benz, das FIFA World Football Museum in Zürich
und das Fußballmuseum des DFB in Dortmund
Foto:SebastianBrunner,Strategy&Space
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Kommunikation
etwas anderes sind: Intelligente Textilien, autonome Fahr-
zeuge, smarte Türgriffe. Die eigentliche Veränderung
wird nicht in der digitalen Infrastruktur und Wirtschaft
liegen, sondern in einer komplett neuen Lebensweise. Der
Begriff des digitalen Zeitalters wird einmal so ignorant in
Bezug auf seine Implikationen klingen wie jener des 'pfer-
delosen Wagens'.
Der Werbe-Stratege Russel Davies führte dafür den Be-
griff Post Digital ein. Er ging davon aus, dass es in Zukunft
'Bildschirme' sein werden, die langweilig sind. Dinge je-
doch, die in der realen Welt stattfinden und Spaß machen,
werden in Zukunft als Werbe-Formate genutzt. Der Begriff
Post Digital provozierte häufig Kopfschütteln oder Spott.
Schließlich sei man doch gerade erst am Anfang der Digita-
lisierung. Doch Davies sollte Recht behalten. Im Jahr 2012
wurde Post Digital zum Motto der Next-Konferenz.
Davies beobachtete, dass immer mehr Mitglieder der
Tech-Szene mit physischen Gegenständen experimen-
tierten statt mit Bildschirmen. Was da entstand, war sehr
verspielt, improvisiert und ähnlich hässlich wie die ers-
ten Websites, die von den Nerds der vorhergehenden
Generation erstellt wurden. Beispielsweise ein Roboter,
der Luftblasen erzeugt, wenn sein Name auf Twitter auf-
taucht.
Diese Angehörigen der 'Maker'-Subkultur haben sich
zum Ziel gesetzt, Probleme mit Hilfe einfacher und fast
kostenfreier technischer Mittel zu lösen. Sie nutzen bei-
spielweise 3D-Drucker und Open-Source-Hardware, um
Solaranlagen oder einfach nur spielerische Gadgets her-
zustellen. Von der 'Maker'-Bewegung wird erwartet, dass
sie einen ähnlichen Innovationsschub hervorbringt wie
das Internet in den 1990er Jahren.
Physische Dinge als Belohnung für Daten
Im Zeitalter der Digitalisierung sind es relevante Inhal-
te, die auf Bildschirmen an den Nutzer ausgespielt wer-
den. Im Gegenzug stellen diese ihre Daten zur Verfügung
und akzeptieren Werbeunterbrechungen. Im Zeitalter
der Physikalisierung werden Usern nützliche Dinge und
Services im physischen Raum zur Verfügung gestellt als
Gegenleistung für Daten und Werbung. So entwickelte
Pernot Ricard mit seiner Project-Gutenberg-Initiative eine
Art smartes Bücherregal für Spirituosen. Verschiedene
Pernot Ricard-Sorten sind in aneinandergereihte Behälter
abgefüllt, die an Bücher erinnern und die mit Sensoren
ausgestattet sind. Über das System können automatisch
Produkte nachbestellt, Cocktailrezepte vorgeschlagen und
– natürlich – personalisierte Angebote gemacht werden.
Die Kosmetikprodukte des Tech-Startups Feeligreen
wurden von vornherein aus einer IoT-Denkweise heraus
entwickelt. Mittels technischer Anwendungen wie LED-
Licht in Kombination mit der richtigen Gesichtscreme
werden Falten bekämpft. Das Unternehmen sammelt Nut-
zerdaten und gibt auf deren Basis personalisierte Kosme-
tiktipps. Zugleich werden die Daten an Kosmetikherstel-
ler weitergegeben, welche diese für die Nutzerforschung
und zur Anpassung von Marketingstrategien verwenden.
Mehrwert verdoppelt sich alle zwei Jahre
Auf den Anbruch des Zeitalters der Physikalisierung weist
auch das absehbare Ende des Moorschen Gesetzes hin. Die
Leistung der Endgeräte wächst bereits heute nur noch in
geringerem Maße. Die eigentliche Rechenarbeit wird zu-
nehmend in den Rechenzentren der Cloud verschwinden.
Statt Technologie und Geschwindigkeit wird in Zukunft
der Erlebniswert für den Menschen im Mittelpunkt stehen.
Shekar Borkar, Head of Advanced Microprocessor Re-
search bei Intel, ist der Meinung, dass sich in Zukunft
nicht die Transistoren pro Chip, sondern der Mehrwert
für den Kunden alle zwei Jahre verdoppeln wird. Der
Entwicklungsprozess wird sich in Zukunft also umkeh-
ren. Die Frage wird sein: Welche Anwendungen und
Geräte möchten die Menschen haben und wie kann man
einen Chip herstellen, der diese Bedürfnisse befriedigt?
Der chinesische Hardware-Hacker Andrew Hu-
ang glaubt, dass das Ende des Moorschen Gesetzes der
'Maker'-Kultur zum Durchbruch verhelfen wird. Es wird
entweder darauf ankommen, dass ein Gerät gut aussieht,
nutzerfreundlich ist oder es ein günstiges Preis-Leistungs-
Verhältnis bietet. Es wird einerseits eine Handwerkskul-
tur geben, welche auf schönes Design und hochwertige
Verarbeitung achtet. Laptops werden dann als kunstfer-
tige Erbstücke behandelt wie heute eine Schweizer Uhr.
Andererseits werden kleine Geschäfte profitieren,
die günstige Open-Hardware herstellen. Einen Vorge-
schmack, wie diese 'Maker'-Zukunft aussehen kann, zeigt
das chinesische Produktpiraterie-Phänomen Shenzhai. Es
handelt sich dabei um kleine Familienunternehmen, wel-
che günstige oder gebrauchte Komponenten massenwei-
se zu neuen Geräten recyceln.
Die Familien geben technische Baupläne kostenfrei un-
tereinander weiter. Tablets, Drohnen, Biotech-Produkte
und Open-Source-Hardware werden von ihnen per Kilo-
Preis angeboten. Die 'Financial Times' schätzte im Jahr
"Dinge, die in der realen Welt stattfinden und Spaß machen,
werden in Zukunft als Werbe-Formate genutzt."
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Pernot Ricard entwickelte mit
seiner Project-Gutenberg-Initia-
tive eine Art smartes Bücher-
regal für Spirituosen
Foto:Screenshot
2010, dass es sich bei 20 Prozent des weltweiten 2G Han-
dy-Marktes um Shenzhai-Produkte handelt.
Orientierung an physischen Erlebnissen
Wenn digitale Geräte so inflationär verbreitet und all-
gegenwärtig sind, wird sich der Fokus des Innovations-
prozesses weg von der Technologie hin zum subjektiven
Erlebnis des Nutzers richten. Phil Libin ist Mitbegründer
der führenden Notiz-Software-Firma Evernote. Er sieht
die eigentliche Zeitenwende für sein Unternehmen in der
Einführung der Apple Watch App von Evernote. In Zu-
kunft seien Menschen von einem digitalen Kraftfeld der
Intelligenz umgeben. Evernote wird auf dem Desktop-
Computer durchschnittlich 40 Minuten genutzt, auf dem
Smartphone sind es nur noch fünf Minuten, auf der Smart
Watch dagegen nur noch fünf Sekunden.
Allerdings blickt man auf das Smartphone ca. 20 Mal
am Tag, auf die Uhr ca. 200 Mal. Das verlangt einen pro-
funden Wandel hin zu einem nutzerzentrierten Design-
Prozess. Statt mit einer Feature-Liste beginnt man mit der
Frage: Was kann ein Mensch in fünf Sekunden machen,
was in fünf Minuten? Statt sich also mit einer bildschirm-
basierten Software auseinanderzusetzen, muss sich das
Entwicklungsteam in Zukunft mit dem subjektiven Nut-
zererlebnis in der physischen Realität auseinandersetzen.
Google, Apple & Co. haben Probleme
Es wird häufig über die Probleme der Digitalisierung ge-
sprochen, mit denen die traditionelle Wirtschaft zu kämp-
fen hat: verkrustete und hierarchische Strukturen, lang-
same Innovationszyklen und das Beharrungsvermögen
analoger Denkmuster. Der Prozess der Physikalisierung
scheint für digitale Konzerne kaum weniger riskant zu
sein. Google, Apple und Facebook haben in der virtuel-
len Realität begonnen und sehen den nächsten Schritt in
einer physikalischen Entsprechung. Sie tun dies oft durch
Zukäufe von Unternehmen, die in der physischen Realität
Erfahrungen gesammelt haben.
Das Kräfteverhältnis steht hier deutlich zugunsten die-
ser digitalen Elefanten. Apple könnte mit seinen Geldre-
serven theoretisch die gesamte deutsche Automobilindus-
trie schlucken. Es wundert daher nicht, dass die deutschen
Hersteller Angst davor haben, bald zu einer Art Foxconn
für Fahrzeuge degradiert zu werden und nur noch Hard-
ware für Apple-Autos zu liefern. Die Daten, die Intelli-
genz, das User Interface und der Kontakt zum Kunden
würde dann komplett über Apple abgewickelt werden.
Doch wie schwierig sich Physikalisierung gestaltet, zeigt
das Beispiel Google. Der Konzern kaufte im Jahr 2014
den Smart Home Device-Hersteller Nest. Dieser hat aber
seither kein einziges erfolgreiches Produkt auf den Markt
gebracht. Ähnlich sieht es mit dem Laufroboter-Unter-
nehmen Boston Dynamics aus, das Google ebenfalls 2014
erwarb. Nun möchte die Google-Holding Alphabet dieses
Unternehmen wegen Erfolglosigkeit wieder abstoßen und
sich stärker auf seine Kernkompetenzen konzentrieren.
Auch der erfolgsverwöhnte Elektroautohersteller Tesla
hat mit massiven Qualitätsproblemen zu kämpfen. Das
Silicon Valley-Startup von Alan Musk möchte einen Elek-
tro SUV auf den Markt bringen. Das Auslieferungsdatum
wurde wegen technischer Probleme bereits mehrfach ver-
schoben.
Deswegen hatte Tesla das österreichische Unternehmen
Hoerbiger verklagt. Der 90 Jahre alte Weltmarktführer für
Ventiltechnologie soll angeblich nicht dazu in der Lage ge-
wesen sein, eine Flügeltürtechnologie zu entwickeln.
Wer am Ende das Zeitalter der Physikalisierung domi-
nieren wird, ist offen. Womöglich wird ein gänzlich neuer
Typus von Unternehmen entstehen, welcher von Physical
Internet Natives geschaffen wird.