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Ab sieben Uhr jeden Morgen brodelt bereits das Leben in dem Gebäude mit den
Kolonnaden (siehe Bild). Es ist so überfüllt, dass man kaum gehen kann, ohne die anderen
an die Füße zu treten. In der Luft rauschen Rufe und Schreie. Unterschiedliche Sorten von
Gemüse liegen auf Verkaufsständen oder auf aufgelegten Säcken am Boden. Die
Farbenpracht lässt einen an die Palette eines Malers denken...
     Das Gebäude ist eigentlich ein großer Kunstgewerbemarkt in meiner Stadt.
Allerdings von sieben bis zehn Uhr täglich, also bevor die Läden aufgemacht werden,
findet auf dessen Innenhof ein Lebensmittelmarkt statt, der eher als Morgenmarkt bekannt
ist. Lebensmittelmärkte sind weit verbreitet und beliebt in ganz China.

     Meine Großmutter kauft hier alles Gemüse und Fleisch für den Haushalt ein.
Manchmal helfe ich ihr beim Tragen. Ich gehe gerne auf den Markt, weil er aus meiner
Sicht Menschen mit dem wichtigsten für die Lebenserhaltung versorgt – Nahrung. Und die
große Auswahl der Waren veranschaulicht, dass wir heute nicht nur satt, sondern auch
gesund und darüber hinaus genußvoll essen können. Außerdem fühlt man sich auf dem
Markt trotz des wirren, lärmenden Treiben bei Weitem nicht so beengt und
zusammengequetscht wie in einem supermarkt. Meine Großmutter bevorzugt auch den
                                                                                            1
Markt, weil sie einfach daran gewöhnt ist, glaube ich. Der erste Supermarkt kam in meine
Stadt im Jahre 1993, während der „normale“ Markt in unendliche Vergangenheit
zurückreicht.

     Um zehn Uhr ist die „Schichtwechsel“ – die Händler packen ihre Stände wieder
zusammen und ziehen weg, Putzfrauen räumen den Müll auf und kehren den Boden,
während die Besitzer der Kunstartikelläden langsam kommen um das Geschäft
aufzumachen. Das Gebäude wird sauberer, leiserer und leerer. Aber man täuscht sich,
wenn man meint, dass das laute Getriebe aufgehört hätte. Nein, es hört nicht auf. Im
Gegenteil, es geht in der Stadt draußen weiter – in verzehnfachter Dimension.




                Lebensmittelmarkt wird bald zum Kunstgewerbemarkt

     Städte in China sind besonders geräuschvoll. Das liegt nicht nur an den zahlreichen
und immer mehr werdenden Autos sowie deren Huplärm. Auch die Werbemethoden der
tausenden   Geschäfte    und   Restaurants    sind   sehr   „öffentlich-akustisch“.   Viele
Bekleidungsgeschäfte lassen Werbesprüche über Lautsprecher gegen die Straße abspielen,
damit jeder Vorübergehende mitbekommt, dass deren Kleidungsstücke am modischsten
sind, die beste Qualität haben und trotzdem das geringste kosten. Dagegen erschallt
                                                                                              2
durchdringende Technomusik vor den Modegeschäften, die auf junge Kunden setzen.
Kaum ist man diesen Nervensägern entkommen, wird man schon von einem oder zwei
jungen Kerlen aufgehalten, die einen zu überreden versuchen, in den Laden oder das
Restaurant ihres Chefs reinzukommen. Selbst wenn man endlich wieder zu Hause ist, heißt
es noch nicht, dass man Ruhe genießen kann. Ich wohne im Stadtzentrum neben einer
Einkaufsstraße und die Werbesprüche aus irgendeinem einem Brillenladen setzt sich ganz
oft erbarmunglos durch meine Fenster und dringt in mein zimmer ein...

     Es ist eigentlich nichts neues in China, dass man zu Hause Rufe von draußen hört.
Als ich noch ein Kind war, gab es viele Handarbeiter, Verkäufer oder andere
Dienstleistende, die keine bestimmte Arbeitsstätte hatten, sondern rufend durch
Wohngegenden wanderten. All ihre Werkzeuge oder Waren hatten sie auf einem Fahrrad
oder einem Dreirad, das sie mit sich schoben. Erst beim Rückruf aus Wohnungsfenstern
hielten sie auf. Dann kam der Kunde auf sie zu, um ihre Dienste wahrzunehmen. Danach
zogen sie weiter... Diese Wanderer, die vom Messerschleifen, Getränkeverkaufen,
Rücknahme der abgebrauchten Gegenstände oder Säuberung der Dunstabzugshauben
lebten, verkündeten ihre Ankunft immer mit Rufen in fremden, unverständlichen und sich
wiederholenden Dialekten. Jedoch verstand ich, was sie sagten, weil ich schon genau
wußte, was sie machten. Sie sind ein Teil meiner Kindheitserinnerung. Die Stadt war leise
damals. Man hörte von zu Hause nichts außer diesen Rufen, drei vier mal täglich. Ich
wünschte am liebstem jedem Ruf zu folgen und diese Menschen zu sehen, obwohl sie
eigentlich immer gleich aussahen: alt, regungslos, mit verknittertem Gesicht, dukel
gekleidet.

     Heute sind sie fast alle verschwunden. Und die Rufe der verbleibenden sind übertönt
von Lärmen, die viel lauter und andauernder sind.

     Chinesische Städte sind viel zu schnell gewachsen, viel schneller, als Chinesen
mitwachsen können. In einem Zeitraum von 30 Jahren hat man geschafft, das Kapital, die
Konsumwaren und die Kosumkultur der Industrieländer in zahlreiche ehemalige
halbmoderne Kleinstädte zu importieren. Aber Chinesen leben heute weiter mit alten
Gewohnheiten aus der Vergangenheit. Jeder ruft und hupt, wann er das zu brauchen meint.
                                                                                            3
Wie sollen sie sich auch so schnell ändern? Bloß nun hat sich alles verzehnfacht: Autos,
Keuzungen, Läden, Restaurants, Kaufkraft...Was sich ergeben hat, ist, dass man in diesem
rauschenden Lärm nichts hört und von niemandem gehört wird.

     Das gleiche passiert mit der Architektur. Täglich schießen zahlose Bauten wie Pilze
aus dem Boden, ganz planlos und ohne Rüchsicht auf die Umgebung. Die Stadt wird
dadurch zum Versuchsfeld für einfallsreiche Bauentwerfer und Kampfarena für
wetteifernde Investoren. In diesem Bauwahn scheint man zu glauben, dass nur das
Extravagante und Dominate eine Chance hat, auszustechen. So sind aus eintönigen,
reservierten Kleinstädten stillose, groteske und bedrückende Großstädte geworden, in
denen Riesen in Paraden mit verzerrten Gesichtern schreiend auf die Menschen
herabschauen.




                       Eingang einer Fachhochschule in Taiyuan




                                                                                           4
Eingang eines Regierungsgebäudes




               Hotel


                                   5
Einkaufszentrum




Restaurant mit Spa


                     6
Kaufmänner-Club




Wiener Secession in China?


                             7
Rücksicht ist das, was den chinesischen Städten fehlt. Das, und nicht ökonomische
Stärke, ist der entscheidende Unterschied zwischen chinesischen und europäischen Städten.
In letzteren ist die Wirtschaft seit über hundert Jahren auf Industrie und Handel aufgebaut,
bei denen alle ökonomischen Branchen unvermeidlich ineinander verkettet sind. Auch die
Gesellschaftsmitglieder können nicht umhin, miteinander zusammenzuarbeiten und, im
Hinblick auf die Sozialproduktion, voneinadner abhängig zu werden. Der Schlüssel für
diese Koordination ist die ausgeprägte Rücksicht.

     Die Situation ist anders in China. Wie ich im letzten Bericht erklärt habe, haben
Industrie und Handel eine wesentlich kürzere Geschichte in China und musste schon als
Säugling hungern, weil sie – verbunden mit „Gier“ und „Betrug“ im ethischen
Bewusstsein der Chinesen – für lange Zeit von der Regierung unterdrückt wurden. Selbst
die in der jüngsten Vergangenheit entstandene Industrie und Handel sind zum größten Teil
entweder Erzeugnisse der Planwirtschaft oder der vetterwirtschaftlichen Begünstigung
(Korruption). In anderen Worten, es gibt bis heute keine Industrie- und Kommerzkultur in
China, weil die Bedingungen dafür nicht gegeben sind. Daher ist Rücksicht auf solch
hoher und komplexer wirtschaftlich-kulturellen Ebene, wie es in der Stadt der Fall ist, den
meisten Chinesen noch fremd. Der Geltungsbereich der Rücksicht der Chinesen
beschränkt sich immer noch an der ersten Stelle in der Familie. Chinesische Intellektuelle
führen dieses Phänomen meistens auf die kleinbäuerliche Wirtschaft Chinas zurück, wo die
Produktionseinheit einzelne blutverwandte Familie ist und jede solche Einheit in
wirtschaftliche Autarkie arbeitet und lebt. Es gibt keine Koexistenz außerhalb der Familie
und die dafür erforderliche Rücksicht ist unbekannt.

     Trotz der märchenhaften Wirtschaftsentwicklung zählt keine einzige chinesische
Stadt zu erstrangigen Weltmetropolen. Meiner Meinung nach liegt das v. a. an der
Atmosphäre der chinesischen Städte, die einen eher an Lebensmittelmarkt als an moderne
Stadt denken lässt.

     In chinesischen Städten hat sich alles geändert bis auf die Märkte. Dort ist nichts
gewachsen, alles ist klein und niedrig geblieben wie vor zwanzig Jahren (außer der
Auswahl und den Preisen): Die Waren liegen auf zusammen gebastelten Holzbrettern oder
                                                                                               8
gar auf aufgelegten Säcken am Boden. Es gibt keine Mülltonnen. Man wirft ungenießbare
Gemüseteile einfach auf den Boden. Kommunikation funktioniert nur durch Rufe und
Schreie. Es ist laut, dicht gedrängt, erdig und unordentlich... Nichts ist organisiert, aber
alles funktioniert – mit dem scharfen Instinkt, das die jahrtausende alte, einzigartige,
hochentwickelte chinesische Agrazivilisation geschaffen hat. Diese Märkte sind lebende
Kulturreliquien, die nicht abgerissen worden sind und nicht abgerissen werden können,
weil sie auf nichts materiellem angewiesen sind. Hingegen haben viele alte Häuser, Tempel
und Gebräuche schlimmeres Schicksal bereits hinter oder noch vor sich...

     Ich gehe gerne auf den Markt, weil nur dort Chinesen zu sehen sind, die die ihnen
auferlegte Maske der Modernisierung absetzen und die eingene Kultur ausleben können.
Nur dort sind sie wirklich ein Bestandteil der Umgebung, der Realität. Und allein dieser
Umstand gibt mir die Lust, Menschengesichter mit Genuß zu betrachten und meine
Gedanken von denen mitnehmen zu lassen...




                                                                                               9
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  • 1. Ab sieben Uhr jeden Morgen brodelt bereits das Leben in dem Gebäude mit den Kolonnaden (siehe Bild). Es ist so überfüllt, dass man kaum gehen kann, ohne die anderen an die Füße zu treten. In der Luft rauschen Rufe und Schreie. Unterschiedliche Sorten von Gemüse liegen auf Verkaufsständen oder auf aufgelegten Säcken am Boden. Die Farbenpracht lässt einen an die Palette eines Malers denken... Das Gebäude ist eigentlich ein großer Kunstgewerbemarkt in meiner Stadt. Allerdings von sieben bis zehn Uhr täglich, also bevor die Läden aufgemacht werden, findet auf dessen Innenhof ein Lebensmittelmarkt statt, der eher als Morgenmarkt bekannt ist. Lebensmittelmärkte sind weit verbreitet und beliebt in ganz China. Meine Großmutter kauft hier alles Gemüse und Fleisch für den Haushalt ein. Manchmal helfe ich ihr beim Tragen. Ich gehe gerne auf den Markt, weil er aus meiner Sicht Menschen mit dem wichtigsten für die Lebenserhaltung versorgt – Nahrung. Und die große Auswahl der Waren veranschaulicht, dass wir heute nicht nur satt, sondern auch gesund und darüber hinaus genußvoll essen können. Außerdem fühlt man sich auf dem Markt trotz des wirren, lärmenden Treiben bei Weitem nicht so beengt und zusammengequetscht wie in einem supermarkt. Meine Großmutter bevorzugt auch den 1
  • 2. Markt, weil sie einfach daran gewöhnt ist, glaube ich. Der erste Supermarkt kam in meine Stadt im Jahre 1993, während der „normale“ Markt in unendliche Vergangenheit zurückreicht. Um zehn Uhr ist die „Schichtwechsel“ – die Händler packen ihre Stände wieder zusammen und ziehen weg, Putzfrauen räumen den Müll auf und kehren den Boden, während die Besitzer der Kunstartikelläden langsam kommen um das Geschäft aufzumachen. Das Gebäude wird sauberer, leiserer und leerer. Aber man täuscht sich, wenn man meint, dass das laute Getriebe aufgehört hätte. Nein, es hört nicht auf. Im Gegenteil, es geht in der Stadt draußen weiter – in verzehnfachter Dimension. Lebensmittelmarkt wird bald zum Kunstgewerbemarkt Städte in China sind besonders geräuschvoll. Das liegt nicht nur an den zahlreichen und immer mehr werdenden Autos sowie deren Huplärm. Auch die Werbemethoden der tausenden Geschäfte und Restaurants sind sehr „öffentlich-akustisch“. Viele Bekleidungsgeschäfte lassen Werbesprüche über Lautsprecher gegen die Straße abspielen, damit jeder Vorübergehende mitbekommt, dass deren Kleidungsstücke am modischsten sind, die beste Qualität haben und trotzdem das geringste kosten. Dagegen erschallt 2
  • 3. durchdringende Technomusik vor den Modegeschäften, die auf junge Kunden setzen. Kaum ist man diesen Nervensägern entkommen, wird man schon von einem oder zwei jungen Kerlen aufgehalten, die einen zu überreden versuchen, in den Laden oder das Restaurant ihres Chefs reinzukommen. Selbst wenn man endlich wieder zu Hause ist, heißt es noch nicht, dass man Ruhe genießen kann. Ich wohne im Stadtzentrum neben einer Einkaufsstraße und die Werbesprüche aus irgendeinem einem Brillenladen setzt sich ganz oft erbarmunglos durch meine Fenster und dringt in mein zimmer ein... Es ist eigentlich nichts neues in China, dass man zu Hause Rufe von draußen hört. Als ich noch ein Kind war, gab es viele Handarbeiter, Verkäufer oder andere Dienstleistende, die keine bestimmte Arbeitsstätte hatten, sondern rufend durch Wohngegenden wanderten. All ihre Werkzeuge oder Waren hatten sie auf einem Fahrrad oder einem Dreirad, das sie mit sich schoben. Erst beim Rückruf aus Wohnungsfenstern hielten sie auf. Dann kam der Kunde auf sie zu, um ihre Dienste wahrzunehmen. Danach zogen sie weiter... Diese Wanderer, die vom Messerschleifen, Getränkeverkaufen, Rücknahme der abgebrauchten Gegenstände oder Säuberung der Dunstabzugshauben lebten, verkündeten ihre Ankunft immer mit Rufen in fremden, unverständlichen und sich wiederholenden Dialekten. Jedoch verstand ich, was sie sagten, weil ich schon genau wußte, was sie machten. Sie sind ein Teil meiner Kindheitserinnerung. Die Stadt war leise damals. Man hörte von zu Hause nichts außer diesen Rufen, drei vier mal täglich. Ich wünschte am liebstem jedem Ruf zu folgen und diese Menschen zu sehen, obwohl sie eigentlich immer gleich aussahen: alt, regungslos, mit verknittertem Gesicht, dukel gekleidet. Heute sind sie fast alle verschwunden. Und die Rufe der verbleibenden sind übertönt von Lärmen, die viel lauter und andauernder sind. Chinesische Städte sind viel zu schnell gewachsen, viel schneller, als Chinesen mitwachsen können. In einem Zeitraum von 30 Jahren hat man geschafft, das Kapital, die Konsumwaren und die Kosumkultur der Industrieländer in zahlreiche ehemalige halbmoderne Kleinstädte zu importieren. Aber Chinesen leben heute weiter mit alten Gewohnheiten aus der Vergangenheit. Jeder ruft und hupt, wann er das zu brauchen meint. 3
  • 4. Wie sollen sie sich auch so schnell ändern? Bloß nun hat sich alles verzehnfacht: Autos, Keuzungen, Läden, Restaurants, Kaufkraft...Was sich ergeben hat, ist, dass man in diesem rauschenden Lärm nichts hört und von niemandem gehört wird. Das gleiche passiert mit der Architektur. Täglich schießen zahlose Bauten wie Pilze aus dem Boden, ganz planlos und ohne Rüchsicht auf die Umgebung. Die Stadt wird dadurch zum Versuchsfeld für einfallsreiche Bauentwerfer und Kampfarena für wetteifernde Investoren. In diesem Bauwahn scheint man zu glauben, dass nur das Extravagante und Dominate eine Chance hat, auszustechen. So sind aus eintönigen, reservierten Kleinstädten stillose, groteske und bedrückende Großstädte geworden, in denen Riesen in Paraden mit verzerrten Gesichtern schreiend auf die Menschen herabschauen. Eingang einer Fachhochschule in Taiyuan 4
  • 8. Rücksicht ist das, was den chinesischen Städten fehlt. Das, und nicht ökonomische Stärke, ist der entscheidende Unterschied zwischen chinesischen und europäischen Städten. In letzteren ist die Wirtschaft seit über hundert Jahren auf Industrie und Handel aufgebaut, bei denen alle ökonomischen Branchen unvermeidlich ineinander verkettet sind. Auch die Gesellschaftsmitglieder können nicht umhin, miteinander zusammenzuarbeiten und, im Hinblick auf die Sozialproduktion, voneinadner abhängig zu werden. Der Schlüssel für diese Koordination ist die ausgeprägte Rücksicht. Die Situation ist anders in China. Wie ich im letzten Bericht erklärt habe, haben Industrie und Handel eine wesentlich kürzere Geschichte in China und musste schon als Säugling hungern, weil sie – verbunden mit „Gier“ und „Betrug“ im ethischen Bewusstsein der Chinesen – für lange Zeit von der Regierung unterdrückt wurden. Selbst die in der jüngsten Vergangenheit entstandene Industrie und Handel sind zum größten Teil entweder Erzeugnisse der Planwirtschaft oder der vetterwirtschaftlichen Begünstigung (Korruption). In anderen Worten, es gibt bis heute keine Industrie- und Kommerzkultur in China, weil die Bedingungen dafür nicht gegeben sind. Daher ist Rücksicht auf solch hoher und komplexer wirtschaftlich-kulturellen Ebene, wie es in der Stadt der Fall ist, den meisten Chinesen noch fremd. Der Geltungsbereich der Rücksicht der Chinesen beschränkt sich immer noch an der ersten Stelle in der Familie. Chinesische Intellektuelle führen dieses Phänomen meistens auf die kleinbäuerliche Wirtschaft Chinas zurück, wo die Produktionseinheit einzelne blutverwandte Familie ist und jede solche Einheit in wirtschaftliche Autarkie arbeitet und lebt. Es gibt keine Koexistenz außerhalb der Familie und die dafür erforderliche Rücksicht ist unbekannt. Trotz der märchenhaften Wirtschaftsentwicklung zählt keine einzige chinesische Stadt zu erstrangigen Weltmetropolen. Meiner Meinung nach liegt das v. a. an der Atmosphäre der chinesischen Städte, die einen eher an Lebensmittelmarkt als an moderne Stadt denken lässt. In chinesischen Städten hat sich alles geändert bis auf die Märkte. Dort ist nichts gewachsen, alles ist klein und niedrig geblieben wie vor zwanzig Jahren (außer der Auswahl und den Preisen): Die Waren liegen auf zusammen gebastelten Holzbrettern oder 8
  • 9. gar auf aufgelegten Säcken am Boden. Es gibt keine Mülltonnen. Man wirft ungenießbare Gemüseteile einfach auf den Boden. Kommunikation funktioniert nur durch Rufe und Schreie. Es ist laut, dicht gedrängt, erdig und unordentlich... Nichts ist organisiert, aber alles funktioniert – mit dem scharfen Instinkt, das die jahrtausende alte, einzigartige, hochentwickelte chinesische Agrazivilisation geschaffen hat. Diese Märkte sind lebende Kulturreliquien, die nicht abgerissen worden sind und nicht abgerissen werden können, weil sie auf nichts materiellem angewiesen sind. Hingegen haben viele alte Häuser, Tempel und Gebräuche schlimmeres Schicksal bereits hinter oder noch vor sich... Ich gehe gerne auf den Markt, weil nur dort Chinesen zu sehen sind, die die ihnen auferlegte Maske der Modernisierung absetzen und die eingene Kultur ausleben können. Nur dort sind sie wirklich ein Bestandteil der Umgebung, der Realität. Und allein dieser Umstand gibt mir die Lust, Menschengesichter mit Genuß zu betrachten und meine Gedanken von denen mitnehmen zu lassen... 9
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