Das Bencao Gangmu (materia medica) von Li Shizhen ist eines der bedeutendsten Werke über traditionelle Arzneimittel. Diese Präsentation gibt einen Überblick über das Werk.
2. Motivation
Wie wurde dieses Wissen geordnet?
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Das Wissen zu Natur-Objekten stammt aus unterschiedlichsten Quellen:
Chinesische Medizin
Kennt im 7. Jhd. rund 850 Objekte
Lexika und Listen
von Piktogrammen
Erya mit 590 Einträgen
zu Pflanzen und Tieren
Poesie Importe über die Seidenstraße
Ca. 3. Jhd. -
Anmerkungen zu 104 Tieren
und Pflanzen aus Gedichten
Um 932 n.Chr.
Verzeichnis von 131 Medikamenten
3. Gliederung
0. Motivation
1. Gegenstand der Untersuchung: Das Bencao Gangmu
2. Methode: Wissen, Organisation und Wissensgeschichte
3. Die Ordnung des Bencao Gangmu
4. Schlussfolgerungen und Zusammenfassung
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5. Das Bencao Gangmu
Li Shi Zhen 李时珍
1518-1593
Bencao Gangmu (1593)
本草纲目
1892 Einträge
davon 374 erstmals erwähnt
aus über 800 Quellen
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6. Inhalte des Bencao Gangmu
-Begriffserklärung
-Gesammelte Beschreibungen
-Korrekturen
-Geschmack und Toxizität
-Behandelbare Krankheiten
-Nachweise über die Wirksamkeit
-Zubereitung und Rezepte (insgesamt 11.096!)
-gesonderter Bildteil
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7. 2. Wissen, Ordnung und Wissensgeschichte
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8. Wissensgeschichte statt ex post-Betrachtung
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“First, find a modern equivalent for the plant and animal names mentioned in the Bencao, ideally a
Latin binomial compound. Next, see if Li’s description matched (more or less) modern scientific
knowledge about the object. Finally, if some bits and pieces match up, pat the sixteenth-century
naturalist on the back and chalk one up for Chinese science.”
Carla Suzan Nappi, The monkey and the Inkpot. (2009)
Wissen ist ein historisches Phänomen und wird von uns ausschließlich als solches behandelt, das heißt: nicht
hinsichtlich der Frage, ob bestimmte Wissensbestände nun wahr oder falsch, besser oder schlechter, nützlich oder
unnütz sind, sondern nur: wie, wann und gegebenenfalls warum ein bestimmtes Wissen auftaucht – und wieder
verschwindet. Ferner: welche Effekte es hat, in welchen Zusammenhängen es funktioniert, wer seine Träger sind,
in welchen Formen es erscheint.
Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? (2011)
9. Was ist Wissen?
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„Die kleinste Einheit von Wissen soll Wissenselement heißen.
Ein Wissenselement besteht in einer Proposition, die etwas
behauptet oder etwas bestreitet.“
Michael Titzmann, Wissen und Wissensgeschichte (2014)
„Wissen ist nachweisbar immer nur gegeben in – und
rekonstruierbar aus – semiotischen Äußerungen sprachlicher
oder nicht-sprachlicher Art.“
10. Was ist Ordnung?
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Eine Ordnung besteht Mengen und Untermengen von Wissensaussagen und -objekten
Ordnung ist relational: „Erkenntnis eines Dinges im Zusammenhang einer Welt“
Faktoren einer Wissensordnung:
▪ Gebrauchszusammenhang
▪ Annahmen über die Struktur der Welt
▪ Bildungsanspruch
▪ Technische Möglichkeiten
▪ Totalitätsanspruch
Nach Paul Michel: Darbietungsweisen des Materials in Enzyklopädien. (2002)
11. Was ist Ordnung?
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„Welche Kategorien, Abgrenzungen und Einteilungen, welche zentralen Begriffe und Argumente
ermöglichen das immer begrenzte Set von Aussagen, die von einer mehr oder weniger großen
Gemeinschaft von Sprechern als wahr anerkannt werden können – und welche alternativen
Ordnungsformen ermöglichen andere Wahrheiten anderer Sprecher?“
Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? (2011)
Ordnungen haben eine produktive Wirkung:
12. Wissensordnungen, Diskursive
Formationen
Begriffsordnungen, Disziplinen
Ebenen der Analyse
Epistemologische
Grundlagen,
Philosophische Einflüsse
Institutionen, Technik,
Strategien, Intentionen der
Autoren etc.
Wissenselemente
Zeichensysteme: Werke, Texte,
Mengen von Propositionen
Wissensobjekte
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13. 3. Die Wissensordnung des Bencao Gangmu
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14. Problemstellung
Eine Ordnung finden, die…
▪Das Wissen zu knapp 2000 Objekten aus unterschiedlichen Quellen vereint
▪Für Ärzte in der Praxis einsetzbar ist
▪Mit den naturphilosophischen Positionen der Zeit vereinbar ist
▪Technisch umgesetzt werden kann
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15. Kategorisierung
▪Seit ca. 300 v. Chr.:
Ordnung mit nur einer Hierarchieebene: obere (上), mittlere
(中) untere (下) entsprechend der medizinischen Wirkungen
für 365 Pharmazeutika
▪Ab ca. 600 n.Chr.:
Etablierung lexikographischer orientierter Ordnungen
z.B. Gräser 草, Bäume 木, Insekten 蟲, Fische 鱼, Vögel 鸟
und Bestien
Für das Bencao Gangmu erweitert um:
Schalentiere 介, Schuppentiere 鳞, Gebrauchsgegenstände
und Kleidung 器服, Getreide 穀, Früchte 果, Gemüse 菜
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Lexikoneintrag zum Schriftzeichen „Vogel“
im Shuowen Jiezi (121 n.Chr.)
16. Beispiel - Namenserklärungen
Typ Bezeichnung
Oberbegriff im Bencao Gangmu 豕 (shi)
Allgemeine Bezeichnungen 豬 (zhū), 豚 (tún), 豭 (jiā), 豶 (zhì), 䝕 zhé
Männliche Schweine 豭 (jiā), 牙 (yá)
Weibliche Schweine 彘 (zhì), 豝 (bā), 䝏 (lòu)
Kastrierte Schweine 豶 (fén)
Schweine mit hellen Hufen 豥豬 (gāi zhū)
Schweine die fünf Fuß groß sind (è)
Jungtiere 豬 (zhū), 豚 (tún), 豰 (hù)
Erst-/Zweit-/Dritt-/Letztgeborenes 特 (tè) / 師 (shī) / 豵 (zōng) / 么 (yao)
Im April/Juli geborene Schweine 豯 (xī) / 䝋 (zòng)
Regionale Varianten 豨 (xī) / 䝒 (zhù)
Literarische Namen 剛鬣 (ganglie),參軍 (canjun)
Das Schwein: Bekannt unter
23 verschiedenen Namen.
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17. Unterscheidung von Klassen
Morphologische Kriterien
Bestien besitzen vier Füße und Fell.
Vögel besitzen zwei Füße und Federn.
Kulturelle Kriterien
Das Getreide dient der Ernährung, das Gemüse ihrer
Ergänzung.
Früchte werden durch Trocknen haltbar. Sie nähren das Leben
der Menschen.
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Ziege
Kormoran
Lauch (韮)
Birne
18. Die natürliche Rangfolge
Neo-Konfuzianische Naturphilosophie von qi 气 (Stoff), li 理 (Form) und den fünf Elementen gibt
den Klassen eine Reihenfolge:
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„Jetzt ist alles in Klassen angeordnet, beginnend bei Wasser und Feuer, denn diese sind der Ursprung aller
Dinge, dann die Erde, denn diese ist die Mutter aller Dinge. Es folgen Metalle und Gesteine, denn diese
entstammen der Erde.
Es folgen Gräser, Getreide, Gemüse, Obst und Gehölze, geordnet von klein nach groß. Dann folgen Werkzeuge
und Kleidung, da diese aus den Pflanzen gefertigt werden.
Dann folgen Insekten, Schuppentiere, Schalentiere, Vögel und Bestien, schließlich der Mensch, geordnet vom
geringwertigen zum hochwertigen.“
Li Shizhen, Bencao Gangmu, Vorwort
19. 25.01.2018 MARKUS LINDNER - DIE ORDNUNG DER 10.000 DINGE 19
Erde 土
Wasser 水 Feuer 火
Metall 金 Stein 石 klein
groß
geringwertig
hochwertig
Die fünf Elemente
17 Klassen (部))
20. Unterscheidung von Ordnungen
Ökologische Kriterien
Waldvögel singen am Morgen und haben kurze Schnäbel,
Wasservögel singen am Abend und haben lange Schnäbel.
Naturphilosophische Kriterien
Die fünf Früchte werden entsprechend der fünf
Geschmacksrichtungen und der fünf Farben eingeteilt in Pflaume,
Aprikose, Pfirsich, Kastanie und Dattel. Sie korrespondieren auch
mit den fünf Organen.
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Kranich Taube
AprikoseBirne
22. Beschreibung von Arten
Storch 鹳
Gesammelte Beschreibungen
Tao Hongjing: Es gibt zwei Unterarten (zhong): Eine ähnelt dem Schwan, doch baut das Nest in den Bäumen. Man
nennt sie Weißstorch. Die andere ist schwarz mit gebogenen Hals. Man nennt sie Schwarzstorch. Heute verwendet
man den Weißstorch [in der Medizin].
Zongshi: Der Körper des Storchs gleicht dem des Kranichs, aber sein Kopf ist nicht rot und er hat keinen schwarzen
Streifen am Hals. Zwei Störche verkünden Unheil, denn sie schlagen einander mit den Schnäbeln und schreien. Viele
Störche bauen ihr Nest über dem Eingang höherer Gebäude. […]
Li Shizhen: Der Storch ähnelt dem Kranich, doch sein Kopf ist nicht rot. Sein Hals ist lang und sein Schnabel rot, [das
Gefieder] aschfarben. Flügel und Schwanzfedern sind komplett schwarz. Er baut sein Nest in hohen Bäumen.
Der Storch legt drei Eier. Eines wird ein Kranich. Dabei verwandelt sich Holz zu Donner und Yin wird zu Yang. Holz wird
ein Storch, Donner wird ein Kranich.
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23. Schnabel 喙Kopf 頭
Hals 頸
Füße 腳,
趾
Schwanz 尾, 翎
Flügel 翅
Gefieder 毛,羽
Unterscheidung durch Merkmale
Wangen 頰
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Attribute Ausprägung
Farbe Fünfteilige Skala, vergleichend
Formen Dichotom (z.B. gerade/gebogen)
Vergleichend
Maße und Gewichte Vergleichend, quantitativ
Lebensräume Orte (regional/Zeiten
Naturphilosophie Zuordnung zu Meridianen, Trigrammen
Yin-Yang, fünf Elementen
Fortpflanzung Lebend/aus Ei/aus Feuchte/Verwandlung
Verhalten Nestbau, Schwarmverhalten…
24. 4. Schlussfolgerungen und Zusammenfassung
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25. Zusammenfassung
-Ordnung in vier hierarchischen Ebenen
-Neben sichtbaren Formen auch Verwendung von kulturellen, ökologischen und
naturphilosophischen Unterscheidungskriterien
-Etablierung einheitlicher Beschreibungsmuster für Objekte
-insgesamt 52 Schriftrollen (heute ca. 3000 Buchseiten)
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26. Ausblick
Fünf-Elemente-Lehre → Geschmack, Lebensraum, Farbe, inneren Organen…
Metaphysische Polaritäten (z.B. Yin-Yang) → dichotome Begriffspaare
Entwicklung von qi und li in der Welt → Stufenleiter der Organismen
Lexikographische Ordnungen → Auseinandersetzung mit Begriffen, Fokus auf äußere Merkmale
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