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65. Europäischer Wettbewerb 2018
Denk mal – worauf baut Europa?
Europäisches Kulturerbejahr 2018
Modul 4-2: Vielfalt macht stark
„Die Stärke Europas besteht eigentlich darin, dass es eine Summe
verschiedener Mentalitäten und Kreativitäten ist, das Gegenteil von
Gleichschaltung und Einebnung.“
(Lennart Meri 1929-2006, estnischer Schriftsteller, Filmemacher und
Politiker)
Luise Heidenreich
Goethe-Gymnasium Rutheneum seit 1608
Sind es nicht die Begegnungen,
die erst unser eigenes Ich entstehen lassen?
Vielfalt. Vielfalt. Vielfalt. Ich kann das Wort immer deutlicher auf meiner Zunge
fühlen. Es schmeckt nach Freiheit. Es schmeckt nach Neugierde. Es schmeckt
nach Abenteuern. Abenteuern, die ich niemals vergessen möchte. Meine
Tagebücher sind treue Begleiter, welche darauf warten gefüllt zu werden.
Gefüllt mit Träumen, Phantasien und Erlebnissen, die ich wie ein Archäologe
ausgraben kann, wenn ich die längst verblichenen Seiten aufschlage.
02. Februar 2017: Das vertraute Quietschen und Zirpen durchströmt meine
Ohren. Ich steige in die U-Bahn Richtung Alexanderplatz. Ein junger Mann setzt
sich mir gegenüber und lächelt ungezwungen. Ich bemerke, dass wir im selben
Flugzeug saßen und spreche ihn spontan an. Er kommt aus Italien, studiert
Informatik in Berlin und lädt mich nach unserem kurzen Gespräch auf einen
Kaffee ein.
21. Juli 2017: Am Autobahnrand der A4 halte ich meinen Daumen in den
stechend staubigen Sommerwind. Wohin es geht weiß ich nicht genau. Es gibt
so viele Straßen, so viele Wege, die mich durch Europa tragen können. Von
einer Sekunde auf die nächste hält ein schwarzer Audi an und ich steige ein.
Andrej, ein Steuerberater aus Russland, besucht seine Schwiegereltern in
Hamburg und freut sich über neue Geschichten während seiner langen,
eintönigen Fahrt.
17. August 2017: Auf einem Felsen sitzend beobachte ich die letzten
Sonnenstrahlen, die im Rauschen der Mittelmeerwellen kurzweilig aufblitzen.
Entfernt ertönen Instrumente und der Gesang von Stimmen verschiedenster
Sprachen. Engländer, Spanier, Finnen, Italiener und Deutsche haben sich an
einem Strand in Sardinien zusammengefunden, um Musik zu machen, kreativ
zu sein und sich auszutauschen. Die Nacht ist hereingebrochen und es werden
im flackernden Schein des Lagerfeuers frisch gefangene Seeigel eines
sardischen Fischers gegessen.
Ich kann nicht genug davon bekommen, Menschen verschiedenster
Nationalitäten zu treffen. Das Treffen zweier Augenpaare verspricht
Geheimnisse, die unter der Hülle des Blickes versteckt liegen. Wenn man sich
traut hinter die Fassade zu schauen, warten dort Erlebnisse und Erfahrungen
eines völlig anderen Lebens, einer völlig anderen Geschichte.
Vielfalt heißt für mich wachsen und voneinander lernen. In Amsterdam wurde
mir das Trommeln von einem Israeli beigebracht, meine Schachkenntnisse
wurden in Frankreich vertieft und in Italien durfte ich in die Geheimnisse der
Pizzaherstellung eintauchen. Nicht nur für mich selbst, sondern für ganz Europa
bedeutet eine multikulturelle Gesellschaft eine enorme Aufwertung. Der
Reichtum verschiedenster Lebenseinstellungen und Traditionen führt zu einem
Austausch, der die Grenzen zwischen den Nationen verblassen lässt.
Vielfalt bedeutet für mich Sprachen. In der Schule lerne ich Englisch und
Französisch, nebenbei besuche ich einen Spanischkurs an der
Volkshochschule. Mein Lehrer kommt aus Chile und unterrichtet während
seines Studiums seine Landessprache, um sein Wissen und seine Kultur
weiterzugeben. Mehrsprachigkeit verspricht nicht nur intellektuellen Reichtum,
sondern die Chance an verschiedensten Orten kommunizieren zu können.
Dabei ist diese mehr als lediglich ein Werkzeug, denn jede Muttersprache
gehört zur europäischen Identität und prägt die jeweilige Kultur und
Gesellschaft.
Das Motto der Europäischen Union lautet „In Vielfalt geeint“ und symbolisiert
die Idee einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlichster Nation friedlich
zusammenleben können. Dies ist jedoch kein erreichtes Ziel, sondern ein
ständiger Prozess. Der fortwährende Wandel ist seit hunderten von Jahren in
der europäischen Kultur verankert und durch multikulturelle Zuwanderung
geprägt. Mein Aufenthalt in Spanien hat mich darauf aufmerksam gemacht,
dass die Veränderung auch innerhalb Europas heute mehr als aktuell ist.
30. Dezember 2017: In Barcelona frage ich einen älteren Herren nach seiner
gelben Schleife der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung. Dieser erzählt:
„Wir wollen frei von Spanien sein, aber ein Teil Europas.“
Der Wunsch eines unabhängigen Kataloniens liegt nicht nur in der Repression
des katalonischen Volkes, sondern auch in dessen langer Geschichte
begründet. Dennoch bleibt der Wunsch ein Teil des demokratischen Europas zu
bleiben und einen friedlichen Kompromiss zu finden bestehen.
Vielfalt heißt für mich Verschiedenartigkeit. Konflikte und unterschiedliche
Meinungen sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern fordern Respekt
füreinander. Menschen unterschiedlichster Herkunft haben oft viel mehr
gemeinsam, als sie trennt.
Der Gegenspieler der Vielfalt, die Einfalt, spielt dabei leider eine unrühmliche
Rolle im gesellschaftlichen Bild Europas. Rassistisches Gedankengut, das sich
in den Tiefen der Bevölkerung bemerkbar macht, sollte mehr aufrüttelnd, als
einschüchternd sein. Es gibt mehr als genug zu tun, um der bunten Vielfalt
mehr Ausdruck zu verleihen.
Vorurteile, mit denen ich täglich in meiner Heimatstadt konfrontiert werde,
können mein Bild einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft nicht
vernebeln. Dazu habe ich zu viel gesehen und zu viel erlebt.
05. August 2017: Ich laufe durch orangeerleuchtete Pflasterstraßen. Die Sonne
ist vor einigen Stunden untergegangen und die Restaurants und Bars
Bambergs haben sich mittlerweile gefüllt. Ich höre anstoßende Biergläser und
das Gemurmel unterschiedlichster Menschengruppen. Ich frage mich, wo ich
diese sternenklare Nacht verbringen werde. Ich kann sie wieder spüren, die
blinde Euphorie nicht zu wissen, was passiert. Angst habe ich keine, denn ich
vertraue bedingungslos auf das Leben.
Eine Brücke ist gefüllt mit Studenten verschiedener Nationalitäten und ich
geselle mich mit einem Lächeln auf den Lippen zu einer Menschengruppe.
Auf die Frage nach einem Schlafplatz reagiert vorerst niemand. Eine Frau holt
plötzlich ein Handy aus ihrer Umhängetasche. Ihre langen braunen Locken
fallen wie wogende Wellen auf ihre Schultern. Sekunden vergehen und ich höre
das Klimpern eines Schlüssels. „Auf meinem Sofa ist immer ein Platz frei,
komm mit zu mir“, sagt sie und wir laufen gemeinsam durch die lebendigen
Gassen.
Manchmal reicht eine der alltäglichen, zufälligen, vorbeigleitenden
Begegnungen aus, um im Fluss des Lebens weitere Stromschnellen zu
überwinden. Die Offenheit, die mir von fremden Menschen entgegengebracht
wurde, hat mir Vertrauen geschenkt. Vertrauen in ein Europa, das nicht nur
durch eine gemeinsame Währung und Konzerne zusammengehalten wird,
sondern durch zwischenmenschliche Verbindungen.
Wir sind nicht allein. Ein Satz, der verdeutlicht, dass sich der Mensch als
soziales Wesen durch das Miteinander definiert.
15. Januar 2018: Nach einem atemberaubenden Konzert in Jena steige ich in
Begleitung meiner Freunde in den letzten Zug. Im Waggon sitzen nur wenige
Menschen, die verkabelt mit Kopfhörern ihrer Musik lauschen. Das
nachklingende Glücksgefühl eines langen Abends lässt uns ungezwungen
tanzen und singen. Einige strenge Blicke treffen uns, doch dann vernehme ich
plötzlich ein rhythmisches Klatschen in meinem Ohr. Ein Mann grinst uns an
und sagt, dass er toll findet, was wir machen. Er kommt aus dem Irak, studiert
in Jena und arbeitet zusätzlich in meiner Heimatstadt als Pflegekraft. Die Fahrt
wird ein bunter Austausch an Erlebnissen und Träumen. Als ich schließlich aus
dem Zug aussteige, fragt er mit einem Stirnrunzeln im Gesicht: „Seid ihr eine
bestimmte Volksgruppe in Deutschland?“ „Nein.“, antworte ich, „Wir fühlen uns
nur frei.“
Ich bin ein neugieriger Mensch. Ich bin ein hoffnungsvoller Mensch.
Die Vielfalt ist ein Schlüssel, der die Tür zu einer grenzenlosen Welt offen hält.
Die Aufgabe jedes Einzelnen, die Aufgabe Europas liegt darin, diesen Schlüssel
niemals zu verlieren.
Begegnen wir uns! Lernen wir voneinander! Lassen wir Neues zu!

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16 4 2-heidenreich

  • 1. 65. Europäischer Wettbewerb 2018 Denk mal – worauf baut Europa? Europäisches Kulturerbejahr 2018 Modul 4-2: Vielfalt macht stark „Die Stärke Europas besteht eigentlich darin, dass es eine Summe verschiedener Mentalitäten und Kreativitäten ist, das Gegenteil von Gleichschaltung und Einebnung.“ (Lennart Meri 1929-2006, estnischer Schriftsteller, Filmemacher und Politiker) Luise Heidenreich Goethe-Gymnasium Rutheneum seit 1608
  • 2. Sind es nicht die Begegnungen, die erst unser eigenes Ich entstehen lassen? Vielfalt. Vielfalt. Vielfalt. Ich kann das Wort immer deutlicher auf meiner Zunge fühlen. Es schmeckt nach Freiheit. Es schmeckt nach Neugierde. Es schmeckt nach Abenteuern. Abenteuern, die ich niemals vergessen möchte. Meine Tagebücher sind treue Begleiter, welche darauf warten gefüllt zu werden. Gefüllt mit Träumen, Phantasien und Erlebnissen, die ich wie ein Archäologe ausgraben kann, wenn ich die längst verblichenen Seiten aufschlage. 02. Februar 2017: Das vertraute Quietschen und Zirpen durchströmt meine Ohren. Ich steige in die U-Bahn Richtung Alexanderplatz. Ein junger Mann setzt sich mir gegenüber und lächelt ungezwungen. Ich bemerke, dass wir im selben Flugzeug saßen und spreche ihn spontan an. Er kommt aus Italien, studiert Informatik in Berlin und lädt mich nach unserem kurzen Gespräch auf einen Kaffee ein. 21. Juli 2017: Am Autobahnrand der A4 halte ich meinen Daumen in den stechend staubigen Sommerwind. Wohin es geht weiß ich nicht genau. Es gibt so viele Straßen, so viele Wege, die mich durch Europa tragen können. Von einer Sekunde auf die nächste hält ein schwarzer Audi an und ich steige ein. Andrej, ein Steuerberater aus Russland, besucht seine Schwiegereltern in Hamburg und freut sich über neue Geschichten während seiner langen, eintönigen Fahrt. 17. August 2017: Auf einem Felsen sitzend beobachte ich die letzten Sonnenstrahlen, die im Rauschen der Mittelmeerwellen kurzweilig aufblitzen. Entfernt ertönen Instrumente und der Gesang von Stimmen verschiedenster Sprachen. Engländer, Spanier, Finnen, Italiener und Deutsche haben sich an einem Strand in Sardinien zusammengefunden, um Musik zu machen, kreativ zu sein und sich auszutauschen. Die Nacht ist hereingebrochen und es werden im flackernden Schein des Lagerfeuers frisch gefangene Seeigel eines sardischen Fischers gegessen. Ich kann nicht genug davon bekommen, Menschen verschiedenster Nationalitäten zu treffen. Das Treffen zweier Augenpaare verspricht Geheimnisse, die unter der Hülle des Blickes versteckt liegen. Wenn man sich traut hinter die Fassade zu schauen, warten dort Erlebnisse und Erfahrungen eines völlig anderen Lebens, einer völlig anderen Geschichte. Vielfalt heißt für mich wachsen und voneinander lernen. In Amsterdam wurde mir das Trommeln von einem Israeli beigebracht, meine Schachkenntnisse wurden in Frankreich vertieft und in Italien durfte ich in die Geheimnisse der Pizzaherstellung eintauchen. Nicht nur für mich selbst, sondern für ganz Europa bedeutet eine multikulturelle Gesellschaft eine enorme Aufwertung. Der Reichtum verschiedenster Lebenseinstellungen und Traditionen führt zu einem Austausch, der die Grenzen zwischen den Nationen verblassen lässt. Vielfalt bedeutet für mich Sprachen. In der Schule lerne ich Englisch und Französisch, nebenbei besuche ich einen Spanischkurs an der Volkshochschule. Mein Lehrer kommt aus Chile und unterrichtet während
  • 3. seines Studiums seine Landessprache, um sein Wissen und seine Kultur weiterzugeben. Mehrsprachigkeit verspricht nicht nur intellektuellen Reichtum, sondern die Chance an verschiedensten Orten kommunizieren zu können. Dabei ist diese mehr als lediglich ein Werkzeug, denn jede Muttersprache gehört zur europäischen Identität und prägt die jeweilige Kultur und Gesellschaft. Das Motto der Europäischen Union lautet „In Vielfalt geeint“ und symbolisiert die Idee einer Gesellschaft, in der Menschen unterschiedlichster Nation friedlich zusammenleben können. Dies ist jedoch kein erreichtes Ziel, sondern ein ständiger Prozess. Der fortwährende Wandel ist seit hunderten von Jahren in der europäischen Kultur verankert und durch multikulturelle Zuwanderung geprägt. Mein Aufenthalt in Spanien hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Veränderung auch innerhalb Europas heute mehr als aktuell ist. 30. Dezember 2017: In Barcelona frage ich einen älteren Herren nach seiner gelben Schleife der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung. Dieser erzählt: „Wir wollen frei von Spanien sein, aber ein Teil Europas.“ Der Wunsch eines unabhängigen Kataloniens liegt nicht nur in der Repression des katalonischen Volkes, sondern auch in dessen langer Geschichte begründet. Dennoch bleibt der Wunsch ein Teil des demokratischen Europas zu bleiben und einen friedlichen Kompromiss zu finden bestehen. Vielfalt heißt für mich Verschiedenartigkeit. Konflikte und unterschiedliche Meinungen sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern fordern Respekt füreinander. Menschen unterschiedlichster Herkunft haben oft viel mehr gemeinsam, als sie trennt. Der Gegenspieler der Vielfalt, die Einfalt, spielt dabei leider eine unrühmliche Rolle im gesellschaftlichen Bild Europas. Rassistisches Gedankengut, das sich in den Tiefen der Bevölkerung bemerkbar macht, sollte mehr aufrüttelnd, als einschüchternd sein. Es gibt mehr als genug zu tun, um der bunten Vielfalt mehr Ausdruck zu verleihen. Vorurteile, mit denen ich täglich in meiner Heimatstadt konfrontiert werde, können mein Bild einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft nicht vernebeln. Dazu habe ich zu viel gesehen und zu viel erlebt. 05. August 2017: Ich laufe durch orangeerleuchtete Pflasterstraßen. Die Sonne ist vor einigen Stunden untergegangen und die Restaurants und Bars Bambergs haben sich mittlerweile gefüllt. Ich höre anstoßende Biergläser und das Gemurmel unterschiedlichster Menschengruppen. Ich frage mich, wo ich diese sternenklare Nacht verbringen werde. Ich kann sie wieder spüren, die blinde Euphorie nicht zu wissen, was passiert. Angst habe ich keine, denn ich vertraue bedingungslos auf das Leben. Eine Brücke ist gefüllt mit Studenten verschiedener Nationalitäten und ich geselle mich mit einem Lächeln auf den Lippen zu einer Menschengruppe. Auf die Frage nach einem Schlafplatz reagiert vorerst niemand. Eine Frau holt plötzlich ein Handy aus ihrer Umhängetasche. Ihre langen braunen Locken fallen wie wogende Wellen auf ihre Schultern. Sekunden vergehen und ich höre das Klimpern eines Schlüssels. „Auf meinem Sofa ist immer ein Platz frei, komm mit zu mir“, sagt sie und wir laufen gemeinsam durch die lebendigen Gassen.
  • 4. Manchmal reicht eine der alltäglichen, zufälligen, vorbeigleitenden Begegnungen aus, um im Fluss des Lebens weitere Stromschnellen zu überwinden. Die Offenheit, die mir von fremden Menschen entgegengebracht wurde, hat mir Vertrauen geschenkt. Vertrauen in ein Europa, das nicht nur durch eine gemeinsame Währung und Konzerne zusammengehalten wird, sondern durch zwischenmenschliche Verbindungen. Wir sind nicht allein. Ein Satz, der verdeutlicht, dass sich der Mensch als soziales Wesen durch das Miteinander definiert. 15. Januar 2018: Nach einem atemberaubenden Konzert in Jena steige ich in Begleitung meiner Freunde in den letzten Zug. Im Waggon sitzen nur wenige Menschen, die verkabelt mit Kopfhörern ihrer Musik lauschen. Das nachklingende Glücksgefühl eines langen Abends lässt uns ungezwungen tanzen und singen. Einige strenge Blicke treffen uns, doch dann vernehme ich plötzlich ein rhythmisches Klatschen in meinem Ohr. Ein Mann grinst uns an und sagt, dass er toll findet, was wir machen. Er kommt aus dem Irak, studiert in Jena und arbeitet zusätzlich in meiner Heimatstadt als Pflegekraft. Die Fahrt wird ein bunter Austausch an Erlebnissen und Träumen. Als ich schließlich aus dem Zug aussteige, fragt er mit einem Stirnrunzeln im Gesicht: „Seid ihr eine bestimmte Volksgruppe in Deutschland?“ „Nein.“, antworte ich, „Wir fühlen uns nur frei.“ Ich bin ein neugieriger Mensch. Ich bin ein hoffnungsvoller Mensch. Die Vielfalt ist ein Schlüssel, der die Tür zu einer grenzenlosen Welt offen hält. Die Aufgabe jedes Einzelnen, die Aufgabe Europas liegt darin, diesen Schlüssel niemals zu verlieren. Begegnen wir uns! Lernen wir voneinander! Lassen wir Neues zu!