1. Ein Nashorn dreht durch
Johannes Merkel
Verlange ich doch neulich im Laden einen Negerkuss und will gerade in ihn
reinbeißen, da redet der mich an. "Was hab ich da gehört? Sag mal, bist du
bescheuert?"
Ich bin baff, dass so was reden kann, und ich frage: "Was meinst du
damit?"
"Du lebst ja wohl hinterm Mond! Neger ist ein Schimpfwort," belehrt er
mich. "Also merke dir, ich heiße Schokokuss."
"Was zwickt es mich, wie du heißt?" sag ich. "Hauptsache, du schmeckst!"
Und damit will ich endlich in ihn reinbeißen. Da springt der mir von der
Hand.
"He, wo willst du denn hin?"
Im Weglaufen ruft er mir noch zu: "Ich lass mich von niemand verputzen,
der mich beschimpft. Ich gehe nach Afrika, meine schwarzen Brüder
besuchen."
Mein Schokokuss gerät in die Steppe und sieht aus der Ferne eine
Staubwolke auf sich zukommen. Und beim Näherkommen erkennt er ein
dickes Tier mit einem Horn mitten auf der Nase, das genau auf ihn zurast
und brüllt: "Aus der Bahn!"
Aber mein Schokokuss bleibt seelenruhig sitzen.
Das Nashorn stellt ein Bein vor und bremst: "Aus der Bahn, hab ich
2. gesagt!"
"Momentchen. Ich bin ein Schokokuss auf der Suche nach meinen
schwarzen Brüdern. Hast du einen gesehen?"
Das Nashorn ist kurz vorm Platzen. "Aus der Bahn, oder ich zerquetsche
dich!"
"Erst wenn du mir sagst, ob du einen meiner schwarzen Brüder gesehen..."
Tja, weiter kam er nicht mehr, das Nashorn hatte einmal kurz zugetreten
und ihn zerquetscht.
Aber jetzt hing ihm der zerquetschte Schokokuss unterm Huf. Bei jedem
Schritt blieb ihm der Huf am Boden kleben.
"Wie krieg ich die Schmiere bloß wieder ab?" Das Nashorn scharrt mit
dem Huf über den Boden. Aber der Schokokuss klebt wie Dreck. Nichts zu
machen, es muss zum Schuster in die Stadt und sich diese schmierige
Sohle abnehmen lassen. Und schon legt es los und rast in die Stadt.
In der Stadt rast das Nashorn auf eine Kreuzung zu, und gerade in dem
Moment muss die Ampel auf Rot schalten, verflixt und zugenäht! Das
Nashorn stellt ein Bein vor, um zu bremsen. Aber mit dem zerquetschten
Schokokuß unterm Huf ist die Bremswirkung natürlich gleich null. Es
schlittert über die Fahrbahn und brüllt: "Aus der Bahn! Ich hab einen
zerquetschten Schokokuss unterm Huf und kann nicht bremsen!"
Und schon schlittert es an der Ampel vorbei, ein Straßenkreuzer rast volle
Pulle von rechts über die Kreuzung, und es kommt, wie es kommen muss:
Das Nashorn kracht dem Straßenkreuzer gegen den Kotflügel. Sein Horn
sitzt ein bisschen schief auf der Nase, und etwas benommen ist es auch,
aber insgesamt hat das Nashorn den Unfall gut überstanden. Nur der
Straßenkreuzer hat eine mächtige Beule. "Sie Trottel! " flucht der Fahrer.
"Haben Sie denn keine Augen im Kopf?"
Mit diesem Tonfall sollte man einem ausgewachsenen Nashorn nicht
kommen. Es schimpft: "Sie haben ja wohl Dreck in den Ohren, was? Ich
hab doch laut und deutlich gebrüllt, dass ich einen zerquetschten
Schokokuss unterm Huf hab und nicht bremsen kann."
So! Auch noch unverschämt werden ? So was muss sich der Besitzer eines
Straßenkreuzers doch nicht bieten lassen, schon gar nicht von einem
ordinären Nashorn. Und er schaltet die Polizei ein.
3. Wie immer ist die Polizei blitzschnell zur Stelle. Der Polizeibeamte hört
sich die Sache an und meint zum Nashorn: "Wie bitte? Sie rasen bei Rot
über die Kreuzung und werden dann auch noch frech? Macht zweihundert
Euro Strafe!"
"Wenn ich doch einen zerquetschten Schokokuß unterm Huf hab und nicht
bremsen kann!" empört sich das Nashorn.
"Wie bitte?" meint der Polizist. "Sie bewegen sich mit einem
verkehrsuntüchtigen Fahrzeug im Straßenverkehr? Macht noch mal
zweihundert Euro Strafe." .
Dem Nashorn wird das langsam zu bunt, aber der Polizist belehrt es:
"Wenn Ihre Bremsbeläge nicht in Ordnung sind, müssen Sie eben in die
Werkstatt fahren."
"Und wie komme ich in die Werkstatt, wenn ich mich im Straßenverkehr
nicht bewegen darf?"
"Wie Sie das machen, ist Ihr Bier." Damit hält er dem Nashorn die
Strafzettel unter die Nase. Das hätte er vielleicht besser nicht tun
sollen, denn jetzt drehte das Nashorn völlig durch. Es schob sein dickes
Horn unter den Polizeiwagen, wuchtete ihn hoch und kippte ihn um. Dann
stach es mit dem Horn kurz in alle vier Reifen, drehte sich um und raste
davon.
Der Polizist brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen, dann griff er
nach seinem Sprechfunkgerät und gab durch: "Achtung! Achtung! Bin
soeben von einem rasenden Nashorn angegriffen worden. Es entfernt sich
in südwestlicher Richtung. Bitte verfolgen! Aber Vorsicht, der Kerl ist
schwer bewaffnet!"
Auf der Stelle machten sich sämtliche Polizeiwagen mit heulenden
Martinshörnern auf die Suche nach dem rasenden Nashorn, aber gefunden
hat es keiner. Denn das Nashorn hatte die Nase von der Stadt gestrichen
voll und war längst in die Steppe zurückgerannt.
Wahrscheinlich klebt ihm der zerquetschte Schokokuss noch immer
unterm Huf. Solltet ihr jemals in die Steppe kommen, und sollte dort ein
Nashorn geradewegs auf euch zurasen, dann macht besser einen Schritt
zur Seite. Es könnte nämlich das Nashorn mit dem zerquetschten
4. Schokokuss unterm Huf sein, das kann dann nicht bremsen, und rennt euch
glatt übern Haufen.
(Aus: Johannes Merkel: Ein Nashorn dreht durch. Zeichnungen: Horst Rudolph, Berlin 1982)