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| 11•2016[[1L]]
Helden
FOTOGRAFIERTVONGUILLAUMEPERRET/LUNDI13
SELBST AN DIESEM sonnigen Tag dominieren im Gen-
fer Aussenquartier direkt neben dem Autobahnzubringer die
Grautöne. Lagerhallen stehen in Reih und Glied, dazwischen Last-
wagen am Strassenrand. Auf der gegenüberliegenden Strassen-
seite locken die bunten Schilder eines Einkaufszentrums.
Vor diesem Konsumtempel eilen heute Hunderte Menschen
vorbei. Männer, Frauen und Kinder gehen über den Parkplatz, zu-
sammengefaltete Einkaufstaschen unter dem Arm oder einen Ein-
kaufstrolley im Schlepptau. Ihr Ziel ist die hinterste Lagerhalle am
Ende der Strasse, direkt vor den Bahn­gleisen. Zwischen leuchtend
rot gestrichenen Wänden steigen sie ins Untergeschoss hinab und
treten durch eine Tür, die mit einem grossen Herz geschmückt ist.
Es ist Dienstag, Ausgabetag bei der gemeinnützigen Organisation
Colis du Cœur (dt. „Pakete, die von Herzen kommen“). Heute wer-
den Lebens­mittel und Hygieneartikel an Bedürftige abgegeben.
Beim Eingang müssen alle Ankömmlinge – wie bei der Post –
eine Nummer ziehen. Als nächstes ist schon die Nummer 385
an der Reihe, dabei ist es erst kurz nach Mittag und es kommen
immer mehr Leute. Der traurige Rekord war letzten Frühling, als
an einem einzigen Tag 2600 Personen hier waren. „Die Zahl der
Bezüger nimmt stetig zu, seit Januar 2016 besonders schnell“, sagt
Serge Bednarczyk, Stiftungspräsident von Colis du Cœur. „Die
Situation wird immer schwieriger. Früher kamen die Leute meist
nur vorübergehend zu uns. Heute haben viele der Bezüger ➸
Colis du Cœur sammelt Lebensmittel und
Hygieneartikel für armutsbetroffene Menschen
Essen für alle
VON SYLVIE CASTAGNÉ
Bedürftige sind
Menschen wie du
und ich, sagt
Stiftungspräsident
Serge Bednarczyk
| 11•2016[[1L]] 11•2016 | |[[2R]]
Rund 50 Freiwillige stehen für die Lagerung und Ausgabe der Waren im Einsatz
R E A D E R ’ S D I G E S T 
gar keine Chance mehr, aus der Ar-
mut herauszukommen.“
Marie-Claude arbeitet seit 16 Jah-
ren ehrenamtlich für Colis du Cœur.
Flink bewegt sie sich zwischen den
Teigwaren-Paletten, den Regalen
voller Ölflaschen und Konserven-
dosen. Dazwischen wirft sie schnell
einen prüfenden Blick
auf einen gefüllten
Einkaufswagen, bevor
dieser einem jungen
Mann übergeben wird,
der hinter einer roten
Linie am Rand des
Lagerbereichs wartet.
Ihre Handgriffe sind
präzise und routiniert.
Die Zeit ist knapp, der
Besucher­strom reisst
nicht ab, ein einziges
Ballett aus Einkaufs­
wagen. Schon bei der Türöffnung
um halb neun standen Hunder­te
wartend vor der Halle. Und der
Aus­gabe­tag endet erst um sieben
Uhr abends.
Die Menschen, die zu Colis du
Cœur kommen, werden von einer
offiziellen Stelle hierher verwiesen.
Ihr Einkommen liegt unter dem Exis-
tenzminimum. Einmal pro Woche
können sie sich hier mit Lebens-
mitteln für zwei bis drei Mahlzeiten
eindecken. Die Waren werden von
freiwilligen Helfern vorbereitet. Rund
50 Frauen und Männer jeden Alters
und mit ganz unterschiedlichem
Hintergrund stellen die Lebensmittel
und Hygieneartikel zusammen, die
pro Person oder Familie abgegeben
werden, und sorgen dafür, dass bei
der Ausgabe alles wie am Schnür-
chen läuft. Was sie antreibt, ist der
Wille, zu helfen. Nur dank der ehren-
amtlichen Helfer kommt die Stiftung
Colis du Cœur mit einem Budget von
500’000 Franken pro
Jahr aus. 2015 wurden
damit 240’000 Mahl­
zeiten finanziert.
2016 dürften es deut-
lich mehr werden. Die
öffentliche Hand steuert
knapp 60’000 Franken
bei, der Rest stammt
aus privaten Spenden.
Drei Viertel der Waren
bezieht die Stiftung
von Partage, einer
loka­len Organisation,
die ein­wand­freie Lebensmittel
und Hygiene­artikel, die sonst weg­
geworfen würden, einsammelt und
sie an verschiedene Institutionen
verteilt. Wegen der wachsenden
Nach­frage muss Colis du Cœur je-
doch jährlich für rund 250’000 Fran-
ken Lebensmittel dazukaufen.
Die Menge der abgegebenen
Waren wird an die Familiengrösse
angepasst. Rund ein Drittel der
Menschen, die von den Waren pro-
fitieren, sind Kinder. Alle Bezüger
bezahlen monatlich einen symbo-
lischen Betrag von einem Franken.
„So bleiben sie uns nichts schuldig“,
erklärt Serge Bednarczyk.
Er arbeitet schon seit 30 Jahren im
Sozialbereich und hat gelernt, dass
Distanz und Diskretion wichtig sind.
„Den meisten Betroffenen ist es un-
angenehm, hier etwas abzuholen. Es
ist nicht leicht, um Hilfe zu bitten.
Vor allem wenn es darum geht, eine
Mahlzeit auf den Tisch zu bringen.
Das wird oft als sehr demütigend
empfunden. Deshalb wahren wir die
Diskretion.“
Die einfachste Lösung, um die
Armut zu bekämpfen, wäre mehr
Grosszügigkeit. „Wir haben gar keine
andere Wahl“, sag Serge Bednarczyk.
„Der Konsumwahn führt ins Leere.“
Für ihn ist klar, dass wir Menschen,
die aus Konfliktgebieten flüchten,
aufnehmen müssen. Auch wenn im
Moment noch nicht für alles eine
Lösung gefunden sei, müsse die
Schweiz Hilfe leisten. Seine lang­
jährige Tätigkeit im karitativen Be-
reich hat ihm den Glauben an die
humanitäre Gesinnung der Schwei-
zer Bevölkerung nicht genommen.
Der Nährboden für die meisten Pro-
bleme sei die Angst.
Das Unbekannte mache Angst,
und Angst belaste die Beziehung
zwischen den Menschen, denen es
gut gehe, und denjenigen, die Hilfe
brauchten, sagt Bednarczyk. Dabei
sei eines sicher: „Das Zusammen­
leben mit armuts­betroffenen Men­
schen ist nicht gefährlicher als das
mit wohlhabenden. Wer mit Bedürf­
ti­gen in Kontakt kommt, merkt ganz
schnell: Das sind Menschen wie du
und ich.“
„Vielen
Betroffenenist
esunangenehm,
umHilfezu
bitten:Deshalb
wahrenwirdie
Diskretion.“

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«Essen für alle»

  • 1. | 11•2016[[1L]] Helden FOTOGRAFIERTVONGUILLAUMEPERRET/LUNDI13 SELBST AN DIESEM sonnigen Tag dominieren im Gen- fer Aussenquartier direkt neben dem Autobahnzubringer die Grautöne. Lagerhallen stehen in Reih und Glied, dazwischen Last- wagen am Strassenrand. Auf der gegenüberliegenden Strassen- seite locken die bunten Schilder eines Einkaufszentrums. Vor diesem Konsumtempel eilen heute Hunderte Menschen vorbei. Männer, Frauen und Kinder gehen über den Parkplatz, zu- sammengefaltete Einkaufstaschen unter dem Arm oder einen Ein- kaufstrolley im Schlepptau. Ihr Ziel ist die hinterste Lagerhalle am Ende der Strasse, direkt vor den Bahn­gleisen. Zwischen leuchtend rot gestrichenen Wänden steigen sie ins Untergeschoss hinab und treten durch eine Tür, die mit einem grossen Herz geschmückt ist. Es ist Dienstag, Ausgabetag bei der gemeinnützigen Organisation Colis du Cœur (dt. „Pakete, die von Herzen kommen“). Heute wer- den Lebens­mittel und Hygieneartikel an Bedürftige abgegeben. Beim Eingang müssen alle Ankömmlinge – wie bei der Post – eine Nummer ziehen. Als nächstes ist schon die Nummer 385 an der Reihe, dabei ist es erst kurz nach Mittag und es kommen immer mehr Leute. Der traurige Rekord war letzten Frühling, als an einem einzigen Tag 2600 Personen hier waren. „Die Zahl der Bezüger nimmt stetig zu, seit Januar 2016 besonders schnell“, sagt Serge Bednarczyk, Stiftungspräsident von Colis du Cœur. „Die Situation wird immer schwieriger. Früher kamen die Leute meist nur vorübergehend zu uns. Heute haben viele der Bezüger ➸ Colis du Cœur sammelt Lebensmittel und Hygieneartikel für armutsbetroffene Menschen Essen für alle VON SYLVIE CASTAGNÉ Bedürftige sind Menschen wie du und ich, sagt Stiftungspräsident Serge Bednarczyk
  • 2. | 11•2016[[1L]] 11•2016 | |[[2R]] Rund 50 Freiwillige stehen für die Lagerung und Ausgabe der Waren im Einsatz R E A D E R ’ S D I G E S T gar keine Chance mehr, aus der Ar- mut herauszukommen.“ Marie-Claude arbeitet seit 16 Jah- ren ehrenamtlich für Colis du Cœur. Flink bewegt sie sich zwischen den Teigwaren-Paletten, den Regalen voller Ölflaschen und Konserven- dosen. Dazwischen wirft sie schnell einen prüfenden Blick auf einen gefüllten Einkaufswagen, bevor dieser einem jungen Mann übergeben wird, der hinter einer roten Linie am Rand des Lagerbereichs wartet. Ihre Handgriffe sind präzise und routiniert. Die Zeit ist knapp, der Besucher­strom reisst nicht ab, ein einziges Ballett aus Einkaufs­ wagen. Schon bei der Türöffnung um halb neun standen Hunder­te wartend vor der Halle. Und der Aus­gabe­tag endet erst um sieben Uhr abends. Die Menschen, die zu Colis du Cœur kommen, werden von einer offiziellen Stelle hierher verwiesen. Ihr Einkommen liegt unter dem Exis- tenzminimum. Einmal pro Woche können sie sich hier mit Lebens- mitteln für zwei bis drei Mahlzeiten eindecken. Die Waren werden von freiwilligen Helfern vorbereitet. Rund 50 Frauen und Männer jeden Alters und mit ganz unterschiedlichem Hintergrund stellen die Lebensmittel und Hygieneartikel zusammen, die pro Person oder Familie abgegeben werden, und sorgen dafür, dass bei der Ausgabe alles wie am Schnür- chen läuft. Was sie antreibt, ist der Wille, zu helfen. Nur dank der ehren- amtlichen Helfer kommt die Stiftung Colis du Cœur mit einem Budget von 500’000 Franken pro Jahr aus. 2015 wurden damit 240’000 Mahl­ zeiten finanziert. 2016 dürften es deut- lich mehr werden. Die öffentliche Hand steuert knapp 60’000 Franken bei, der Rest stammt aus privaten Spenden. Drei Viertel der Waren bezieht die Stiftung von Partage, einer loka­len Organisation, die ein­wand­freie Lebensmittel und Hygiene­artikel, die sonst weg­ geworfen würden, einsammelt und sie an verschiedene Institutionen verteilt. Wegen der wachsenden Nach­frage muss Colis du Cœur je- doch jährlich für rund 250’000 Fran- ken Lebensmittel dazukaufen. Die Menge der abgegebenen Waren wird an die Familiengrösse angepasst. Rund ein Drittel der Menschen, die von den Waren pro- fitieren, sind Kinder. Alle Bezüger bezahlen monatlich einen symbo- lischen Betrag von einem Franken. „So bleiben sie uns nichts schuldig“, erklärt Serge Bednarczyk. Er arbeitet schon seit 30 Jahren im Sozialbereich und hat gelernt, dass Distanz und Diskretion wichtig sind. „Den meisten Betroffenen ist es un- angenehm, hier etwas abzuholen. Es ist nicht leicht, um Hilfe zu bitten. Vor allem wenn es darum geht, eine Mahlzeit auf den Tisch zu bringen. Das wird oft als sehr demütigend empfunden. Deshalb wahren wir die Diskretion.“ Die einfachste Lösung, um die Armut zu bekämpfen, wäre mehr Grosszügigkeit. „Wir haben gar keine andere Wahl“, sag Serge Bednarczyk. „Der Konsumwahn führt ins Leere.“ Für ihn ist klar, dass wir Menschen, die aus Konfliktgebieten flüchten, aufnehmen müssen. Auch wenn im Moment noch nicht für alles eine Lösung gefunden sei, müsse die Schweiz Hilfe leisten. Seine lang­ jährige Tätigkeit im karitativen Be- reich hat ihm den Glauben an die humanitäre Gesinnung der Schwei- zer Bevölkerung nicht genommen. Der Nährboden für die meisten Pro- bleme sei die Angst. Das Unbekannte mache Angst, und Angst belaste die Beziehung zwischen den Menschen, denen es gut gehe, und denjenigen, die Hilfe brauchten, sagt Bednarczyk. Dabei sei eines sicher: „Das Zusammen­ leben mit armuts­betroffenen Men­ schen ist nicht gefährlicher als das mit wohlhabenden. Wer mit Bedürf­ ti­gen in Kontakt kommt, merkt ganz schnell: Das sind Menschen wie du und ich.“ „Vielen Betroffenenist esunangenehm, umHilfezu bitten:Deshalb wahrenwirdie Diskretion.“