Fantasy Roman-Epos von Leon Tsvasman mit Elementen von Utopie, Zivilisationskritik, Dichtung etc. Als Prototyp verfasst ursprünglich für szenische Lesungen.
Projektblog: http://dunklesonne.blogspot.com/
1. Ein Schattenpfad
Die wenigen Tage, die Max unter der Dunklen Sonne
auf der schwimmenden Burg des Alten der Dämmerung
verbrachte, veränderten sein Gemüt. Langsam verstand
er es, ein Mensch in einer lebenden Welt zu sein: Die
hartnäckigen Anarasten-Zwänge schuppten von seinem
Herz, gefolgt von ganzen Bretterpaletten, die von seinen
Augen fielen. An ihrer Stelle nisteten sich Gewissheiten
ein, deren Selbstverständlichkeit keinen Zweifel zuließ.
Ein Gerüst der Verantwortung gegenüber dieser
wesenhaften Welt verdichtete sich.
Die seiner angeblichen Truppe zugehörenden
langhaarigen Frauen gingen ihren spektakulären
Übungen unbekleidet nach, ließen sich – so scheu wie
sie ansonsten wirkten – aber nicht in der Nähe des
Decks blicken.
„Die Zeit kommt
von Winden der Ferne getrieben,
da lernst du
die Töchter der Dämmerung lieben!“ –
wann immer der Alte Enya-Anki seinen außerweltlichen
Gast bei der nostalgischen Beobachtung ihrer seltsamen
Rituale ertappte, rezitierte er diesen Vers, als wäre er
ein provinzieller DJ, der auf diese Weise ein tragendes
Pattern seiner neuen Hiphop-Komposition übte, um
passend dazu weitere Spuren komponieren zu können.
Das mittlerweile heftig kochende Gewässer um die
schwarze Barke schoss dicke Dampfstrahlen in die
2. Höhe, die sich bald in den niedrig hängenden
Wolkenklumpen auflösten. Ab und zu fielen feuchtölige
Klackse, die nach Bergharz rochen, auf Maxs Gesicht.
Hier, im Schattenreich der Wilden Magister, über die
sich der Alte der Dämmerung bisher trotz Maxs
exzessiver Neugierde nur vorsichtige Bemerkungen
erlaubte, schien die Natur verrückt zu spielen. Doch
offensichtlich gehörten solche Regionen zu einer
lebenden Welt, die ihre Wirklichkeiten auf dem
gärenden Mist halber Wahrheiten züchtete, ganz im
Sinne von Menschen, die sich freiwillig der schützenden
Wonne der Dunklen Sonne entzogen, um ihren
sonderlichen Wegen nachzugehen. Diese „Wilden
Magister“ stellte Max sich wie gruselige Außenseiter
vor. Doch schienen sie in dieser Welt einen besonderen
Respekt zu genießen. Enya nannte sie ab und zu „Die
Hüter des Anderen“, und das hörte sich ehrerbietig an.
Noch wusste Max aber nicht, mit welchen skurrilen
Erscheinungen die Natur ihr inniges Verhältnis zum
Wesen dieser hochmütigen Typen manifestierte und
genoss den Weitblick, der sich zunehmend trübte.
„Wow! Mir gefällt es hier… Feiern wir vielleicht?“ –
Max wollte seiner Begeisterung Ausdruck verleihen,
verzerrte sein Gesicht jedoch sofort, als diese Worte
sorglos aus seiner Kehle schossen. Denn irgendwie
passte sein Wunsch nach Losgelöstheit nicht zum
Moment. Nicht, dass Spannung angesagt war, doch hier
verlangte eine lebende Welt etwas Respekt.
3. „Was feiern?“ – fragte der Alte, wobei seine auch sonst
immer heitere Miene noch glücklicher wurde.
„Na, meine Befreiung… diese wunderbare Reise, und
dass wir bald im Reich der Wilden Magister
ankommen… Und außerdem wurde ich nach der
Offenbarung der düsteren Pupillenfrau zum stolzen
Hüter eines Geheimnisses, das uns die lang ersehnte
Wahrheit verspricht… Gründe genug!“
„Tja, lieber Max… Wir feiern, indem wir leben.
Außerdem bist du nicht mehr in der gequälten
Lebenswelt der Anarasten, die Überleben anstelle des
Lebens praktizieren. Mir reicht es, wenn ich in jedem
Moment die bestmögliche Wahrheit genieße.
Bewusstheit macht Spaß, das Feiern – Kopfweh!“
„Das mit dem Feiern war ein Witz!“ – bereute Max sein
Vorstoß vom ganzen Herzen, und die beiden lachten
wohlig: der Alte, weil er ahnte, was Max wusste. Und
Max, weil er sich ohnehin glückselig fühlte.
Das Flussdelta wimmerte von kleinen und mittleren
Schiffchen, die trotz des erstaunlichen Formenreichtums
sehr ähnlich wirkten.
Nachdem Max aus einem inneren Drang heraus die
Steuer übernahm, betrat die schwarze Barke des Enya-
Anki ein engeres Flussarm, das Max aus der
Offenbarung der düsteren Pupillenfrau kannte. Enya
nickte billigend, ohne ein Wort zu singen.
4. Bald beanspruchte die sich wandelnde Landschaft die
ganze Aufmerksamkeit der Besatzung für sich. Auch
Tanga, die in der Mitte des Decks – von einer goldenen
Nebelwolke umhüllt – ihre winzige Harfe zum
feenhaften Schwingen brachte, schaute nun regungslos
in die Ferne, wie ein wildes Eichhörnchen, das fremde
Geräusche erhört hat und nun aufpassen muss.
Zwischen den zerfetzten Nebelfeldern hingen, wie aus
dünnen Smaragdscheiben ausgeschnitten, groteske
Figuren. Ihre menschenähnlichen Gestalten, konnten
Opfer einer seltsamen Naturkatastrophe sein. Dennoch
spürte Max keine Gewalt in der dunkelfrischen Luft und
wusste, dass diese Schatten niemals lebende Menschen
waren.
In dieser Gestalt wurde die Landschaft für eine Weile
zur monotonen Kulisse, deren Sonderart die
abwechslungsverwöhnten Sinne von Max zunehmend
überforderte. Er kehrte in sich und konnte sich bald
wieder auf seine Mission konzentrieren.
„Na gut!“ – sagte Max pathetisch und schlüpfte spontan
in die dürftig visualisierte Identität eines Häuptlings aus
dem Computer-Spiel seiner Jugend.
Solange Tanga haltlos kicherte und der heitere Enya-
Anki wieder an einem überdimensionierten Pinienkern
knabberte, wählte Max sorgfältig die Worte: Seine
Muttersprache störte ihn bereits, denn sie hörte sich hier
an wie ein bombastisches Oratorium während eines
romantischen Dates. Der sensible Sprachgesang dieser
5. Gegend war Max noch wenig vertraut. Als er dann
sprach, befand er sich in der Rolle eines wissenden
Laien unter den scheinbar ahnungslosen Weisen:
„Also wir suchen nach einem Orden, dessen Jünger mit
einer unbegreiflichen Passion verkappte Anarasten
spielen. Sein namenloser Magister hat den
Wirkungsbereich der Dunklen Sonne vor einer Ewigkeit
verlassen und die Nebelfelder dafür genutzt, seinen
eigenen Wirkungsbereich zu schaffen. Er soll auf
seinem Erkenntnispfad an eine Gewissheit gelangt sein,
die uns einen Schlüssel zu Bhagyalakshmis Natur geben
kann… Weiter kommen wir nur zu Fuß, wenn ich die
Allegorien richtig verstand. Wie – keine Ahnung, aber
das Wasser endet in wenigen Meilen…“
Maxs unentschlossene Miene erstarrte, denn etwas
Unerwartetes trat in sein Blickfeld ein.
„Pass auf Max. Du sollst aufpassen!“ – die Worte des
Enya-Anki erreichten Max nicht mehr, denn eine
zügellose Sirene dröhnte bereits in seinem Kopf, wobei
ein gewaltiger schwarzer Blitz zeitgleich die derweil
dichte Nebelgrütze durchbrach. Sogleich wurde eine
riesige Wölbung sichtbar, die sich in wenigen
Momenten in die ganze Landschaft ausbreitete und bald
einem exorbitanten Regenbogen ähnelte.
Der innere Raum des Bogens, der gänzlich von dem
goldmilchigen Anstrich des Nebels verschont blieb,
versprach dem neugierigen Beobachter einen Einblick
in einen düsteren Tunnel. Beim näheren Betrachten
6. konnte man um seine drohend wirkende Finsternis eine
dunkelblaue Aura erkennen. Sie schien die in ihren
Bereich drängenden Nebelklumpen mit einem filigranen
Ornament zu vernetzen, woraufhin diese verschwanden.
Als das kochende Gewässer zäh wurde, kam das Schiff
in der Nähe eines kleinen Felsens, der aus der
dumpfigen Suppe herausragte, zum Stehen.
Max sprang – selbst überrascht von seiner albernen
Abenteuerlust – von dem Deck auf den fest geglaubten
Felsenstein. Forsch trat er in den Bereich des Bogens
ein, der die Wahrheitssuchende Truppe seit seiner
Erscheinung wie ein Regenbogen begleitete. Maxs
heroische Stimmung verflüchtigte sich gänzlich, als er
von der unheimlich zähen Luft im Inneren des
blauschwarzen Regenbogens überwältigt war.
An dieser Stelle erreichten ihn die begeisterten Rufe
Tangas, deren Sinn er nicht mehr verstehen konnte,
denn das Verweilen in dieser äußerst unfügsamen
Umgebung beanspruchte seine ganzen Sinne. Sämtliche
Körperreaktionen verlangsamten sich, als schwämme er
in einem Behälter voll Öl, das man zwar seltsamerweise
einatmen konnte, man brauchte dafür aber die volle
Aufmerksamkeit und eine Menge Kraft.
Der Tunnel pulsierte in dem Takt von Maxs
Herzschlägen. Jede Bewegung wurde zur
unnachahmbaren Meisterleistung einer höllischen
Sportart, die in ihrer Komplexität etwa dem
Eiskunstlauf ähnelte, nur betraf sie vor allem die
7. inneren Körpermuskeln. Allein um seine Atemzüge zu
kontrollieren, musste Max kunstvolle Pirouetten mit
seiner Lunge anstellen und diese noch in seinem Rachen
so auffangen, dass nicht nur das Einatmen halbwegs
funktionierte, sondern auch die Luft wieder raus konnte.
Er riss die Kleidung von seinem Leib. Dies erfrischte
und gab seinen Sinnen mehr Spielraum. Wäre er in der
Lage gewesen, Lust zu empfinden, hätte er es höchst
reizend gefunden, plötzlich ein Dutzend der wackeren
Töchter der Dämmerung überraschend an seiner Seite
zu entdecken.
Zum ersten Mal durfte er ihre würdevoll entfalteten
Körper aus der Nähe weniger Schritte erblicken, in ihre
leicht schielenden Augen schauen, die in allen Tönen
des zarten Ultramarins reinstes Wohlwollen strahlten.
In der Ferne offenbarte der Tunnelblick eine hellere
Fläche, die wie eine von grauem Riesenschimmel
bewachsene Wiese aussah. Max erstarte, als wäre er
eine Fliege, die in einer Schüssel mit flüssigem Honig
stehen blieb.
Sofort bildeten die Frauen einen Kreis um ihn herum
und blieben so ruhen, nicht regungslos, aber gespannt in
die Richtung der grauen Lichtung blickend.
Der namenlose Magister – seine Gestalt erkannte Max
an dem gesenkten kahlen Kopf – stand wie ein
Bernsteininsekt gefangen in der verdichtenden
Atmosphäre seines lebensfeindlichen Tunnels und trug
etwas vor. Seine durchsichtige Gestalt erschien nah und
8. äußerst präsent, wobei eine erhebliche Distanz zwischen
ihnen klaffte, die Max nicht mal mit Hilfe seiner
reizenden Truppe zu überwinden wagte.
Max hatte den Verdacht, dass die Gestalt eine Art
Aufnahme war, denn der Sermon schien sich in einer
Schleife zu wiederholen. Auch bewegten sich seine
Lippen nicht passend. Als erstes hörte er eine Phrase,
die offensichtlich der Schlusssatz einer Schleife war.
Der berüchtigte wilde Magister sprach lethargisch in
Maxs Muttersprache und ganz ohne den Gesangakzent
des Alten Enya-Anki:
„Das fremde Wissen ist sinnlos, aber praktisch, wenn
man keine Wahrheit zu verlieren hat.“
Dann wurde es für eine Weile still. Als er wieder zu
deklamieren anfing, vollkommen fad und träge – wobei
seine zierliche Figur auf eine ganz ausgefallene Art
sympathisch wirkte – hörte Max mit Bedacht zu.
„Es verkörpert die Selbsterfüllende Prophezeiung. Es ist
ein Kraftfeld, in dem Ängste wahr werden. Die
Anarasten haben dieses Kraftfeld generiert, indem sie
ihre Wirklichkeit medialisiert haben. So schufen sie ein
Umfeld, indem Menschen von Orientierungszwang
befreit wurden, um ohne Gewissheit leben zu können.“
Hier erzählte er seine Version dessen, was mit Maxs Ex-
Kolleginnen geschah. Die an sich absurde
Kurzschlussreaktion, die sie in das Unglück stürzte,
trete dann ein, wenn Ängste mehrerer Menschen
gemeinsame Komponenten hätten. Die Einzelheiten
9. ersparte er Max, als wolle er ihn schonen, nur wusste er
nicht, dass Max gar kein Mitleid mit seinem ehemaligen
Team empfand und mittlerweile einen leisen Verdacht
pflegte, eine unergründliche Seelenverwandtschaft mit
dem düsteren Pupillenmädchen zu haben, was die ganze
Sache noch komplizierter machte. Das Gefühl der
Mitschuld beunruhigte Max, und zum ersten Mal in der
Wonne der Dunklen Sonne schmerzte sein Herz.
Nach einer kurzen Pause sprach der kahlköpfige
Magister weiter, offensichtlich handelte es sich jetzt um
Bhagyalakshmis Teppich, wobei er kein einziges Mal
ihren Namen nannte. Entweder wusste der selbst
Namenlose Magister ihn nicht oder es hielt ihn
besonderer Aberglaube davon ab, diesen Namen
auszusprechen.
„Soll mich die rechte Gewissheit nicht täuschen, ist ihre
bunte Stoffrolle nicht leer. Sie trägt etwas in sich. Ich
werde es aber nie wissen, denn als ich mich für meinen
Erkenntnisweg entschied, blockierte ich mir damit die
Anderen, so dass mir Vieles für immer unergründlich
bleiben wird. Aber auch eine profane Mitteilung reicht
mir, falls ihr jemals eine Gewissheit erlangen solltet.
Schließlich leben Anarasten ohne Gewissheit. Und das
ist ihr Geheimnis. Das fremde Wissen ist sinnlos, aber
praktisch, wenn man keine Wahrheit zu verlieren hat.“
Hier erinnerte sich Max an die pathetischen Worte eines
spleenigen Freundes seiner Eltern: „Las dir eine Welt
niemals erklären, denn außer deiner Wahrheit gibt es
keine.“ Dann erschien der Alte Enya vor seinem
10. geistigen Blick, der seit gestern ein und die selbe Phrase
vor sich her sang, wobei er genau Maxs Augen
studierte: „Wahrheit ist Leben! Lass sie nicht beheben!“
Also leben die Anarasten nicht? – donnerte ein Einfall
in Maxs Kopf. „Nicht als Menschen, - flüsterte darin
etwas, - aber sie lassen die Königin leben: Ein höheres
Wesen, dessen Wahrheit unergründlich ist! Wir werden
uns bald in ihr auflösen!“ – es war die Stimme des
Namenlosen Magisters, die nun begeistert in Maxs
Gehirn blubberte. Mit „wir“ meinte er offenbar sich und
seine Jünger.
„Königin? Ach so…Tanga nennt sie „Maschine“... Und
bei uns hat man sie manchmal „System“ genannt…“
„Ihr seid zu egoistisch, Max, gemein, oberflächlich und
banal menschlich… Es lebe die Königin!“
Als Abschiedsgeste hob der Magister sein Haupt und
blendete Max mit dem unheimlichen Glanz seiner
stahlblauen Augen, die er sonst unter den schweren
Lidern versteckte. Max schauderte kurz und verlor die
Orientierung, denn der Tunnel fing an zu verblassen.
Nur die Mädels standen nach wie vor um ihn herum in
einer merkwürdigen Kampfbereitschaft, die Max für
überflüssig hielt, denn nichts deutete auf einen Kampf.
Vielleicht waren sie nur da, und ihre Manöver lediglich
dafür nötig, um Max als Orientierungshilfe zu dienen.