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Multiple Bedrohungsszenarien
Die Brüsseler Terroranschläge und Konsequenzen für das Sicherheits-
management
04.04.2016 pf – Vor wenigen Tagen erst ist die aktuelle Ausgabe der renommierten
IHS Jane’s Intelligence Review mit einer Titelgeschichte zum Angriffsrisiko für euro-
päische Großstädte durch Kommandos von Daesh, des sogenannten Islamischen
Staates (IS), erschienen. Die Experten haben dabei unter Zugrundelegung ihrer ei-
genen Terror-Datenbanken und quantitativer Risikoeinschätzungen über ein Re-
chenmodell 13 der 46 untersuchten Großstädte als überdurchschnittlich stark von
einem Angriffsrisiko betroffen identifiziert. Brüssel war die Nummer 4 auf dieser
Liste.
Für Deutschland zählen Frankfurt am Main und Berlin zur Risikogruppe.
Seit März 2014 sind gemäß einer Analyse der New York Times über 650 Menschen
aus Westeuropa und den USA bei mindestens 29 Angriffen durch Daesh/IS getötet
worden.
Quelle: New York Times, 2016: http://nyti.ms/1RDC8zO
Insofern schreiben die Brüsseler Angriffe die blutige Geschichte des Pariser Angriffs
vom November letzten Jahres fort.
Doch es zeigen sich auch neue Facetten.
„Terrorinnovationen“ und erschreckende „Lernkurve“ der
Attentäter
Die US-Terroranalysten von Stratfor haben u.a. darauf aufmerksam gemacht, dass,
auch wenn die taktischen Fähigkeiten der Angreifer immer noch eingeschränkt er-
schienen, kein Zweifel an der beunruhigend hohen technischen Qualität der ver-
wendeten Bomben bestände: „The large quantity of precursor chemicals found,
plus the amount of chemicals required to synthesize the existing TATP, suggests that
the cell has found a source to provide the needed chemicals in industrial quantities.
Finding and stopping that source will be another important investigative initiative
in this case.”
Neben der Mega-Attacke auch gezielte Morde und Entfüh-
rungen?
Neben der schnell wachsenden Professionalität der Angreifer eröffnen die Ermitt-
lungen im Nachgang der Brüsseler Anschläge noch zwei weitere Bedrohungsszena-
rien, die die besondere Aufmerksamkeit von Ermittlungsbehörden und Sicherheits-
dienstleistern verdienen.
Denn seit einigen Tagen ist bekannt, dass die Terroristen auch den Amtssitz und eine
Wohnung des belgischen Premierministers Charles Michel ausgespäht haben sollen.
Damit würden erstmals über das Szenario der großen Kommandoattacke gegen öf-
fentliche Ziele auch Belege für geplante Entführungen oder individuelle gezielte
Mordanschläge als Teil des Modus Operandi von Daesh im Westen vorliegen.
Nuklearterrorismus?
In diesem Zusammenhang ist die zweite Wendung besonders bedeutsam. Denn so-
wohl die Pariser Attentäter1
, wie auch die Brüsseler Angreifer2
werden mit der Ob-
servation von Verantwortlichen für belgische Nuklearanlagen in Verbindung ge-
bracht.
Am 26. März d.J. berichtete die belgische Presse, dass ein G4S-Mitarbeiter, verant-
wortlich für die Sicherheit einer kerntechnischen Anlage, tot und ohne seine Zu-
gangsberechtigungskarte aufgefunden worden sei3
. Daraufhin wurden die Be-
schäftigten nach Hause geschickt und die örtlichen Sicherheitsvorkehrungen ver-
schärft.
Die belgischen Behörden nehmen die Vorfälle offenkundig sehr erst und haben
wohl auch konkrete Bedrohungsszenarien im Blick: „Sebastien Berg, a spokesman
for Belgium’s federal agency, told the Times that their fears lie on several fronts, in-
cluding “exploding a bomb inside the plant” or “flying something into the plant from
the outside.” That could potentially stop the cooling process of used fuel and shut
down the plant, Berg said” (Fox News/New York Times).
Denn mit Blick auf eine Reihe von Vorfällen der Vergangenheit rückt gerade die
Frage der Sicherheit der belgischen Nuklearanlagen ins Zentrum der Gefahrenab-
wehr:
 2016: Das Netzwerk der belgischen Nuklearbehörde wird gehackt und muss
zeitweise herunter gefahren werden.
 2014: Unbekannte öffnen ein Ventil in einer Reaktoranlage und lassen
65.000 Liter Öl zum Schmieren von Turbinen frei. Die Anlage musste für fünf
Monate still gelegt werden und die Behörden gehen einer möglichen Bezie-
hung des Sabotageaktes zu Terrorgruppen nach. Der bereits genannte Sebas-
tien Berg zum Vorgehen der Angreifer: “This was a deliberate act to take
down the nuclear reactor, and a very good way to do it“!
 2013: zwei Angreifern gelingt es, den Zaun der Nuklearanlage in Mol zu über-
winden, in ein Labor einzudringen und Equipment zu entwenden.
 2012: zwei Mitarbeiter belgischer Nuklearanlagen verlassen das Land, um
sich in Syrien den Daesh-Kämpfern anzuschließen. Einer der beiden wird im
syrischen Bürgerkrieg getötet, der andere wurde 2014 in Belgien verurteilt
und ist seit letztem Jahr wieder auf freiem Fuß.
1
The New York Times reported that surveillance footage of a top official at a separate site was found last
year in the apartment of a terror suspect linked to the extremists who carried out the atrocities in Paris in
November (Fox News).
2 Belgian media reported this week that two of the suicide bombers in the Brussels attacks, brothers Ibra-
him and Khalid El Bakraoui, had video of the home of a senior official at the Mol nuclear waste facility in
the Flanders region (Fox News).
3
http://www.dhnet.be/actu/faits/un-agent-de-securite-dans-le-nucleaire-tue-a-charleroi-la-piste-ter-
roriste-dementie-par-le-parquet-de-charleroi-56f5b02a35702a22d5bbf868#.VvZtXrjnf2k.twitter.
Tom Bielefeld, Physiker und Experte für Nuklearsicherheit, fasst vor diesem Hinter-
grund die übergreifenden Risiken der terroristischen Nutzung von Nuklearmaterial
auf seiner Homepage knapp wie folgt zusammen:
 „Mindestens zwei Terrororganisationen, Al-Qaida und die japanische Aum-
Sekte, haben in der jüngeren Vergangenheit anhaltende, ernsthafte Versu-
che unternommen, in den Besitz von Atomwaffen bzw. von waffenfähigem
Spaltmaterial zu gelangen. Al-Qaida hat zudem bereits mit nicht-nuklearen
Komponenten für eine solche Waffe experimentiert. Die Aum-Sekte wiede-
rum begnügte sich letztlich mit chemischen Kampfstoffen und setzte diese
1995 in Tokio bei einem schweren Anschlag auch ein.
 Kernkraftwerke sind von Terroristen, Separatisten und Kriminellen angegrif-
fen oder glaubwürdig bedroht worden – und zwar einige dutzendmal in den
letzten vier Jahrzehnten! Zur Freisetzung von Radioaktivität ist es dabei glück-
licherweise bisher nicht gekommen, auch weil viele der Angreifer genau dies
vermeiden wollten.
 Radioaktives Material ist wiederholt als Waffe bei Mordanschlägen und Kör-
perverletzungen verwendet worden.“4
Weiteres Material zu Nukleareinrichtungen als Terrorzielen liefert die Anfang April
2016 freigeschaltete „Nuclear Facilities Attack Database (NuFAD)“-Datenbank des an
der Universität von Maryland angesiedelten START-Zentrums.
Was tun?
Stärker als bisher müssen multiple Bedrohungsszenarien berücksichtigt werden, die
von der Mega-Attacke bis zur Entführung von hochrangigen Entscheidungsträgern
oder Experten reichen können. Insofern gilt es – gerade für Sicherheitsverantwort-
liche von Unternehmen – das bisherige Bild der Daesh-/IS-Bedrohung im Westen
deutlich differenzierter zu betrachten.
Mit einer Wende von den dezentralen Angriffen der letzten Jahre hin zu möglicher-
weise deutlich stärker zentral koordinierten Schlägen bedarf es einer präziseren Ri-
sikobewertung und Beurteilung der Daesh-Strategie.
Diese Einschätzung müsste vor allem – das wäre jedenfalls die Lehre für Berichter-
stattung und Journalismus – nicht beim ewig gleichen Blick auf die Fassade des ver-
meintlich irrationalen Wahnsinnigen stehen bleiben, sondern hinter diese Maske
schauen und das strategische Kalkül der asymmetrischen Bedrohung durch den so-
genannten Islamischen Staat freilegen!
Literatur
 Fox News.com 26. März 2016: Officials reportedly have concerns over security
at Belgian nuclear plants.
 Hegghammer, T. & Nesser, P. (2015). Assessing the Islamic State’s commit-
ment to attacking the West. Perspectives on Terrorism, 9 (4): 14-30.
 New York Times. Brussels Is Latest Target in Islamic State’s Assault on West. By
Karen Yourish, Tim Wallace, Derek Watkins and Tom Giratikanon. Updated:
March 25, 2016.
 Stratfor Analysis, 23. März 2016: “Brussels Attacks: A Poor Plan Executed With
Good Bombs”.
 Urban Risk. Islamic State plans to attack European Cities. HIS Jane’s Intelli-
gence Review, 28 (4) (2016): 8-13.
4 https://sites.google.com/site/tombielefeld/home/nuklearsicherheit.
SECURITY. INTELLIGENCE. STRATEGY.
Geiselgasteigstr. 122 Tel. +49 89 4114717-00 info@proteus-secur.de
81545 München, Germany Fax +49 89 4114717-99 www.proteus-secur.de
Ihr Ansprechpartner:
Dr. Pantaleon Fassbender
Tel.: +49 89 4114717-00
pantaleon.fassbender@proteus-secur.de
Dr. Pantaleon Fassbender ist Ex-
perte für investigative Psycholo-
gie. Nach Promotion und wissen-
schaftlicher Tätigkeit ist er seit fast
20 Jahren als Unternehmensbera-
ter und psychologischer Krisenma-
nager für nationaleund internatio-
nale Unternehmen tätig. Bei der
PROTEUS SECUR Consulting & Solu-
tions GmbH ist er verantwortlich
für die Felder Investigative Psycho-
logie und diepsychologische Bera-
tung von Krisenstäben.

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  • 1. Multiple Bedrohungsszenarien Die Brüsseler Terroranschläge und Konsequenzen für das Sicherheits- management 04.04.2016 pf – Vor wenigen Tagen erst ist die aktuelle Ausgabe der renommierten IHS Jane’s Intelligence Review mit einer Titelgeschichte zum Angriffsrisiko für euro- päische Großstädte durch Kommandos von Daesh, des sogenannten Islamischen Staates (IS), erschienen. Die Experten haben dabei unter Zugrundelegung ihrer ei- genen Terror-Datenbanken und quantitativer Risikoeinschätzungen über ein Re- chenmodell 13 der 46 untersuchten Großstädte als überdurchschnittlich stark von einem Angriffsrisiko betroffen identifiziert. Brüssel war die Nummer 4 auf dieser Liste. Für Deutschland zählen Frankfurt am Main und Berlin zur Risikogruppe. Seit März 2014 sind gemäß einer Analyse der New York Times über 650 Menschen aus Westeuropa und den USA bei mindestens 29 Angriffen durch Daesh/IS getötet worden. Quelle: New York Times, 2016: http://nyti.ms/1RDC8zO Insofern schreiben die Brüsseler Angriffe die blutige Geschichte des Pariser Angriffs vom November letzten Jahres fort. Doch es zeigen sich auch neue Facetten. „Terrorinnovationen“ und erschreckende „Lernkurve“ der Attentäter Die US-Terroranalysten von Stratfor haben u.a. darauf aufmerksam gemacht, dass, auch wenn die taktischen Fähigkeiten der Angreifer immer noch eingeschränkt er- schienen, kein Zweifel an der beunruhigend hohen technischen Qualität der ver- wendeten Bomben bestände: „The large quantity of precursor chemicals found, plus the amount of chemicals required to synthesize the existing TATP, suggests that the cell has found a source to provide the needed chemicals in industrial quantities. Finding and stopping that source will be another important investigative initiative in this case.”
  • 2. Neben der Mega-Attacke auch gezielte Morde und Entfüh- rungen? Neben der schnell wachsenden Professionalität der Angreifer eröffnen die Ermitt- lungen im Nachgang der Brüsseler Anschläge noch zwei weitere Bedrohungsszena- rien, die die besondere Aufmerksamkeit von Ermittlungsbehörden und Sicherheits- dienstleistern verdienen. Denn seit einigen Tagen ist bekannt, dass die Terroristen auch den Amtssitz und eine Wohnung des belgischen Premierministers Charles Michel ausgespäht haben sollen. Damit würden erstmals über das Szenario der großen Kommandoattacke gegen öf- fentliche Ziele auch Belege für geplante Entführungen oder individuelle gezielte Mordanschläge als Teil des Modus Operandi von Daesh im Westen vorliegen. Nuklearterrorismus? In diesem Zusammenhang ist die zweite Wendung besonders bedeutsam. Denn so- wohl die Pariser Attentäter1 , wie auch die Brüsseler Angreifer2 werden mit der Ob- servation von Verantwortlichen für belgische Nuklearanlagen in Verbindung ge- bracht. Am 26. März d.J. berichtete die belgische Presse, dass ein G4S-Mitarbeiter, verant- wortlich für die Sicherheit einer kerntechnischen Anlage, tot und ohne seine Zu- gangsberechtigungskarte aufgefunden worden sei3 . Daraufhin wurden die Be- schäftigten nach Hause geschickt und die örtlichen Sicherheitsvorkehrungen ver- schärft. Die belgischen Behörden nehmen die Vorfälle offenkundig sehr erst und haben wohl auch konkrete Bedrohungsszenarien im Blick: „Sebastien Berg, a spokesman for Belgium’s federal agency, told the Times that their fears lie on several fronts, in- cluding “exploding a bomb inside the plant” or “flying something into the plant from the outside.” That could potentially stop the cooling process of used fuel and shut down the plant, Berg said” (Fox News/New York Times). Denn mit Blick auf eine Reihe von Vorfällen der Vergangenheit rückt gerade die Frage der Sicherheit der belgischen Nuklearanlagen ins Zentrum der Gefahrenab- wehr:  2016: Das Netzwerk der belgischen Nuklearbehörde wird gehackt und muss zeitweise herunter gefahren werden.  2014: Unbekannte öffnen ein Ventil in einer Reaktoranlage und lassen 65.000 Liter Öl zum Schmieren von Turbinen frei. Die Anlage musste für fünf Monate still gelegt werden und die Behörden gehen einer möglichen Bezie- hung des Sabotageaktes zu Terrorgruppen nach. Der bereits genannte Sebas- tien Berg zum Vorgehen der Angreifer: “This was a deliberate act to take down the nuclear reactor, and a very good way to do it“!  2013: zwei Angreifern gelingt es, den Zaun der Nuklearanlage in Mol zu über- winden, in ein Labor einzudringen und Equipment zu entwenden.  2012: zwei Mitarbeiter belgischer Nuklearanlagen verlassen das Land, um sich in Syrien den Daesh-Kämpfern anzuschließen. Einer der beiden wird im syrischen Bürgerkrieg getötet, der andere wurde 2014 in Belgien verurteilt und ist seit letztem Jahr wieder auf freiem Fuß. 1 The New York Times reported that surveillance footage of a top official at a separate site was found last year in the apartment of a terror suspect linked to the extremists who carried out the atrocities in Paris in November (Fox News). 2 Belgian media reported this week that two of the suicide bombers in the Brussels attacks, brothers Ibra- him and Khalid El Bakraoui, had video of the home of a senior official at the Mol nuclear waste facility in the Flanders region (Fox News). 3 http://www.dhnet.be/actu/faits/un-agent-de-securite-dans-le-nucleaire-tue-a-charleroi-la-piste-ter- roriste-dementie-par-le-parquet-de-charleroi-56f5b02a35702a22d5bbf868#.VvZtXrjnf2k.twitter.
  • 3. Tom Bielefeld, Physiker und Experte für Nuklearsicherheit, fasst vor diesem Hinter- grund die übergreifenden Risiken der terroristischen Nutzung von Nuklearmaterial auf seiner Homepage knapp wie folgt zusammen:  „Mindestens zwei Terrororganisationen, Al-Qaida und die japanische Aum- Sekte, haben in der jüngeren Vergangenheit anhaltende, ernsthafte Versu- che unternommen, in den Besitz von Atomwaffen bzw. von waffenfähigem Spaltmaterial zu gelangen. Al-Qaida hat zudem bereits mit nicht-nuklearen Komponenten für eine solche Waffe experimentiert. Die Aum-Sekte wiede- rum begnügte sich letztlich mit chemischen Kampfstoffen und setzte diese 1995 in Tokio bei einem schweren Anschlag auch ein.  Kernkraftwerke sind von Terroristen, Separatisten und Kriminellen angegrif- fen oder glaubwürdig bedroht worden – und zwar einige dutzendmal in den letzten vier Jahrzehnten! Zur Freisetzung von Radioaktivität ist es dabei glück- licherweise bisher nicht gekommen, auch weil viele der Angreifer genau dies vermeiden wollten.  Radioaktives Material ist wiederholt als Waffe bei Mordanschlägen und Kör- perverletzungen verwendet worden.“4 Weiteres Material zu Nukleareinrichtungen als Terrorzielen liefert die Anfang April 2016 freigeschaltete „Nuclear Facilities Attack Database (NuFAD)“-Datenbank des an der Universität von Maryland angesiedelten START-Zentrums. Was tun? Stärker als bisher müssen multiple Bedrohungsszenarien berücksichtigt werden, die von der Mega-Attacke bis zur Entführung von hochrangigen Entscheidungsträgern oder Experten reichen können. Insofern gilt es – gerade für Sicherheitsverantwort- liche von Unternehmen – das bisherige Bild der Daesh-/IS-Bedrohung im Westen deutlich differenzierter zu betrachten. Mit einer Wende von den dezentralen Angriffen der letzten Jahre hin zu möglicher- weise deutlich stärker zentral koordinierten Schlägen bedarf es einer präziseren Ri- sikobewertung und Beurteilung der Daesh-Strategie. Diese Einschätzung müsste vor allem – das wäre jedenfalls die Lehre für Berichter- stattung und Journalismus – nicht beim ewig gleichen Blick auf die Fassade des ver- meintlich irrationalen Wahnsinnigen stehen bleiben, sondern hinter diese Maske schauen und das strategische Kalkül der asymmetrischen Bedrohung durch den so- genannten Islamischen Staat freilegen! Literatur  Fox News.com 26. März 2016: Officials reportedly have concerns over security at Belgian nuclear plants.  Hegghammer, T. & Nesser, P. (2015). Assessing the Islamic State’s commit- ment to attacking the West. Perspectives on Terrorism, 9 (4): 14-30.  New York Times. Brussels Is Latest Target in Islamic State’s Assault on West. By Karen Yourish, Tim Wallace, Derek Watkins and Tom Giratikanon. Updated: March 25, 2016.  Stratfor Analysis, 23. März 2016: “Brussels Attacks: A Poor Plan Executed With Good Bombs”.  Urban Risk. Islamic State plans to attack European Cities. HIS Jane’s Intelli- gence Review, 28 (4) (2016): 8-13. 4 https://sites.google.com/site/tombielefeld/home/nuklearsicherheit. SECURITY. INTELLIGENCE. STRATEGY. Geiselgasteigstr. 122 Tel. +49 89 4114717-00 info@proteus-secur.de 81545 München, Germany Fax +49 89 4114717-99 www.proteus-secur.de Ihr Ansprechpartner: Dr. Pantaleon Fassbender Tel.: +49 89 4114717-00 pantaleon.fassbender@proteus-secur.de Dr. Pantaleon Fassbender ist Ex- perte für investigative Psycholo- gie. Nach Promotion und wissen- schaftlicher Tätigkeit ist er seit fast 20 Jahren als Unternehmensbera- ter und psychologischer Krisenma- nager für nationaleund internatio- nale Unternehmen tätig. Bei der PROTEUS SECUR Consulting & Solu- tions GmbH ist er verantwortlich für die Felder Investigative Psycho- logie und diepsychologische Bera- tung von Krisenstäben.