Die Frage nach einer möglichen Lebenskunst im Alltag beschreibt den Schnittpunkt, an dem sich das Interesse von Philosophen, Historikern und Kulturwissenschaftlern mit praktischen Problematisierungen des Alltags durch die Zeitgenossen trifft. In der Kunst und in der gegenwärtigen Literatur wird das Problem der Lebenskunst zu einer zentralen Konstante. Markus Barth zeigt in seiner Untersuchung zu den schriftstellerischen Werken von Peter Handke, Thomas Bernhard und Brigitte Kronauer, wie die bereits in der griechischen Antike gestellten Fragen in der literarischen Gegenwart formuliert werden. Motiviert durch die späten Schriften Michel Foucaults und auf einem breiten historischen und philosophischen Hintergrund verdeutlicht der Autor, welche Tiefendimensionen der Lebenskunst, aber auch wieviel alltagspraktische Bedeutungen in der Gegenwartsliteratur aufscheinen.
2. Markus Barth
Lebenskunsl im Alilag
Analyse der Werke von Peter Handke,
Thomas Bernhard und Brigitte Kronauer
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Gert Ueding
~Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
4. GELEITWORT
Das Thema, das Markus Barth im vorliegenden Werk verfolgt, ist so neu nicht, im Gegen-
teil: nach der Auflosung der romantischen Kunstform lieBe sich die ganze Literaturentwick-
lung unter den Leitgedanken fassen - Hegel hat es formuliert -, das ~fiir sich Bedeutungs-
lose«, die »Prosa der Verhliltnisse« ins Zentrum zu stellen. Allerdings liillt sich in der
gegenwartigen Literatur eine Radikalisierung des komplexen Phiinomens Alltagsleben fest-
stellen. Die Alltagswelt der fraglosen Gegebenheiten - und das BewuBtsein von ihr - geriit in
einen krisenhaften Zustand. Der Alltag selbst wird fragwiirdig und die Bereitschaft, ihn zu
veriindern oder ihrn eine neue Form zu geben, kennzeichnet die Anstrengung der Literatur
.in einem ungewohnlichen MaB.
Barth legt iiberzeugend und kenntnisreich dar, daB die Literatur bei diesem Thema in einem
..Schnittpunkt der Diskurse« steht, in dem sich unter anderem Sozial- und Subjektphilosophie,
Kulturwissenschaft, Historiographie und Ethik treffen. 1m ersten Hauptteil iiberzeugt der
Autor dUTCh eine sehr eigene, klare Argumentation, in der nicht nUT die einschliigigen
Klassiker, von Kracauer iiber Benjamin, Adorno und Bloch bis zu Foucault zu Wort kom-
men, sondern auch die Veriistelungen der Forschung verfolgt und lesbar dargestellt werden.
ErwartungsgemiiB nimmt die von Foucault aufgegriffene und weiterentwickelte Philosophie
der Lebenskunst, der ~Sorge urn sich«, den wichtigsten theoretischen Platz ein. Ein Haupt-
verdienst der vorliegenden Studie liegt fliT mich darin, daB sie zeigt, wie nah die oft als
exklusiv, publikumsfeindlich oder nichtssagend kritisierte deutschsprachige Gegenwarts-
literatur am philosophischen und lebensweltlichen Nerv der Zeit liegt. Der theoretische
Zugang, dessen Originalitiit in der Kombination aus historischer Vergewisserung und
philosophischer Reflexion liegt, eroffnet der Literaturwissenschaft - und vor allem der Litera-
turkritik - neue Sichtweisen und kritische MaBstiibe. Hier liegt mehr vor als ..Motivgeschich-
te«: Das Thema "Lebenskunst« wird sowohl im theoretischen Hauptteil als auch in den
einzelnen Studien als historisch zwar variabler aber doch gleichbleibender Beweggrund
literarischer Selbst- und Weltformung herausgearbeitet - in jenem unfassenden Sinn der
..Problemkonstante«, den Ingeborg Bachmann formuliert hat.
Aus der eigenen Lebensgeschichte des Verfassers begriindet sich zudem ein Erkenntnis-
interesse, das eine eigene Kohiirenz beanspruchen kann, die in anderen Konstellationen so
nicht hervortreten konnte: ich meine die bei allen drei untersuchten Autoren plausibel
herausgearbeitete religiose Dimension der zu literarischen Sinn-Ereignissen ausgeformten
Alltagswelt. Oem Verfasser kommen dabei sicher seine intimen theologischen Kenntnisse zu-
gute - die subtilen, meist spiritualitiitsgeschichtlich fundierten Erliiuterungen machen al-
lerdings seine oft weitreichenden Schliisse plausibel. Dabei werden die Schriftsteller niemals
zu ..Meinungstriigern« degradiert, wie es iiberhaupt zu den Vorziigen der gewiihlten Methode