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Die aktuelle Feminismusdebatte in Ägypten
1. Thema: „Die aktuelle Feminismusdebatte in Ägypten“
Dem Fachbereich
Fremdsprachliche Philologien
der Philipps-Universität Marburg
als Magisterarbeit
im Fachgebiet Islamwissenschaft
vorgelegt von Patrick Bareiter
aus Stuttgart
Marburg im April
2013
2. Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis .........................................................................................................II
Tabellenverzeichnis ......................................................................................................II
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................II
1. Einleitung und Fragestellung ......................................................................................1
2. Geschichte des Feminismus in Ägypten......................................................................4
2.1 Die Frau im Koran................................................................................................4
2.2 Rechtliche Stellung des Islam in Ägypten.............................................................8
2.3 Überblick von den Anfängen bis heute .................................................................9
3. Theoretische Grundlagen..........................................................................................21
3.1 Definition Feminismus und verschiedene Strömungen........................................21
3.2 Feminismusverständnis von Judith Butler...........................................................28
3.3 Der homo sociologicus .......................................................................................31
3.4 Konflikttheorie nach Dahrendorf ........................................................................36
4. Aktueller Forschungsstand zum Forschungsthema....................................................45
5. Zwischenfazit und Operationalisierung.....................................................................52
5.1 Zwischenfazit .....................................................................................................52
5.2 Operationalisierung ............................................................................................53
6. Kurzer Überblick über die aktuelle feministische islamistische Bewegung ...............59
6.1. Islamistischer Feminismus und verschiedene Strömungen .................................59
6.2 Neuinterpretation des Korans durch islamistische Aktivistinnen .........................63
7. Thesen......................................................................................................................67
7.1 Die unterschiedliche Rollenbilder säkularer und islamistischer Feministinnen und
deren Auswirkung auf die Konvergenz der Frauenbewegung....................................67
7.1.1 Aktuelle Geschlechterrollen in Ägypten und das weibliche Rollenbild der
islamistischen Feministinnen................................................................................67
7.1.2 Das Rollenbild der säkularen Feministinnen ................................................75
7.1.3 Gemeinsamkeiten islamistischer und säkularer Feministinnen......................78
II
3. Inhaltsverzeichnis
7.1.4 Gescheiterte Zusammenarbeit der beiden feministischen Strömungen anhand
eines Beispieles ....................................................................................................80
7.1.5 Auswirkungen der unterschiedlichen Rollenbilder auf die Konvergenz der
Frauenbewegung in Ägypten ................................................................................82
7.1.6 Einfluss der unterschiedlichen Ziele und deren Herleitung auf die Konvergenz
der beiden feministischen Strömungen .................................................................85
7.1.7 Thesenfazit ..................................................................................................87
7.2 Die Herausforderung traditioneller Rollenbilder als eine der Hauptursachen für
antifeministische Tendenzen in Ägypten ..................................................................88
7.2.1 Die ägyptische Sozial- und Gesellschaftsstruktur .........................................88
7.2.2 Staat, Patriarchat und der Kampf der säkularen Feministinnen um
Gleichberechtigung ..............................................................................................91
7.2.3 Einordnung des Konflikts nach Dahrendorf .................................................93
7.2.4 Thesenfazit ..................................................................................................94
7.3 Die Weigerung des ägyptischen Staates und großer Teile der Bevölkerung
feministische Forderungen anzuerkennen .................................................................95
7.3.1 Verweigerung der Anerkennung feministischer Forderungen.......................95
7.3.2 Aktuelle Lage der Frau in Ägypten im Jahr 2012 .........................................96
7.3.3 Thesenfazit ..................................................................................................99
7.4 Die positive Rolle feministische Graswurzelbewegungen in Ägypten ...............100
7.4.1 Die Moscheebewegung..............................................................................101
7.4.2 Konvergenz der ägyptischen Frauenbewegung auf dem Niveau der
Graswurzelbewegungen......................................................................................103
7.4.3 Thesenfazit ................................................................................................106
7.5 Säkulare Feministinnen, Anhängerinnen des Mubarak-Regimes und Agenten des
Westens?................................................................................................................107
7.5.1 Säkulare Feministinnen und das Mubarak Regime .....................................108
7.5.2 Säkulare Feministinnen und die westliche Frauenrechtsagenda ..................112
7.5.3 Thesenfazit ................................................................................................117
8. Fazit .......................................................................................................................118
III
4. Inhaltsverzeichnis
8.1 Zusammenfassung der Thesen und Ergebnisse..................................................118
8.2 Abschließende Erkenntnisse .............................................................................124
Literaturverzeichnis ...................................................................................................126
IV
5. Tabellenverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Rollenerwartungen und Sanktionen nach Dahrendorf........................................33
Tabelle 2 Konfliktformen nach Dahrendorf......................................................................37
II
6. Abkürzungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
AWSA: Arab Women’s Solidarity Association
CEDAW: Convention on the Elimination of all forms of Discrimination against
II
Women
CSO: Civil Society Organization
ECWR: Egyptian Center for Women’s Rights
EFU: Egyptian Feminist Union
MENA: Middle East and North Africa
MWA: Muslims Women’s Association
Nazra: Nazra for Feminist Studies
NGO: Non Governmental Organization
PVO: Privat Voluntary Organization
UN: United Nations
USAID: United States Agency for International Development
7. 1. Einleitung und Fragestellung
1. Einleitung und Fragestellung
Ägypten ist durch den sogenannten Arabische Frühling und durch die Ereignisse auf dem
Tahrir-Platz, die letztendlich zum Sturz des Mubarak Regimes führten in letzter Zeit
verstärkt in den Fokus der Medien gerückt. Gerade auch die Frauen spielten in diesen
Ereignissen eine vitale Rolle. In diese Arbeit wird erörtert, inwieweit die Rolle der Frau
und der Feminismus in Ägypten sowohl vor als auch nach der Revolution vom Januar 2011
debattiert werden. Die Revolution selber und die Rolle der Frauen darin steht dabei nicht
im Fokus der Untersuchung hat aber Einfluss auf die Wahrnehmung der Frauenbewegung
in Ägypten, da die Revolution eine Zäsur in der jüngeren ägyptischen Geschichte darstellt.
Der ägyptische Staat bietet sich aus verschiedenen Gründen für eine Analyse der
Frauenbewegung an. Zum einen hat Ägypten im Vergleich zu vielen anderen Staaten der
Arabischen Welt eine lange Geschichte der Frauenbewegung vorzuweisen, die bereits
Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Zum anderen bieten sich durch die jüngsten
Ereignisse in der Revolution und vor allem auch danach die Möglichkeit die aktuelle
Feminismusdiskussion in einer spannenden Zeit des politischen Umbruchs aufzuzeigen.
Des Weiteren ist von Interesse ob die Frauen von dem Regminewechsel an dem sie aktiv
beteiligt waren profitieren können oder nicht.
Laut dem Gender Gap Report von 2012 1, befindet sich Ägypten auf Platz 126 von 135
Ländern und damit am Ende des Feldes. In allen untersuchten Bereichen, außer der
Gesundheit und Lebenserwartung, wie politische Partizipation, Bildung sowie
ökonomische Teilhabe und Möglichkeiten zeigen sich in Ägypten deutliche
Geschlechterunterschiede ohne dass in den letzten Jahren weder absolut noch relativ im
Vergleich zu den anderen untersuchten Ländern eine deutliche Verbesserung eingetreten
ist. Es stellt sich die Frage inwiefern die Frauenbewegung in Ägypten die
Geschlechterungleichheit thematisiert und welche Konzepte innerhalb der
Frauenbewegung verfolgt werden um die Geschlechterungleichheit zu bekämpfen. Auch
für die deutsche politikwissenschaftliche Diskussion ist eine Auseinandersetzung mit dem
ägyptischen Feminismus interessant. Nicht zuletzt, weil auch hier die Aktivitäten der
Frauen in der ägyptischen Revolution medial begleitet wurden. Für eine wissenschaftliche
Einschätzung der Rolle und Bedeutung der Frauenbewegung im Transformationsprozess
der ägyptischen Gesellschaft ist jedoch eine theoretisch-analytische Perspektive auf das
Thema notwendig.
1 World Economic Forum (Hrsg.): The Global Gender Gap Report 2012. Genf 2012.
1
8. 1. Einleitung und Fragestellung
In dieser Arbeit wird analytisch-deskriptiv beschrieben, wie die aktuelle
Feminismusdebatte in Ägypten abläuft. Auf der Mikroebene wird die Beziehung zwischen
den Polen der säkularen und der islamistischen Frauenbewegung in Ägypten beschrieben
und analysiert werden. Auf der Makroebene der Konflikt zwischen der feministischen
Bewegung insgesamt mit dem ägyptischen Regime und der ägyptischen Gesellschaft.
Die Fragestellung lautet:
Inwiefern behindern die verschiedenen Rollenbilder der säkularen und islamistischen
Feministinnen in Ägypten eine Konvergenz der beiden Strömungen?
Als Analyseinstrument wird sowohl die Konflikttheorie Dahrendorfs als auch das dieser
Theorie zu Grunde liegende Modell des homo sociologicus angewandt. Anhand dieser
Analyseinstrumente können die Konflikte und die Art ihrer Austragung erklärt werden.
Folgende Leitfragen führen im Laufe der Arbeit zur Beantwortung der Fragestellung.
· Wie gestaltet sich die aktuelle Feminismusdiskussion sowohl innerhalb der
feministischen Bewegung als auch zwischen der feministischen Bewegung und dem
ägyptischen Regime und anhand welcher Konfliktlinien verlaufen sie?
· Was sind die Unterschiede in den Rollenbildern und wie behindern diese eine
Zusammenarbeit säkularer und islamistischer Feministinnen?
· Wie wirken sich die unterschiedlichen Rollenbilder auf das Verhältnis der beiden
feministischen Strömungen zu Staat und Gesellschaft aus?
· Welche weiteren Faktoren haben Auswirkungen auf die Feminismusdebatte in
2
Ägypten?
In Kapitel 4. Aktueller Forschungsstand zum Forschungsthema wird gezeigt, dass ein
Forschungsdesiderat zu dieser Thematik besteht. Die Ergebnisse der Arbeit werden einen
Beitrag zum besseren Verständnis der aktuellen ägyptischen Frauenbewegung und deren
Besonderheiten liefern und somit ermöglichen gesellschaftliche und politische Vorgänge in
Ägypten besser zu verstehen. Bisher ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der
ägyptischen Frauenbewegung noch nicht zufriedenstellend. Vor allem die Beziehungen,
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschieden Strömungen innerhalb der
Frauenbewegung wurde bisher nicht eingehender untersucht. Im deutschsprachigen Raum
kursiert viel populärwissenschaftliche Literatur zur Frauenfrage in der
arabisch/islamischen Welt deren Interesse meist um das Kopftuch kreist und die
Vielschichtigkeit der Formen feministischen Aktivismus verkennt. Wie diese Arbeit jedoch
zeigen wird gibt es in Ägypten sowohl im islamistischen als auch im säkularen Lager eine
9. 1. Einleitung und Fragestellung
Vielzahl unterschiedlicher frauenrechtlerischer Organisationen welche die Zivilgesellschaft
formen und bereichern.
Es wird folgendermaßen vorgegangen: Zuerst wird die historische Entwicklung des
Feminismus in Ägypten dargestellt, da ohne Kenntnisse über die Geschichte des
Feminismus in Ägypten die aktuellen Vorgänge nicht zu verstehen sind. Das Phänomen
des islamistischen Feminismus erhält ein eigenes Kapitel, da diese Art des Feminismus
sich vom westlich geprägten allgemeinen Feminismusverständnis deutlich unterscheidet.
Im Theorieteil wird der Begriff des Feminismus definiert und verschiedene Strömungen,
sofern sie in den Kontext dieser Arbeit passen, vorgestellt. Judith Butler wird dabei
gesondert behandelt, da ihr Ansatz fruchtbare Anknüpfungspunkte sowohl zu Dahrendorf
als auch für die ägyptische Feminismusdebatte bietet. Danach folgen der homo
sociologicus und die Konflikttheorie Dahrendorfs und es wird dargelegt inwiefern diese
dem Erkenntnisgewinn dienen und wie sie genutzt werden Aus den Kapiteln 1 bis 5
werden Thesen entwickelt und im Hauptteil der Arbeit mit den ausgewählten
Analyseinstrumenten überprüft. Es wird eine Hauptthese und diese Hauptthese
unterstützende Thesen geben.
Die Analyse der aktuellen Feminismusdebatte beschränkt sich auf die islamistische und
säkulare Frauenbewegung. Religiöse Minderheiten wie die Kopten und andere werden
aufgrund ihrer geringen Anzahl als nicht relevant für die Analyse der aktuellen Debatte
betrachtet. Deren Angehörige können jedoch durchaus in der säkularen Frauenbewegung
vertreten sein.
Als Quellen dienen in erster Linie Monographien und Artikel in Fachzeitschriften zu den
Forschungsfeldern Naher und Mittlerer Osten, Feminismus und Gender,
Politikwissenschaft sowie Recht. Sofern nötig werden ebenfalls Onlineartikel sowie
Homepages genutzt um auf aktuellste Entwicklungen eingehen zu können und um
Eigendarstellungen feministischer Gruppierungen in Ägypten aufzuzeigen. Die
entwickelten Thesen werden im Hauptteil nacheinander überprüft. Die gewonnen
Erkenntnisse werden im Abschlussteil der Arbeit zusammengefasst und präsentiert. Die
Argumentation stützt sich vorrangig auf Sekundärliteratur. Ebenso werden Begriffe und
Definitionen aus der bestehenden Literatur entnommen.
Arabische Eigennamen werden einheitlich so in die Arbeit aufgenommen wie sie in der
Literatur auftauchen. Auf korrekte Umschrift wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit
verzichtet, da die Arbeit einen politikwissenschaftlichen Charakter hat und an eine
politikwissenschaftliche Leserschaft gerichtet ist, der die Umschrift nicht geläufig ist.
Ebenso werden arabische Begriffe; wie Koran und Scharia, die allgemein geläufig sind in
der eingedeutschten Form verwendet.
3
10. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
2.1 Die Frau im Koran
Die islamische Religion und damit natürlich auch der Koran spielen im größten Teil der
ägyptischen Gesellschaft bis heute eine zentrale Rolle. Deshalb wird in diesem Kapitel auf
die Rolle der Frau im Koran eingegangen. Es stellt sich die Frage: Wie wird die Frau im
Koran charakterisiert und wie ist die Stellung der Frau dem Mann gegenüber? Dabei
werden nicht alle Suren, welche sich mit der Frau befassen, behandelt, sondern diejenigen
welche für die feministische Debatte am wichtigsten sind beziehungsweise kontrovers
diskutiert werden. Später wird die Rolle und Stellung der Frau im Koran der heutigen
rechtlichen Stellung der Frauen in Ägypten gegenübergestellt.
Dabei kann man die entsprechenden Suren nach verschiedenen Themengebieten gliedern:
Rolle der Frauen in der Umma, also der islamischen Gesellschaft. Rechtliche Stellung der
Frau vor Gericht und beim Erb- und Zivilrecht. Vorschriften und Hinweise zur
Glaubensausübung und bei allgemeinen Moralfragen.
Als Grundlage dient die Koranübersetzung von Rudi Paret 2, da sie bemüht ist eine
möglichst korrekte Übersetzung im historischen Kontext anzubieten.
Der Koran stellt nicht die einzige Quelle in der islamischen Rechtssprechung dar. Neben
ihm gibt es als weitere Quellen noch Sunna und Hadithe, Praktiken und Aussagen des
Propheten Mohammads. Als tertiäre Quelle fungiert der i ǧmā‘, Konsens der Gelehrten.
Dabei ist der Koran aufgrund seiner göttlichen Offenbarung die belastbarste Quelle in der
islamischen Rechtssprechung, wobei ungefähr zehn Prozent der Suren menschliches
Verhalten festlegen. Der Großteil davon bezieht sich auf Fragen der Glaubensausübung
und lediglich ein geringer Teil regelt zwischenmenschliche und gesellschaftliche
Beziehungen. Hinzu kommt, dass die islamische Rechtsprechung bis in jüngste Zeit kein
kodiertes Recht darstellte, sondern immer wieder neu interpretiert wurde, auch mit
bestimmten Intentionen der Interpreten. Deshalb gibt es auch keine einheitliche Version
des göttlichen Rechts der Scharia. 3 Die vier anerkannten sunnitischen Rechtsschulen und
die eine anerkannte schiitische Rechtsschule, deren normative Auslegungen der Scharia bis
heute prägend sind, entwickelten sich erst etwa 150 Jahre nach dem Tod Muhammads.
2 Vgl. Paret, Rudi: Der Koran. Stuttgart 2004.
3 Tucker, Judith E. Women, Family, and Gender in Islamic Law. Cambridge und New York 2008. S. 11-15.
4
11. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Andere Rechtsschulen konnten sich dagegen nicht durchsetzen und sind in Vergessenheit
geraten.4
Für diese Arbeit ist in erster Linie wichtig, inwieweit der Koran die Gleichberechtigung
von Mann und Frau postuliert, beziehungsweise welche sozialen Rollen er ihnen jeweils
zuweist. Darüber gehen die Meinungen verschiedener Autoren und Autorinnen jedoch
auseinander. Viele muslimische Autoren und Autorinnen vertreten die Meinung, der Islam
sei die einzige Religion welche Mann und Frau gleichberechtigt. Dabei verweisen sie auf
Suren in denen Männer und Frauen als gleich angesehen werden, meist im Zusammenhang
von religiösen Pflichten und bei der Schöpfung der Menschen. Christine Schirrmacher
weißt ihrerseits aber darauf hin, dass auch in der Religionsausübung Frauen aufgrund ihres
Geschlechts und den biologischen Unterschieden eingeschränkt werden. Zusätzlich gibt es
viele Überlieferungen des Propheten, in denen die Frau als dem Mann unterlegen und
minderwertig bezeichnet wird. 5
Raga` El-Nimr6 ist anderer Meinung und führt als Argument auch die untergeordnete und
marginalisierte Rolle der Frauen in der vorislamischen Zeit in Arabien an. Allerdings
vertritt die Autorin auch die Meinung, dass es zwischen Frauen und Männern natürliche
Unterschiede gibt. Wobei sie ebenfalls zu bedenken gibt, dass die Quellenlage über diese
Zeit aufgrund mangelnder schriftlicher Zeugnisse dürftig ist. Die Verkündungen des
Propheten Muhammads waren durchaus emanzipatorisch und revolutionär, da er die
Gleichheit aller Menschen verkündete. Mit aus diesem Grund fand er seine ersten
Anhänger oft in unterprivilegierten Schichten, so zum Beispiel bei Sklaven und Frauen. 7
In der koranischen Schöpfungsgeschichte wird beschrieben, wie Mann und Frau aus einem
Wesen, nämlich Adam, gleichsam erschaffen wurden und nicht wie in der christlichen
Schöpfungsgeschichte Eva erst aus der Rippe Adams entstand. Diese Tatsache wird in
mehreren Suren erwähnt, zum Beispiel in den Suren 39,6; 49,13; 2,1, dies ist also ein
entscheidender Punkt.8
4 Schirrmacher, Christine: Frauen unter der Scharia. In: Schirrmacher, Christine und Ursula Spuler-
Stegemann: Frauen und die Scharia. Die Menschenrechte im Islam. München 2006. S.13-218. S. 35f.
5 Ebd. a. a. O. S. 78-81.
6 Nimr El, Raga`: Women in Islamic Law. In: Yamani, Mai (Hrsg.): Feminism and Islam. Legal and Literary
Perspectives. Reading 1996. S. 87-102.
7 Nimr El, Raga`: Women in Islamic Law. In: Yamani, Mai (Hrsg.): Feminism and Islam. Legal and Literary
Perspectives. Reading 1996. S. 87ff.
8 Vgl. Paret a. a. O. 2004.
5
12. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
In den Suren 33,35; 40,40; 16,97 und anderen werden muslimische Männer und Frauen in
ihren Taten und Handlungen genau gleich beschrieben und erhalten beide von Gott im
Jenseits den gleichen Lohn für ihr gottesfürchtiges Leben.9
Bei Rechtsfragen, die das Weltliche betreffen, besonders in Erb- und Scheidungsfragen,
gibt es jedoch Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Hier sind Frauen den Männern
nicht gleichgestellt. So ist der Erbteil weiblicher Nachkommen geringer festgesetzt als der
männlicher. Weibliche Kinder erhalten nur den halben Erbanteil dessen, was männlichen
Nachkommen zusteht, Sure 4,11. Wenn ein Ehepartner stirbt, würde der Ehemann
ebenfalls doppelt so viele erben, wie die Ehefrau beim Tod des Gatten. Sure 4,12. 10 Dabei
stellt sich die Frage, ob diese diskriminierenden Regelungen eine Verbesserung der Lage
der Frau im Vergleich zur vor-koranischen Zeit brachten. Viele Hinweise, auch im Koran
16, 58-61 deuten zumindest darauf hin. Und auch in der Antike wurden Frauen als
minderwertiger angesehen. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass erst durch den
Koran ein streng partriarchales System auf der arabischen Halbinsel eingeführt wurde.
Ebenso übernahm Muhammad Sitten und Gebräuche besiegter Stämme. 11 Bisher ist also
nicht genau geklärt wie die rechtliche und soziale Lage der Frau in vorkoranischer Zeit in
Arabien war. Für die Frauen einiger Stämme dürfte sie sich durch den Koran verbessert
haben, für andere verschlechtert.
El-Sadaawi12 zeichnet ebenfalls ein differenziertes Bild der prä-islamischen Zeit auf der
arabischen Halbinsel. Zum einen gab es laut ihr sehr viele weibliche Gottheiten, was auf
eine höhere Stellung der Frau im Allgemeinen hinweist, zum anderen gab es auch viele
matriarchale Strukturen, vor allem in den nomadischen Stämmen. Deren Frauen waren in
der Regel sozial wesentlich besser gestellt als Stadtbewohnerinnen, was auch in der
unterschiedlichen Lebensführung begründet ist. Sogar weibliche Vielehe war möglich und
in wirtschaftlichen Belangen waren Frauen und Männer gleichgestellt. In der Anfangszeit
des Islams konnten die Frauen ihre starke Position dann auch weitgehend behaupten, wenn
auch im Ehe- und Scheidungsrecht des Korans 13 nun verbindliche Regelungen, zum Teil
zu ihren Ungunsten, geschaffen wurden. Laut el-Sadaawi vertrat der Prophet Muhammad
eine wesentlich liberalere Einstellung den Frauen gegenüber als seine Zeitgenossen und
9 Ebd. a.a. O.
10 Ebd. a. a. O.
11 Ahmed, Leila: Women and Gender in Islam. Historical Roots of a Modern Debate. New Haven und
London 1992. S. 35-44.
12 Saadawi, Nawal El-: The Nawal El Saadawi Reader. London und New York 1997.
13 Ebd. 1997. S. 74-77.
6
13. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Nachfolger. Unter seinen Nachfolgern, bereits bei den ersten vier rechtgeleiteten Kalifen,
begann dann aber die Marginalisierung der Frauen im Islam und der Koran wurde mehr
und mehr dahingegen interpretiert, dass den Männern eine vorrangige Stellung eingeräumt
wurde.14
Daneben gibt es Suren, die eindeutig formulieren, dass der Mann über der Frau steht und er
Verfügungsgewalt über sie besitzt. In Sure 2, 228 heißt es, Frauen und Männer haben sich
einander gegenüber dieselben Verpflichtungen. Dabei stehen die Männer jedoch bei allem
eine Stufe über ihnen. Sure 4, 34 wird dabei noch deutlicher. In dieser steht, dass Männer
über den Frauen stehen, da Gott die Männer ausgezeichnet habe. Ebenfalls ist es den
Männern erlaubt ihre Frauen zu züchtigen. Diese Sure ist besonders umstritten, da einige
islamische Gelehrte daraus ableiten, Männer stehen grundsätzlich in allen Dingen über den
Frauen, auch wenn die Sure die sogenannte „qiwama“, die männliche Führerschaft, nur auf
das Verhältnis der Geschlechter in der Ehe bezog. 15
Das Bild welches der Koran von der Frau vermittelt, ist nicht ganze einheitlich und
teilweise widersprüchlich, wie dieses Kapitel gezeigt hat. Dies ist teilweise der Tatsache
geschuldet, dass der Koran erst nach und nach offenbart wurde und einige Suren sich auf
akute Probleme beziehungsweise Fragestellungen an den Propheten beziehen. 16 Insgesamt
ist die Frau im Koran besser gestellt, als es in den tatsächlichen islamischen Gesellschaften
dann der Fall war. Dies liegt zum einen an der männlichen Deutungshoheit über den
Koran, zum anderen an den Hadithen, in denen viele Aussprüche überliefert wurden, die
die Frauen herabwürdigen. Nicht alle dieser Hadithe sind jedoch wirklich belastbar.
Dennoch konnten sich die konservativen islamischen Denker mit ihrer Interpretation der
Rechtsquelle durchsetzen, da diese im Interesse der Herrscher war. 17 All dies führte zur
Marginalisierung und Benachteiligung der Frauen in der islamischen Rechtssprechung bis
heute.18 Hinzu kommt die Problematik sogenannter progressiver Muslime, die sich für die
volle Gleichberechtigung der Geschlechter in islamischen Gesellschaften aussprechen. Sie
werden in einer Art Zweifrontenkrieg zwischen Orientalismus und Kolonialismus
aufgerieben. Wobei der Orientalismus oft dem Kolonialismus die Argumente für eine
Intervention in den muslimischen Gesellschaften aufgrund der angeblichen islamischen
14 Sadaawi a. a. O. 2005. S. 51-54.
15 Stowasser, Barbara F.: Women and Citizenship in the Qur`an. In: El-Azhary Sonbol, Amira (Hrsg.):
Women, the Family. And Divorce Laws in Islamic History. Syracuse 1996. S. 23-38. S. 32f.
16 Sadaawi, El- a. a. O. 1997. S. 79.
17 Stowasser a. a. O. 1996. S. 34ff.
18 Schirrmacher a. a. O. 2006. S. 215f.
7
14. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Unterdrückung der Frauen an die Hand gibt. So kämpfen sie zum einen gegen den
orientalistischen und kolonialen Diskurs, der die westliche Dominanz mit dem Kampf
gegen die vorgebliche muslimische Unterdrückung der Frau begründet. Zum anderen
gegen hierarchische und frauenfeindliche Interpretationen des Korans in vielen
traditionellen muslimischen Gesellschaften. 19 Das wird auch ein Grund dafür sein, dass
Fortschritte im Geschlechterverhältnis in islamischen Gesellschaften nur langsam erzielt
werden.
2.2 Rechtliche Stellung des Islam in Ägypten
Laut ägyptischer Verfassung ist der Islam in Ägypten Staatsreligion und die Prinzipien der
Scharia sind eine Hauptquelle der Rechtssprechung. Das heißt aber nicht, dass Gesetze und
die Arbeitsweise der Judikative aus der islamischen Scharia direkt hergeleitet werden.
Gerichte und Rechtssprechung sind seit 1956 säkular. Eine Ausnahme bildet das
Personenstandsrecht, welches für die Muslime nach wie vor an Bestimmungen der Scharia
angelehnt ist. Alle anderen Gesetze sollen dennoch laut Verfassung ebenfalls mit den
Prinzipien der Scharia übereinstimmen, zumindest nicht im klaren Widerspruch dazu
stehen. Dadurch entsteht eine etwas eigentümliche Situation. Recht und Rechtssprechung
sind eigentlich säkular, werden aber religiös legitimiert. Dies ist auch der tiefen
Verankerung des Islam in der ägyptischen Bevölkerung und dem großen Einfluss
islamistischer Gruppen wie den Muslimbrüdern geschuldet. 20
Seit den 1970er Jahren gibt es in Ägypten immer wieder Forderungen der Islamisten der
Scharia wieder mehr Geltung zu verschaffen, beziehungsweise sie wieder einzuführen.
Teilweise wurden diese Forderungen auch von Gelehrten der religiös gemäßigten al-Azhar
Universität aufgegriffen. Dem Staat war jedoch nie an einer wirklichen Einführung
gelegen, da die Konsequenzen unabsehbar gewesen wären. Ebenso stellen sich die
säkularen Kräfte gegen diese Forderungen. Es muss dabei aber beachtet werden, dass die
Forderung nach Einführung der Scharia auch immer Ausdruck der Kritik an den
herrschenden politischen Zuständen und dem Regime beinhaltet. 21
19 Fadel, Mohammad: Is Historicism a Viable Strategy for Islamic Law Reform? The Case of “Never Shall a
Folk Prosper Who Have Appointed a Woman to Rule Them”. In: Powers, David S. (Hrsg.): Islamic Law and
Society. Jahrgang 18. Ausgabe 2. Leiden 2011. S. 132.
20 Flores, Alexander: Ägypten. In: Ende, Werner und Udo Steinbach (Hrsg.) Der Islam in der Gegenwart.
Bonn 2005. S. 477-489. S. 479f.
21 Ebd. a. a. O. 2005. S. 481-483.
8
15. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Im Dezember 2012 wurde gab es ein Referendum für eine neue ägyptische Verfassung
Ägypten. Es ist bisher noch nicht genau abzusehen in welcher endgültigen Form sie
Gültigkeit erlangt. Das umstrittene Verfassungsreferendum und dessen positives Ergebnis
für die neue Verfassung verursachte eine heftige Debatte innerhalb Ägyptens zwischen den
verschiedenen politischen Lagern.22
Mit der bisherigen Verfassung klaffen Verfassungsprinzipien und ägyptische Wirklichkeit
weit auseinander. Zum einen trägt sie noch deutlich sozialistische Züge aus der Ära
Nassers, zum anderen werden die islamisch religiösen Grundlagen der Gesellschaft betont.
Hinzu kommt, dass Mubarak die 1981 verhängten Notstandsgesetze nutzte um jegliche
Opposition zu bekämpfen. Ägypten ist somit ein präsidentielles Regierungssystem, in dem
der Präsident als Staatsoberhaupt weitreichende Befugnisse bei nahezu keinerlei
Kontrollinstanzen ihm gegenüber hat.23
2.3 Überblick von den Anfängen bis heute
Um die aktuelle Feminismusdebatte in Ägypten analysieren und verstehen zu können ist es
unerlässlich den Verlauf der feministischen Debatte von den Anfängen bis heute in
Grundzügen zu kennen. Die generellen feministischen Grundlagen werden in Kapitel 3.1
Definition Feminismus und verschiedene Strömungen und das Feminismusverständnis von
Judith Butler in Kapitel 3.2 Feminismusverständnis von Judith Butler dargestellt.
Die Geschichte des Feminismus in Ägypten lässt sich grob in folgende Phasen unterteilen.
Die erste Phase ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in der sich eine Art „feministisches“
Bewusstsein entwickelte. Der Höhepunkt wurde bis zum Jahr 1923 erreicht, dem Jahr der
formalen ägyptischen Unabhängigkeit von Groß-Britannien. Beim Kampf um diese
Unabhängigkeit hatte sich die Frauenbewegung stark engagiert. In der nächsten Phase ab
1923 entstanden viele feministische Organisationen die selbstbewusst für ihre politischen
Ziele einstanden und auch international tätig waren. Diese Phase endete 1952 mit der
Revolution der Freien Offiziere unter Nasser. Unter ihm begann die Phase des sogenannten
Staatsfeminismus. Unabhängige Frauenorganisationen spielten von nun an fast keine Rolle
mehr. Erst nach dem Nasserismus in den 1970er Jahren konnte sich die Frauenbewegung
22 Egypt Independent: Egypt's constitution passes with 63.8 percent approval rate. 25.12.2012. Zugang unter:
http://www.egyptindependent.com/news/egypt-s-constitution-passes-638-percent-approval-rate. Aufruf am
01.04.2013.
23 Büttner, Friedemann und Amr Hamzawy: Ägypten. In: Weiss, Walter (Hrsg.): Die Arabischen Staaten.
Geschichte, Politik, Religion, Gesellschaft, Wirtschaft. Heidelberg 2007. S. 9-31. S. 17-20.
9
16. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
neu formieren, allerdings prägten ab den 1980er Jahren zunehmend die Islamisten die
öffentliche Debatte.
So etwas wie ein „feministisches“ Bewusstsein entwickelte sich in Ägypten ab etwa Mitte
des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft Muhammad ‘Alis. Er strebte die Unabhängigkeit
vom Osmanischen Reich, dem Ägypten damals zumindest formell angehörte, an und
öffnete Ägypten den europäischen Märkten und Ideen gegenüber. Mit seiner Herrschaft
trat Ägypten in den Modernismus ein. Unter ihm wurden etliche Infrastrukturprojekte
angestoßen, Schulen gegründet und das Rechtssystem reformiert. Dieses allerdings zum
Nachteil der Frauen, denen von nun an Grundbesitz und die Einnahmen daraus untersagt
waren beziehungsweise erschwert wurden. Der Weg in die Moderne veränderte die
bisherige Wirtschaftsstruktur stark und Ägypten entwickelte sich zum Exporteur von
Rohstoffen, in erster Linie Baumwolle, und zum Importeur von Fertigprodukten. Die
heimischen Industrien und Manufakturen waren mit der britischen nicht konkurrenzfähig.
Ebenfalls fielen der Beginn der Lohnarbeit und eine verstärkte Landflucht in diese
Periode.2425
Die oben angesprochene „feministische“ Bewusstwerdung äußerte sich in einer Reihe von
journalistischen Beiträgen in verschieden Zeitungen, die hauptsächlich von Frauen der
Oberklasse und der oberen Mittelklasse geschrieben wurden. Diese Frauen hatten oft eine
Ausbildung durch europäische Lehrerinnen erhalten und waren durch diese beeinflusst
worden. Zudem trafen sie sich nach europäischen Vorbild in sogenannten Salons zum
Gedankenaustausch.26
Margot Badran sieht ihn Qasim Amins Werk Tahrir al-mar’a (Die Befreiung der Frau)27,
veröffentlicht 1899, den Durchbruch in der feministischen Debatte in Ägypten. Laut
Badran fasste er den aufgesplitterten Diskurs zusammen und gilt somit auch als „Vater des
ägyptischen Feminismus“. Er richtete sich in seinem Buch jedoch in erster Linie an die
ägyptischen Männer, denen er aufgrund ihrer Rückständigkeit die Schuld an der
24 Badran, Margot: Feminists, Islam, and Nation. Gender and the Making of Modern Egypt. Princeton 1995.
S. 4-7.
25 Vgl. Ahmed a. a. O. 1992. S 127-134.
26 Badran, Margot: Independent Women. More Than a Century of Feminism in Egypt. In: Tucker, Judith E.:
Arab Women. Old Boundaries, New Frontiers. Washington DC 1993. S. 129-148. S. 132f.
27 Vgl. Amin, Qasim: The Liberation of Women and The New Woman. Two Documents in the History of
Egyptian Feminism. Kairo 2005.
10
17. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Unterentwicklung der Ägyptischen Gesellschaft gab. Er forderte Frauenbildung und
weitgehende soziale Gleichstellung der Frau. 28
Ein Jahr später veröffentlichte er das Buch al-mar’a al-jadida (Die neue Frau)29 als
Antwort auf die zahlreichen Kritiken auf sein erstes Buch. Das zweite Buch war noch
pro-westlicher als das erste, in dem er deutlich von islamischen Modernisten, wie zum
Beispiel Muhammad Abduh oder Rashid Rida, beeinflusst war. Auch in diesem Werk
forderte er Frauenbildung und sprach sich dazu noch deutlicher gegen den Schleier und für
eine Teilhabe der Frauen am öffentlichen Leben aus. 30
Leila Ahmed hingegen steht Qasim Amin äußerst kritisch gegenüber. Sie sieht in der
Argumentation Amins eine Übernahme der kolonialen Sicht der Briten auf die Ägypter.
Amin gehe es nicht um die Befreiung der Frau, sondern um die Übernahme britischer
Werte und Kultur, in der die Frau ebenfalls unterdrückt ist. Eine kritische Reflexion der
britischen Kultur und Gesellschaftsordnung fände bei Amin nicht statt. Vielmehr sei der
von ihm geforderte „Feminismus“ die Übernahme kolonialistischer Argumente zur
Legitimation der britischen Herrschaft in Ägypten, in dem alles Britische modern und gut
ist, alles Ägyptische das Schlechte verkörpere. Eines der Hauptargumente Amins bildet die
angebliche Rückständigkeit der ägyptischen Männer, anhand derer die Unterdrückung der
Frauen festgemacht wird. Besonderes Augenmerk richtet er, genau wie die Kolonialisten
und christlichen Missionare, dabei auf den Schleier, der als Symbol der
Frauenunterdrückung und Rückständigkeit der ägyptisch-muslimischen Gesellschaft
herhalten müsse. Im Endeffekt fordere Amin, wenn auch möglicherweise unbewusst, die
Ersetzung der muslimischen patriarchalen Dominanz durch die westliche männliche
Dominanz, so Ahmed. Immerhin entstand durch die kritische Rezeption Amins Werke eine
Diskussion über die Rolle der Frau in Ägypten. Ahmed spricht ihm jedoch ab der „Vater
des ägyptischen Feminismus“ sein, sie nennt ihn dagegen einen „Sohn Cromers“, dem
Generalkonsul Ägyptens zur Zeit Amins. Ägypten war 1882 endgültig britische Kolonie
geworden.31 Zudem gibt es starke Hinweise, dass Teile seines Buches von anderen Autoren
28 Badran, Margot: Feminism in Islam. Secular and Religious Convergences. Oxford 2009. S. 55ff.
29 Vgl. Amin a. a. O. 2005.
30 Stowasser, Barbara F.: Women´s Issues in Modern Islamic Thought. In: Tucker, Judith E: (Hrsg.): Arab
Women. Old Boundaries, New Frontiers. Washington DC 1993. S. 3-28. S 10f.
31 Ahmed a. a. O. 1992. S. 155-165.
11
18. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
wie Muhammad Abduh und Ahmad Lutfi al-Sayyid verfasst wurden, ohne dass dies
kenntlich gemacht worden wäre. 32
El-Sadaawi wiederum bewertet Qassim Amins Werke positiv, sieht aber in Ahmed Fares`
Buch „One leg Crossed Over the Other“ von 1855 das erste ägyptische Werk, welches sich
mit der Emanzipation der Frauen beschäftigt. Die Ideen Amins waren damit Teil einer
allmählichen Entwicklung, die ihre Fortsetzung bei vielen Autorinnen und Autoren fand.
Im Gegensatz zu der Einschätzung von Leila Ahmed ist el-Sadaawi der Meinung Qassims
Argumentation sei strikt an den Islam und nicht an westliche Ideen gebunden. 33 Beide
Autorinnen widersprechen sich damit deutlich in der Einschätzung der Bedeutung Amins
für die ägyptische Frauenbewegung.
Interessanterweise beginnt das Erwachen eines weiblichen oder „feministischen“
Bewusstseins in Ägypten ungefähr mit dem Beginn der Kolonialisierung durch die Briten.
Diese benutzten die Behauptung, die islamische Gesellschaft würde im Gegensatz zur
westlichen beziehungsweise viktorianischen, die Frau unterdrücken, für ihre Zwecke. Das
heißt, um die Überlegenheit der eigenen Kultur zu beweisen und als Legitimation für die
Kolonialisierung Ägyptens zu benutzen. Die Unterdrückung der ägyptischen Frau könne
durch die Übernahme der westlichen Kultur überwunden werden. Der Schleier verkörperte
darin das Symbol der überholten und rückständigen Lebensweise der Ägypter schlechthin.
Westliche Feministinnen übernahmen die verfälschten und politisch gesteuerten
Behauptungen in Bezug auf die islamische Gesellschaft und den Kampf gegen den
Schleier. Das Modell in dem der Islam den Unterdrücker der Frau verkörpert und der
Westen den Befreier, hat ebenfalls seit dieser Zeit, auch bei westlichen Feministinnen,
Bestand. Auch die Schleierdebatte dauert bis heute an. Gerade dadurch untergräbt der
Feminismus seine Glaubwürdigkeit in den islamischen Ländern, da er sich zum
willfährigen Vehikel des Kolonialismus gemacht hat, was den feministischen Diskurs in
der arabisch-islamischen Welt bis heute prägt. Dadurch rückt der Kampf um die
Frauenbefreiung in die Nähe eines Kampfs der Kulturen. Ein Kulturkampf hat jedoch, im
Gegensatz zum Kampf um Gleichberechtigung, keine Berechtigung, so Leila Ahmed. Es
sei richtig, dass die ägyptischen Frauen unterdrückt waren und bis heute sind, das gilt
jedoch auch für die Frauen in beinahe allen Kulturen gleichermaßen. Insbesondere für das
viktorianische Groß-Britannien der vorletzten Jahrhundertwende. 34
32 Badran a. a. O. 1995. S. 18.
33 Saadawi, Nawal El-: The Hidden Face of Eve. Women in the Arab World. London und New York 2007. S.
253ff.
34 Ahmed a. a. O. 1992. S. 165-168.
12
19. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Die Autorin Cathlyn Mariscotti35 macht ebenfalls auf die verzerrte Wahrnehmung der
ägyptischen Frauen durch westliche Feministinnen, aber auch Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen aufmerksam, die bis heute andauert. Sie kritisiert die
„Orientalisierung“ der Ägypterinnen und sagt, dass sie als Abgrenzungs- und
Projektionsfläche missbraucht werden. Sie sind alles das, was die westlichen Frauen nicht
sein wollen. Nämlich unterdrückt, nicht gleichberechtigt und marginalisiert. Zusätzlich
stellt sie fest, dass vorrangig die Lage von Frauen der Ober- und Mittelschicht analysiert
wird, die der unteren Schichten, welche aber die Mehrheit darstellen, dabei nur wenig
Beachtung findet. Dies hängt laut ihr mit dem bourgeoisen Feminismus des späten 19. und
frühen 20. Jahrhunderts zusammen, in dem sich Feministinnen nur mit den Frauen ihrer
Klasse beschäftigten und den Kontakt zu den unteren Klassen mieden. 36
Zu Anfang des 20.Jahrhunderts traten in Ägypten immer mehr weibliche feministische
Autorinnen in Erscheinung, unter ihnen prominente Vertreterinnen wie Hifni Nāsif 37,
Zaynab Fawwāz38 und Huda Shaarawi 39 die eine größere Öffentlichkeit erreichten.
Zeitgleich nahmen die anti-britischen Strömungen und die Forderung nach nationaler
Unabhängigkeit zu. Dabei kam es zu teilweise harten Gegenmaßnahmen der britischen
Besatzungsmacht, die oft mehrere ägyptische Todesopfer forderten. Im Streben nach
Unabhängigkeit, besonders in der nationalen Revolution nach dem Ende des Ersten
Weltkrieges von 1919 bis 1922, wurden die weiblichen Aktivistinnen von verschieden
Parteien, auch den Islamisten, hofiert und gingen mit ihnen temporäre Allianzen ein,
obwohl ihre Ziele nur teilweise deckungsgleich waren. Feminismus und die Frauenfrage
wurden wieder einmal für ein anderes Ziel instrumentalisiert, diesmal für die nationale
Unabhängigkeit Ägyptens. Die speziellen Belange der Frauen mussten bei den „höheren“
Zielen hinten anstehen, ein Muster das sich in der ägyptischen Geschichte bis heute immer
wieder findet.40
35 Mariscotti, Cathlyn: Gender and Class in the Egyptian Women´s Movement, 1925-1939. Syracuse 2008.
36 Mariscotti a. a. O.2008. S. 3-6.
37 Hifnī Nāşif. Malik: Über die ägyptische Frauenfrage. Aufsätze von Melek Hifnī Nâcif. Konstantinopel
1926.
38 Vgl. Bräckelmann, Susanne: „Wir sind die Hälfte der Welt!“ Zaynab Fawwāz (1860-1914) und Malak
Hifnī Nāsif (1886-1918)-zwei Publizistinnen der frühen ägyptischen Frauenbewegung. Würzburg 2004.
39 Vgl. Lanfranchi, Sania Sharawi. Herausgegeben von King, John Keith: Casting off the Veil. The Life of
Huda Shaarawi. Egypt´s First Feminist. London und New York 2012.
40 Badran, Margot: Feminism in Islam. Secular and Religious Convergences. Oxford 2009. S. 21ff.
13
20. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Dennoch waren die Jahre von 1900 bis 1923 vitale Jahre für die ägyptische
Frauenbewegung und ihr Anliegen wurde in der Öffentlichkeit diskutiert. Dadurch trauten
sich auch mehr Frauen den Schleier abzulegen, etliche Frauenorganisationen wurden
gegründet und die Frauenbewegung erreichte einen höheren Organisationsgrad als je
zuvor. Zusätzlich beteiligten sich Frauen nahezu aller Schichten in unterschiedlicher Form
am Kampf gegen die britische Besatzung. Trotz der Beteiligung von Frauen aus den
unteren Schichten, wurde der feministische Diskurs weiterhin durch Aktivistinnen und
Aktivisten aus den höheren Schichten bestimmt und orientierte sich dabei am westlichen
liberalen Vorbild.41
Badran sieht im Jahr 1923 eine Zäsur in der Geschichte des ägyptischen Feminismus. Ab
Mitte des 19.Jahrhunderts war ein weiblich-feministisches Bewusstsein entstanden welches
sich aber mehr in der öffentlichen als in der privaten Sphäre niederschlug. 1923, ein Jahr
nach der formellen aber eingeschränkten Unabhängigkeit von Groß-Britannien, entstanden
zahlreiche feministische Organisation, wie die Egyptian Feminist Union (EFU), und die
Aktivistinnen begannen sich nun auch öffentlich als Feministinnen zu bezeichnen. Diese
zweite Phase des ägyptischen Feminismus wird wiederum in mehrere Phasen unterteilt.
Eine radikal liberale Phase von 1920 bis in die 1940er Jahren. Populistischer Feminismus
ab Ende der 1940er bis in die 1950er Jahre, welche dann stark vom Nasserismus geprägt
waren. Den sexuellen Feminismus der 1960er und 1970er Jahre sowie den wieder
erstarkten Feminismus der 1980er. 42 Diese Phasen werden im weiteren Verlauf des
Kapitels übersichtsartig dargestellt.
Der Grund für das veränderte Auftreten der feministischen Aktivistinnen ist vor allem in
der ägyptischen Verfassung von 1923 begründet. Darin wird den Frauen das Wahlrecht,
trotz ihres aktiven und letztendlich erfolgreichen Kampfes gegen die Besatzung und für die
nationale Unabhängigkeit an der Seite der Männer und innerhalb der Parteien,
verweigert.43 Dadurch gerieten die Feministinnen aus den elitären Schichten in eine
Zwickmühle. Zum einen waren sie enttäuscht dass die feministische Agenda keinen
Eingang in die säkularen Gesetze gefunden hatte, zum anderen profitierten sie nach wie
vor von ihrer Zugehörigkeit zur hegemonialen sozialen Klasse. So stehen sie einerseits
über den Frauen niedrigerer Klassen, was ihre soziale Lage und ihren Einfluss auf die
politischen Entscheidungen betrifft, zum anderen waren sie rechtlich genau so schlecht
gestellt wie diese, da für sie nach wie vor das traditionelle islamische Familienrecht galt.
14
41 Ahmed a. a. O. 1992. S. 169-175.
42 Badran a. a. O. 2009. S. 118.
43 Ahmed a. a. O. 1992. S. 176f.
21. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
Dennoch waren sie durch ihre finanzielle Lage privilegiert und hatten ungleich mehr
Lebenschancen und Optionen als die Frauen der unteren Schichten, die bei Weitem die
Mehrheit der weiblichen Bevölkerung darstellten. Wie bereits oben angesprochen waren es
die Frauen der Oberschicht, welche den feministischen Diskurs und das Agendasetting
beherrschten, den Frauen der Unterschicht mangelte es dazu an Bildung und
Artikulationsmöglichkeiten.44
Da den Aktivistinnen direkte aktive Teilnahme an der Politik durch das fehlende
Wahlrecht nicht möglich war, gründeten sie, wie bereits angesprochen, Frauenvereine und
Organisationen, gaben Zeitungen heraus, organisierten Veranstaltung und bemühten sich
um Bildungs- und Gesundheitsprojekte. Dabei gab es immer wieder personelle
Überschneidungen, Abspaltungen und Neugründung quer durch das politische und
religiöse Spektrum. Dies hielt bis zur Revolution der sogenannten Freien Offiziere, unter
ihnen Nasser, 1952 an. Nachdem dieser seine Macht im Revolutionäre Kommandorat bis
1954 konsolidiert hatte, wurde nach und nach jegliche Opposition ausgeschaltet. Die
feministischen Gruppen wurden ebenfalls entweder aufgelöst oder unter Führung des
Kommandorates im Sinne des Nasserismus, oft unter anderem Namen und personeller
Leitung, weitergeführt. Der Nasserismus sollte in seinem sozialistischen Selbstverständnis
allen Ägyptern, also auch den Frauen, Fortschritt bringen. So wurde 1956 schließlich das
Frauenwahlrecht, welches seit über 30 Jahren von den Aktivistinnen gefordert wurde,
eingeführt. Auch erhielten sie unbeschränkten Zugang zu den Universitäten, was zu einem
deutlichen Anstieg der Anzahl weiblicher Studentinnen führte. Das alte
Personenstandsrecht, welches Frauen benachteiligte, blieb jedoch unangetastet. Frauen
hatten nun zwar die vollen politischen Rechte, das patriarchale System hatte in der
Gesellschaft dennoch fast unverändert Bestand. Nasser konnte und wollte dies nicht
antasten.45 Der fortdauernden Kampf feministischer Aktivistinnen und Organisationen
gegen das patriarchale System beschränkte sich dabei nicht nur auf Ägypten, wenn auch
dieser vorrangig war und als nationalistischer Kampf gegen die teilweise immer noch
bestehende Besatzung verstanden wurde, sondern sie beteiligten sich auch an
internationalen Frauenkongressen und an internationalen Frauenorganisationen. Das
Verhältnis zwischen den arabischen und westlichen Feministinnen blieb aber stets
gespannt und durch den Kolonialismus belastet. Arabische Feministinnen wurden von
ihren internationalen Schwestern von oben herab behandelt und galten als unemanzipiert
im Vergleich zu ihrem westlichen Pendant. Dies verstärkte sich durch die Gründung Israels
15
44 Mariscotti a. a. O. 2008. S. 38f.
45 Badran a. a. O. 2009. S. 125-129.
22. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
1948 und der daraus entstehenden Palästinenserfrage nach dem Zweiten Weltkrieg, so dass
die arabischen Aktivistinnen sich mehr auf einen pan-arabischen Feminismus verlagerten,
da die westlichen Feministinnen unreflektiert die Position des neuen israelischen Staates
vertraten. Ab diesem Zeitpunkt konzentrierten sich die Aktivistinnen auf Projekte im
arabischen Raum.46
Mit der Revolution im Jahr 1952 endete die Phase des radikalen Feminismus in Ägypten
und die Phase des populistischen beziehungsweise staatlich gesteuerten Feminismus
begann. Dieser brachte den Frauen zwar einige Fortschritte wie das Wahlrecht, bessere
Bildungsmöglichkeiten und mehr Zugangschancen zum Arbeitsmarkt auf der einen Seite,
zeichnete sich aber auch durch das Verbot aller unabhängigen Frauenorganisationen aus.
Daran wird ersichtlich, dass die Frauenförderung in erster Linie dem nasseristischen
Regime zu Gute kommen sollte. Engagierte Frauenrechtlerinnen waren somit gezwungen
sich entweder den staatlichen Vorgaben anzupassen oder ihre Arbeit im Verborgenen
fortzusetzen, was viele auch taten. Die vom Staat vorzuweisenden Erfolge weckten bei
vielen Aktivistinnen jedoch auch Hoffungen auf eine bessere Zukunft. Rechtlich änderte
sich in dieser Zeit, wie bereits erwähnt, bis 1962 wenig. 1962 wurden in der Nationalen
Charta der pan-arabische Charakter Ägyptens und die Forderung nach sozioökonomischer
Entwicklung hervorgehoben. Gleichzeitig wurde die Gleichberechtigung von Männern und
Frauen postuliert und die Rolle der Frau als konstruktiv und wichtig für die Entwicklung
beschrieben. Ein erster zögerlicher staatlicher Versuch die Macht des Patriarchats zu
brechen. Gleichzeitig garantierte der Staat Chancengleichheit für alle Ägypter, diese
Chancengleichheit gab es in der Realität jedoch nicht. 47
Insgesamt blieb der staatliche Feminismus halbherzig. Profiteurinnen waren vor allem
Frauen der urbanen gebildeten Mittelschicht, für die weibliche Landbevölkerung hingegen
änderte sich nur wenig an ihren harten Lebensbedingungen. Aber auch die gebildeten
urbanen Frauen waren von Führungspositionen in Politik und Wirtschaft, bis auf wenige
Ausnahmen, die propagandistisch ausgeschlachtet wurden, faktisch ausgeschlossen. Frauen
waren in ihren Karrieren den Männern immer untergeordnet, ebenso waren deutliche
Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern bei gleicher Arbeitsleistung normal.
Generell bestand in dieser Zeit eine dualistische Einstellung zu den Geschlechtern, dem
Maskulinen wurde Führungskraft und Autorität zugesprochen, das Weibliche wurde als
dessen Gegenteil konstruiert und als dem Maskulinen untergeordnet betrachtet. Dies war
16
46 Badran a. a. O. 1995. S. 108ff.
47 Badran a. a. O. 2009. S. 32-38.
23. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
zwar nicht offizielle Politik des Regimes, wurde aber durch dessen patriarchale
Führungsstrukturen deutlich und spiegelte sich auch in der Gesellschaft wider. 48
Dennoch kann Ägypten für die Zeit des Arabischen Sozialismus unter Nasser und seinen
Nachfolgern auf vielen anderen Bereichen Erfolge in der Modernisierung des Staates,
insbesondere bei der Bildung vorweisen, auch wenn viele Ziele bis heute nicht erreicht
sind. So besuchten 1952 gerade einmal 45 Prozent der Kinder die Grundschule, 1967
waren es bereits 80 Prozent. An den Universitäten kamen 1953 auf eine Studentin 13,2
Studenten. 1967 lag diese Rate nur noch bei 1,8. Dies schlug sich auch auf dem
Arbeitsmarkt nieder. Beim Kampf gegen das Analphabetentum scheiterte Ägypten
dagegen. 1976 waren immer noch 43 Prozent der männlichen und 71 Prozent der
weiblichen Bevölkerung Analphabeten. Bei der Analphabetenrate bestand weiterhin ein
deutlicher Unterschied bei den Geschlechtern. Es wurde also nicht erreicht diesen
Gender-Gap, vor allem bei der Bildung und der politischen Teilhabe, zu schließen. 49
Der Schleier, an dem sich etliche Debatten zwischen Traditionalisten und Modernisten
während der britische Besatzung Ägyptens von 1882 bis 1954 entzündet hatten (siehe
oben) verschwand in der Ära Nassers nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit. Auch weil
Nasser erfolgreich den Einfluss der islamistischen Muslimbrüder, welche für ihn eine der
gefährlichsten Oppositionsgruppen darstellte, durch rigides Vorgehen zurückdrängen
konnte. Hinzu kam, dass viele Frauen von seinen sozialistischen Bildungsprogrammen, der
zunehmenden Teilhabe an der Lohnarbeit, der politischen Gleichstellung und der
weitgehenden Gleichberechtigung profitierten. Erst mit der, als arabische Katastrophe
empfundenen, Niederlage im Sechs-Tage-Kriege gegen Israel 1967 sollte sich das wieder
ändern. Diese Niederlage demaskierte quasi das Regime mit all seinen Schwächen, machte
Korruption und politische Unfähigkeit der politischen Führung deutlich und stärkte
dadurch die religiösen und islamistischen Kräfte. Unter Nassers Nachfolger Sadat und
dessen Politik verstärkte sich dieser Trend noch weiter. 50
Anwar Sadat, der Nachfolger Nassers, brach mit dem nasseristischen Sozialismus und
betrieb seine Politik der Öffnung, auch „Politik der offenen Tür“ genannt. Dabei öffnete er
48 Hatem, Mervat F.: Secularist and Islamist Discourses on Modernity in Egypt and the Evolution of the
Postcolonial Nation-State. In: Haddad, Yvonne Yazbeck und John L. Esposito (Hrsg.): Islam, Gender, and
Social Change. New York u. a. 1998. S. 85-99. S. 87ff.
49 Ahmed a. a. O. 1992. S. 210f.
50 Fathi-Rizk, Nazli: The veil. Religious and historical foundations of the modern political discourse. In:
Sadiqi, Fatima und Moha Ennaji (Hrsg.): Women in the Middle East and North Africa. Agents of Change.
London und New York 2011. S. 15-35 S. 17-21.
17
24. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
der westlichen Wirtschaft die Märkte Ägyptens bedingungslos, was zu einer Schwemme
westlicher Produkte und Handelsketten führte. Gleichzeitig reichte er den religiösen
Kräften wie den Muslimbrüdern die Hand und lockerte die unter Nasser herrschenden
Restriktionen. Die Islamisten wussten die neue Lage auszunutzen und bauten ihren
gesellschaftlichen Einfluss massiv aus, so dass Sadat später nicht mehr in der Lage war die
islamistischen Kräfte so zu kontrollieren, wie er es zu Anfang erhofft hatte. Der
gesellschaftliche Einfluss der Muslimbrüder erstreckte sich dabei auch auf die Frauen und
die sichtbare Religiosität in der Öffentlichkeit nahm wieder zu. Sadats Ehefrau Jihan
hingegen drängte im Hintergrund auf die weitere Verbesserung der Lage der Frauen. In der
neuen Verfassung von 1971 schlug sich dies dann in der Passage nieder, in welcher die
Diskriminierung auf Grund des Geschlechts als unzulässig bezeichnet wurde. 51 In diese
Zeit fällt auch der Beginn der Geschlechterdebatte in Ägypten oder die Zeit des sexuellen
Feminismus wie ihn Badran bezeichnet. Vorreiterin war hier Nawal el-Saadawi. Saadawi
prangerte in ihren Werken nicht nur die weibliche Genitalverstümmelung an, sondern
machte die sexuelle Dominanz der Männer über die Frauen in allen sozialen Schichten
deutlich.52
Die Regierungszeit Sadats und die feministische Debatte zu dieser Zeit bewegten sich
generell im Spannungsfeld zwischen den wachsenden westlichen Kultur- und
Wirtschaftseinflüssen, dem Wiedererstarken der islamistischen Kräfte, dem Kampf um den
Körper der Frau sowie der Forderung nach einem säkularen Personenstandsrecht. 5354
In den 1980er Jahren trat der Feminismus in Ägypten wieder verstärkt in die
Öffentlichkeit. Erneut war es Saadawi die eine neue feministische Gruppe, die Arab
Women`s Solidarity Association (AWSA)55, gründete. Ebenso entstanden andere Gruppen,
welche genau wie AWSA ebenfalls Zeitschriften herausgaben. Zwei Gruppen von
Aktivistinnen lassen sich unterscheiden. Zum einen junge Frauen die in der
Studentenbewegung aktiv waren, zum anderen Frauen in ihren 40er und 50er Jahren,
welche sich innerhalb bestimmter Projekte engagierten. Daneben existierten noch weitere
informelle unregistrierte Gruppierungen. Die Motivation sich für Frauenrechte einzusetzen
51 Badran a. a. O. 2009. S. 39ff.
52 Ebd. a. a. O. 2009. S. 130ff.
53 Haddad, Yvonne Yazbeck: Islam and Gender: Dilemmas in the Changing World. In: Haddad, Yvonne
Yazbeck und Esposito, John L. (Hrsg.): Islam, Gender, and Social Change. New York u. a. 1998. S. 3-2. S.
7f.
54 Ahmed a. a. O. 1992. S. 214.
55 Vgl. www.awsa.net. Aufruf am 30.03.2013
18
25. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
war weit gestreut. Sie reichte von der Friedensbewegung, zum Beispiel gegen den
israelischen Einmarsch in den Libanon 1982, bis zu Organisationen die für bessere
Arbeitsbedingungen für Frauen kämpften und die Einhaltung der garantierten Rechte
forderten. Das Klima den Feministinnen gegenüber war eher abweisend bis feindlich,
sowohl von islamistischer als auch von staatlicher Seite aus. 56
Gleichzeitig nahm in den 1980er Jahren die Verschleierung in Ägypten massiv zu, was
verschiedene Ursachen und Gründe hatte. Anfang der 1980er war in Ägypten ein stiller
Wandel zu einem neuen Lebensstil im Gange. Dies äußerte sich auch in einer bei den
Frauen durch den Schleier nach außen hin getragenen sichtbaren Religiosität. Wobei sich
zeigte, dass verschleierte Frauen nicht unbedingt gläubiger waren als unverschleierte, viel
mehr hatten sie ein etwas anderes Verständnis von Religiosität. Ein weiterer Grund war die
weit verbreitete Tatsache, dass unverschleierte Frauen in der Öffentlichkeit sehr oft
sexueller Belästigung ausgesetzt waren, da sie als unmoralisch und „leicht zu haben“
galten. Der Schleier diente somit auch dem Schutz vor zudringlichen Männern oder wurde
von den Ehemännern eingefordert, die sich um ihre Ehefrauen sorgten. Die Motivation den
Schleier anzulegen änderte sich langsam im Laufe des Jahrzehnts. Zu Anfang war es eher
eine freiwillige Entscheidung der Frauen den Schleier zu tragen, eine Art
Modeerscheinung. Wie in dieser Arbeit bereits erwähnt, war die Verschleierung in
Ägypten in den letzten 150 Jahren einem ständigen Wechsel unterworfen. Zu Ende des
Jahrzehnts wurde der Einfluss der Islamisten, insbesondere der der Muslimbrüder, jedoch
immer deutlicher. Diese setzten den Schleier in der Öffentlichkeit wieder durch. 57
Die Islamisten machten sich dabei die finanzielle und gesellschaftliche Lage der Frauen zu
nutze und boten Serviceleistungen wie beispielsweise kostenlose Bustransporte nur für
Frauen zur Universität an. Diese Serviceleistungen standen allerdings nur Frauen in
„islamischer“ Kleidung zur Verfügung. Zudem wurde „islamische“ Kleidung, wie der
bodenlange Mantel und der Schleier, kostenlos oder für sehr wenig Geld verteilt. Für die
Islamisten war das Wiederauftauchen des Schleiers auch öffentlich sichtbares Zeichen für
die Stärke ihrer Bewegung. Dementsprechend viele Anstrengungen unternahmen sie für
die Verbreitung des Schleiers. Generell wuchs ihr Einfluss in Gesellschaft und Staat. Somit
wuchs auch der islamistische Einfluss in der Politik und dadurch insbesondere in den
Schulen, so dass bereits viele junge Mädchen den Schleier anlegten. Auffällig ist, dass
56 Badran a. a. O. 2009. S. 132ff.
57 Ahmed, Leila: A Quiet Revolution. The Veil´s Resurgence, from the Middle East to America. New Haven
und London 2011. S. 117-130.
19
26. 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten
besonders jüngere gebildete Frauen verstärkt den Schleier trugen, ältere Frauen lehnten
dies häufig ab, da sie lange dafür gekämpft hatten den Schleier ablegen zu können. 58
Die Meinungen über die Beurteilung der Geschichte des Feminismus in Ägypten gehen
auseinander. Margot Badran zeichnet in ihren Untersuchungen, die auch für dieses Kapitel
verwendet wurden, ein recht positives Bild eines eigenständigen ägyptischen Feminismus
über Klassengrenzen hinweg. 59 Leila Ahmed dagegen ist wesentlich kritischer und spricht
zumeist von einem elitären, von westlichen Ideen geprägten, Feminismus in Ägypten. 60
Festzuhalten bleibt der ereignisreiche, wechselhafte und teilweise erfolgreiche, teilweise
gescheiterte Kampf der ägyptischen Frauen um ihre Rechte und ihren gleichberechtigten
Platz in der Gesellschaft.
Dabei müssen sich die Belange der Frauen bis heute denen der Männer, der Nation und der
staatlichen Entwicklung unterordnen. Zudem zeigen sich die ägyptischen Männer resistent
gegen die Neudefinierungen von Geschlecht und Geschlechterrollen und verweigern den
Frauen damit die Gleichberechtigung. Zwar eroberten die Frauen besonders nach 1952 den
öffentlichen Raum, in der Arbeitswelt, zumindest in der Lohnarbeit und bei der politischen
Repräsentation sind sie dennoch deutlich unterrepräsentiert. Die Sphäre der Frau bleibt
nach wie vor der Haushalt und die Kindererziehung. Durch diese sozialen Normen
eingeschränkt, bleibt den Frauen oft nur gewerbliche Kleinarbeit von zu Hause aus, da sie
in anderen Bereichen nicht akzeptiert werden und dort oft Opfer männlicher Attacken
werden. Die Unterstützung der politischen Parteien für mehr Partizipation ist ebenfalls
entweder äußerst dürftig oder überhaupt nicht vorhanden. 61
Insgesamt verläuft die Geschichte des Feminismus in Ägypten typisch für ein
kolonialisiertes Land der Dritten Welt. Chong-Sook Kang und Ilse Lenz 62 beschreiben
folgenden Verlauf:
Durch das gewaltsame Eintreten in die Weltwirtschaft und die industriekapitalistische
Entwicklung durch den Kolonialismus wird die bisherige Wirtschafts- und Sozialstruktur
58 Ebd. a. a. O. 2011. S. 131-141.
59 Vgl. Badran a. a. O. 2009 und a. a. O. 1995.
60 Vgl. Ahmed a. a. O. 1992.
61 Ragheb Awad, Hoda: The legal status of women in Egypt. Reform and social inertia. In: Sadiqi, Fatima
und Moha Ennaji: Women in the Middle East and North Africa. Agents of Change. London und New York
2011. S. 129-146. S. 138ff.
62 Kang, Chong-Sook und Ilse Lenz: „Wenn die Hennen krähen…“. Frauenbewegungen in Korea. Münster
1992.
20
27. 3. Theoretische Grundlagen
erschüttert. Dabei bilden sich politische Bewegungen von Frauenbewegten, die gegen die
ungleichen Bildungschancen und die Selbstprivilegierung der Männer durch Kodifizierung
patriarchalischer Traditionen in modernem Recht kämpften. Diese Bewegungen formieren
sich dann im frühen 20. Jahrhundert zu antikolonialen und demokratischen Bewegungen.
Im Zuge der Neuen Sozialen Bewegungen bilden sich ab den 1960er Jahren dann
breitgefächerte Frauenbewegungen mit unterschiedlichen Forderungen nach Machtbildung,
gegen misogyne Gewalt und gegen sexuelle Unterdrückung. Diese Phase trat durch den
Staatsfeminismus unter Nasser in Ägypten erst nach dessen Tod in den 1970er Jahren ein.
Lenz sieht in der Frauenbewegung eine Antwort auf die Krisen der Modernisierung, die je
nach Kultur und Angehörigkeit zu Zentrum oder Peripherie des kapitalistischen
Weltsystems, unterschiedlich wahrgenommen und bekämpft werden. Die Frauen der
Dritten Welt übernehmen deshalb nur bestimmte westliche Feminismuskonzepte und
ergänzen diese mit eigenen um neue Synthesen zu schaffen. Frauen der Dritten Welt
bekämpfen dabei nicht nur das Patriarchat und die Armut sondern ungleiche internationale
Macht- und Handelsbeziehungen.63
Es gibt in der Geschichte des ägyptischen Feminismus Parallelen zur Geschichte des
westlichen Feminismus, aber auch viele Eigenheiten, welche der Kultur und der
islamischen Religion geschuldet sind. Wie die sich aktuelle Feminismusdebatte in Ägypten
gestaltete wird in Kapitel 7 Thesen dargestellt.
3. Theoretische Grundlagen
3.1 Definition Feminismus und verschiedene Strömungen
Wie in der Einleitung und Fragestellung erläutert, soll im Hauptteil die aktuelle
Feminismusdiskussion in Ägypten dargestellt werden. Dafür muss erst definiert werden,
was in dieser Arbeit unter Feminismus verstanden wird. Dafür wird eine Übersicht über die
verschiedenen Denkrichtungen und historischen Etappen gegeben, die sich zum großen
Teil auch in der Historie des Feminismus in Ägypten wiederfinden. Zudem werden einige
Definitionen angeführt und dargestellt, welche Feminismusdefinition in dieser Arbeit
verwendet wird. In Kapitel 3.2 Feminismusverständnis von Judith Butler wird das Modell
Judith Butler etwas näher erläutert. Die Geschichte der Frauenbewegung in Ägypten wird
in einem eigenen Kapitel behandelt (siehe Kapitel 2.1 Überblick von den Anfängen bis
heute).
21
63 Ebd. a. a. O. 1992. S. 16f.
28. 3. Theoretische Grundlagen
Über den zeitlichen Beginn der Frauenbewegung beziehungsweise des Feminismus gehen
die Meinungen auseinander. Hodgson-Wright 64 zählt bereits englische Schriften aus dem
16. Jahrhundert, die sich mit dem Patriarchat beschäftigen zu den Anfängen der
Frauenbewegung.65
Für Barbara Holland-Cunz beginnt der moderne Feminismus mit der Französischen
Revolution von 1789. Besonders hebt sie hierbei der Beitrag von Olympe de Gouges und
ihre „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ 66 vor, in dem sie die volle
Gleichberechtigung von Mann und Frau fordert. Diesen revolutionären Anspruch musste
sie im Jahr 1793 mit dem Tod auf dem Schafott bezahlen. 67 Zur gleichen Zeit verfasste
Mary Wollstonecraft ein ebenso bahnbrechendes Werk, das „Plädoyer für die Rechte der
Frau“68, in dem sie in scharfen Worten Gleichberechtigung einfordert und männliche
Despotie verurteilt.69 Von diesem Zeitpunkt an kann man auf jeden Fall vom beginn der
Frauenbewegung sprechen.
Die Historie des Feminismus lässt sich in drei Phasen einteilen. In die sogenannte „erste“
und „zweite Welle“ des Feminismus und den Postfeminismus, der auch als die „dritte“
Welle des Feminismus bezeichnet wird. Die Genderdebatte stellt ein eigenes Feld
innerhalb des Feminismus dar.
Die erste Welle des Feminismus im angloamerikanischen Raum begann, wie oben
erwähnt, mit dem Werk von Wollstonecraft. Sie und andere Aktivisten und Aktivistinnen
forderten in erster Linie gleiche Bildungschancen, Gleichheit vor dem Recht und
Beteiligung am Arbeitsmarkt. Die Forderung nach dem Wahlrecht kam zumeist erst Ende
des 19. Jahrhunderts auf und fand Anfang des 20. Jahrhundert in Groß-Britannien in der
Suffragettenbewegung ,die das weibliche Wahlrecht forderte, ihren Höhepunkt. Diese
wurde vom Ersten Weltkrieg gestoppt. Jedoch waren Frauen durch den Krieg auf der
anderen Seite stärker ins Arbeitsleben eingebunden als zuvor. Das Wahlrecht erhielten die
64 Hodgson-Wright, Stephanie: Early Feminism. In: Gamble, Sarah (Hrsg.): The Routledge Companion to
Feminism and Postfeminism. London und New York 2001. S. 3-15.
65 Ebd. a. a. O. 2001. S. 3ff.
66 Vgl. Burmeister, Karl Heinz: Olympe de Gouges, die Rechte der Frau. 1791. Bern 1999.
67 Holland-Cunz, Barbara: Die alte neue Frauenfrage. Frankfurt 2003. S. 24f.
68 Vgl. Wollstonecraft, Mary: Ein Plädoyer für die Rechte der Frau. Weimar 1999.
69 Holland-Cunz. a. a. O. 2003. S. 18f.
22
29. 3. Theoretische Grundlagen
Frauen Groß-Britanniens 1918, in manchen Staaten der USA, so zum Beispiel in Utah und
Wyoming, bereits 1869/70. 70
Trägerinnen der Bewegungen waren vor allem Frauen der Mittelklasse, deren Forderungen
sich meist auf ein enges Feld beschränkten. Solidarität mit Frauen anderer Schichten oder
gar Kulturkreise war praktisch nicht vorhanden. Trotzdem gewann die Frauenbewegung
mehr und mehr an Kraft und Schwung, so dass im 20. Jahrhundert einige Erfolge erzielt
wurden, wenn auch von einer vollen Gleichberechtigung keinerlei Rede sein kann. 71 Die
bereits angesprochene mangelnde Solidarität mit anderen Frauen verkehrt sich teilweise
sogar ins Gegenteil. Im Kolonialismus wurden Frauen zu Mittäterinnen, indem sie sich als
Teil der westlichen Hegemonie beteiligten und diesen oft auch befürworteten, anstatt sich
mit den ebenfalls Unterdrückten zu solidarisieren. Westliche Feministinnen nahmen an,
dass das System der patriarchalen Unterdrückung universell sei und übersahen wie der
Kolonialismus neue Formen der Unterdrückung schaffte ohne die alten
Unterdrückungsmechanismen der indigenen Gesellschaften zu beenden. 72
Ähnlich schreibt Holland-Cunz. Sie attestiert den Aktivisten und Aktivistinnen der ersten
Welle ebenfalls mangelnde Solidarität und Egozentrismus, sowie eine verzerrte
Wahrnehmung des Unterdrückungsverhältnisses. Ursprünglicher Grund für das entstehen
der modernen Frauenbewegung ist das nicht eingelöste Versprechen der Gleichheit,
welches in der Französischen Revolution gegeben wurde. Die drei Schlagworte Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit galten offensichtlich nur für männliche Angehörige der
Bürgerschaft.73 Weiterhin war die erste Phase des Feminismus, besonders in Deutschland,
geprägt von Flügelkämpfen zwischen bürgerlichen und sozialistischen Aktivistinnen und
Aktivisten sowie zwischen radikalen Forderungen nach einem totalen Umbruch und
Reformbewegungen. Die Wechselbeziehung zwischen reformistischen und radikalen
Forderungen kann aber auch als fruchtbar angesehen werden. Reformen schufen teilweise
erst die Vorraussetzungen für radikalere Forderungen. Die Befürworterinnen eines totalen
Umbruchs hatten das große Ganze, nämlich die volle Gleichberechtigung der Frau im
Blick, verkannten aber möglicherweise die Grenzen ihres Handlungsspielraumes. Die
70 Vgl Sanders, Valerie : First Wave Feminism. In: Gamble, Sarah (Hrsg.): The Routledge Companion to
Feminism and Postfeminism. London und New York 2001. S. 16-28. S. 16-27
71 Ebd. a. a. O. 2001. S. 27f.
72 Thürmer-Roth, Christina: Mittäterschaft von Frauen. In: Becker, Ruth und Beate Kortendiek (Hrsg.):
Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2010. S. 88-93. S.
90f.
73 Holland-Cunz a. a. O. 2003. S. 40-43.
23
30. 3. Theoretische Grundlagen
Reformerinnen hingegen liefen Gefahr das Endziel, volle Gleichberechtigung der
Geschlechter in allen Lebensbereichen, aus den Augen zu verlieren. Ein weiteres
Konfliktfeld war die Frage, ob man mit den Unterdrückern, den Männern,
zusammenarbeiten soll, oder ob das Erreichen der Ziele nur im Geschlechterkampf ohne
deren Inkorporierung möglich ist. Holland-Cunz legt nahe, dass nur die Zusammenarbeit
von Radikalen und Gemäßigten zum Erfolg führen kann. 74
Die zweite Welle der Frauenbewegung beginnt um 1963 mit Betty Friedans Buch „The
Feminine Mystique“75, in dem sie die für die Selbstbefreiung der Frau plädiert und zum
Kampf gegen antifeministische Strömungen aufruft. Dieses Buch stellt insofern einen
Wendepunkt dar, da jetzt nicht mehr Gleichberechtigung sondern Freiheit gefordert wird.
Zudem wird nun auch die Unterdrückung des weiblichen Körpers und nicht nur der Frau in
ihrer sozialen Rolle erkannt..76
Nach dem politischen Zusammenbruch des Ostblocks geraten die Nord-Süd-Konflikte
wieder vermehrt in den Fokus. Der Wegfall der bipolaren Blöcke sorgt für eine verstärkte
Internationalisierung der Frauenpolitik, auch im Rahmen von UN-Konferenzen, welche
zum Teil zu nationalen Verbesserungen der Lage der Frauen führen. Daneben finden
postmoderne Theorien, wie zum Beispiel die Debatte um Geschlecht („sex“ und „gender“),
Eingang in den innerfeministischen Diskurs (siehe Kapitel 3.2 Feminismusverständnis von
Judith Butler).77
Auch finden vor allem durch den „Schwarzen Feminismus“ aus den Vereinigten Staaten
anti-rassistische und transformative Theorien Eingang in die Diskussion. Darin wir nicht
an Kritik am weißen Mittelstandsfeminismus gespart, welcher nach wie vor die nötige
Solidarität mit Angehörigen anderer als der eigenen Bevölkerungsgruppe vermissen ließ.
Ebenso werden alle Herrschaftsverhältnisse in die feministische Analyse aufgenommen
und bereichern dadurch die Debatte nachhaltig. Somit pluralisiert sich die sogenannte
„Neue Frauenbewegung“ der zweiten Welle und sorgt, zumindest teilweise, dafür, dass die
Frauenbewegung sich wieder verstärkt gegen die Macht des Patriarchats stemmt, mit dem
sich einige Feministinnen bereits, durch Teilerfolg besänftigt, arrangiert hatten. 78
74 Ebd. a. a. O. 2003. S. 76-81.
75 Vgl. Friedan, Betty: The Feminine Mystique. New York 1983.
76 Holland-Cunz. a. a. O. 2003. S.139-143.
77 Ebd. a. a. O. 2003. S. 155f.
78 Ebd. a. a. O. 2003. S 157-161.
24
31. 3. Theoretische Grundlagen
In den Vereinigten Staaten kamen, wie oben angesprochen, die meisten Impulse aus der
„Schwarzen Frauenbewegung“, jedoch spielte die Geschlechterdebatte und die soziale
Konstruktion zunehmend eine größere Rolle. Angestoßen wurde die Geschlechterdebatte
vor allem auch durch radikale, homosexuelle Feministinnen. In Groß-Britannien verliefen
die Konfliktlinien vor allem entlang der verschiedenen Klassen. 79
Postfeminismus, auch die dritte Welle des Feminismus genannt, ist ein schwammiger und
schwer zu fassender Begriff, der in den 1980er Jahren in den Medien aufkam. Er drückte
die Meinung aus, dass der Feminismus beziehungsweise dessen Begriffskategorien von
Opfer, Unterdrücker und ähnlichem überholt sind. Der Begriff Postfeminismus hängt
ebenfalls mit dem Postmodernismus und mit Dekonstruktionalismus, siehe Judith Butler,
zusammen. Andere feministische Autorinnen tendieren eher dazu im sogenannten
Postfeminismus eine dritte Welle des Feminismus zu sehen, der sich einer veränderten und
globalisierten Welt angepasst hat und in dem erkannt wurde, dass nicht alle Frauen
weltweit unter denselben Unterdrückungsmechanismen leiden. Die Diskussion und Kritik
an der Verwendung der bisher verwendeten Begriffe und Kategorien, ebenfalls siehe
Butler, wird von ihnen begrüßt. Die feministische Debatte hat mit dem Postfeminismus
eine neue Facette hinzugewonnen. 80
Wie im vorherigen Absatz erwähnt werden Postfeminismus, Postmoderne und
Poststrukturalismus oft in einem Atemzug genannt. Dabei wird jedoch nicht immer genau
zwischen den einzeln Begriffen unterschieden. Ebenso ist man sich nicht einig, ob
postmoderne Denkweisen der feministischen Sache dienlich sind oder nicht. 81
Es gibt drei Grundgedanken postmodernen Denkens. Erstens die Kritik an einer
universalistischen Deutung von Geschichte und Gesellschaft, in der scheinbar neutrale
Normen und Werte dafür sorgen, dass Unterdrückung und Ausgrenzung von Minderheiten
weiter fortbestehen. Das Leitbild einer idealtypischen weißen, heterosexuellen
Männlichkeit, das alle anderen Gruppen marginalisiert, wird ebenso kritisiert. Hier ergeben
sich auch Anknüpfungspunkte für den Feminismus. Zweitens die Kritik an der
abendländischen Kategorie des universellen Subjekts (siehe unten Kapitel 3.2
Feminismusverständnis von Judith Butler). In der Postmoderne werden Subjekte immer
79 Thornham, Sue: Second Wave Feminism. In: Gamble, Sarah (Hrsg.): The Routledge Companion to
Feminism and Postfeminism. London und New York 2001. S. 29-42. S 29-38.
80 Gamble, Sarah: Postfeminism. In: Gamble, Sarah (Hrsg.): The Routledge Companion to Feminism and
Postfeminism. London und New York 2001. S. 43-54. S. 43-54.
81 Villa, Paula-Irene: Poststrukturalismus. In: Becker, Ruth und Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen-und
Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2010. S. 269-273. S. 269.
25
32. 3. Theoretische Grundlagen
kontext- uns situationsbezogen definiert. Die dritte These ist, dass es keinen Ort außerhalb
von bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen gibt. 82
Der postrukturalistische Ansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass er Sprache und
symbolische Ordnung als den Ort sieht, in dem Wirklichkeit konstituiert wird. Sprache
erzeugt erst die Wirklichkeit und ist nicht Abbild derselben. Damit ist alles, auch die
materielle Umwelt, diskursiv konstituiert. Sprache ist auch der Ort in dem Herrschafts- und
Machtverhältnisse bekämpft werden können. Besonders Butler vertritt diesen Ansatz, auch
wenn sie oft als Postmodernistin bezeichnet wird. Laut Butler werden auch Feministinnen
durch den Diskurs konstituiert, den sie eigentlich überwinden wollen. 83
Holland-Cunz zieht ein ähnliches Fazit zur aktuellen Situation der feministischen
Bestrebungen. Zwar sind seit Entstehung der Frauenbewegung Erfolge zu verzeichnen, es
kann aber keine Rede davon sein, dass die Kernpunkte der feministischen Forderungen
erfüllt sind. Bei diesen Kernpunkten handelt es sich um das Recht auf politische Teilhabe,
die Chance zu ökonomischer Unabhängigkeit, das Recht auf Bildung und ein
selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt. Holland-Cunz vertritt die These dass diese Ziele erst
Mitte des 21. Jahrtausends erreicht sein werden, wenn man die Geschwindigkeit der
bisherigen Entwicklung in Richtung Geschlechtergleichheit zu Grunde legt. 84 Demnach
kann noch lange nicht die Rede von Postfeminismus sein.
Die Autorin Sylvia Walby85 attestiert dem Feminismus ebenfalls alles andere als nicht
mehr existent oder überholt zu sein, nämlich im Gegenteil eine Erfolgsgeschichte, die sich
in den letzten Jahren neue Felder durch Inklusion erschlossen hat. Feministisch sind für sie
dabei all diejenigen Personen, Organisationen, Firmen und Projekte die sich für
feministische Ziele wie volle Gleichberechtigung und Freiheit in der Lebensführung
einsetzen. Dabei ist es unerheblich ob sie sich selbst als feministisch bezeichnen oder
nicht. Durch die Stigmatisierung des Begriffes „Feminismus“ wird dieser oft vermieden. 86
Dies wurde auch im Kapitel über den ägyptischen Feminismus gezeigt (siehe Kapitel 2.4
Islamistischer Feminismus in Ägypten)
Feministische Bestrebungen gibt es auf allen Ebenen, von Programmen der Vereinten
Nationen bis hin zu kleinen Graswurzelbewegungen, in staatlichen Strukturen, in der
82 Ebd. a. a. O. 2010. S. 270f.
83 Ebd. a. a. O. 2010. S. 271f.
84 Holland-Cunz a. a. O. 2003. S. 247f und 254.
85 Walby, Sylvia: The Future of Feminism. Cambridge 2011.
86 Walby a. a. O. 2011. S. 1-5.
26
33. 3. Theoretische Grundlagen
Zivilgesellschaft und auch in der Wirtschaft. Dabei steht wiederum nicht das Label
„Feminismus“ im Vordergrund, sondern das tatsächliche Handeln für Frauenrechte und
Geschlechtergleichheit.87 Feministische Projekte sind dabei mit anderen Projekten und
Zielen, wie zum Beispiel dem Umweltschutz, auf komplexe Weise verwoben und
interagieren miteinander. Die Beziehungen unterliegen einem ständigen zeitlichen und
räumlichen Wechsel, in dem sich auch Koalitionen und Partnerschaften ändern können. 88
Hennessy89 bietet folgende Definition für Feminismus an. Feminismus ist ein Ensemble
von Debatten, kritischen Erkenntnissen und Sozialen Bewegungen, welches das
patriarchale Geschlechterverhältnis, das alle Menschen beschädigt, begreifen, analysieren
und verändern will. Feministische Theorie und soziale Bewegung wurde erst durch die
kapitalistische Arbeitsorganisation möglich, welche Frauen bei aller Ausbeutung, mehr
soziale Mobilität bei gleichzeitigen Gleichheitsversprechen des modernen Staates
ermöglichte. Dadurch entstanden feministisches Bewusstsein, Widerstand und
feministische Reformbewegungen. Der sogenannte westeuropäische und
nordamerikanische „liberale“ Feminismus vertrat und vertritt dabei einen allgemeinen
Geltungsanspruch für alle Frauen weltweit, dem er nicht gerecht wird. Auch deshalb
besitzt der Feminismus weder ein monolithisches Wissen noch einen monolithischen
Standpunkt. Vielmehr umfasst der Feminismus in seiner Gesamtheit eine große Bandbreite
an Ausdrucks- und Erscheinungsformen. 90
In dieser Arbeit wird das Feminismusverständnis von Sylvia Walby übernommen. Ihre
Definition lässt genug Raum für alle Ausprägungen des Feminismus in Ägypten. Viele
Aktivistinnen meiden in Ägypten den Begriff des Feminismus, verfolgen aber dennoch
dessen Ziele. Das heißt im weiteren Verlauf der Arbeit werden diejenigen Organisationen,
Neue Soziale Bewegungen, Parteien und Verbände als der feministischen Bewegung
zugeordnet, die im weiteren Sinne feministische Ziele verfolgen. Ein feministisches
Selbstverständnis der Gruppierungen ist dabei nicht unbedingt nötig. Ein rein liberales,
westliches Feminismuskonzept kann in Ägypten mit seinen Besonderheiten keine
Anwendung finden.
87 Ebd. a. a. O. 2011. S. 26f.
88 Ebd. a. a. O. 2011. S. 146.
89 Hennessy, Rosemary: Feminismus. In: Haug, Frigga (Hrsg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des
Feminismus. Band 1 Abtreibung bis Hexe. Hamburg 2003. S. 155-179.
90 Hennessy a. a. O. 2003. S.157f.
27
34. 3. Theoretische Grundlagen
3.2 Feminismusverständnis von Judith Butler
In diesem Kapitel wird das Konzept von Judith Butler vorgestellt, von dem angenommen
wird, dass sich ihr Verständnis von Feminismus fruchtbar für das Forschungsergebnis
erweist, da sich ihre Ansichten mit dem Modell des homo sociologicus verknüpfen lassen.
Folgende Ausführungen orientieren sich an Becker-Schmidt und Knapp.
Feministische Theorienbildung bewegt sich ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts
bis heute zumeist im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse und
politischer Praxis, wobei es aufgrund der unterschiedlichen Historie zu vielen
unterschiedlichen Theorietraditionen kam. Auch sind die Erfahrungen, welche Frauen
weltweit machen, nicht miteinander vergleichbar, so dass die Geschlechterfrage immer im
jeweiligen Kontext gesehen werden muss. Die Grundbegriffe werden immer wieder neu
und kritisch hinterfragt, besonders auch von Judith Butler, und neu definiert. Deutlich zu
sehen ist dies zum Beispiel an der Debatte um „sex and gender“.
Was die feministischen Theorien, der Plural ist hier bewusst gewählt, eint, ist das
Festhalten an einer kritischen Perspektive in der Analyse der Geschlechterverhältnisse. 91
Judith Butler definiert Feminismus so: „Feminism is about the social transformation of
gender relations.“92
Butler beginnt ihr Buch Gender Trouble 93 mit der Kritik an der scheinbar vorgegeben
Kategorie „Frau(en)“ (in Folge meist: Frauen) und der daran geknüpften Identität. Sie
macht dabei darauf aufmerksam, dass der Kampf um die Akzeptanz der Frauen als Subjekt
und deren volle politische Repräsentation bereits die sprachliche Unterdrückung und
Normsetzung der Herrschenden akzeptiert, da dabei die Kriterien zur Definition eines
Subjektes durch die Herrschenden festgelegt werden. Der Kampf um Gleichberechtigung
in diesem Sinne greift also zu kurz. Vielmehr muss begriffen werden, wie Frauen als
Subjekt des Feminismus durch die herrschenden Machtstrukturen hervorgebracht werden.
Das heißt die Frauen müssen erst bestimmte Bedingungen erfüllen um Subjekt zu sein, um
dann voll Repräsentation durch das politische System verlangen zu können. 94
91 Becker-Schmidt, Regina und Gudrun-Axeli Knapp: Feministische Theorien zur Einführung. Hamburg
2011. S. 7-13.
92Zitat Butler, Judith: Undoing Gender. New York und London 2004. S. 204.
93 Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York und London 2010.
94 Ebd. a. a. O. 2010. S. 2ff.
28
35. 3. Theoretische Grundlagen
Zudem lehnt sie die Annahme ab, der Begriff „Frau“ bezeichne eine gemeinsame Identität.
Die reine Geschlechtsidentität stellt nicht alles erschöpfend dar, was ein weibliches
Individuum ausmacht. Zumal die Geschlechtsidentität in den verschiedenen
geschichtlichen Kontexten unterschiedlich gebildet wird und von ethnischen, regionalen,
klassenspezifischen und anderen Modalitäten abhängig ist. Der Feminismus habe somit
keine universale Grundlage. Genauso wenig gibt es eine einzigartige Form der
Frauenunterdrückung, welche in männlich, hegemonialen Strukturen zu finden ist. Dabei
spricht sie berechtigterweise die lange vorherrschende Beschränkung der Theorienbildung
auf den westlich, christlichen Kulturkreis, in dessen Rahmen die Konstruktion des
„Orients“ im Rahmen des Kolonialismus stattfand. Damit machten sich westliche
Feministinnen teilweise mitschuldig an der Kolonialisierung und deren Begründung. 95
96.Daran anknüpfend verweißt sie auf den strittigen Begriff der Menschenrechte, der in der
westlichen Welt definiert wurde. Dabei gibt es weltweit in den verschieden Kulturen
bereits unterschiedliche Definition davon was überhaupt menschlich ist, und was die
essentiellen Bedürfnisse eines Menschen sind. Zudem unterliegen diese Definitionen
einem historischen und kulturellen Wandel.97 Ebenso geht sie kurz auf den skeptischen
Blick des Westens auf die arabisch-islamische Welt ein. 98Auf den Punkt des
Kolonialismus wurde in Kapitel 2.3 Überblick von den Anfängen bis heute näher
eingegangen.
Zusammengefasst fordert Butler die Abschaffung des Subjekts „Frau(en)“, weil darin ihrer
Meinung nach die ungleichen Geschlechterbeziehungen in einer Gesellschaft zementiert
werden. Deshalb fordert sie einen Feminismus ohne die vorausgesetzte Kategorie „Frau“
zu entwickeln.99 Inwieweit dies in Ägypten ebenfalls eine Rolle spielt, muss noch geklärt
werden. Jedoch bietet ihr Ansatz interessant Perspektiven zur Frage des
Rollenverständnisses und der Rollenbegriffe im Bezug zum Geschlecht in der ägyptischen
Gesellschaft.
Butler vertritt die Meinung, dass nicht erst die Geschlechtsidentität durch kulturelle
Interpretation geschaffen wird, sondern das Geschlecht an sich bereits konstruiert ist. So
etwas wie ein „natürliches“, durch Biologie vorgegebenes, vor-diskursives Geschlecht gibt
29
95 Ebd. a. a. O. 2010. S. 4f.
96 Vgl. Butler a. a. O. 2004. S. 229.
97 Ebd. a. a. O. 2004. S. 222f.
98 Ebd. a. a. O. 2004. S. 230f.
99 Butler a. a. O. 2010. S. 8.
36. 3. Theoretische Grundlagen
es laut ihr nicht. Die Verbannung des Geschlechts in die vor-diskursive Sphäre ist bereits
Ausdruck des bestehenden Machtverhältnisses und kulturellen Denkweisen. 100 Diese
radikale Dekonstruktion des anatomischen Geschlechtskörpers auf normativ-soziale
Produktion der Geschlechterdifferenzen führt zu heftigen Kontroversen. Ihre Behauptung
Natur sei Ergebnis und nicht Grundlage von Kultur, ist für viele schwer annehmbar. Butler
will damit das Geschlecht vom Körper lösen und die Binarität der Geschlechter und die
vorherrschenden Norm der Heterosexualität auflösen. So kann man das Geschlecht auch
nicht an rein anatomischen Geschlechtsmerkmalen festmachen, sondern es ist stets das
konstruierte „soziales Geschlecht“.101 Besonders auch in Koran und Sunna wird an vielen
Stellen auf die Unterschiede von Mann und Frau verwiesen, was in der Definition der
Geschlechter und deren Identitäten in den muslimischen Gesellschaften eine entscheidende
Rolle spielt (siehe Kapitel 2.1 Die Frau im Koran).
Die Bildung des Subjekts wird bei Butler erst durch die Unterwerfung unter die
Herrschenden möglich. Somit hängt die eigene Existenz von der Existenz einer
herrschenden Gruppe ab, da nur diese Subjekte anerkennen kann. 102 Um weiterhin als
Subjekt zu bestehen ist man gezwungen die gesellschaftlichen Normen zu wiederholen,
durch die man hervorgebracht wurde. Wenn diese Normen nicht richtig wiederholt werden,
erleidet das Subjekt Sanktionen, die auch die Existenz bedrohen können. 103 Hier gibt es
durchaus Parallelen zu Dahrendorfs homo sociologicus (siehe unten Kapitel 3.3 Der homo
sociologicus). So kann Macht durch Gesellschaft und Subjekt mit sozialer Rolle ersetzt
werden. Erfüllt der Träger einer sozialen Rolle die an ihn gestellten Rollenanforderungen
nicht, ist er Sanktionen ausgesetzt. Je nach Art der Rolle und der daran geknüpften
Erwartung durch die Gesellschaft können diese Sanktionen derart drastisch ausfallen, dass
der Träger der sozialen Rolle aufhört zu existieren. Entweder durch Ausschluss aus der
Gesellschaft, laut Dahrendorf kann der homo sociologicus nur innerhalb einer Gesellschaft
existieren, oder gar durch physische Vernichtung.
Die Theorie Butlers bietet neue Ansätze bestehende, besonders patriarchale,
Machtverhältnisse aufzubrechen und zu beenden. In der ägyptischen Gesellschaft mit ihrer
starren Rollenverteilung und klaren Zuschreibung was Frauen und das Weibliche
ausmacht, wäre die von Butler geforderte Dekonstruktion der Binarität der Geschlechter
und die Feststellung, dass das Geschlecht stets sozial strukturiert ist geeignet durch ihre
100 Ebd. a. a. O. 2010. S. 10.
101 Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung. Hamburg 2002. S. 56ff.
102 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt 2001. S. 7f.
103 Ebd. a. a. O. 2011. S. 32.
30
37. 3. Theoretische Grundlagen
Radikalität entscheidende Impulse zur Verbesserung der Situation der Frau in Ägypten zu
geben. Wie gezeigt werden wird, findet ein Großteil der feministischen Debatte in Ägypten
in einem zu eng gesteckten Rahmen statt um wirkliche Durchbrüche zu erzielen. 104
3.3 Der homo sociologicus
Wie bereits in der Einleitung angekündigt, soll das Rollenverständnis der säkularen und
islamistischen Feministinnen und dessen Auswirkung auf die aktuelle Feminismusdebatte
in Ägypten konflikttheoretisch nach dem Modell von Dahrendorf untersucht werden. Dazu
ist es unerlässlich den homo sociologicus 105, sowohl als Grundlage der Konflikttheorie als
auch zur Definition sozialer Rollen und sozialer Positionen, vorzustellen. Die Definition
und die Funktion der sozialen Rollen und Positionen nach Dahrendorf sowie die Funktion
des homo sociologicus im Gesellschaftsmodell von Dahrendorf bilden die theoretischen
Grundlagen der Arbeit. In Kapitel 5.2 Operationalisierung werden die ersten Erkenntnisse
welche in Kapitel 2. Geschichte des Feminismus in Ägypten und Kapitel 4. Aktueller
Forschungsstand zum Forschungsthema mit Hilfe der gewählten Theorie gewonnen
wurden kurz zusammengefasst.
Ralf Dahrendorf entwickelte sein Modell des homo sociologicus bereits im Jahre 1958 auf
der Suche nach einer Elementarkategorie für die soziologische Analyse sozialen Handelns.
Für ihn war dabei die Kategorie der sozialen Rolle zentral, die zu dieser Zeit, besonders im
deutschsprachigen Raum, nur unzureichend definiert war. Es handelte sich dabei um ein
Essay ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Trotzdem bildet es die Grundlage für die spätere
Entwicklung seiner Konflikttheorie. 106
Dahrendorf wollte „die Elemente soziologischer Analyse im Schnittbereich der beiden
Tatsachen des Einzelnen und der Gesellschaft […]“ suchen. 107 An diesem Schnittpunkt
zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen verortet er den homo sociologicus als Träger
sozial vorgeformter Rollen. Dabei ist der Einzelne Träger seiner sozialen Rollen, aber
diese Rollen sind zugleich die ärgerlichen Tatsachen der Gesellschaft. Das heißt, nur durch
104 Saba Mahmood verweist in ihrem Buch „Politics of Piety“ ebenfalls auf die Theorie Butlers und nutzt
diese zur Analyse der so genannten „Mosche-Bewegung“ in Ägypten. Mahmood, Saba: Politics of Piety. The
Islamic Revival and the Feminist Subject. Princeton 2005.
105 Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der sozialen
Rolle. Opladen 1977
106 Vgl. Dahrendorf a. a. O. 1977. S. 5f.
107 Zitat Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der
sozialen Rolle. Opladen 1977. S.18.
31
38. 3. Theoretische Grundlagen
das Ausfüllen sozialer Rollen kann der Mensch Teil der Gesellschaft sein, ist dadurch aber
auch einem ständigen Erwartungsdruck durch die Gesellschaft ausgesetzt, die von ihm die
Erfüllung seiner Rollen verlangt und dies durch Sanktionierungen durchsetzt. 108
Wie Dahrendorf die „soziale Rolle“ und die noch folgende „soziale Position“ definiert,
wird nun dargestellt. Ebenso was er unter den „ärgerlichen Tatsachen der Gesellschaft“
versteht.109
Vor dem Begriff der Rolle führt Dahrendorf den der „sozialen Position“ ein. Jeder Mensch
besetzt demnach viele verschiedene soziale Positionen, die sich teilweise überschneiden
aber nie deckungsgleich sind. In diesen Positionen steht der Mensch in Beziehungen mit
anderen Menschen, in einem sogenannten Positionsfeld sozialer Beziehungen. Je
komplexer die Gesellschaft, desto mehr Positionen muss der Einzelne einnehmen. 110
Innerhalb der Positionen unterscheidet er zwischen erworbenen und zugeschrieben
Positionen. Besonders bei den zugeschrieben Positionen bleibt dem Einzelnen nahezu
keine Wahl, er ist gezwungen sie auszufüllen. Als Beispiel wird hier unter anderem das
Geschlecht angeführt, für die Fragestellung dieser Arbeit nicht uninteressant. Bei
erworbenen Positionen hat der Einzelne eine gewisse Entscheidungsgewalt. Allerdings
können zugeschrieben Positionen auch zu erworben werden und umgekehrt, auch ist eine
Unterscheidung nicht immer ohne Weiteres möglich. 111 Interessant ist die Frage, ob die
Frauen in Ägypten in der Lage sind Rollen zu übernehmen die bisher alleine Männern
zugeschrieben waren und ob es ihnen ebenfalls möglich ist Rollenzuschreibungen aufgrund
ihres Geschlechts abzulegen und somit mehr Freiheit in der Lebensführung zu gewinnen.
Aus diesen sozialen Positionen ergeben sich bestimmte Erwartungshaltungen der
Gesellschaft an die Träger dieser Positionen. Somit gehört zu jeder Position eine soziale
Rolle, die der Einzelne gewissermaßen zu spielen hat, um den Erwartungen der
Gesellschaft gerecht zu werden. Durch das Paar von Positionen und Rollen werden die
beiden Tatsachen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt, der wird Mensch zum
homo sociologicus. Damit ist er ein Element soziologischer Analyse und kann erforscht
werden. Laut Dahrendorf ist die Rolle dabei der wichtigere Teil, da die Rolle die Art der
Beziehung zwischen Trägern von Positionen beschreibt. Die Position bezeichnet lediglich
einen Ort in den Bezugsfeldern zwischen den Personen. An die Träger sozialer Rollen
32
108 Ebd. a. a. O.1977. S. 20.
109 Dahrendorf a. a. O. 1977. S. 36
110 Ebd. a. a. O. 1977. S.30.
111 Ebd. a. a. O. 1977. S. 54f.
39. 3. Theoretische Grundlagen
richtet die Gesellschaft eine Vielzahl an Erwartungen. 112 Dies ist ein weiterer zentraler
Punkt für das Verständnis von Gesellschaften, da an diese Erwartungshaltung bestimmte
Sanktionen bei Nichterfüllung gebunden sind.
Die Rollen untergliedern sich wiederum in verschieden Rollensegmente, je nach dem von
wem Erwartungen an diese Rolle gerichtet werden. Somit ist jede Rolle ein Komplex von
Erwartungshaltungen.113
Laut Dahrendorf gibt es drei verschieden Arten der Erwartungen. Muss-, Kann- und Soll-
Erwartungen. Muss-Erwartungen bilden den harten Kern der sozialen Rolle. Sie sind
ausdrücklich formuliert und ziehen bei Nichterfüllung die ernsthaftesten negativen
Sanktionen nach sich. Positives Feedback gibt es dabei nicht.
Soll-Erwartungen sind in ihrer Verbindlichkeit unter den Muss-Erwartungen angesiedelt.
Bei Nichterfüllung werden auch sie negativ sanktioniert, bei Erfüllung gibt es jedoch auch
Empathie und es ergeben sich möglicherweise Vorteile für die Person.
Kann-Erwartungen werden vor allem positiv sanktioniert, wenn sie regelmäßig erfüllt
werden. Bei nicht Erfüllung drohen zumeist Geringschätzung der Mitmenschen, jedoch
keine schwerwiegenden Sanktionen. 114
Art der Erwartung Positive Sanktion Negative Sanktion
Muss-Erwartung Keine Gerichtliche Bestrafung
Soll-Erwartung (Sympathie) Sozialer Ausschluss
Kann-Erwartung Schätzung (Antipathie)
Tabelle 1 Rollenerwartungen und Sanktionen nach Dahrendorf 115
All diese Verbindlichkeiten und Notwendigkeiten die auf den Einzelnen zukommen,
gepaart mit den möglichen und tatsächlichen Sanktionen bei Nichterfüllung der
Rollenerwartung, bezeichnet Dahrendorf als „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“.
Soziale Rollen sind ein Zwang, der auf den Einzelnen ausgeübt wird und in allen
Gesellschaften vorherrscht. Dabei ist nicht immer klar, ob diese gesellschaftlichen Fesseln
33
112 Ebd. a. a. O. 1977. S. 32f.
113 Ebd. a. a. O. 1977. S. 33.
114 Ebd. a. a. O. 1977. S. 37ff.
115 Nach Dahrendorf a. a. O. 1977. S. 39.
40. 3. Theoretische Grundlagen
den Menschen nur einengen, oder ihm dadurch auch eine Struktur und Halt im Leben
geben.116
Durch Positionszuordnung und Rollenverinnerlichung durch den gesellschaftlichen Zwang,
sichern die Gesellschaften ihre Ordnung. Eine wichtige Rolle spielt hierbei das
institutionelle Erziehungssystem. Jedoch haben auch nicht staatliche Stellen einen großen
Einfluss. So zum Beispiel Familie und Kirche. Beim Prozess der „Sozialisierung“ wird der
Mensch entpersönlicht und vergesellschaftet. Dabei werden große Teile der individuellen
Freiheit aufgehoben und der Kontrolle durch die Allgemeinheit unterstellt. Der
homo sociologicus ist damit den Gesetzen der Gesellschaft ausgeliefert und erfüllt seine
Rolle für diese Gesellschaft, der er angehört. 117
Die Rollenerwartungen und Rollendefinitionen die an bestimmte soziale Positionen
geknüpft sind unterliegen einem stetigen Wandel. Stimmen Rollen und tatsächliches
Verhalten nicht überein, entstehen Konflikte anhand derer sich die Richtung zukünftiger
Entwicklungen möglicherweise bestimmen lässt. Besonders wichtig ist hierbei die
Untersuchung von Konflikten innerhalb von Rollen. Die Ermittlung von
Erwartungskonflikten ist damit nach zentraler Bestandteil der Konflikttheorie. 118 Dieser
Ansatz wird auch für den Erkenntnisgewinn dieser Arbeit fruchtbar sein.
Wie an nahezu allen Definitionen und Theorien in den Sozialwissenschaften gibt es auch
am homo sociologicus Dahrendorfs, zum Teil berechtigte, Kritik. Einige Kritikpunkte
spricht er auch selbst in seinem Werk an.
So ist der homo sociologicus nur ein Teilaspekt des Menschen, es ist derjenige Teil des
Menschen, der quasi als Schauspieler auf der Bühne der Gesellschaft agiert. Der ganze
Mensch mit allen seinen Facetten ist damit freilich nicht zu fassen. 119 Zumal der
homo sociologicus in gewisser Weis erfunden wurde, um bestimmte Probleme der
Soziologie zu lösen.120 Somit ist er, wenn man so will mehr oder weniger ein willkürliches
Konstrukt.
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116 Ebd. a. a. O. 1977. S.36.
117 Ebd. a. a. O. 1977. S. 56ff.
118 Ebd. a. a. O. 1977. S. 76f.
119 Ebd. a. a. O. 1977. S. 53.
120 Ebd. a. a. O. 1977. S. 20.