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Digitalisierung ist inzwischen ein strategischer Imperativ. Die Direk-
tive von Geschäftsleitung, Eigentümern und Gremien, die digitale
Strategie zu entwickeln und die richtigen Fertigkeiten zu definieren
sowie die Transformation des Geschäftsmodels zu implementieren,
ist gefragt. Schon längst geht es nicht mehr nur um Technologie
und Plattformen. Und auch der Exportrekord 2014 – getrieben
durch den Euroverfall – sollte nicht von der Notwendigkeit der Digi-
talisierung ablenken.
Die Boardreport-Redaktion sprach mir Kerstin Lomb, mehr als 12
Jahre Partner/Global Managing Director bei Accenture, ab 1.7.2015
im Aufsichtsrat der Firefly Information Management AG sowie Partner
bei WP Global Board Strategy Consulting über die Bedeutung der
Digitalisierung für den Mittelstand.
Was unterscheidet die aktuelle „Digitale Transformation” von
einer klassischen Business-Transformation?
Die digitale Transformation erfordert spezifisches Engagement und
Know How auf der Ebene der Unternehmensleitung. Dort muss sie
initiiert und implementiert werden, weil das gesamte Geschäfts-
modell angegangen werden muss. Klassische Transformationen
werden zwar von der Unternehmensleitung freigegeben und ggf.
nimmt diese auch an Steering Committees teil; Digitalisierung jedoch,
betrifft die gesamte Firma, findet über alle Wertschöpfungsprozesse
und Mitarbeiter hinweg statt. Donald J. Gogel (CEO Clayton, Dubilier
& Rice Private Equity, CD&R) hat das in Davos beim WEF für die
eigenen Firmen auf den Punkt gebracht: „Ein Drittel der heutigen
CEO’s werden es nicht schaffen. Sie sind nicht bereit die digitale
Transformation zu führen. Sie werden ersetzt werden.“ CD&R ist
Investor bei mehr als 30 Firmen, unter anderem Hertz und John
Deere.
Wie genau verändert die Digitalisierung den Markt, die Kun-
den und die Wertschöpfung?
Mit den richtigen digitalen Prozessen können Unternehmen ihre
Innovationen schon heute – bereits weit vor Markteinführung – mit
den potentiellen Kunden testen und somit noch Anregungen zu
Modifikation und Verbesserungen einholen, die Preissensibilität
ausloten oder regionale Anforderungen einfangen. Bislang hat man
mit Fokusgruppen – meist nur kurz vor der Markteinführung – das
Produkt und den Marketingansatz getestet. Teuer in zweierlei Hin-
sicht: Hohe Kosten, aber nur eine kleine repräsentative Gruppe der
potentiellen Käufer kann Feedback geben und durch den späten
Zeitpunkt im Prozess können nur noch beschränkt Korrekturen
vorgenommen werden. Tesla hat demonstriert, dass bereits in
der Ideenevaluierungsphase breiter Kundeninput aufgenommen
und das Produkt auf direkte Nachfrage ausgerichtet werden kann.
Absatzprognosen können durch handfeste Pre-Sales konkretisiert
© JuliaSchwager
Herausforderung für Entscheidungsgremien und Eigentümer
Digitalisierung – von der Kür zur Pflicht
Viel Zeit, sich mit der Bedeutung von Digitalisierung im Kontext des eigenen Geschäfts-
modells zu befassen bleibt nicht. Jetzt müssen traditionelle Unternehmen althergebrachte
Wertschöpfungsketten und Produktionsprozesse in Frage stellen, durchbrechen und neu
definieren. Das heiSSt auch, sich gegebenenfalls andere bzw. zusätzliche Branchen und
somit neue Märkte und Segmente zu erschlieSSen.
Interview: Basma Dibs
10 Boardreport 01/2015
Interview
Um Wartezeiten für Kunden in großen Gebäuden zu optimieren, hat
Schindler eine App entwickelt, die die Fahrgäste erkennt und für diese
die optimale Fahrzeit bestimmt. Somit werden Wartezeiten massiv
reduziert. Für Eigentümer und Aufsichtsräte sehe ich deutlichen
Handlungsbedarf: letztendlich müssen sie von den Geschäftsführern
die Auseinandersetzung mit dem Thema „Digitalisierung“ einfordern,
um die ihnen anvertrauten Werte zu schützen.
Wo stehen deutsche Unternehmen im Wettbewerb mit ande-
ren Ländern was den Wandel hin zur digitalen Gesellschaft
anbelangt?
Unsere Gesellschaft ist mit einer Position im oberen Mittelfeld hin-
sichtlich der Internetnutzung im internationalen Vergleich schon weiter
vorangeschritten als unsere Wirtschaft bezüglich der Integration von
Digitalisierung in die Unternehmensstrategie. Alle Branchen sind im
Aufbruch und der Ausgang des Wettbewerbs um neue Geschäftspo-
tentiale ist noch offen. Deutschland ist stark in der Produktion/Ferti-
gungswirtschaft – genau der Sektor der für das Internet der Dinge affin
ist; Somit wird die Digitalisierung der Treiber für zukünftiges Wachstum.
Was brauchen Unternehmen hinsichtlich IT um wettbewerbs-
fähig zu bleiben und eventuell sogar stärker zu werden?
Der IT muss ein größerer Raum innerhalb der Geschäftsstrategie
gegeben werden- sie muss die digitalen Geschäftsmodelle und
Prozesse ermöglichen. Beispielsweise erfordert Digitalisierung, dass
dem Unternehmen absolut zuverlässige Daten zur erfolgreichen
Führungsarbeit innerhalb dieses neuen Paradigmas jederzeit zur
Verfügung stehen. Dieses geht über die momentanen Ansätze von
Data Management, Big Data und Analytics hinaus. Auch darf nicht
nur das firmeninterne Universum betrachtet werden, sondern ebenso
die Daten von Lieferanten, Kunden und dem Internet müssen zu
einem Bild zusammengefügt werden. Ein Trend der diese Sachlage
aufgreift ist Integrated Reporting und Linked Data, ermöglicht durch
einen Semantic Layer. Modulare Apps ermöglichen den Anwender-
freundlichen Zugang und übernehmen das semantische Verknüpfen
der relevanten Daten für eine spezifische Businessfunktion, die auch
nach Bedarf kombiniert werden können. Das eröffnet wiederum die
Chance, dass die entsprechenden Verantwortlichen die Geschäfts-
strategie mit Hilfe von Technologie tatsächlich vorantreiben können.
Wen trifft der digitale Wandel besonders?
Den Mittelstand. Wenn man beachtet, mit welcher Geschwindigkeit
der Technologie-Wandel voranschreitet, haben die meisten Unter-
nehmen in Kürze ein echtes Problem auf erforderliche Marktkennt-
nisse, Innovationskraft und Schnelligkeit sowie hoch spezialisierte
Fachkräfte zugreifen zu können. Die Geschäftsleitung und Gremien
brauchen in den eigenen Reihen digital versierte Kollegen.
Wer hat die besten Chancen, die digitale Revolution zu gestalten?
Es braucht Mut, aktuell erfolgreiche Abläufe in Frage zu stellen. Und
es braucht Gestaltungs- und Durchsetzungskraft, die Chancen der
Digitalisierung zu nutzen. Dennoch sind dies genau die Werte, die
der Mittelstand vertritt und die ihm bisher zum Erfolg verhalfen. Aus
meiner Sicht geht es um die Einbeziehung und Nutzung eines neuen
„Werkzeuges“, mit hervorragendem Nutzungspotential. Es geht nicht
darum, diese Revolution zu überleben, sondern sie zu gestalten und
von ihr zu profitieren. Unternehmen stehen vor massiven Veränderun-
gen, ja. Aber gerade Deutschland, als weltweit anerkannter Innova-
tionsstandort – hat spannende Möglichkeiten, diese Positionierung
auf „Innovationsstandort 4.0“ zu bringen.
Wie können Sie Unternehmen hierbei unterstützen?
Mit 3 Ansätzen – als Aufsichtsrat, der spezielle additive Erfahrungen
und Expertise im Bereich der Digitalisierung mitbringt; zum Zweiten
als Stratege, der Unternehmen hilft, den Prozess der Diskussion und
Perspektive der Digitalisierung zu steuern, das erforderliche Know-how
aufzubauen sowie den kulturellen Wandel, der mit dieser Transformati-
on einhergehen muss, zu gestalten. Und Drittens mit Geschäftsleitung,
Eigentümern und Gremien, erforderliche oder vakante Positionen in
der 1. Führungsebene und Gremien mit Kandidaten, die über die
entsprechende Expertise und Kenntnisse verfügen, zu besetzen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Lomb.
Kurzprofil:
Kerstin Lomb, ab 1. Juli 2015 Aufsichtsrat bei der Firefly Information
Management AG und Partner der WP Global Board Strategy Consulting.
Sie war über 12 Jahre Partner/Global Managing Director bei Accenture
und Mitglied des globalen Führungsteams. Kerstin Lomb verantwortete
Marktentwicklung sowie das weltweite Marketing für die Industrien Kon-
sumgüter, Airlines, Fracht & Logistik, Bahn, Industrial Equipment, Life
Sciences sowie Automobil und Zulieferer. Lomb unterstütze verschie-
dene Fortune 500 Unternehmen in Change Management Projekten. Sie
hat nachweisliche Erfolge in der Entwicklung und Implementierung von
digitalen Geschäftsmodellen und Prozessen mit globalem Branding und
Wettbewerbspositionierung in Schwellenmärkten und schnelllebigen
Branchen und Ländern. Vor Accenture war Kerstin Lomb Geschäfts-
führerin bei Publicis und als Abteilungsleiterin bei der Telekom.
werden. Crowdfunding bietet Lösungen für die Verteilung von For-
schungs- und Entwicklungsaufwand sowie die Investitionsanschub-
Finanzierung. Kunden „entwerfen“ also nicht nur „ihr“ Produkt, sie
sind auch bereit, Entwicklungsrisiken und -aufwand finanziell zu teilen.
Betreffen diese Veränderungen nicht vor allem Medienunter-
nehmen und die Konsumgüterbranche?
Die Potentiale liegen in den Geschäftsmodellen aller Branchen des
produzierenden Gewerbes, des Handwerks sowie des Handels.
Überall wo hohe Wandlungsfähigkeit, Ressourceneffizienz sowie die
Integration von Kunden und Geschäftspartnern in die Wertschöp-
fungsprozesse wichtig sind. Stichwort Industrie 4.0 und Smart Fac-
tory. Philips Healthcare beispielsweise, hat einen Prototyp auf Basis
von Google Glass entwickelt, der dem Operateur die Vitalfunktionen
des Patienten direkt einspielt. Gleichzeit können Spezialisten heute
den Operationsprozess von fast jedem Ort der Welt beobachten
und den Operateur in Real Time unterstützen. Kein Krankenhaus
kann Spezialisten aller Bereiche vorhalten. Mit Wearables kann in
der Notfallmedizin durch diese „Fernunterstützung“ sowie der Zugriff
auf alle relevanten Patientendaten, Leben gerettet werden. Beispiele
für den sinnvollen Einsatz gibt es für nahezu alle Branchen – es ist
die Frage was ermöglicht einen höheren Kundennutzen, besse-
ren Kundendienst, effizientere Produktion oder erhöht die Arbeits-
sicherheit. Wenn auch im Konsumerbereich Google die Glasses
zurückgezogen hat, im Industriellen Internet der Dinge (IIoT) liegen
immense Potentiale.
Wie weit ist die digitale Transformation aus Ihrer Sicht denn
schon fortgeschritten?
Es erfordert natürlich Mut, traditionelle Geschäftsmodelle und Pro-
zesse vorbehaltlos auf den Prüfstand zu stellen und mit der Linse
„Digitalisierung“ zu analysieren. Diese Transformation muss von der
Unternehmensleitung initiiert und geführt werden, denn das Thema
kann im Unternehmen auf viele kulturelle und praktische Widerstände
stoßen. In Ansätzen werden schon in allen Branchen Elemente digitaler
Prozesse eingesetzt. Doch das reicht nicht, um wettbewerbsfähig
zu bleiben. Laut einer Studie der DZ Bank vom September 2014
erkennt der Mittelstand die Bedeutung der Digitalisierung, ignoriert
diese aber weitgehend. Man gewinnt den Eindruck, dass Digitalisie-
rung nur mit IT Investitionen in Verbindung gebracht wird statt mit
der Geschäftsstrategie und den Wertschöpfungsprozessen. Und es
scheint bisweilen auch der Mut zu fehlen, Bestehendes – vor allem
aktuell Erfolgreiches – zu hinterfragen. Doch Mutlosigkeit kann ange-
sichts der Geschwindigkeit von Veränderungen sehr gefährlich sein,
denn die Konsequenzen versäumter Entscheidungen wirken sich
immer schneller aus. Ein positives Beispiel ist der Aufzug-Hersteller
Schindler, der gerade den „Digital Innovation Award“ gewonnen hat.
Nach Optimierung aller Back Office Funktionen, hat Schindler nun
das Front End digitalisiert: Alle Service-Mitarbeiter sind mit iPads
oder iPhones unterwegs. Sie können beispielsweise Ersatzteile per
Knopfdruck direkt bestellen oder sie können sich alle Baupläne für
das jeweilige Modell direkt vor Ort laden. Über Sensorik und komplexe
Rechenmodelle kann der Wartungsbedarf prognostiziert werden.
Kerstin Lomb, Expertin in der Entwicklung und Implementierung von digitalen Geschäftsmodellen und Prozessen.
© JuliaSchwager
KONTAKT
Kerstin Lomb
E-Mail: kerstinlomb@gmail.com
1312 Boardreport 01/2015Boardreport 01/2015
Interview

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Boardreport_01_2015_K_Lomb_3

  • 1. Digitalisierung ist inzwischen ein strategischer Imperativ. Die Direk- tive von Geschäftsleitung, Eigentümern und Gremien, die digitale Strategie zu entwickeln und die richtigen Fertigkeiten zu definieren sowie die Transformation des Geschäftsmodels zu implementieren, ist gefragt. Schon längst geht es nicht mehr nur um Technologie und Plattformen. Und auch der Exportrekord 2014 – getrieben durch den Euroverfall – sollte nicht von der Notwendigkeit der Digi- talisierung ablenken. Die Boardreport-Redaktion sprach mir Kerstin Lomb, mehr als 12 Jahre Partner/Global Managing Director bei Accenture, ab 1.7.2015 im Aufsichtsrat der Firefly Information Management AG sowie Partner bei WP Global Board Strategy Consulting über die Bedeutung der Digitalisierung für den Mittelstand. Was unterscheidet die aktuelle „Digitale Transformation” von einer klassischen Business-Transformation? Die digitale Transformation erfordert spezifisches Engagement und Know How auf der Ebene der Unternehmensleitung. Dort muss sie initiiert und implementiert werden, weil das gesamte Geschäfts- modell angegangen werden muss. Klassische Transformationen werden zwar von der Unternehmensleitung freigegeben und ggf. nimmt diese auch an Steering Committees teil; Digitalisierung jedoch, betrifft die gesamte Firma, findet über alle Wertschöpfungsprozesse und Mitarbeiter hinweg statt. Donald J. Gogel (CEO Clayton, Dubilier & Rice Private Equity, CD&R) hat das in Davos beim WEF für die eigenen Firmen auf den Punkt gebracht: „Ein Drittel der heutigen CEO’s werden es nicht schaffen. Sie sind nicht bereit die digitale Transformation zu führen. Sie werden ersetzt werden.“ CD&R ist Investor bei mehr als 30 Firmen, unter anderem Hertz und John Deere. Wie genau verändert die Digitalisierung den Markt, die Kun- den und die Wertschöpfung? Mit den richtigen digitalen Prozessen können Unternehmen ihre Innovationen schon heute – bereits weit vor Markteinführung – mit den potentiellen Kunden testen und somit noch Anregungen zu Modifikation und Verbesserungen einholen, die Preissensibilität ausloten oder regionale Anforderungen einfangen. Bislang hat man mit Fokusgruppen – meist nur kurz vor der Markteinführung – das Produkt und den Marketingansatz getestet. Teuer in zweierlei Hin- sicht: Hohe Kosten, aber nur eine kleine repräsentative Gruppe der potentiellen Käufer kann Feedback geben und durch den späten Zeitpunkt im Prozess können nur noch beschränkt Korrekturen vorgenommen werden. Tesla hat demonstriert, dass bereits in der Ideenevaluierungsphase breiter Kundeninput aufgenommen und das Produkt auf direkte Nachfrage ausgerichtet werden kann. Absatzprognosen können durch handfeste Pre-Sales konkretisiert © JuliaSchwager Herausforderung für Entscheidungsgremien und Eigentümer Digitalisierung – von der Kür zur Pflicht Viel Zeit, sich mit der Bedeutung von Digitalisierung im Kontext des eigenen Geschäfts- modells zu befassen bleibt nicht. Jetzt müssen traditionelle Unternehmen althergebrachte Wertschöpfungsketten und Produktionsprozesse in Frage stellen, durchbrechen und neu definieren. Das heiSSt auch, sich gegebenenfalls andere bzw. zusätzliche Branchen und somit neue Märkte und Segmente zu erschlieSSen. Interview: Basma Dibs 10 Boardreport 01/2015 Interview
  • 2. Um Wartezeiten für Kunden in großen Gebäuden zu optimieren, hat Schindler eine App entwickelt, die die Fahrgäste erkennt und für diese die optimale Fahrzeit bestimmt. Somit werden Wartezeiten massiv reduziert. Für Eigentümer und Aufsichtsräte sehe ich deutlichen Handlungsbedarf: letztendlich müssen sie von den Geschäftsführern die Auseinandersetzung mit dem Thema „Digitalisierung“ einfordern, um die ihnen anvertrauten Werte zu schützen. Wo stehen deutsche Unternehmen im Wettbewerb mit ande- ren Ländern was den Wandel hin zur digitalen Gesellschaft anbelangt? Unsere Gesellschaft ist mit einer Position im oberen Mittelfeld hin- sichtlich der Internetnutzung im internationalen Vergleich schon weiter vorangeschritten als unsere Wirtschaft bezüglich der Integration von Digitalisierung in die Unternehmensstrategie. Alle Branchen sind im Aufbruch und der Ausgang des Wettbewerbs um neue Geschäftspo- tentiale ist noch offen. Deutschland ist stark in der Produktion/Ferti- gungswirtschaft – genau der Sektor der für das Internet der Dinge affin ist; Somit wird die Digitalisierung der Treiber für zukünftiges Wachstum. Was brauchen Unternehmen hinsichtlich IT um wettbewerbs- fähig zu bleiben und eventuell sogar stärker zu werden? Der IT muss ein größerer Raum innerhalb der Geschäftsstrategie gegeben werden- sie muss die digitalen Geschäftsmodelle und Prozesse ermöglichen. Beispielsweise erfordert Digitalisierung, dass dem Unternehmen absolut zuverlässige Daten zur erfolgreichen Führungsarbeit innerhalb dieses neuen Paradigmas jederzeit zur Verfügung stehen. Dieses geht über die momentanen Ansätze von Data Management, Big Data und Analytics hinaus. Auch darf nicht nur das firmeninterne Universum betrachtet werden, sondern ebenso die Daten von Lieferanten, Kunden und dem Internet müssen zu einem Bild zusammengefügt werden. Ein Trend der diese Sachlage aufgreift ist Integrated Reporting und Linked Data, ermöglicht durch einen Semantic Layer. Modulare Apps ermöglichen den Anwender- freundlichen Zugang und übernehmen das semantische Verknüpfen der relevanten Daten für eine spezifische Businessfunktion, die auch nach Bedarf kombiniert werden können. Das eröffnet wiederum die Chance, dass die entsprechenden Verantwortlichen die Geschäfts- strategie mit Hilfe von Technologie tatsächlich vorantreiben können. Wen trifft der digitale Wandel besonders? Den Mittelstand. Wenn man beachtet, mit welcher Geschwindigkeit der Technologie-Wandel voranschreitet, haben die meisten Unter- nehmen in Kürze ein echtes Problem auf erforderliche Marktkennt- nisse, Innovationskraft und Schnelligkeit sowie hoch spezialisierte Fachkräfte zugreifen zu können. Die Geschäftsleitung und Gremien brauchen in den eigenen Reihen digital versierte Kollegen. Wer hat die besten Chancen, die digitale Revolution zu gestalten? Es braucht Mut, aktuell erfolgreiche Abläufe in Frage zu stellen. Und es braucht Gestaltungs- und Durchsetzungskraft, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Dennoch sind dies genau die Werte, die der Mittelstand vertritt und die ihm bisher zum Erfolg verhalfen. Aus meiner Sicht geht es um die Einbeziehung und Nutzung eines neuen „Werkzeuges“, mit hervorragendem Nutzungspotential. Es geht nicht darum, diese Revolution zu überleben, sondern sie zu gestalten und von ihr zu profitieren. Unternehmen stehen vor massiven Veränderun- gen, ja. Aber gerade Deutschland, als weltweit anerkannter Innova- tionsstandort – hat spannende Möglichkeiten, diese Positionierung auf „Innovationsstandort 4.0“ zu bringen. Wie können Sie Unternehmen hierbei unterstützen? Mit 3 Ansätzen – als Aufsichtsrat, der spezielle additive Erfahrungen und Expertise im Bereich der Digitalisierung mitbringt; zum Zweiten als Stratege, der Unternehmen hilft, den Prozess der Diskussion und Perspektive der Digitalisierung zu steuern, das erforderliche Know-how aufzubauen sowie den kulturellen Wandel, der mit dieser Transformati- on einhergehen muss, zu gestalten. Und Drittens mit Geschäftsleitung, Eigentümern und Gremien, erforderliche oder vakante Positionen in der 1. Führungsebene und Gremien mit Kandidaten, die über die entsprechende Expertise und Kenntnisse verfügen, zu besetzen. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Lomb. Kurzprofil: Kerstin Lomb, ab 1. Juli 2015 Aufsichtsrat bei der Firefly Information Management AG und Partner der WP Global Board Strategy Consulting. Sie war über 12 Jahre Partner/Global Managing Director bei Accenture und Mitglied des globalen Führungsteams. Kerstin Lomb verantwortete Marktentwicklung sowie das weltweite Marketing für die Industrien Kon- sumgüter, Airlines, Fracht & Logistik, Bahn, Industrial Equipment, Life Sciences sowie Automobil und Zulieferer. Lomb unterstütze verschie- dene Fortune 500 Unternehmen in Change Management Projekten. Sie hat nachweisliche Erfolge in der Entwicklung und Implementierung von digitalen Geschäftsmodellen und Prozessen mit globalem Branding und Wettbewerbspositionierung in Schwellenmärkten und schnelllebigen Branchen und Ländern. Vor Accenture war Kerstin Lomb Geschäfts- führerin bei Publicis und als Abteilungsleiterin bei der Telekom. werden. Crowdfunding bietet Lösungen für die Verteilung von For- schungs- und Entwicklungsaufwand sowie die Investitionsanschub- Finanzierung. Kunden „entwerfen“ also nicht nur „ihr“ Produkt, sie sind auch bereit, Entwicklungsrisiken und -aufwand finanziell zu teilen. Betreffen diese Veränderungen nicht vor allem Medienunter- nehmen und die Konsumgüterbranche? Die Potentiale liegen in den Geschäftsmodellen aller Branchen des produzierenden Gewerbes, des Handwerks sowie des Handels. Überall wo hohe Wandlungsfähigkeit, Ressourceneffizienz sowie die Integration von Kunden und Geschäftspartnern in die Wertschöp- fungsprozesse wichtig sind. Stichwort Industrie 4.0 und Smart Fac- tory. Philips Healthcare beispielsweise, hat einen Prototyp auf Basis von Google Glass entwickelt, der dem Operateur die Vitalfunktionen des Patienten direkt einspielt. Gleichzeit können Spezialisten heute den Operationsprozess von fast jedem Ort der Welt beobachten und den Operateur in Real Time unterstützen. Kein Krankenhaus kann Spezialisten aller Bereiche vorhalten. Mit Wearables kann in der Notfallmedizin durch diese „Fernunterstützung“ sowie der Zugriff auf alle relevanten Patientendaten, Leben gerettet werden. Beispiele für den sinnvollen Einsatz gibt es für nahezu alle Branchen – es ist die Frage was ermöglicht einen höheren Kundennutzen, besse- ren Kundendienst, effizientere Produktion oder erhöht die Arbeits- sicherheit. Wenn auch im Konsumerbereich Google die Glasses zurückgezogen hat, im Industriellen Internet der Dinge (IIoT) liegen immense Potentiale. Wie weit ist die digitale Transformation aus Ihrer Sicht denn schon fortgeschritten? Es erfordert natürlich Mut, traditionelle Geschäftsmodelle und Pro- zesse vorbehaltlos auf den Prüfstand zu stellen und mit der Linse „Digitalisierung“ zu analysieren. Diese Transformation muss von der Unternehmensleitung initiiert und geführt werden, denn das Thema kann im Unternehmen auf viele kulturelle und praktische Widerstände stoßen. In Ansätzen werden schon in allen Branchen Elemente digitaler Prozesse eingesetzt. Doch das reicht nicht, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Laut einer Studie der DZ Bank vom September 2014 erkennt der Mittelstand die Bedeutung der Digitalisierung, ignoriert diese aber weitgehend. Man gewinnt den Eindruck, dass Digitalisie- rung nur mit IT Investitionen in Verbindung gebracht wird statt mit der Geschäftsstrategie und den Wertschöpfungsprozessen. Und es scheint bisweilen auch der Mut zu fehlen, Bestehendes – vor allem aktuell Erfolgreiches – zu hinterfragen. Doch Mutlosigkeit kann ange- sichts der Geschwindigkeit von Veränderungen sehr gefährlich sein, denn die Konsequenzen versäumter Entscheidungen wirken sich immer schneller aus. Ein positives Beispiel ist der Aufzug-Hersteller Schindler, der gerade den „Digital Innovation Award“ gewonnen hat. Nach Optimierung aller Back Office Funktionen, hat Schindler nun das Front End digitalisiert: Alle Service-Mitarbeiter sind mit iPads oder iPhones unterwegs. Sie können beispielsweise Ersatzteile per Knopfdruck direkt bestellen oder sie können sich alle Baupläne für das jeweilige Modell direkt vor Ort laden. Über Sensorik und komplexe Rechenmodelle kann der Wartungsbedarf prognostiziert werden. Kerstin Lomb, Expertin in der Entwicklung und Implementierung von digitalen Geschäftsmodellen und Prozessen. © JuliaSchwager KONTAKT Kerstin Lomb E-Mail: kerstinlomb@gmail.com 1312 Boardreport 01/2015Boardreport 01/2015 Interview