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Ein Selfie ist zum Inbegriff deutscher Will-
kommenskultur geworden und zugleich
mitverantwortlich für Angela Merkels mo-
mentane Lage, näher am Abgrund zu sein
als jemals zuvor in ihrer Zeit als Bundes-
kanzlerin: Das Foto, aufgenommen in Berlin,
zeigt sie lächelnd, und direkt neben ihr steht
Hassan Alasad, Flüchtling aus Syrien, unter-
gebracht in einer Erstaufnahmeeinrichtung.
Markus Feldenkirchen hat Alasad getroffen,
auch ein Selfie gemacht und mit ihm über
Merkel gesprochen. Feldenkirchen und René
Pfister ergründen in der Titelgeschichte dieses Hefts, welche Motive die Kanzlerin
bei ihrer Flüchtlingspolitik antreiben und warum sie nicht einlenkt. Dabei spra-
chen sie auch ausführlich mit ihren Kontrahenten in dieser Sache, Wolfgang
Schäuble und Horst Seehofer. Ergänzt wird das Titelstück durch die Texte zweier
Redakteure, die ihre Meinung zu Merkel geändert haben: Tobias Rapp, früher
Merkel-Gegner, und Jan Fleischhauer, früher Merkel-Unterstützer, beschreiben,
warum sie jetzt im jeweils anderen Lager stehen. Seite 12
Zweimal in den vergangenen
beiden Jahren war der Kölner
Schriftsteller Navid Kermani für den
SPIEGEL unterwegs. Seine erste Rei-
se führte ihn in den Irak; seine Re-
portage, die als dreiteilige Serie
veröffentlicht wurde, beschrieb ein
zerrissenes Land im Bürgerkrieg.
Vergangenen Herbst verfolgte er den
Treck der Flüchtlinge durch Europa.
Inzwischen gilt der Muslim Kermani
als einer der führenden Intellektuel-
len des Landes, dem im Herbst 2015
der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Lothar Gorris
besuchte Kermani in seiner Heimat, dem Eigelstein-Viertel in Köln. In der Nähe
des Hauptbahnhofs sprachen und stritten die beiden über die Folgen der Silves-
ternacht, über den IS und Pegida, über Merkel und Europa und auch darüber,
dass ausgerechnet ein Friedenspreisträger glaubt, dass man den IS nicht mit
Luftschlägen besiegen kann, sondern nur am Boden. „Es wird“, so Kermanis Fa-
zit, „unbequem werden.“ Seite 116
Fast 500 Jahre lang haben europäische Mächte
versucht, über fremde Menschen, fremde Län-
der zu herrschen. Seefahrer aus Portugal, Spanien,
den Niederlanden fanden es selbstverständlich los-
zusegeln, in der Überzeugung, im Auftrag Gottes
zu handeln. Welche Folgen das für die Menschen
in den besetzten Ländern hatte, welche Rolle
Deutschland spielte, beschreibt die neue Ausgabe
von SPIEGEL GESCHICHTE. Neben politischen Ana-
lysen bietet das Heft ein Gespräch mit dem Histo-
riker Jürgen Zimmerer über die Mythen der Kolo-
nialzeit. SPIEGEL GESCHICHTE „Die Kolonialzeit“
erscheint am kommenden Dienstag.
3DER SPIEGEL 4/2016
Betr.: Titel, Kermani, SPIEGEL GESCHICHTE
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Alasad, Feldenkirchen
MAJIDMOUSSAVI/DERSPIEGEL
Kermani, Gorris
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4 Titelbild: Illustration Torsten Wolber für den SPIEGEL unter Verwendung eines Fotos von Laurence Chaperon/Roba Images
CHRISTIANTHIEL/DERSPIEGEL
THOMASRUSCH
Menschen helfen Menschen
Nächstenliebe Ein marokkanischer Augenarzt fährt über
Land, um Menschen vom grauen Star zu heilen. Ein Rentner
aus Montpellier ist der Fahrer, ein Fotograf aus Hamburg
dokumentiert alles und hilft beim Finanzieren. Es gibt, in
Nordafrika, Geschichten vom Gelingen. Seite 52
Das Bargeld
verschwindet
Digitalisierung Start-ups und
Internetkonzerne arbeiten an
einer Revolution der Finanz-
welt. Ihre Vision: Bezahlt wird
mit dem Handy, Banken und
Bargeld werden überflüssig –
manche wollen sogar die klassi-
schen Währungen durch digita-
le Bitcoins ersetzen. Seite 64
Prinzip Hoffnung
Titel Die ganze Welt fragt
sich inzwischen, was
mit Angela Merkel los ist.
Für ihre offenherzige
Flüchtlingspolitik scheint
sie bereit zu sein, notfalls
ihr Amt aufs Spiel zu
setzen. Woher kommt die
plötzliche Entschiedenheit
und Überzeugung der
Kanzlerin? Seiten 12 bis 22
THOMASGRABKA/DERSPIEGEL
Berlin
ganz klein
Mode Seit Jahren wird Berlin,
Heimat der Fashion Week,
vermarktet als Modemekka
und Modemetropole, als fest
etabliert neben den vier Mode-
hauptstädten Mailand, London,
Paris und New York. Aber ist
Berlin wirklich schon so groß?
Ein Besuch. Seite 58
DAVIDGRAY/REUTERS
Kanzlerin Merkel, CSU-Politiker Thomas Kreuzer in Wildbad Kreuth
In diesem Heft
5DER SPIEGEL 4/2016
Titel
Wie aus Angela Merkel
die Flüchtlingskanzlerin wurde 12
Die Illusion von den EU-Hotspots als
Lösung der Flüchtlingskrise 19
Die SPIEGEL-Redakteure Jan Fleischhauer
und Tobias Rapp über ihre unter-
schiedlichen Sichtweisen auf die Kanzlerin 20
Berlin und Brüssel suchen nach
einem Plan B in der Flüchtlingspolitik 22
Deutschland
Leitartikel Die Industriestaaten tun zu wenig
im Kampf gegen die Ungleichheit 6
Meinung Kolumne: Der gesunde Menschen-
verstand / So gesehen: Armee als Happening 8
Tornados bleiben länger am
Boden / Verfassungsklage gegen Merkel /
Große Gnade für Uli Hoeneß 24
Migration Deutschland diskutiert über
das Frauenbild von Muslimen 28
TV-Debatten Der Chefredakteur des
SWR, Fritz Frey, über die Entscheidung,
die AfD aus den Gesprächsrunden
vor den Landtagswahlen auszuladen 32
Steuern Der 145-Millionen-Euro-
Deal – wie Milliardärstöchter
mögliche Freiheitsstrafen vermieden 34
Umwelt Brüssel propagiert die
Kreislaufwirtschaft 38
Bildung Wolfgang Herrmann,
Präsident der TU München, über die
Neuauflage der Exzellenzinitiative 40
Schleswig-Holstein Die neue Lebensgefährtin
des Ministerpräsidenten und ihre merk-
würdigen Geschäfte mit der Landesregierung 43
Senioren Ehemalige RAF-Terroristen
haben Probleme mit ihrer Altersvorsorge 44
Kommunen Großstädte tun zu wenig gegen
die Luftverschmutzung 46
Polizei Ein Streifenbeamter hortete Waffen
und Nazidevotionalien in seiner Wohnung 47
Gesellschaft
Früher war alles schlechter:
Die Menschen werden immer größer /
Badeverbot für deutsche Opas! 50
Eine Meldung und ihre Geschichte Don Camillo
und Peppone ringen mit dem Feinstaub 51
Nächstenliebe Der Kampf eines
marokkanischen Arztes gegen die
Volkskrankheit grauer Star 52
Mode Die Fashion Week ist nur noch in
Berlin und Umgebung weltberühmt 58
Ortstermin Die „Caravan“ in Stuttgart sucht
Urlaubsideen in Zeiten des globalen Terrors 60
Wirtschaft
Kontrolleure wollen Rundfunkbeitrag
senken / Lufthansa-Beschäftigte
misstrauen ihrer Führung / Brüssel kommt
der Autoindustrie entgegen 62
Digitalisierung Das Bezahlen per Smartphone
ersetzt das Bargeld – die Finanzbranche
steht vor einer Revolution 64
Analyse Warum sich die Krisen der
Weltwirtschaft häufen – und gegenseitig
verstärken 71
Dieselskandal Ein Hacker knackte die
Schummelsoftware von Volkswagen 72
Immobilien SPIEGEL-Gespräch mit
der chinesischen Milliardärin Zhang Xin
über die Krise in ihrem Land 74
Wachstum Die Grünen wollen Wohlstand
anders messen als die Regierung 78
Ausland
Die thailändische Militärregierung geht
gegen Kritiker vor / Ist Präsident Putin
für den Litwinenko-Mord verantwortlich? 80
Polen Eine breite gesellschaftliche
Opposition tritt gegen die
nationalkonservative Regierung an 82
USA Hillary Clinton gerät im Vorwahl-
kampf in Bedrängnis gegen
den Sozialisten Bernie Sanders 85
Essay Der Arabische Frühling war
nicht erfolgreich, und trotzdem
sollten wir ihn noch nicht aufgeben 86
Italien Neapels Kampf gegen die Camorra 88
Griechenland Alexis Tsipras’ Jahr an der
Macht – und wie er sein Land verändert hat 92
Türkei Tourismusminister Mahir Ünal über
die Folgen des Anschlags von Istanbul 94
Global Village Psychiater, Pfleger und ihre
Patienten tanzen und singen in
der verrücktesten Sambatruppe Brasiliens 96
Sport
Skistar Aksel Lund Svindal kritisiert
IOC / Neue Disziplin im Bobsport 97
Tennis Die Wettmafia verdient
mit verschobenen Spielen Millionen 98
Fußball Der deutsche Nationalspieler
Emre Can hat sich beim FC Liverpool
zur Führungsfigur entwickelt 100
Wissenschaft
Ausgerechnet der „Pluto-Killer“ will einen bis-
lang unbekannten Planeten gefunden haben /
Warane sollen keine Giftkröten mehr fressen /
Warum wir mehr Palliativärzte brauchen 102
Verkehr Darf ein selbstfahrendes Auto
seine Insassen töten? 104
Medizin Pharmaforscher unter Schock –
Hirnschäden bei Medikamententest 107
Utopien Die letzte Ehefrau des legendären
Science-Fiction-Autors Philip K. Dick
spricht über dessen bizarre Gedankenwelt 108
Tiere Warum sich viele Spinnen-
männchen darauf einlassen,
nach dem Sex verspeist zu werden 110
Kultur
Quentin Tarantinos „The Hateful Eight“ /
Gurlitts Anwalt vor Gericht /
Kolumne: Besser weiß ich es nicht 114
Debatte Die Angst vor dem Fremden,
die Angst vor der Krise – ein
SPIEGEL-Gespräch mit Navid Kermani 116
Theater Matthias Hartmann inszeniert
„Der Idiot“ in Dresden 123
Literatur Ein Besuch bei Orhan Pamuk
in Istanbul 126
Karrieren Der eigentliche Star im
Til-Schweiger-„Tatort“ ist Fahri Yardım 129
Fernsehkritik „Letzte Ausfahrt
Gera“, ein dokumentarisches Drama
über Beate Zschäpe 130
Bestseller 128
Impressum, Leserservice 132
Nachrufe 133
Personalien 134
Briefe 136
Hohlspiegel/Rückspiegel 138
MAJIDMOUSSAVI/DERSPIEGELJONATHANBROWNING/DERSPIEGELDEFODI/DDPIMAGES
Navid Kermani
Er repräsentiert genau das
multikulturelle Deutschland,
das seit der Kölner Silvester-
nacht infrage gestellt wird.
Im SPIEGEL-Gespräch sagt
der Schriftsteller: „Die Viel-
falt ist immer gefährdet und,
ja, auch gefährlich.“ Seite 116
Zhang Xin
Sie arbeitete am Fließband,
und heute ist sie eine
mächtige Bauunternehmerin.
Im Gespräch über die
Krise ihres Landes sagt die
chinesische Milliardärin:
„Wir sind nicht anders, auch
wir wollen Freiheit.“ Seite 74
Emre Can
Er zählt für Joachim Löw
zum Kandidatenkreis für
die Fußball-Europameister-
schaft, bei Jürgen Klopp,
dem Trainer des FC Liverpool,
spielt er fast immer. Der
gebürtige Frankfurter will ein
Anführer sein. Seite 100Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
E
s gibt ein neues Ritual auf der Welt, bei dem man
nicht weiß, wie man es nennen soll: scheinheilig? Dreist?
Zynisch?
Jedes Jahr im Januar meldet die Entwicklungsagentur
Oxfam, dass eine kleiner werdende Zahl Superreicher über
einen größeren Teil des weltweiten Vermögens verfügt. Ak-
tuell sollen es 62 Milliardäre und Multimilliardäre sein, die
rund die Hälfte des weltweiten Kapitals besitzen.
Anschließend treffen sich die Reichen und Mächtigen re-
gelmäßig zu ihrem glamourösen Gipfel im schweizerischen
Davos und beklagen, dass sie wieder ein Stück reicher und
mächtiger geworden sind. Um dann, wenn sie ein paar Tage
später in ihre Chefbüros und
Regierungszentralen zurückkeh-
ren, bedauernd festzustellen,
dass sich dagegen nichts ma-
chen lässt. Weil sich die Staaten
nicht auf gemeinsame Maßnah-
men einigen können, schon gar
nicht auf eine globale Reichen-
steuer. Ende der Debatte. Wie-
dervorlage im nächsten Jahr.
Der bigotte Schönsprech von
Davos ist mehr als ein Ärgernis.
Er ist eine Gefahr für den sozia-
len Zusammenhalt und die De-
mokratie. Die Mischung aus Em-
pörungsrhetorik und Tatenlosig-
keit lässt das Misstrauen gegen-
über der Politik wachsen. Sie
trägt auch dazu bei, dass das
Problem noch immer unter-
schätzt wird. Dabei droht die
Kluft zwischen Arm und Reich
in der industrialisierten Welt
längst wieder jenes obszöne
Ausmaß zu erreichen wie in den Zwanzigerjahren des vorigen
Jahrhunderts, als der US-Romancier F. Scott Fitzgerald seinen
„Großen Gatsby“ schrieb.
Der Befund der Statistiker ist eindeutig: Seit einem Vier-
teljahrhundert kommt der Wohlstandszuwachs in den Indus-
trienationen vor allem den reichsten zehn Prozent zugute.
Die Verdienste der Mittelschicht stagnieren seit Jahren. Und
wer das Pech hat, sich als ungelernter Leih-, Teilzeit- oder
Hilfsarbeiter verdingen zu müssen, erlebt in vielen Ländern,
wie sein Einkommen schrumpft. „Wenn es einen Klassen-
kampf gibt“, spottet der US-amerikanische Großinvestor War-
ren Buffett, „dann ist meine Klasse der Gewinner.“
Die Aussicht auf sozialen Aufstieg ist geschwunden. In den
Nachkriegsjahrzehnten war es in vielen Ländern des Westens
Programm, Arbeiterkindern den Weg an die Universitäten
und in Managerpositionen zu ebnen. Heute hängt die Bildung
wieder stärker denn je vom Elternhaus ab. Zugleich gelingt
es den Regierungen immer weniger, die ungleiche Verteilung
durch Steuern und Sozialtransfers zu korrigieren. Der Einfluss
des großen Geldes auf die Politik nimmt dagegen zu. In den
USA stimmen sich die Lobbyisten der Rüstungs-, Pharma-
oder Ölindustrie die großen Parteien mit millionenschweren
Wahlkampfspenden gewogen. In der Schweiz versucht der
Rechtspopulist und Milliardär Christoph Blocher mit teuren
Kampagnen den Ausgang von Volksabstimmungen zu beein-
flussen. Man muss kein Marxist sein, um die Konzentration
von Kapital und Macht auf beiden Seiten des Atlantiks als
„neofeudal“ zu bezeichnen.
Viele westliche Politiker sehen sich außerstande, etwas
gegen die wachsende Ungleichheit in ihren Gesellschaften
zu unternehmen. Sie fühlen sich getrieben von anonymen
Kräften wie der digitalen Re-
volution oder der Globalisie-
rung, gegen die nationalstaat-
liche Politik angeblich nichts
ausrichten kann.
Doch das ist falsch, wie zahl-
reiche Studien von Organisatio-
nen wie dem Internationalen
Währungsfonds oder der OECD
ausweisen. Man muss ja nicht
gleich eine weltweite Vermögen-
steuer einführen. Vielfach wür-
de es schon genügen, wenn die
Regierungen die Abgaben ein-
trieben, die ihnen zustehen.
Manche Finanzbehörden je-
doch behandeln selbst noto-
rische Steuerhinterzieher mit
Nachsicht (siehe Seite 34). Und
viele Politiker treten bei diesem
Thema als gespaltene Persön-
lichkeiten auf. EU-Kommis-
sionspräsident Jean-Claude Jun-
cker beispielsweise: In Brüssel
gibt er gern den wortgewaltigen Kämpfer für soziale Gerech-
tigkeit. Daheim in Luxemburg dagegen ließen seine Beamten
kein Schlupfloch ungenutzt, um gemeinsam mit der Industrie
Europas Steuerregeln zu umgehen und die Lasten der Kon-
zerne zu drücken.
Wer im Kampf gegen Ungleichheit erfolgreich sein will,
muss auch die Rahmenbedingungen für untere Lohngruppen
verbessern und ihnen Aufstiegschancen bieten. Er muss mehr
Geld für Kitas und Ganztagsschulen bereitstellen und Leih-
arbeit und Teilzeitjobs besser regulieren. Nötig ist zudem
eine Steuer- und Sozialpolitik, die vor allem Niedrigverdie-
nern hilft. Die derzeitige Bundesregierung verfolgt vielfach
das genau entgegengesetzte Programm, etwa bei der Rente
mit 63, die vor allem gut ausgebildeten männlichen Besser-
verdienern nutzt.
Es ist Zeit, dass die Industrieländer die Gerechtigkeitsfrage
wieder ins Zentrum ihrer Politik rücken. Was wir dagegen
nicht brauchen, ist die Wir-kümmern-uns-Heuchelei von
Davos. Michael Sauga
6 DER SPIEGEL 4/2016
Die Scheinheiligen
Die politische Elite des Westens redet viel über Ungleichheit, tut aber kaum etwas dagegen.
SWISS-IMAGE.CH/ACTIONPRESS
Leitartikel
Das deutsche Nachrichten-Magazin
8 DER SPIEGEL 4/2016
Meinung
Armee zur
Dekoration
So gesehen Einsatz der
Bundeswehr im Inneren?
Bitte nur als Happening.
Bislang war ich eigentlich
gegen einen Einsatz der
Bundeswehr im Inneren, wie
ihn Wolfgang Schäuble jetzt
wegen der Flüchtlingskrise
wieder gefordert hat. Das
galt, bis ich nach Brüssel zog.
In der belgischen Hauptstadt
gehören Soldaten inzwischen
zum Straßenbild wie in Ka-
bul oder Islamabad. Natür-
lich, vor den Toren der mäch-
tigen EU-Zentrale schoben
schwer bewaffnete Militärs
schon seit Längerem Wache.
Aber erst seit den Terror-
anschlägen von Paris im No-
vember patrouillieren Solda-
ten in der gesamten Stadt,
sogar vor dem Eingang von
Ikea. Zu übersehen sind sie
nicht, dank ihrer senffarben-
dunkelgrün-gefleckten Tarn-
anzüge, die noch aus dem
letzten Einsatz im Kongo zu
stammen scheinen. Zu tun
gibt es nichts, meist flanieren
die Soldaten in Zweiergrüpp-
chen durch die Stadt. Einer
soll in der Fußgängerzone
beim Weihnachtsshopping
gesichtet worden sein, das
Präsenttütchen baumelte ne-
ben dem Sturmgewehr. Ein
senfgrünes Pärchen bewacht
besonders gern die berühm-
teste Friterie Brüssels an der
Place Jourdan. Der Wirt der
benachbarten Brasserie spen-
diert Kaffee. Und der Sinn
des Ganzen? Terrorbekämp-
fung? „Die Armee hat keine
präventive und keine repres-
sive Funktion“, sagt der
Soziologe Eric Corijn, „sie
ist nichts als Dekoration, die
uns aufgezwungen wird.“
Der Militäreinsatz im Inne-
ren, ein Happening? Ich
finde: wenn schon Militär
auf deutschen Straßen, dann
bitte so unaufregt, senfgrün
und dekorativ wie in Belgien.
Peter Müller
Kittihawk
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Historisches Laienspiel
Die spinnen, die Amis,
dachte ich, als ich im
Frühjahr die US-
Stadt Gettysburg be-
suchte. Hier hatte
1863 die Schlüssel-
schlacht im Bürger-
krieg stattgefunden.
Südstaaten gegen Nord-
staaten. Recht auf Sklaverei gegen Ab-
schaffung der Sklaverei. Der Norden und
die Zivilisation siegten. Beim Spaziergang
im Wald entdeckte ich in einem abgelege-
nen Winkel eine Familie, die auf offenem
Feuer kochte. Die Männer waren in Uni-
form mit Gewehr, die Frauen trugen Röcke
und lustige Häubchen.
„Wir sind die Südstaatler“, grüßten sie.
Ich erfuhr, dass sie viele Wochenenden im
Wald verbrachten, um Südstaatler zu sein,
als Hobby, ehrenamtlich. Montags kehrten
sie in ihre Büros zurück. Ihr Ding hieß
„Reenactment“, das Nachspielen histo-
rischer Ereignisse und Epochen. Ob sie als
„Südstaatler“ denn auch die Sklaverei wie-
der einführen wollten, fragte ich sie. Das
kam nicht gut an, und ich machte mich lus-
tig über so viel historische Ignoranz.
Inzwischen ist mir für deutsche Überheb-
lichkeit die Grundlage abhandengekommen.
Auch bei uns gibt es nun immer mehr
Laienschauspieler, die ein dunkles Kapitel
unserer Geschichte wieder aufführen: die
Zwanzigerjahre, jenes rüde deutsche Jahr-
zehnt, dem das brutalste folgen sollte. Die
Aufführungen finden nicht im Wald, son-
dern auf deutschen Straßen und im Internet
statt. Großer Beliebtheit erfreut sich etwa
der Fackelumzug, jene abendländische Tra-
dition, die unter den Nazis zu voller Blüte
reifte. In München trifft sich die Pegida-
Truppe inzwischen bevorzugt vor jener
Feldherrnhalle, zu der die historischen Vor-
bilder 1923 ihren berühmten Marsch unter-
nahmen. Die Wirtshausschlägerei, ein in
der Spätphase der Weimarer Republik be-
liebtes Genre, wird nicht mehr in der Gast-
stube, sondern in Internetforen nachgestellt.
Was man den Laiendarstellern hoch an-
rechnen muss, ist ihre Textsicherheit.
Sie kennen alle Gassenhauer, die im Kampf
gegen die Demokratie erfolgreich waren,
vom „Volksverräter“ bis zur „Schwatz-
bude“. Zu den Stars des deutschen Re-
enactments gehört Björn Höcke, der sich
im Laternenschein auf dunkle Plätze
stellt und mit authentischem Tremolo ein-
schlägige Begrüßungen nachahmt: „Ich
sehe Männer und Frauen. Ich sehe eine Ge-
meinschaft. Ich sehe ein Volk, das eine
Zukunft haben will.“ Seit den Übergriffen
von Köln ist das Nachspielen von Freikorps
der letzte Schrei. Sie nennen sich „Frei-
korps Bürgerwehr Selbstschutz der Patrio-
ten und unserer Familien“ oder ganz ein-
fach „Kassel passt auf“. Die Darsteller sind
oft mit Schäferhunden unterwegs und schei-
nen ausgezeichneten Zugang zu Nahrung
zu haben. Beim Haarwuchs hingegen muss
es ein Problem geben.
So sehr ich mich über die Geschichtsver-
gessenheit der „Südstaaten-Familie“ in
Gettysburg gewundert habe, so vernünftig
erscheint sie mir jetzt. Alles, was die Leute
wollten, war, still im Wald herumzusitzen.
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kirchen und Jan Fleischhauer im Wechsel.
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12 DER SPIEGEL 4/2016
Regierungschefin Merkel mit Mitarbeitern im Kanzleramt
Egalwiees ausgeht…
Regierung Noch nie war Merkels Kanzlerschaft so in Gefahr wie derzeit. Ihre
Flüchtlingspolitik irritiert nicht nur viele Bürger, sondern lässt die CSU um ihre Existenz
fürchten. Was treibt Merkel an? Von Markus Feldenkirchen und René Pfister
Titel
A
n einem Sonntagabend Anfang Ja-
nuar besucht Angela Merkel mit ih-
rem Ehemann ein Klavierkonzert
des Pianisten Antonio Acunto im Kleinen
Saal des Konzerthauses am Berliner Gen-
darmenmarkt. Auf dem Programm stehen
Werke von Chopin, Rachmaninow und
Schumann. Aber die Kanzlerin ist nicht
nur wegen der Musik gekommen, es geht
auch um die gute Sache, um Haltung. Das
Konzert ist eine Benefizveranstaltung für
Flüchtlinge. Ihre Flüchtlinge.
Kurz vor Beginn des Konzerts sieht Mer-
kel einen alten Bekannten. An der Seite
von Pfarrer Rainer Eppelmann, dem ehe-
maligen Chef des Demokratischen Auf-
bruchs, hatte vor 26 Jahren ihre politische
Karriere begonnen. Eppelmann erzählt ihr,
wie menschlich, wie mutig, ja großartig er
ihre Flüchtlingspolitik findet.
Er habe angesichts ihrer Lage zuletzt
oft an sein Lieblingszitat des ehemaligen
tschechischen Präsidenten und Schriftstel-
lers Václav Havel gedacht. Das müsse er
jetzt unbedingt loswerden, als Ermutigung.
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass
eine Sache gut ausgeht. Hoffnung ist die
Gewissheit, dass eine Sache Sinn macht,
egal wie sie ausgeht.“
Das Konzert beginnt, Merkel hört Cho-
pin, eine melancholische Ballade in g-Moll.
In der Pause springt sie von ihrem Stuhl
auf und läuft zielstrebig auf Eppelmann
zu. Sie fragt: „Wie war das noch genau mit
der Hoffnung?“
Es ist dieser Tage völlig ungewiss, wie
jenes Experiment ausgehen wird, das die
deutsche Kanzlerin dem europäischen
Kontinent, ihrem Volk und nicht zuletzt
ihrer Partei aufgenötigt hat. Ihre Entschei-
dung im vergangenen Spätsommer, die
deutsche Grenze für Flüchtlinge zu öffnen,
hat Merkel zu einer historischen Figur ge-
macht. Es war der folgenreichste Ent-
schluss ihrer Kanzlerschaft. Das US-Maga-
zin „Time“ kürte sie dafür zur Person des
Jahres, im Herbst galt sie als aussichtsrei-
che Kandidatin für den Friedensnobelpreis.
Inzwischen hat sich nicht nur in Deutsch-
land die Stimmung gedreht. Um politische
Gewalt wie in den Dreißigerjahren zu ver-
hindern, müsse Deutschland umgehend
umsteuern, schrieb kürzlich ein Kolumnist
der „New York Times“: „Das bedeutet,
dass Angela Merkel gehen muss.“
In Merkels Union wird über eine Regie-
rung ohne die amtierende Chefin nachge-
dacht. Anfang der Woche erlaubte CSU-
Chef Horst Seehofer seinem Verkehrsminis-
ter Alexander Dobrindt, Merkel öffentlich
zu kritisieren. Das ist eigentlich ein Tabu.
Meuternde Minister waren schon häufiger
das Wetterleuchten für einen Kanzlersturz.
Das Drehbuch für den Putsch ist noch
nicht geschrieben, aber erste Skizzen exis-
tieren schon. Seehofer will Merkel so lange
unter Druck setzen, bis sie ihre Politik re-
vidiert. Er will sie nicht aus dem Amt drän-
gen, aber wenn sie nicht spurt, können
sich manche in der Union vorstellen, dass
Finanzminister Wolfgang Schäuble die Re-
gierungsgeschäfte übernimmt.
Noch ist es nicht so weit, aber die kriti-
sche Masse findet sich langsam. In einem
Brief an die Kanzlerin wandten sich 44
Unionsabgeordnete gegen Merkels Kurs.
Am Mittwoch hat Österreich eine Ober-
grenze für Flüchtlinge beschlossen. Das
macht die Kanzlerin noch einsamer.
Was viele Kritiker mindestens ebenso
verwundert wie die Entscheidung zur
Grenzöffnung selbst, ist die Sturheit, mit
der Merkel an ihrem Kurs festhält. Weder
die Terrorangriffe von Paris noch die se-
xuellen Übergriffe aus der Kölner Silves-
ternacht, weder die Empörung wütender
Bürger noch die Warnungen ihrer Partei-
freunde hatten bislang zur Folge, dass sie
ihre Politik der offenen Grenzen infrage
stellte. Es wirkt, als sei Angela Merkel
– ganz im Sinne Václav Havels – von der
Gewissheit geleitet, dass ihr Kurs Sinn er-
gibt. Ganz egal wie die Sache ausgeht.
„Die Deutschen werden auf die Barrika-
den gehen, sie werden diese Frau stürzen“,
prognostizierte der republikanische Präsi-
dentschaftsbewerber Donald Trump in der
vergangenen Woche. „Ich weiß nicht, was
zum Teufel in ihr vorgeht.“
Nicht nur Trump beschäftigt diese Frage.
Die halbe Welt rätselt mittlerweile über
die Motive der Kanzlerin aus Deutschland.
Was also treibt Angela Merkel an, die ihre
Macht mithilfe eines unerbittlichen Prag-
matismus errang und nun mit einer sol-
chen Unbedingtheit regiert? Warum zeigt
sie in ihrer Flüchtlingspolitik bislang keine
ernsthaften Anzeichen des Einlenkens –
obwohl ihre Beliebtheitswerte dramatisch
sinken und das Fundament ihrer Macht
zerbröselt?
P
eter Altmaier hat ein herrliches Büro
im Kanzleramt mit Blick auf Haupt-
bahnhof und Regierungsviertel. Doch
die dicken Scheiben halten den Lärm der
Stadt ab, das Auffälligste an der Regie-
rungszentrale ist die Stille darin. Altmaier
ist die Stimme von Merkels Flüchtlings-
politik, auch wenn ihn im Moment eine üble
Erkältung erwischt hat. Die Weltlage stellt
sich aus Merkels Sicht so dar: Um eine
menschliche Katastrophe zu vermeiden,
mussten im Spätsommer vergangenen Jah-
res die Grenzen aufgemacht werden. Nun
geht es darum, ein Zerbrechen Europas zu
verhindern. Wenn Deutschland die Schlag-
bäume nach unten sausen ließe, wäre nicht
nur das Europa der offenen Grenzen ge-
scheitert; die Flüchtlinge würden sich auch
auf der Balkanroute stauen und dort die
jungen Demokratien destabilisieren.
Griechenland würde überlaufen mit den
Verzweifelten aus Syrien und dem Irak.
13DER SPIEGEL 4/2016
CHRISTIANTHIEL
Schwindendes Zutrauen Befragte, die sich für Angela Merkel eine wichtige politische Rolle wünschen
2005
80%
70%
60%
50%
2006 2007 2008 2009 2010
MärzJan. MaiJan. Mai Juli Okt.Jan. Mai Juli Okt.Jan. Mai Juli Okt.Okt. Sept. Dez. Juni Sept.
Bundestagswahl
27. September
Beginn der
Eurokrise
AKW-Laufzeit-
verlängerung
Erstes Euro-
Rettungspaket
Beginn der
Finanzkrise
Beschluss der
Mehrwertsteuer-
erhöhung von 16%
auf 19%
Deutschland übernimmt
EU-Ratspräsidentschaft.
85%
55%
76%
52%
Schwarz-gelbe KoalitionGroße Koalition
Titel
Jordanien und der Libanon, die jetzt schon
fast zwei Millionen Flüchtlinge beherber-
gen, könnten an den Rand des Staatskol-
lapses geraten. Die Alternative dazu sei
ein Abkommen mit der Türkei, jenem
Land, durch das fast alle Flüchtlinge reisen
müssen.
So weit die amtliche Version. Wenn man
mit Merkels Leuten spricht, erscheint ihre
Flüchtlingspolitik wie eine völlig rationale
Entscheidung. Wie eine Kette politischer
Notwendigkeiten.
Merkel konnte sich auch deshalb so lan-
ge im Amt halten, weil sie zumindest als
Regierungschefin nie für ein größeres Pro-
jekt gekämpft hat. Sie war anliegenlos. Sie
gefiel sich als Krisenkanzlerin, ähnlich wie
Helmut Schmidt. Nun, in der Spätphase
ihrer Kanzlerschaft, ähnelt sie dem frühen
Willy Brandt. Dem Visionär.
Es ist nicht so, dass Merkel 2005 frei von
Überzeugungen ins Kanzleramt einzog.
Die Ostdeutsche Merkel glaubte an die
Kraft der Freiheit und des Marktes. Aber
weil die Wähler ihr Reformprogramm im
Jahr 2005 nicht goutierten, ließ sie es
schnell wieder fallen. Und über ihre ost-
deutsche Herkunft und ihren Glauben
sprach sie anfangs fast gar nicht.
Das Versteckspiel war Teil ihres Erfolges,
weil so all die Wessis, Atheisten und streng-
gläubigen Katholiken nicht verschreckt
wurden. So stieg sie zur beliebtesten Poli-
tikerin der Republik auf. Im Frühsommer
2015, kurz vor Beginn des großen Flücht-
lingsstroms, lag sie in allen Umfragen weit
oben. Sie hatte ein gewaltiges Vertrauens-
kapital unter den Deutschen angesammelt.
Die Frage war nur, ob sie es jemals einset-
zen würde.
Am 15. Juli 2015 begegnet Merkel bei
einem „Bürgerdialog“ in Rostock der 13-
jährigen Reem Sahwil. Das Mädchen ist
vor vier Jahren mit seinen Eltern aus dem
Libanon geflüchtet, nun droht die Ab-
schiebung. „Es ist wirklich sehr unange-
nehm zuzusehen, wie andere wirklich das
Leben genießen können und man es sel-
ber halt nicht mitgenießen kann“, sagt das
Mädchen.
In Rostock antwortet noch die alte Mer-
kel. Sie will nicht herzlos wirken, aber sie
will auch keine Versprechungen machen,
nur weil sie in eine unangenehme Situa-
tion geraten ist. „Ihr könnt alle aus Afrika
kommen, und ihr könnt alle kommen, das
können wir auch nicht schaffen“, stammelt
Merkel. Nicht schaffen. Kurz darauf bricht
Reem in Tränen aus. In den Tagen darauf
wird Merkel Kaltherzigkeit vorgeworfen,
im Internet wird sie unter dem Hashtag
#merkelstreichelt verhöhnt.
Ende August fährt sie mit ihrem Regie-
rungssprecher Steffen Seibert nach Heide-
nau. In der sächsischen Kleinstadt steht
ein ehemaliger Baumarkt, in dem Flücht-
linge untergebracht sind, davor hatten
Rechte randaliert. Als Merkels Wagenko-
lonne vorfährt, empfängt sie ein wütendes
Pfeifkonzert. Als sie nach einer Stunde
wieder ins Auto steigt, brüllt eine Frau:
„Fotze! Steig in deine hässliche Kiste!“ Sei-
bert wird noch viel später fassungslos von
dieser Lynchstimmung berichten.
In den Tagen danach verändert sich et-
was im Kanzleramt. Als Merkel am 31. Au-
gust ihre Sommer-Pressekonferenz gibt, ist
keine Rede mehr davon, dass Deutschland
nicht jeden aufnehmen könne. Es ist auch
keine Rede mehr von Überforderung wie
beim Bürgerdialog in Rostock. „Deutsch-
land ist ein starkes Land“, sagt Merkel.
„Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge
herangehen, muss sein: Wir haben so vie-
les geschafft – wir schaffen das!“
Merkel hat sich entschieden, für ein
Thema zu kämpfen. Sie hat so lange ge-
spart und krämerisch ihre Macht gehütet,
jetzt will sie ausgeben. Erst jetzt lernen
die Deutschen die echte Angela Merkel
kennen.
Am 4. September öffnet sie die Grenze
für die Flüchtlinge aus Ungarn. Später wird
sie erzählen, dass sie im Fernsehen ver-
folgte, wie sich die Menschen aus Syrien
am Bahnhof in Budapest sammelten und
dann am Weiterreisen gehindert wurden.
Sie fand das empörend. Merkel entschei-
det, die Flüchtlinge nach Deutschland zu
lassen. Sie sei „ein Stück weit stolz auf un-
ser Land“, sagt sie drei Tage später.
Von nun an steigen die Flüchtlingszah-
len rasant. Bald sind es bis zu 10000 pro
Tag, und mit dem Zustrom steigt auch die
Kritik. Seehofer sagt, Merkel habe einen
Fehler gemacht, an dem die Republik noch
lange tragen werde. Der Satz trägt dazu
bei, dass die Flüchtlingskrise zur Macht-
frage wird. Merkel war bislang immer fle-
xibel. Sie war für die Wehrpflicht und hat
sie dann abgeschafft. Sie war gegen den
schnellen Atomausstieg und dann dafür.
„Aber sie ist nicht flexibel unter Druck“,
sagt einer ihrer Leute. „Vielleicht ist das
ihr größter Fehler.“
Am 6. Oktober sitzt sie in einem Flieger,
der sie von einer Indienreise zurück nach
Berlin bringt. Eigentlich könnte sie ein biss-
chen Ruhe gebrauchen. Aber Merkel will
sich erklären, sie spürt, dass die Fragen
immer drängender werden und ihre Ant-
worten immer weniger überzeugen.
Sie lässt sich einen Zettel aus dem Cock-
pit bringen, er zeigt die Route des Bun-
deswehr-Airbus von Bangalore nach Ber-
lin. Ihr Finger wandert über die Karte, sie
sieht Saudi-Arabien, Syrien, die Türkei,
Deutschland. Für sie ist es nicht nur ein
Stück Papier, sondern die Bestätigung ih-
rer Politik. Es zeigt, dass sich Deutschland
nicht mehr abschotten kann, dass alles mit-
einander zusammenhängt.
Die Deutschen würden sich zwar die
Zeit vor der Flüchtlingskrise zurückwün-
schen, aber damit könne sie leider nicht
dienen, sagt Merkel. Natürlich könne sie
die Grenzen schließen, aber dann würden
sich Menschen vor Stacheldraht stauen.
Hässliche Bilder. Die Deutschen hielten es
ja nicht mal aus, wenn jemand draußen
übernachte.
Sie hingegen wolle die Fluchtursachen
bekämpfen und mit der Türkei kooperie-
ren. Unter ihr werde Deutschland kein
14 DER SPIEGEL 4/2016
2011 2012 2013 2014 2015 2016
Jan. März Juni Sept.März Juni Okt. Dez. Jan.März Juni Sept. Dez.März Juni Sept. Dez.März Juni Sept. Dez.Dez.
Bundestagswahl
22. September
Atomausstieg
bis 2022
Zweites Euro-
Rettungspaket Drittes Euro-
Rettungspaket
Übergriffe
in Köln
Aussetzung
der Wehrpflicht
Die Migration von Flücht-
lingen nach Deutschland
nimmt dramatisch zu.
11. März:
Reaktorkatastrophe in Fukushima
78%
64%
58%*
Umfrage von TNS Forschung für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte ab 18 Jahren;
*letzter Umfragewert Infratest dimap
Große Koalition
Land werden, das Menschen in Not mit
Absicht verscheucht. „Ich werde nicht in
einen Wettbewerb eintreten um die schlech-
teste Behandlung der Flüchtlinge“, sagt
Merkel. Es ist ein stolzer Satz, in dem auch
eine Prise Trotz gegen die CSU steckt.
Als sie einen Tag später in der Talkshow
von Anne Will sitzt, wiederholt sie die
Ausführungen aus dem Flugzeug fast wort-
gleich. Merkel, der sonst kaum etwas un-
angenehmer ist, als im Fernsehen sprechen
zu müssen, lächelt oft an diesem Abend.
Bei vielen anderen Themen kann man
ihr beim Reden ansehen, dass ihr egal ist,
was sie gerade erzählt. Bei diesem Thema
ist es anders. „Sie war leidenschaftlicher
als sonst“, sagt Will, die Merkel schon öfter
interviewt hat, rückblickend. Während
des Interviews habe sie immer wieder ge-
dacht: „Sie wirkt frei. Frei auch in der
Wortwahl. Eins mit sich, geradezu fröhlich.
Das ist neu.“
Natürlich hat Merkel die Flüchtlings-
krise auch unter machtpolitischen Aspek-
ten gesehen. Sie verfolgt schon lange das
Ziel, der SPD die Wähler der Mitte streitig
zu machen. Das Drama der Sozialdemo-
kraten resultiert auch aus dem Bemühen
der CDU-Chefin, fast jedes linke Thema
mitzubesetzen. „Merkel ist die erste CDU-
Vorsitzende, die das Motto verfolgt, dass
sich links von der CDU keine richtige
Partei etablieren darf“, sagt ein enger
Weggefährte der Kanzlerin nur halb im
Spott.
Aber wenn es nur um Taktik gegangen
wäre, hätte Merkel spätestens dann ge-
bremst, als die Werte für die AfD immer
besser wurden und ihre eigenen fielen. Es
muss noch andere, persönliche Motive ge-
ben, die sie an ihrem Kurs festhalten lassen.
Ende Oktober besucht sie in Brüssel ei-
nen Gipfel mit den Ländern, die auf der
Balkanroute liegen, auf der die Flüchtlinge
nach Deutschland kommen. Der ungari-
sche Ministerpräsident Viktor Orbán, der
sein Land mit einem Stacheldrahtzaun si-
chern ließ, ist auch da. Er sieht und genießt
Merkels Nöte. Er meldet sich zu Wort und
sagt: „Es ist nur eine Frage der Zeit, wann
Deutschland einen Zaun baut, dann habe
ich das Europa, das ich für richtig halte.“
Merkel schweigt erst einmal, so erinnert
sich ein Teilnehmer der Runde. Erst später,
nachdem sich ein paar andere Regierungs-
chefs zu Wort gemeldet haben, sagt sie zu
Orbán: „Ich habe zu lange hinter einem
Zaun gelebt, als dass ich mir das noch ein-
mal zurückwünsche.“ Merkel, das wird in
der Flüchtlingskrise klar, hat den Mut ge-
funden, ihre Politik mit ihrer Biografie zu
begründen. Sie will nicht mehr die Frau
ohne Eigenschaften sein.
„Eine erstaunliche Freundschaft im spä-
ten Leben“, nennt Klaus von Dohnanyi
das, was ihn, den Sozialdemokraten und
einstigen Ersten Bürgermeister von Ham-
burg, und Angela Merkel verbindet. Sie
treffen sich regelmäßig, meist mit ihren
Ehepartnern, dabei reden sie nur selten
über Politik. Es geht um Konzertbesuche,
Theaterstücke, Naturwissenschaft.
Dohnanyi kannte Merkels Eltern, er
glaubt, dass in der Flüchtlingskrise stark
15DER SPIEGEL 4/2016
BERNDVONJUTRCZENKA/DPA
Kanzlerin Merkel mit Flüchtling Alasad 2015: Ein Selfie geht um die Welt
BUNDESREGIERUNG.DE
CDU-Politikerin Merkel mit Flüchtlingsmädchen Reem 2015: „Es ist wirklich sehr unangenehm“
Titel
ihre christliche Erziehung durchschim-
mert. „Sie ist die Tochter eines sozialisti-
schen Pastors. Und die Mutter ist eine
ganz fromme Frau. So was steckt in einem
drin, das geht nicht mehr raus.“ Im Hause
Kasner habe man eine sehr praktische
Theologie verfolgt, die darin bestand, Ar-
men, Kranken und Benachteiligten zu
helfen.
Merkel sei mit dem Grundsatz aufge-
wachsen: Wenn Fremde in der Nässe vor
deiner Haustür stehen, lässt du sie rein
und hilfst. „Und wenn man sie reinlässt,
macht man auch kein böses Gesicht“, sagt
Dohnanyi. „Das tun Christen nicht.“ Mer-
kel selbst drückte es vor Kurzem ähnlich
aus: „Wir halten Sonntagsreden, wir spre-
chen von Werten. Ich bin Vorsitzende ei-
ner christlichen Partei. Und dann kommen
Menschen aus 2000 Kilometern zu uns,
und dann muss man sagen: Hier darf man
kein freundliches Gesicht mehr zeigen?“
Auch Pfarrer Eppelmann ist überzeugt,
dass Merkels Haltung in der Flüchtlings-
krise tief in ihrer Biografie wurzelt. „Sie
steht auf einem festen Fundament, das in
der Kindheit und Jugend gelegt wurde.“
Er weist darauf hin, dass es sich bei ihrem
Elternhaus nicht um ein gewöhnliches
evangelisches Pfarrhaus handelte, sondern
um eine Behinderteneinrichtung der Dia-
konie. Dort im „Waldhof“ wuchs Angela
Kasner in der Dienstwohnung ihres Vaters
unter Behinderten auf, um die es sich zu
kümmern galt. „Sie hat dort Empathie in-
haliert wie die Luft und den Sauerstoff“,
sagt Eppelmann.
Merkel habe später auch die Erfahrung
gemacht, wie brutal es sei, von einem Re-
gime gegängelt zu werden. Dass sie zu-
nächst keinen Studienplatz bekommen hat-
te, obwohl sie Klassenbeste war. „Eine sol-
che Erfahrung kann einen Menschen bre-
chen“, sagt Eppelmann. Insofern könne
Merkel gut nachempfinden, was in Men-
schen vorgehe, die vor Willkür-Regimen
wie dem „Islamischen Staat“ oder Assads
Syrien fliehen.
Das Wichtigste aber sei das evangelische
Pfarrhaus, betont Eppelmann, der selbst
in der DDR als Pastor gearbeitet hat. Man
bekomme einfach einen „gewissen ethi-
schen Anspruch mit, wie das Leben zu sein
hat“. Dazu gehöre, dass man sich selbst
nicht für wichtiger oder wertvoller halte
als andere Menschen, egal aus welchem
Land sie kämen.
Jeden Tag sei im Hause Kasner von Je-
sus und Gott die Rede gewesen. Die täg-
liche Botschaft habe geheißen: „Liebe dei-
nen Nächsten wie dich selbst. Nicht nur
deutsche Menschen. Gott hat alle lieb.“
Man solle doch mal die Erklärungen der
Evangelischen Kirche in Deutschland zur
Flüchtlingskrise mit Merkels Worten ver-
gleichen, rät Eppelmann. „Das ist nahezu
identisch.“
Als Merkel Mitte Dezember vor dem
CDU-Parteitag spricht, erinnert ihre Rede
fast an eine Predigt. Sie erinnert an die
Leistungen der CDU, die Westbindung und
die Wiedervereinigung, die Adenauer und
Kohl gegen alle Ungläubigen und Zauderer
durchgesetzt hätten. Sie stellt ihre Politik
in eine Linie mit diesen Wundern der
Christdemokratie.
„Die Idee der Gründung der CDU war
eigentlich eine ungeheuerliche Idee“, sagt
sie. „Eine Partei, die im C ihre Grundlage
findet, also in der von Gott gegebenen
Würde jedes einzelnen Menschen. Das
heißt, dass heutzutage keine Menschen-
massen kommen, sondern dass einzelne
Menschen zu uns kommen.“ Als sie nach
einer Stunde endet, applaudieren auch die
Ungläubigen und Zauderer im Saal – neun
Minuten lang. Nur einer sitzt mit verstei-
nerter Miene an seinem Platz: Wolfgang
Schäuble.
D
er Finanzminister fröstelt, er trägt
einen Pullover über dem Hemd. Es
ist Ende November, am Morgen
saß Schäuble vier Stunden auf der Regie-
rungsbank im Bundestag, es ist immer ein
bisschen zugig da, aber er wollte nicht vor-
zeitig aufbrechen. Kollegin Merkel musste
ihre Rede zum Etat des Kanzleramts hal-
ten, es sollte nicht schon wieder so aus-
sehen, als wolle er nichts mit ihrer Politik
zu tun haben.
Erst ein paar Tage zuvor hatte Schäuble
die Kanzlerin mit einer ungeschickten
Skifahrerin verglichen, die im Hang eine
Lawine auslöste, es war ein Bild, das jene
bestätigte, die Merkel für die Ankunft all
der Flüchtlinge verantwortlich machen. In
Zeitungen stand, dass Schäuble sich be-
reithalte, die unglückliche Selfie-Kanzlerin
Merkel abzulösen. Stimmt das?
Schäuble, so viel ist sicher, ist der Einzi-
ge, dem man in der Union Merkels Nach-
folge zutraut. Er war schon Kanzleramts-
chef, als Merkel noch als wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Akademie der Wis-
senschaften der DDR tätig war. Er war
auch schon Innenminister, Partei- und
Fraktionschef, und jetzt, mit 73 Jahren, ist
er die Hoffnung derer, die Merkel gern
vom Hof jagen würden.
Schäuble hielt es für richtig, dass Merkel
in der berühmten Nacht des 4. September
die Grenze für die gestrandeten Flücht-
linge in Ungarn öffnete. Aber er hätte sich
gleichzeitig ein Signal von ihr gewünscht,
dass Deutschland nicht unbegrenzt Flücht-
linge aufnehmen kann.
Mitte September ermuntert er Innen-
minister Thomas de Maizière, ein europäi-
sches Kontingent für die Aufnahme von
Flüchtlingen zu fordern und damit das Si-
gnal zu setzen, dass es eine Art Obergren-
ze für den Zuzug gibt. De Maizière folgt
ihm, am 19. September erscheint ein ent-
sprechendes Interview im SPIEGEL.
Zu Schäubles Ärger distanziert sich nicht
nur SPD-Chef Sigmar Gabriel von dem Vor-
schlag, sondern auch Merkels Sprecher Stef-
fen Seibert. Kurz darauf sitzt Schäuble
zusammen mit Merkel im Kanzleramt. Es
könne nicht sein, dass man de Maizière im
Regen stehen lasse, klagt er. Merkel erwi-
dert, Seibert sei nichts anderes übrig ge-
blieben, weil die SPD den Vorschlag de
Maizières nicht mitgetragen habe. Die SPD-
Wähler wollten doch auch, dass die Flücht-
lingszahlen sinken, entgegnet Schäuble.
Deswegen werde Gabriel am Ende einlen-
ken. „Die halten das keine drei Tage durch.“
Schäuble hat sich in den vergangenen
Jahren das Image des weisen Elder States-
man zugelegt, aber in der Innenpolitik war
er lange ein Verfechter einer scharfen Li-
16 DER SPIEGEL 4/2016
ADAMBERRY/GETTYIMAGES
Kanzleramtschef Altmaier: Das Zerbrechen Europas verhindern
nie. Er findet, dass Merkel zu wenig Rück-
sicht auf die Befindlichkeiten des rechten
Randes nimmt. Wäre es nach ihm gegan-
gen, dann hätte die Bundesregierung die
Leistungen für Asylbewerber drastisch ge-
kürzt und zugleich von ihnen verlangt,
dass sie teilweise selbst für ihre Deutsch-
kurse aufkommen. Dass das Bundes-
verfassungsgericht vor ein paar Jahren
entschieden hat, die Zuwendungen für
Asylbewerber dürften nicht unbegrenzt ge-
stutzt werden, ist für Schäuble kein Argu-
ment. „Ich schmeiß jeden Verfassungs-
referenten raus, der so was sagt“, raunte
er seinen Leuten zu.
Schäuble hat die Kunst verfeinert, sich
zum Dissidenten zu stilisieren, ohne Mer-
kel öffentlich zu widersprechen. Er ist
Loyalist und Rebell zugleich, das macht
seine Popularität aus, in den Umfragen hat
er Merkel inzwischen weit überholt. Als
er vor ein paar Tagen in der „Süddeut-
schen Zeitung“ gefragt wurde, ob er Mer-
kel in der Flüchtlingskrise aus Überzeu-
gung oder aus Loyalität folge, sagte er: „So
eine Frage dürfen Sie einem intelligenten
Menschen nicht stellen.“ Hinter jedem
Schäuble-Satz kann sich ein Abgrund auf-
tun. Er ist der Mann mit dem größten Bru-
tus-Potenzial in Berlin.
Nach der Spitze mit der Skifahrerin und
der Lawine meldet sich Schäuble bei Mer-
kel, um sich zu entschuldigen. Aber wie
so oft tat er dies mit einer kleinen Bosheit.
„Das mit dem Skifahrer war falsch, das
fällt einem bei Ihnen ja gar nicht ein“, sag-
te er. Man muss dazu wissen, dass Merkel
sich vor zwei Jahren beim sehr langsamen
Langlauf das Becken gebrochen hatte. Als
Alpinistin im Tiefschnee kann man sie sich
tatsächlich nicht vorstellen.
Wie weit wird er es noch treiben?
Schäuble, damit beruhigen sich Merkels
Leute selbst, habe noch nie den offenen
Putsch gewagt. Er traute sich nicht, Helmut
Kohl zu stürzen, als dieser sich in den
Neunzigern weigerte, für einen Jüngeren
Platz zu machen. Und als Merkel die Grie-
chen gegen seinen Willen im Euro hielt,
gab es auch keinen Aufstand.
Allerdings kann Schäuble es bis heute
nur schwer akzeptieren, dass er die Num-
mer zwei hinter Merkel sein soll. Hinter je-
ner Frau, die er einst zur Generalsekretärin
machte und die ihn nach seinem Sturz über
die Spendenaffäre als CDU-Vorsitzende ab-
löste. In seinen klaren Momenten erkennt
er, dass er eigentlich zu alt für das Kanz-
leramt ist. Andererseits: War Adenauer
nicht ebenfalls 73, als er Kanzler wurde?
A
m Ende wird alles von Horst See-
hofer abhängen, und bei ihm mi-
schen sich wie bei Schäuble ratio-
nale Erwägungen mit den Verletzungen ei-
ner langen Politikerkarriere. Inzwischen
spricht Seehofer im Wochentakt neue Dro-
hungen und Ultimaten aus. Er hat den Ruf
des ewigen Wendehalses, aber in der
Flüchtlingskrise hatte er von Anfang an
eine Strategie, und die beruhte auf der
Macht der Zahlen: Deutschland kann
Flüchtlinge aufnehmen, aber eine Million
pro Jahr sind zu viel. Kein Kanzler kann
das auf Dauer durchhalten.
„Wenn die Lage total aus den Fugen ge-
rät, lässt sich die Stimmung nicht mehr
drehen.“ Es ist der 3. November 2015, als
Seehofer das sagt, ein Dienstag, er sitzt in
der bayerischen Landesvertretung in Ber-
lin. Er hat das Wochenende davor in der
Hauptstadt verbracht, um das weitere Vor-
gehen in der Flüchtlingskrise zu beraten.
Zehn Stunden saß er mit Merkel im
Kanzleramt, auch Altmaier, Fraktionschef
Volker Kauder und Gerda Hasselfeldt, die
Chefin der CSU-Landesgruppe, waren
dabei. Die Bayern versuchten ihre Gegen-
über zu der Zusage zu bewegen, dass man
eine Obergrenze für die Flüchtlinge brau-
che, aber Merkel und Altmaier wehrten
sich mit Zähnen und Klauen. Am Ende ei-
nigte man sich darauf, dass der Zuzug der
Flüchtlinge reduziert werden müsse. Mer-
kel schrieb den Satz persönlich nieder.
„Die Kanzlerin hat selbst die Blätter ge-
holt, es war eine Formulierungsolympia-
de“, erzählt Seehofer. „Wir sind im Mo-
ment sehr zufrieden mit dem Papier“, sagt
er und setzt ein listiges Lachen auf. Für
ihn ist es der erste kleine Sieg in der
Schlacht mit Merkel. Es geht dabei nicht
nur um die Flüchtlingszahlen, für Seehofer
steht der Fortbestand der CSU als Partei
auf dem Spiel, die all ihre Kraft aus der
absoluten Mehrheit in Bayern zieht. „Die
CDU kann es sich leisten, wenn sie auch
mal in den 30-Prozent-Turm rutscht. Für
uns ist das existenziell.“
Aus Seehofers Sicht begann Merkel ih-
ren Urfehler am 4. September 2015, als sie
die Türen für die Flüchtlinge in Ungarn
öffnete. In jener Nacht versuchte sie, See-
hofer auf dem Handy zu erreichen. Aber
er schlief und ging deshalb nicht ran, so
stellt er es zumindest dar. Als sie ihn am
folgenden Morgen erreicht, weiß sie noch
die genaue Uhrzeit ihres Anrufs. Es klingt,
als habe sie ein schlechtes Gewissen.
„Das werden wir nicht beherrschen kön-
nen“, sagt Seehofer.
„Da bin ich betrübt“, erwidert Merkel.
Die Kanzlerin habe in jener Nacht mit
den besten Absichten einen großen Fehler
gemacht, sagt Seehofer rückblickend. Aus
seiner Sicht wäre es auch später noch mög-
lich gewesen, die Dinge in geordnete Bah-
nen zu lenken. Man hätte die Grenzöff-
nung zu einer humanitären Ausnahme-
situation erklären können. Als Merkel bei
einer Pressekonferenz am 7. September
mit Vizekanzler Gabriel ihre Entscheidung
erläutert, sagt sie etwas anderes: „Deutsch-
land ist ein aufnahmebereites Land.“
Seehofer hat eine Theorie über den Um-
gang mit politischen Fehlern. Probleme
17DER SPIEGEL 4/2016
OLIVIERHOSLET/DPA
Umfrage
Sept.
60%
50%
40%
30%
2015 2016
Okt. Nov. Dez. Jan.
„In der Flüchtlings- und Asylpolitik macht die
Bundeskanzlerin ihre Sache eher …“
„gut“
„schlecht“
Quelle: Forschungsgruppe Wahlen
Finanzminister Schäuble: „Das mit dem Skifahrer fällt einem bei Ihnen gar nicht ein“
Titel
entstünden nicht durch falsche Entschei-
dungen, sondern durch die Unfähigkeit,
sie rasch zu korrigieren. „Oft scheitern
Politiker an den Beta-Fehlern.“ Verhäng-
nisvoll sei es, wenn der Primärfehler mit
einer Philosophie überhöht werde. Mer-
kels verhängnisvolle Philosophie ist für
Seehofer die Willkommenskultur.
Er glaube nicht, sagt er, dass Merkel ihr
Amt bewusst aufs Spiel setzen wolle. „Sie
ist in einem Alter, wo man die Macht nicht
mehr aus der Hand gibt. Vielleicht kocht
sie ab und zu für ihren Mann. Aber Politik
ist ihr Leben.“ Der Keim jeder scheitern-
den Kanzlerschaft, warnt Seehofer, liege
in der wachsenden Distanz zur Parteibasis.
Helmut Schmidt sei über den Nato-Dop-
pelbeschluss gestürzt, Gerhard Schröder
über die Agenda-Politik.
Merkel, fügt er noch an, sei durchaus
fähig, sich zu korrigieren. Er lehnt sich zu-
rück und erinnert an das Jahr 2004, als in
der Union der Kampf um die Kopfpauscha-
le geführt wurde, um all die Reformpläne,
die Seehofer für neoliberale Verirrungen
hielt. Als Merkel im Jahr 2005 um ein Haar
die Wahl verlor, habe sie all ihre Pläne ein-
fach vergessen. „Es gab keine öffentliche
Beerdigung.“ Sollte Merkel sich nun in der
Flüchtlingspolitik wieder korrigieren müs-
se, werde sie das nicht zugeben. „Sie wird
nie sagen, dass das falsch war.“
K
ann sein, dass Merkel nie Fehler
eingesteht. Wahrscheinlicher ist,
dass sie sich einfach im Recht fühlt,
und das liegt auch an Menschen wie Has-
san Alasad. Er trägt einen dunkelblauen
Pullunder über dem hellblauen Hemd und
sitzt in einer Unterkunft der Arbeiterwohl-
fahrt im Nordwesten Berlins. Vor ihm lie-
gen zwei Handys. Er nimmt eines davon
und flippt über den Bildschirm. Natürlich
habe er das Foto noch. Er werde es immer
bei sich haben, sein Leben lang.
Auf dem Foto, das den syrischen Flücht-
ling zu einer Symbolfigur machte, sieht
man ihn neben der deutschen Bundes-
kanzlerin in eine Handykamera lächeln.
Das vielleicht berühmteste Selfie des Jah-
res 2015 ging um die Welt. Es wurde zum
Inbegriff jener Willkommenskultur, die
nun mit Merkels Namen verbunden ist
und sie an den Abgrund ihrer Karriere ge-
führt hat.
Es ist der 10. September, als Merkel die
Unterkunft besucht, in der Hassan Alasad
noch heute seine Tage verbringt. Sie habe
so freundlich, so nahbar gewirkt, erzählt
er nun, da die Kälte nach Deutschland ge-
kommen ist. Da habe er sie spontan um
ein Selfie gebeten.
In seiner Heimat sei es unmöglich ge-
wesen, die Mächtigen persönlich zu Ge-
sicht zu bekommen. In zwölf Jahren habe
er nicht mal seinem Bürgermeister die
Hand geben können. „Dann bin ich gerade
mal ein paar Tage in Deutschland, und die
Bundeskanzlerin kommt persönlich vor-
bei, um uns zu begrüßen.“ Alasad schüttelt
den Kopf und lacht dabei. „Das war ein
großartiges Gefühl.“
Freunde aus aller Welt riefen ihn danach
an, aus Dubai, aus Belgrad, aus Afgha-
nistan. Das Foto sei in unzähligen Zeitun-
gen und auf noch mehr Internetseiten zu
sehen gewesen. Er hat fast alle gespeichert
in seinem Handy.
„Ich dachte, Deutschland sei das Para-
dies“, sagt Alasad. „Das ordentlichste
Land der Welt. Ein Land mit Struktur.“
Seine Vision von Deutschland beinhaltete
alles, was seine Heimat nicht hatte. Bevor
Bomben sein Büro und seine Lagerhalle
zerstörten, war Hassan Alasad Unterneh-
mer gewesen. Er wollte seine Heimat nicht
verlassen, aber er fühlte sich nutzlos dort,
seit Jahren schon. Als er mit seinem Bru-
der einen Ausflug an einen See machte
und Flugzeuge Bomben abwarfen, die
Freunde und Bekannte in Fetzen rissen,
entscheiden sie sich, Syrien zu verlassen.
A
m 5. Januar steht Merkel in der
Lobby des Kanzleramts, die Stern-
singer sind da, sie singt mit den
Mädchen und Jungen, die als Könige aus
dem Morgenland verkleidet sind, das Lied
heißt: „Wir haben seinen Stern gesehen.“
Einmal sieht es so aus, als müsste sich
Merkel eine Träne aus dem Augenwinkel
wischen.
Dann hält sie eine kurze Ansprache. Sie
sagt, dass man die Sternsinger, die von
Haus zu Haus ziehen, inzwischen als „Kul-
turerbe“ bezeichne, aber eigentlich sei das
doch eine christliche Tradition. Das Motto
der Sternsinger sei Respekt, sagt sie, und
Respekt verspreche auch das Grundgesetz,
in dem stehe, dass die Würde des Men-
schen unantastbar sei. Das gelte aber nicht
nur für Deutsche oder Europäer, „sondern
es gilt für alle Menschen – für jeden Men-
schen als Gottes Geschöpf“. Ihre Haltung
gegenüber Flüchtlingen ist auch im neuen
Jahr dieselbe geblieben.
Dabei hat sich die Situation, seit sie im
November mit Seehofer im Kanzleramt
saß, beinahe täglich verschärft. Die Flücht-
lingszahlen sinken zwar leicht, aber das
kann sich bald wieder ändern, wenn der
Winter verblasst. Seehofer treibt seine Par-
tei immer schärfer in den Konflikt mit Mer-
kel, und seit den Übergriffen der Kölner
Silvesternacht kennt der Hass auf Merkels
Politik in weiten Teilen der Bevölkerung
keine Grenzen mehr.
„Wir müssen uns immer wieder gegen-
seitig anspornen, dass man auch etwas
zum Guten wenden kann“, sagt Merkel
den Sternsingern. Es ist ein rührender Satz.
Sie stemmt sich gegen die Geilheit des
Scheiterns, die sich seit Köln breitmacht,
gegen die immer höhnischer vorgetragene
Meinung, ihre Politik sei der naive Versuch
gewesen, die Welt ein Stück humaner zu
machen.
Spricht man in diesen Tagen mit ihren
Vertrauten, gestehen diese allenfalls Fehler
im Detail zu. Den Tweet des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge zum Bei-
spiel, der am 25. August um die Welt ging
und den Eindruck erweckte, Deutschland
18 DER SPIEGEL 4/2016
MICHAELTINNEFELD/AGENCYPEOPLEIMAGE
CSU-Chef Seehofer: Kein Kanzler kann das auf Dauer durchhalten
öffne seine Türen für alle syrischen Flücht-
linge. Dabei ist es offensichtlich, dass Mer-
kel die Kontrolle über die Flüchtlings-
politik verloren hat. Es gibt eine Diskre-
panz zwischen dem, was sie für richtig hält,
und den Nebenwirkungen, die diese Poli-
tik für ihr Land hat. Es scheint, als spiele
sie nur noch auf Zeit, aber dieses Spiel
hält keine guten Karten für sie bereit.
Angela Merkel wollte Deutschland ein
soziales, ein freundliches Gesicht geben.
Das ging ein paar Wochen gut, aber inzwi-
schen ist das deutsche Gesicht ein verknif-
fenes. Es ist nicht mehr das befreite, fröh-
liche Merkel-Gesicht, sondern das der
grimmigen Pegida-Marschierer und AfD-
Krakeeler. Deren Partei liegt bundesweit
inzwischen bei zehn Prozent und mehr.
Merkel ist enttäuscht darüber, dass ihr
das Volk und die Partei letztlich nicht ge-
folgt sind. Sie selbst hat es allerdings ver-
säumt, ihre Willkommensbotschaft mit
einem Plan zu verbinden, wie der Zuzug
der Flüchtlinge in halbwegs geordnete Bah-
nen gelenkt werden kann. Das hat die
Stimmung in Deutschland kippen lassen,
Europa gegen Deutschland aufgebracht
und die Rechtspopulisten gestärkt. Das ist
auch eine Bilanz.
Selbst Hassan Alasad, Merkels Selfie-
Mann, hat nach vier Monaten ein anderes
Bild von Deutschland. Obwohl alles dafür
spricht, ihn als Flüchtling anzuerkennen
– was ihm die Gelegenheit geben würde
zu arbeiten –, habe er bis heute nicht die
entsprechenden Papiere erhalten. Jede Wo-
che stehe er vor dem Amt, vergebens. Er
hat jetzt mit Behörden zu tun, die keine
Zeit für ihn haben, die überfordert sind.
Wenn Merkel noch einmal zu Besuch
käme, sagt er, würde er sie fragen, was in
ihrem Land eigentlich los sei.
Es kann sein, dass Merkel doch noch zu
ihrem alten Pragmatismus zurückfindet
und dabei hilft, Flüchtlinge an der slowe-
nischen Grenze abzuweisen (siehe Seite
22). Das freie Reisen im Schengen-Raum
wäre so weitgehend gesichert, aber die
Menschen würden auf dem Balkan stran-
den, in Mazedonien oder Griechenland –
und Deutschland würde dabei mithelfen,
dass Europa ein hässliches Gesicht zeigt.
„Sie täte mir menschlich unendlich leid,
wenn sie in eine Situation kommen sollte,
in der sie ihre Überzeugungen und Prä-
gungen verraten müsste“, sagt Eppelmann.
„Aber wenn es so weit käme, würde sie
eher den Hut nehmen.“
Das wäre, bei allen Überraschungen, die
Angela Merkel in den vergangenen Mona-
ten für die Deutschen bereithielt, dann
doch die größte Überraschung.
will mir gar nicht ausmalen, was in den
nächsten Monaten passiert.“
Eigentlich sollten bis Ende November
elf Hotspots eingerichtet sein. Bisher gibt
es nur drei: auf Sizilien, auf Lampedusa –
und eben in Moria. Obwohl Athen fürch-
ten muss, dass der anhaltende Menschen-
strom Grenzschließungen im Norden pro-
voziert und damit Zehntausende im Land
stranden könnten, geht es kaum voran,
weil Bürger und Behörden Widerstand leis-
ten. Der Bürgermeister von Kos schrieb
diese Woche einen Brandbrief an Premier
Alexis Tsipras, in dem er forderte, den Hot-
spot-Bau zu stoppen, der „Griechenlands
viertbeliebtestes Urlaubsziel opfern“ wür-
de. Auf ähnliche Widerstände trifft ein ge-
plantes Zentrum im Norden des Landes,
das bis zu 10000 Menschen aufnehmen soll.
Daher gibt es bisher nur diesen einen
Hotspot auf Lesbos, und auch er arbeitet
nicht mit voller Kapazität. Vor allem fehlt
das wichtigste Element: die geordnete Ver-
teilung der Flüchtlinge innerhalb der EU.
Verteilt wurde über die Hotspots bisher
kaum jemand. So gut wie alle machen sich
noch immer auf eigene Faust auf den Weg.
220 griechische Polizisten und 170 Fron-
tex-Beamte sind in Moria im Einsatz, aber
sie haben nur 18 Fingerabdruckleser. Nie-
mand kann garantieren, dass alle Flücht-
linge registriert werden – und dass sie auch
die sind, für die sie sich ausgeben. Denn
zum einen ist keine Zeit, um alle Abdrücke
mit den Datenbanken abzugleichen. Zum
anderen verkaufen kriminelle Banden ge-
fälschte Registrierungsdokumente.
Knapp 130 Menschen hat Griechenland
seit Jahresbeginn zurück in die Türkei ge-
bracht – während sich zur selben Zeit
30000 Menschen in umgekehrter Richtung
auf den Weg machten. Und so befürchtet
der Polizist Amountzias das Schlimmste:
„Ich habe diesen wiederkehrenden Alb-
traum, in dem Tausende verzweifelte
Flüchtlinge auf mich zustürmen und mich
um Hilfe anflehen.“ Giorgos Christides
19DER SPIEGEL 4/2016
Video: René Pfister über
seine Merkel-Momente
spiegel.de/sp042016merkel
oder in der App DER SPIEGEL
D
ie Behörden von Lesbos hatten auf
den Winter gehofft, darauf, dass er
ihnen eine kurze Erholung bringen
würde. Aber nun schneit es, Straßen und
Schulen sind geschlossen – und trotzdem
kommen jeden Tag Hunderte, manchmal
Tausende Flüchtlinge an. An diesem eisi-
gen Mittwoch sind es mehr als 1500 Men-
schen. Das sind die, die Glück hatten. Wer
weniger Glück hatte, erreicht gar nicht erst
die Küste. Mindestens zwei Menschen ster-
ben an diesem Tag, eine Frau und ein Kind.
Am Donnerstag ist das Wetter wieder bes-
ser, und so landen schon am frühen Morgen
über 300 Flüchtlinge am Strand. Busse brin-
gen sie nach Moria, einem winzigen Dorf,
auf das sich alle Hoffnungen von Brüssel
und Berlin richten. Denn nahe Moria steht
ein früheres Gefängnis, das nun als erstes
EU-Registrierungszentrum in Griechenland
dient. Hotspots, so heißen diese Zentren,
und wenn der Plan aufgeht, sollen sie die
erste Front im Kampf gegen den Flüchtlings-
strom sein. Im Schnellverfahren soll hier
entschieden werden, wer gute Chancen auf
Asyl hat, wer nach Europa weitertransferiert
oder wer abgeschoben wird.
Es ist allerdings ein Plan, der bisher nur
in der Theorie funktioniert.
Im Hotspot Moria stehen die Flüchtlinge
an, sie sind nass und erschöpft, Frauen tra-
gen in Decken gewickelte Babys. Freiwil-
lige teilen Tee und Kekse aus, aber gegen
die Kälte können sie wenig machen, auch
nicht gegen die Tatsache, dass sich die
Schlange kaum bewegt. Abhängig von ih-
rer Nationalität erhalten die Flüchtlinge in
Moria eine vorübergehende Aufenthalts-
genehmigung, sechs Monate für Syrer, ein
Monat für alle anderen. Danach nehmen
sie die Fähre nach Piräus und reisen nach
Norden, also: alles wie immer.
Es sei eine hoffnungslose Schlacht, die
sie hier führten, sagt Dimitris Amountzias,
der Chef der Polizei in Moria. „Trotz der
Kälte haben wir im Dezember mehr
Flüchtlinge registriert als im August. Ich
HeißeLuft
Griechenland Die Hotspots sollen den Flüchtlingsstrom stoppen, doch
geändert hat sich dadurch auf der Insel Lesbos bisher nichts.
GIORGOSCHRISTIDES/DERSPIEGEL
Wartende in Moria
20 DER SPIEGEL 4/2016
M
eine überraschende Liebe zu
Angela Merkel begann mit
zwei Bildern. Das eine ist eine
Aufnahme von den Verhandlungen
zum Minsker Friedensabkommen. Die
Kanzlerin und der ukrainische Präsi-
dent Poroschenko laufen mit Grabes-
miene einen Korridor entlang, da-
hinter der feixende Putin und sein
weißrussischer Kollege Lukaschenko.
Putin glaubt, dass er gewonnen hat,
das ist offensichtlich. Für ihn sieht es
aus, als ob der Westen seiner Militär-
macht in der Ukraine nichts entgegen-
zusetzen hätte. Aber er liegt falsch.
Im Schatten von Merkels Waf-
fenstillstand setzen sich die Stär-
ken des Westens durch, Soft
Power, Wirtschaft, Kultur, Recht.
Es ist ein fragiler Prozess,
der immer wieder bedroht ist.
Er wird sich über eine Genera-
tion hinziehen. Aber die
Menschen, die auf dem Maidan
demonstrierten, werden in
dem Land leben, für das sie un-
ter der EU-Flagge gekämpft
haben. Zurück in die russische
Einflusssphäre werden sie
nicht gehen.
Auch auf dem anderen Bild
ist eine EU-Flagge zu sehen. Sie
wird von Flüchtlingen ge-
schwenkt, die sich auf einer un-
garischen Autobahn zu Fuß auf
den Weg nach Westen gemacht
haben. Es ist vom vergangenen
Sommer. Diese Leute können
wir nicht abweisen, dachte ich
mir, als ich es sah. Das taten wir
dann auch nicht. Es war der Be-
ginn von dem, was einen Au-
genblick lang aussah wie ein
Sommermärchen und nun vor
allem Flüchtlingskrise genannt
wird.
Ich habe noch nie in meinem
Leben CDU gewählt. Ich bin
ein ehemaliger Hausbesetzer,
ich war „taz“-Redakteur, ich bin im-
mer noch Mitherausgeber der linken
Wochenzeitung „Jungle World“. Der
deutsche Konservatismus und ich
könnten nicht weiter voneinander ent-
fernt sein. Trotzdem vertraue ich An-
gela Merkel wie keinem Politiker, an
den ich mich erinnern kann. Sie hat
Fehler gemacht, wie sollte es auch an-
ders sein. Aber sie hat sich in zwei ent-
scheidenden Situationen menschlich
verhalten, pragmatisch und prinzipien-
fest. Das ist es, was ich von einem Poli-
tiker erwarte.
Die Welt ist unruhig geworden. Rie-
sige Mengen Geld umkreisen den
Globus, bilden Blasen, untergraben In-
stitutionen. Die arabische Welt wird
von einer tiefen Modernisierungskrise
geschüttelt, es gibt Krieg, er wird so
schnell nicht aufhören, Flüchtlinge
kommen. Es ist unser Krieg, die Ameri-
kaner interpretieren ihre globale Rolle
neu. Europa und der Nahe Osten sind
für sie weniger wichtig geworden.
Was tun? Der Wunsch nach einer
Welt, in der das Unwägbare draußen
bleibt, ist verständlich. Aber dann muss
man Grenzen errichten und Mauern bau-
en und im Zweifelsfall auch bereit sein,
Gewalt anzuwenden. Das ist das Modell
Orbán. Oder man hält sich an das, was
Europa in den vergangenen Jahrzehnten
groß gemacht hat. Offenheit, Mensch-
lichkeit, Kompromissfähigkeit.
Angela Merkel hat sich diese Krisen
nicht ausgesucht. Aber sie hat sie an-
genommen. Sie hat nicht nur die Men-
schen auf dem Maidan oder auf der
Autobahn gesehen – sie hat auch ver-
standen, was sie in uns sehen. In
Europa, diesem glücklichen Kontinent.
Dem versucht sie, gerecht zu werden.
Wie all die Menschen, die Kleidung in
Flüchtlingsunterkünften verteilen oder
bei Behördengängen helfen.
Es ist das Wesen solcher Krisen,
dass es keine einfachen Lösungen gibt.
Dass ihre Bewältigung Zeit braucht,
die man nicht hat. Dass Dinge schief-
gehen, dass es Rückschläge gibt.
Fast 900000 Menschen in einem halben
Jahr aufzunehmen ist eine ungeheure
Aufgabe. Aber es ist machbar.
Wie angenehm ist es, eine
Kanzlerin zu haben, die das
auch weiß. Und es den Deut-
schen erklärt, ihrer Partei, den
kritischen Bürgern, sogar den
Sternsingern, die neulich im
Kanzleramt waren. Dass die
Menschen kommen, so oder so.
Dass Deutschland davon lebt,
seine Waren in alle Welt zu ver-
kaufen, dass wir die Grenzen
auch deshalb nicht einfach
schließen können. Vielleicht
hat sie verstanden, dass diese
Krise, und wie wir mit ihr um-
gehen, der Anfang einer neuen
Erzählung für dieses Land sein
könnte.
„Wir schaffen das“ ist einer
der großen Politikersätze des 21.
Jahrhunderts, ein deutsches
„Yes we can“. Angela Merkel
hat ihn gesagt, diese Frau, der
immer wieder vorgeworfen
wurde, ihr fehle die Gabe der
öffentlichen Rede. 44 Brief-
unterzeichner aus ihrer eigenen
Fraktion verweigern ihr jetzt
die Gefolgschaft? Ich nicht.
Ich kann mich an Freunde
meiner Eltern erinnern, die, es
muss Anfang der Achtziger ge-
wesen sein, über Helmut
Schmidt sagten: guter Mann, lei-
der in der falschen Partei. So ist es nun
wieder. Angela Merkel: große Kanzle-
rin, leider in der falschen Partei. Nützt
es ihr was? Für jeden wie mich, den
Merkel gewinnt, verliert sie wahr-
scheinlich fünf Stammwähler. Und ob
sie mich wirklich gewonnen hat, ist
auch keine ausgemachte Sache: Wäh-
len müsste ich ja ihre Partei. Aber
Liebe ist ein egoistisches Gefühl. Viele
Jahre lang war sie mir gleich, jetzt ist
Angela Merkel meine Kanzlerin.
Esistmachbar
Wie ich die neue Angela Merkel schätzen lernte. Von Tobias Rapp
MICHAELGOTTSCHALK/PHOTOTHEK.NET
Über Helmut Schmidt hieß es: guter
Mann, falsche Partei. So ist es wieder:
große Kanzlerin, falsche Partei.
Titel
21DER SPIEGEL 4/2016
E
in Kollege berichtete von den
Grünen, dass sie dort jeden Tag
eine Kerze aufstellen, damit der
Herrgott seine Hand über die Kanzle-
rin halte. Wer nicht an Gott glaubt,
wendet sich an Buddha oder einen der
Schutzheiligen aus dem Reich der
Veganer. In jedem Fall ist man wegen
der Angriffe aus der Union in großer
Sorge um Angela Merkel.
Wenn die Grünen für die Kanzlerin
beten, ist das für mich ein sicheres
Zeichen, dass etwas schiefläuft. Ich
kenne viele nette Leute bei den Grü-
nen, aber sobald sie politisch aktiv
werden, ist Vorsicht geboten.
Das mag etwas vereinfacht
klingen, aber als Faustregel
hat es sich bewährt.
Was Leute, die fest im rot-
grünen Lager stehen, heute
an der Kanzlerin bewundern,
ist genau das, was mich an ihr
zweifeln lässt. Bislang sah ich
Angela Merkel immer als je-
manden, der die Dinge kühl
betrachtet und sich nicht von
Sentimentalitäten leiten lässt.
Man kennt den Typus aus
amerikanischen TV-Serien:
sozial eher zurückhaltend,
kein großer Smalltalker, aber
ein Ass, wenn es darum geht,
die Dinge in Sekundenschnel-
le zu durchdringen. So wie
Carrie, die unbestechliche
„Homeland“-Heldin. Ich wäre
nie auf die Idee gekommen,
dass aus Carrie mal eine Idea-
listin werden würde.
In Journalistenkreisen kam
Merkel mit ihrem No-Non-
sense-Stil nie gut an. Journa-
listen lieben die große Idee
und den flammenden Auftritt.
Ihr großes Vorbild ist Willy
Brandt und sein Kampf für
die Ostverträge. Über Merkel
hieß es, sie führe das Land in
ein neues Biedermeier. Ich habe nichts
gegen Biedermeier. Wenn die Kolle-
gen schrieben, die Politik der Kanzle-
rin sei blutleer und kraftlos, musste
ich innerlich lächeln.
Die Flüchtlingskrise ist für viele
Sympathisanten von Rot-Grün so et-
was wie ihre Ostpolitik. Endlich gibt
es wieder ein Projekt, für das es sich
zu streiten lohnt. Dabei wird überse-
hen, dass schon der damalige Einsatz
nicht so glanzvoll verlief, wie es die
Teilnehmer in Erinnerung haben. Was
als Wandel durch Annäherung begann,
um den Ostblock zu destabilisieren,
endete als milliardenschweres Stüt-
zungsprogramm. Dass der Kommunis-
mus dann doch in die Knie ging, hat
wenig mit Willy Brandt zu tun und
ganz viel mit Ronald Reagan, der nie
viel von Wandel durch Annäherung
hielt. No-Nonsense eben.
In einer Konferenz wurde neulich
die Frage diskutiert, wie Integration
gelingen könnte. Meine Antwort wäre:
Die Grundvoraussetzung dafür ist,
dass das Wort Grenze wieder an Be-
deutung gewinnt. Wenn man nicht ein-
mal dafür sorgen kann, dass die Leute,
die bereits hier sind, anständig ver-
sorgt werden, macht es wenig Sinn,
ständig neue Leute ins Land zu lassen.
Nur ein Beispiel: Der Hamburger Bür-
gerschaftsabgeordnete Dennis Gladia-
tor hat vor Kurzem vom Senat seiner
Stadt Auskunft über Polizeieinsätze in
Erstaufnahmeeinrichtungen verlangt.
Der Senat listete darauf für das ver-
gangene Jahr 2000 Polizeieinsätze auf.
Mal mussten die Beamten mit 2 oder 3
Wagen anrücken, mal mit 27. Was im-
mer die Gründe dafür sein mögen,
dass es in den Unterkünften hoch her-
geht: Mir zeigt die Zahl, dass wir
uns schon jetzt übernommen haben.
Ich fand von Anfang an die bayeri-
sche Haltung überzeugend. Politisch
kämpft man dort aus mir einsichtigen
Gründen für eine Begrenzung der Zahl
der Asylsuchenden. Aber den Leuten,
die bereits im Land sind, wird mit Herz
und Verstand geholfen. Tatsächlich
ist Bayern, was die Flüchtlingshilfe an-
geht, ein Vorbild in Deutschland.
Selbst die traditionell CSU-
feindlich eingestellte „Süd-
deutsche Zeitung“ musste neu-
lich anerkennen, dass man
dankbar sein kann, dass die
deutsche Außengrenze zu
Österreich nicht in Berlin oder
Nordrhein-Westfalen verläuft.
Meine Chefredakteurin
hat mich gefragt, ob ich nicht
von Angela Merkel ent-
täuscht sei. Enttäuschung ist
nicht das richtige Wort. Um
enttäuscht zu sein, muss man
vorher jemandem innerlich
verbunden gewesen sein. Ich
habe nie an Merkel geglaubt,
ich schätze einfach ordent-
liches Handwerk. Wenn Mer-
kel gefragt wurde, was sie
an Deutschland liebe, war
ihre Antwort: dass die Fens-
ter so schön schließen. So hat
sie auch regiert: vernünftig,
mit einem wachen Gespür für
Zugluft.
Merkel verfolgt jetzt eben-
falls eine große Idee. Diese
Idee ist die Einheit in Europa.
Sie ist der Meinung, dass alles
verloren ist, wenn sie die
Grenzen schließt. Dafür ist sie
sogar bereit, die Kanzler-
schaft zu riskieren. Das ist eh-
renwert, aber es ist falsch, wie ich
überzeugt bin. Das Europa, das sie be-
wahren will, gibt es nicht mehr. Der
Norden hat bereits dichtgemacht. Soll-
ten die Flüchtlinge beschließen, dass es
ihnen in Frankreich besser gefällt,
wäre das die nächste Grenze, die sich
schließt.
Ich wünschte, Carrie würde zurück-
kehren. Die Carrie aus der ersten Staf-
fel, der man kein X für ein U vorma-
chen konnte, nicht die aus der dritten.
Carrie,kommzurück
Warum ich die alte Angela Merkel vermisse. Von Jan Fleischhauer
MICHAELGOTTSCHALK/PHOTOTHEK.NET
Wenn die Kollegen schrieben, die Politik
der Kanzlerin sei blutleer und
kraftlos, musste ich innerlich lächeln.
D
ie großen Veränderungen kündigen
sich manchmal ganz leise an. Jeden
Donnerstag reden Vertreter der
Länder, die an der Flüchtlingsroute über
den Balkan liegen, in einer Videoschalte
miteinander, um die aktuelle Lage zu be-
sprechen. Gibt es genügend Unterkünfte
in Griechenland? Reicht die Zahl der be-
heizten Zelte in Kroatien? Viele organisa-
torische Fragen, Verwaltungsvorgänge, fast
schon Routine.
Für Deutschland nimmt der europapoli-
tische Berater der Bundeskanzlerin, Uwe
Corsepius, an der Runde teil. Vergangenen
Donnerstag teilten er und seine Kollegen
aus Österreich und Slowenien mit, dass
man erste Gespräche führe und unter an-
derem nach Wegen suche, um die Grenze
in Slowenien besser zu kontrollieren.
Was so nichtssagend klang, war in Wirk-
lichkeit die Ankündigung eines Strategie-
wechsels in der deutschen Flüchtlingspoli-
tik. Angela Merkel hält daran fest, dass
die Krise europäisch gelöst werden soll.
Nur die Frage, was eine „europäische
Lösung“ ist, wird mittlerweile in Berlin an-
ders als früher beantwortet.
Bislang war die offizielle deutsche Linie,
dass die Flüchtlinge an der Außengrenze
der Europäischen Union in Griechenland
und Italien aufgehalten werden sollten.
Vorgesehen war, sie in großen Aufnahme-
zentren, den sogenannten Hotspots, zu re-
gistrieren und über eine mögliche Vertei-
lung zu entscheiden. An diesem Plan hält
Merkel nach eigenen Worten fest.
Das Problem ist nur, dass die Einrich-
tung dieser Hotspots nur zäh vorankommt.
Vor allem Griechenland, über das derzeit
die meisten Flüchtlinge in die EU ein-
reisen, hält seine Verpflichtungen nicht
ein. Deshalb ist auch die Zahl der Flücht-
linge in Deutschland nicht so gesunken,
dass der politische Druck auf Merkel nach-
ließe.
Im Gegenteil: Mit ihrer Ankündigung,
eine Obergrenze für Flüchtlinge einzufüh-
ren, hat die österreichische Regierung die
Kanzlerin weiter in die Defensive gebracht.
Die Sache sei „nicht hilfreich“, räumte
Merkel am Mittwoch vor CSU-Landtags-
abgeordneten in Wildbad Kreuth ein.
Weil die Zahl der europäischen Ver-
bündeten sinkt, arbeiten die Experten im
Kanzleramt nun an einem Plan B, den vor
allem die CSU lautstark fordert. Offiziell
dementiert Merkel, dass es einen solchen
Plan gibt. Es soll nicht so aussehen, als sei
sie vor CSU-Chef Horst Seehofer einge-
knickt. Vorangetrieben wird er trotzdem,
und er sieht anders aus, als ihn sich die
CSU vorstellt.
Eine Obergrenze und strikte Kontrollen
an der deutschen Grenze, wie Seehofer
sie fordert, lehnt die Kanzlerin nach wie
vor ab, auch weil sie ein Ende der Reise-
freiheit im Schengenraum fürchtet, jenem
Verbund von Ländern also, die sich vor
Jahren in der luxemburgischen Gemeinde
Schengen auf gemeinsame Außengrenzen
verständigt hatten. Aber es gibt möglicher-
weise eine elegantere Lösung, die zuerst
von der Regierung in Österreich ins Spiel
gebracht wurde.
Slowenien spielt dabei eine Schlüsselrol-
le, weil es nach Griechenland das erste Land
auf der Westbalkanroute ist, das eine Schen-
gen-Außengrenze besitzt. Dort sollen Mi-
granten aus Afghanistan, Pakistan und Nord-
afrika aufgehalten werden, die sich ver-
stärkt über den Westbalkan nach Deutsch-
land aufmachen, aber kaum Chancen auf
Schutz haben. Schengen würde ein Stück
weiter nach Norden verlegt. Die Binnen-
grenzen in Europa könnten offen bleiben.
Von den 1,83 Millionen Flüchtlingen, die
laut EU-Grenzschutzagentur Frontex 2015
nach Europa kamen, stammen 227000 aus
Afghanistan. Die Zahl der Nordafrikaner
liegt weit darunter, allerdings stellten
22 DER SPIEGEL 4/2016
OperationBugwelle
Flüchtlingskrise Offiziell sucht die Bundesregierung weiter nach einer europäischen Lösung. Intern
aber wird längst überlegt, die Zahl der Schutzsuchenden auf andere Weise zu verringern.
DANIELBISKUP/LAIF
Flüchtlinge und Polizisten an der kroatisch-slowenischen Grenze: „Leidensdruck erhöhen“
Titel
deutsche Behörden in den vergangenen
Wochen einen deutlichen Anstieg der Zahl
von Flüchtlingen aus den Maghreb-Staaten
Algerien oder Marokko fest.
Die meisten von ihnen haben keine Aus-
sicht auf Asyl. Mit der Rückverlagerung
der Schengen-Außengrenze nach Slowe-
nien könnte verhindert werden, dass sie
bis nach Deutschland gelangen. Um die
heiklen rechtlichen Fragen, so die unaus-
gesprochene Hoffnung in Berlin, werde in
Slowenien möglicherweise weniger Auf-
hebens gemacht als in Deutschland.
Ob die Beamten an der slowenischen
Grenze Asylsuchende einfach zurückwei-
sen könnten, sei offen, sagt der Konstanzer
Europarechtler Daniel Thym. Dies sei ein
„rechtlicher Graubereich“. Es entspreche
sicher „nicht der ursprünglichen Idee des
Dublin-Systems“, man könne sich aber
„rechtliche Konstruktionen überlegen, mit
denen das gehen könnte“.
Der Plan klingt auf den ersten Blick gut,
hat aber zahlreiche Fehler, wie man in
Berlin weiß. Slowenien wird die Aufgabe,
viele Flüchtlinge zu kontrollieren, kaum
allein bewältigen können. Bislang sind un-
gefähr zehn Polizisten der Bundespolizei
an der slowenischen Grenze im Einsatz,
sie beraten ihre Kollegen, an Grenzkon-
trollen sind sie nicht beteiligt. Noch liegt
keine weitere Anfrage vor.
Es ist unklar, ob die Regierung in Lju-
bljana überhaupt dazu bereit ist, sich helfen
zu lassen. Wie eine Grenzkooperation aus-
sehen würde, ist offen. Österreich, das mit
dieser Idee vor einigen Wochen an die Bun-
desregierung herangetreten war, habe bis-
lang keine konkreten Vorschläge gemacht,
heißt es im Bundesinnenministerium.
Das liegt möglicherweise daran, dass die
Auffassungen darüber, wie die Grenze kon-
trolliert werden soll, in Berlin und Wien
auseinandergehen. Bundesregierung und
EU-Kommission wollen Griechenland und
die Nachbarländer Sloweniens nicht desta-
bilisieren. „Länder wie Serbien dürfen
nicht zum Parkplatz für Zehntausende
Flüchtlinge werden, wenn sie nicht mehr
weiterkommen“, sagt EU-Erweiterungs-
kommissar Johannes Hahn. „Es geht da-
rum, die Bugwelle umzudrehen, ohne dass
Chaos auf dem Balkan ausbricht“, heißt
es an anderer Stelle in der Kommission.
Zumindest Teile der österreichischen
Regierung sehen das anders. Ein Rückstau
werde den „Leidensdruck“ für eine ge-
samteuropäische Lösung erhöhen, sagt
Außenminister Sebastian Kurz nach der
Entscheidung über die Obergrenze. In der
CSU hat dieses Vorgehen Anhänger.
„Wenn Griechenland seine Außengrenze
nicht besser sichern kann, besteht die Ge-
fahr, dass eine vorübergehende Auszeit
aus dem Schengenraum für das Land leider
näherrückt“, sagt der Chef der EVP-Frak-
tion im Europaparlament, Manfred Weber.
Die Bundesregierung will behutsamer
vorgehen. „Wir können kein Interesse da-
ran haben, dass sich durch einen Rückstau
der Flüchtlinge die Lage im Westbalkan
und in Griechenland zunehmend ver-
schlechtert“, sagt der Staatsminister im
Auswärtigen Amt, Michael Roth.
Ohne ein koordiniertes Vorgehen zwi-
schen Wien und Berlin wird der Plan B kaum
Erfolg haben. Die Ankündigung Österreichs,
eine Obergrenze für Flüchtlinge einzuführen,
hat die Chance dafür nicht erhöht. In der
Umgebung Merkels nennt man die Pläne
„grotesk“. Obwohl die Österreicher betonen,
Berlin über Details ihrer Obergrenze infor-
miert zu haben, weiß in Berlin niemand, was
mit den Migranten geschieht, die darüber
hinaus kommen. Im österreichischen Außen-
ministerium schließt man nicht aus, dass sie
dann einfach ins Nachbarland durchgewinkt
werden. Slowenien macht dies bereits vor.
Am Donnerstag kündigte die Regierung an,
künftig nur noch solche Flüchtlinge ins Land
zu lassen, die in Deutschland oder Österreich
um Asyl bitten wollen.
Einig ist man sich immerhin darüber, dass
die Maghreb-Staaten abgelehnte Asylbe-
werber schneller wieder zurücknehmen sol-
len. Zu diesem Zweck will Deutschland
künftig den Botschaften dieser Länder in
Berlin helfen, die Herkunft der Flüchtlinge
festzustellen. Da sie oft keine Papiere ha-
ben, sollen sie mit sogenannten EU-Lais-
sez-passer-Dokumenten ausgestattet wer-
den, damit sie leichter ausgeflogen werden
können. „Das bisherige mehrphasige Rück-
kehr-Verfahren ist zu schwerfällig“, schrei-
ben Außenminister Frank-Walter Steinmei-
er (SPD) und Innenminister Thomas de Mai-
zière (CDU) an ihre Amtskollegen in Nord-
afrika. Für Wohlverhalten stellen die Deut-
schen in ihrem Brief Belohnung in Aussicht.
Und falls all das nicht hilft? Dann wird
es am Ende möglicherweise doch zu
massenhaften Zurückweisungen von Asyl-
suchenden an der deutschen Grenze
kommen. Bei ihrem Besuch vor den CSU-
Landtagsabgeordneten in Wildbad Kreuth
bezeichnete Merkel eine solche Lösung
als Ultima Ratio, als letztes Mittel.
Ob die deutsche Polizei einen entspre-
chenden Befehl umsetzen darf, ist rechtlich
umstritten. In einer internen Analyse
halten Bundesinnenministerium und Bun-
desjustizministerium zunächst fest, dass
jeder EU-Mitgliedstaat nach der Dublin-
III-Verordnung das Recht habe, einen
Schutzsuchenden in einen sogenannten
sicheren Drittstaat zurückzuweisen. Un-
klar sei aber, ob formal auch ein EU-
Mitgliedstaat als „sicherer Drittstaat“ gel-
ten könne. Dies sei „mit rechtlichen Ri-
siken behaftet“, heißt es. Es erscheine aber
vertretbar.
Außerdem ergebe sich aus dem „derzei-
tigen Systemversagen des europäischen
(Außen-)Grenzschutz- und Asylsystems“
mit der „Durchleitung von Tausenden
Schutzsuchenden an die deutsche Grenze“
eine „fundamental neue Situation“, die
ein Vorgehen zum Schutz der öffentlichen
Sicherheit eröffne, so das Papier. Entschei-
den müsste am Ende aber die Politik.
„Man kann versuchen, eine solche Zu-
rückweisung von Flüchtlingen an einer
EU-Binnengrenze zu rechtfertigen“, sagt
Rechtsprofessor Thym. Ob das vor den
Gerichten Bestand hätte, stehe nicht fest.
Allerdings, so Thym, befinde sich Deutsch-
land „gegenwärtig in einer politischen
Situation, wo man sich um das Recht nur
noch am Rande kümmert“.
Dietmar Hipp, Peter Müller, Ralf Neukirch,
Christoph Schult
23DER SPIEGEL 4/2016
EU-Staaten, die Schengen
vollständig anwenden
EU-Staaten, die nicht dem
Schengenraum angehören
Nicht-EU-Staaten, die
Schengen anwenden
Von Deutschland
zu sicheren
Herkunftsstaaten
erklärt*Wiedereinführung von Grenzkontrollen
an Binnengrenzen
Hauptfluchtroute
Grenzkontrollen im Schengenraum
*2014: Bosnien-Herzegowina,
Serbien, Mazedonien, seit Okt. 2015:
Albanien, Kosovo, Montenegro
FRANKREICH
TSCHECHIEN
SLOWAKEI
UNGARN
ÖSTERREICH
ITALIEN
RUMÄNIEN
BULGARIEN
KROATIEN
SLOWENIEN
GRIECHENLAND TÜRKEI
MAZEDONIEN
SERBIEN
DEUTSCHLAND
POLEN
verstärkte Grenzkontrollen
teilweise Grenzzäune
Flüchtlinge
Klage gegen Merkel
Eine Gruppe von Rechtsan-
wälten hat in Karlsruhe Ver-
fassungsbeschwerde gegen
die Flüchtlingspolitik der
Bundesregierung eingereicht.
In dem Schriftsatz rügen die
sechs Kläger eine Verletzung
ihres Wahlrechts und ihres
Anspruchs auf Teilhabe an
der demokratischen Willens-
bildung. Das Gericht solle
Angela Merkels Entscheidung
vom 4. September 2015 über
die Öffnung der Grenzen für
Flüchtlinge für verfassungs-
widrig erklären. Grundgesetz-
widrig sei zudem, dass Mer-
kel es unterlassen habe, das
Dublin-III-Abkommen sowie
die deutschen Asyl- und Auf-
enthaltsregeln umzusetzen.
„Die Bundeskanzlerin darf
mit ihrer Politik nicht den
Rahmen der Gesetze verlas-
sen, den die Wähler ihr durch
das Parlament vorgegeben
haben“, sagt der Verfasser
der Beschwerde, der Düssel-
dorfer Anwalt Clemens Ant-
weiler. Merkel sei insofern
eine „Wiederholungstäterin“:
Schon bei der Energiewende
oder der Eurorettung habe
sie sich nicht an die eindeuti-
gen Vorgaben europäischer
und deutscher Gesetze
gehalten. ama
Parlament
Folgenlose Sünden
Bundestagspräsident Norbert
Lammert (CDU) schont die
Bundestagsfraktionen trotz er-
drückender Beweise, dass sie
in großem Stil Steuergelder
missbraucht haben. Der Bun-
desrechnungshof hatte in
67 Fällen PR-Maßnahmen der
Fraktionen beanstandet
(SPIEGEL 18/2015). Diese hat-
ten Steuermittel für Werbe-
broschüren, Reisen oder Zei-
tungsanzeigen eingesetzt,
was mit ihrer Parlaments-
arbeit häufig nichts zu tun
hatte. Trotzdem konnte sich
Lammerts Behörde nur in
kleineren Fällen zu einer Stra-
fe durchringen: Die Bundes-
tagsverwaltung wertete zwei
Sommerreisen der SPD-Frak-
tion als unzulässige Partei-
spende und stellte einen Sank-
tionsbescheid in Höhe von
3496,80 Euro aus. Weitere
Verstöße seien nicht geahndet
worden, sagte ein Sprecher
des Bundestags. Mehrere Ak-
tionen seien durch die Zehn-
Jahres-Frist verjährt. Auffällig
ist, wie viel Zeit sich die
Rechnungsprüfer ließen. Sie
brauchten fast zehn Jahre.
Anschließend dauerte es noch
einmal rund zwei Jahre, bis
Lammerts Beamte den Vor-
gang abschlossen. srö, sve
24 DER SPIEGEL 4/2016 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Verteidigung
„Tornados“weiter nachtblind
Nachrüstung der Cockpitbeleuchtung dauert länger als angekündigt.
Die über Syrien eingesetzten Luftwaffen-„Tornados“ werden
wohl noch längere Zeit nachts nicht fliegen können. Derzeit
müssen die Maschinen bei Dunkelheit am Boden bleiben,
weil die mit Nachtsichtbrillen ausgestatteten Piloten durch
die rote Diodenbeleuchtung des Cockpits geblendet würden.
Moderne, für Nachteinsätze geeignete Leuchtmittel hat die
Luftwaffe von einem eigenen Instandhaltungsbetrieb zwar
entwickeln lassen, aber keine Zulassung erwirkt. Intern rech-
net man deshalb nicht damit, dass ein Austausch der Be-
leuchtung so schnell zu bewerkstelligen ist, dass im Februar
das Problem behoben ist, wie das Verteidigungsministerium
angekündigt hatte. Dabei hätte die Bundeswehr durchaus
Zeit gehabt, auf das technische Problem der „Tornados“ zu
reagieren – es ist seit dem Kosovokrieg 1999 bekannt. Im
Afghanistaneinsatz ab April 2007 halfen sich die Piloten mit
Pappe, was allerdings den Vorschriften widersprach. gt
FALKBÄRWALD/DPA
„Tornado“ in Incirlik
Finanzausgleich
Länderlösung auf
Bundeskosten
Die von den Ministerpräsi-
denten angestrebte Reform
des Finanzausgleichs zwi-
schen Bund und Ländern
stößt auf erbitterten Wider-
stand der Regierungsfrak-
tionen von Union und SPD.
„Das von den Ländern vor-
gelegte Konzept löst kein
einziges Problem“, sagt der
stellvertretende Vorsitzende
der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion Ralph Brinkhaus.
„Wenn die Große Koalition
den Finanzausgleich refor-
miert, muss auch etwas Gro-
ßes dabei rauskommen, das
System muss also transparen-
ter und einfacher werden.“
Das sieht SPD-Fraktionsvize
Carsten Schneider genauso:
„Es kann nicht sein, dass die
Länder untereinander die
Solidarität aufkündigen und
der Bund dafür dauerhaft
einspringen soll.“ Brinkhaus
und Schneider wollen, dass
der Bund im Gegenzug für
eine Zustimmung zur Reform
mehr Macht erhält. „Wir
müssen etwa in der Steuer-
verwaltung zusätzliche Kom-
petenzen beim Bund zen-
tralisieren, auch um einen
gerechteren Steuervollzug
zu erreichen“, so Schneider.
Im Dezember hatten sich
die Ministerpräsidenten ein-
stimmig auf ein Konzept
für eine Finanzreform ver-
ständigt, bei der alle 16
Länder gegenüber dem heu-
tigen System bessergestellt
wären, der Bund aber pro
Jahr rund zehn Milliarden
Euro draufzahlen müsste.
In der kommenden Woche
treffen sich die Regierungs-
chefs der Länder mit Bun-
deskanzlerin Angela Merkel
(CDU). Dabei soll es auch
um den Finanzausgleich
gehen. böl
Strafvollzug
„Sehr gnädig“
Die Zahl der Strafgefange-
nen, die nur die Hälfte ihrer
Freiheitsstrafe absitzen muss-
ten, ist äußerst gering. Das
zeigen Stichtagserhebungen
des Statistischen Bundesamts
aus den beiden vergangenen
Jahren: Nur etwa zwei Pro-
zent aller nach Erwachsenen-
strafrecht verurteilten und
per Gerichtsbeschluss vorzei-
tig aus der Haft entlassenen
Gefangenen kommen in den
Genuss derselben Vorschrift
wie Fußballmanager Uli
Hoeneß. Das Strafgesetzbuch
lässt eine solche Strafausset-
zung nur bei günstiger Rück-
fallprognose und bei Vorlie-
gen „besonderer Umstände“
zu. Was das Landgericht
Augsburg zur Begründung
im Fall Hoeneß ausgeführt
habe, seien aber „im Grunde
alles ganz normale Dinge“,
die in anderen Fällen nur
eine Entlassung nach Verbü-
ßung von zwei Dritteln der
Haftstrafe rechtfertigen wür-
den, so der Tübinger Straf-
rechtsprofessor Jörg Kinzig.
Aspekte, die zulasten Hoe-
neß gingen, hätte das Gericht
zumindest „nicht offenge-
legt“. Die angekündigte Ent-
lassung von Hoeneß, so
Kinzig, sei deshalb „sehr
gnädig“. Die Staatsanwalt-
schaft München II könnte
gegen den Entlassungs-
beschluss allerdings noch bis
Montag Beschwerde ein-
legen. hip
Justiz
Union gegen Maas
Die geplante Konferenz von
Bundesjustizminister Heiko
Maas (SPD) zum Thema
rechtsextreme Gewalt stößt
auf Widerstand bei den Lan-
desministern von CDU und
CSU. Sie fordern, Inhalt und
Termin zu ändern. Zwar sei
rechte Gewalt „unerträglich“,
schreibt Berlins Justizsenator
Thomas Heilmann (CDU) in
einem Brief an Maas. Man
müsse aber auch die „rassisti-
sche Gewalt im Migranten-
milieu“ behandeln, vor allem
gegen jüdische Bürger. Ähn-
lich sieht es Hessens Justizmi-
nisterin Eva Kühne-Hörmann
(CDU): „Während die Bundes-
republik sich über die Folgen
der Silvesternacht in Köln
Gedanken macht, nutzt Herr
Maas den Justizgipfel leider
nicht, um diese Thematik zu
besprechen.“ Die Minister
aus Bayern, Mecklenburg-Vor-
pommern und Sachsen fordern
ebenfalls, nicht bloß rechts-
extreme Gewalt zu diskutieren.
Die Unionspolitiker halten
zudem den Konferenztermin
drei Tage vor Landtagswahlen
in drei Bundesländern für un-
glücklich: Im „Wahlkampfgetö-
se“ sei ein „überparteilicher
Konsens“ kaum erreichbar, so
Heilmann. ama
25DER SPIEGEL 4/2016
Deutschlandinvestigativ
Lobbyismus
Zigarettenindustrie
sperrt sich
Die deutsche Tabakindustrie
versucht, den ab Mai geplan-
ten Abdruck von Schockbil-
dern auf Zigarettenpackungen
zu verzögern. Eine Reihe gro-
ßer Hersteller argumentiert,
dass die Zeit nicht ausreiche,
um die technischen Vorausset-
zungen für die Umstellung zu
schaffen. Das Gesetz soll am
kommenden Freitag im Bun-
desrat diskutiert werden. Die
Lobbyisten werfen dem zu-
ständigen Ernährungsminister
Christian Schmidt (CSU) vor,
den Entwurf zu spät vorgelegt
zu haben. Vor allem Hamburg
drängt nun auf eine Verschie-
bung, dort haben nicht nur
die Konzerne Imperial
(Davidoff, Gauloises) und Bri-
tish American Tobacco
(Lucky Strike) wichtige Stand-
orte, dort sitzt auch der Ziga-
rettenmaschinenhersteller
Hauni. Weltmarktführer Phi-
lip Morris (Marlboro) hatte
zunächst ebenfalls gegen die
Umsetzung der vor zwei Jah-
ren verabschiedeten Tabak-
richtlinie argumentiert, die ab
dem 20. Mai EU-weit Abbil-
dungen von beispielsweise
Krebsgeschwülsten vor-
schreibt. Später lenkte der
US-Konzern ein. csc, pau
LACKOVIC/IMAGO
Hoeneß
NSU-Prozess
„Vollkommen
verrückt“
Der ehemalige sächsische
Neonazi-Aktivist Jan W. hat
den jüngsten Aussagen der
Hauptangeklagten im Münch-
ner NSU-Prozess, Beate
Zschäpe, widersprochen. Die
mutmaßliche Rechtsterroris-
tin hatte am Donnerstag vor
Gericht erklären lassen, W.
habe ihren Komplizen Uwe
Böhnhardt und Uwe Mundlos
einst eine Pistole in den Un-
tergrund geliefert; auch von
einem Schalldämpfer sei da-
mals die Rede gewesen. Das
habe ihr Böhnhardt erzählt.
W. wies diese Behauptung
nun zurück. Er sagte dem
SPIEGEL, er habe „nie eine
Waffe besessen, geschweige
denn an die drei weitergege-
ben“. Er kenne Zschäpe über-
haupt nicht. Ihre Aussage sei
„vollkommen verrückt“. Jan
W. ist einer von insgesamt 14
Beschuldigten im NSU-Er-
mittlungskomplex; 5 von ih-
nen stehen derzeit in Mün-
chen vor Gericht – W. gehört
nicht dazu. mba, srö
SEBASTIANWIDMANN/IMAGO
Zschäpe
Hass im Netz
„Facebook darf kein
Zensor werden“
Gesche Joost, 41,
Digitale Botschaf-
terin der Bundes-
regierung, über
die „Initiative für
Zivilcourage On-
line“ von Face-
book gegen Hassbotschaften
im Netz. Facebook setzt auf
die Hilfe von NGOs und auf De-
batten seiner Nutzer.
SPIEGEL: Frau Joost, was hal-
ten Sie von den Facebook-
Plänen?
Joost: Die Details sind sehr
vage, und die Investition von
nur einer Million Euro für ei-
nen Milliardenkonzern wie
Facebook eine überschauba-
re Summe. Da das Geld noch
dazu vor allem in die Ver-
marktung der Initiative zu
fließen scheint, riecht das
Vorhaben für mich sehr nach
einer PR-Aktion.
SPIEGEL: Facebook will Hass-
posts lieber nicht löschen,
sondern mit sogenannter
counter speech bekämpfen;
die Nutzer sollen dagegen-
halten. Kann das klappen?
Joost: Facebook hat recht mit
der These, dass der Hass
nicht aus der Welt ist, bloß
weil Hassbotschaften ge-
löscht werden. Ich selbst
habe lange an die Selbstrei-
nigungskräfte des Internets
geglaubt. Aber inzwischen
bezweifle ich, dass das ge-
nügt. Im Internet radikalisie-
ren sich Menschen leichter,
und die sozialen Netzwerke
wirken wie Verstärker ihres
Hasses. Man darf das nicht
laufen lassen oder das Pro-
blem nur den Nutzern auf-
bürden.
SPIEGEL: Wer soll der Entwick-
lung dann Einhalt gebieten?
Joost: Ich sehe den Staat und
Facebook gleichermaßen in
der Pflicht. Staatsanwälte ha-
ben die Aufgabe, rechtswidri-
ge Inhalte zu verfolgen.
Aber bei einer millionenfach
genutzten Plattform schaffen
sie das nicht allein. Die
Machtverhältnisse haben
sich so stark zugunsten von
Unternehmen wie Facebook
verschoben, dass der Kon-
zern auch in der Verantwor-
tung steht, diese Inhalte zu
sanktionieren. Facebook
muss seinen Laden eben
auch selbst sauber halten.
SPIEGEL: Noch bedeutet Face-
books Idee von Sauberkeit,
vor allem nackte Brüste zu
tilgen. Aber zurzeit werden
neue Kontrolleure einge-
stellt. Werden sie auch poli-
tisch missliebige Kommen-
tare löschen?
Joost: Facebook darf keine
Zensurbehörde werden. Im
Zweifel sollte man sich im-
mer gegen eine Löschung von
Meinungen entscheiden.
Aber ich erwarte, dass Face-
book effektiv die Inhalte in
seinem Netzwerk beobachtet.
Der Konzern sollte mithilfe
von Vertretern seiner Com-
munity, zum Beispiel in Nut-
zerpanels, Standards für den
Umgang mit rechtmäßigen,
aber problematischen Inhal-
ten entwickeln.
SPIEGEL: In Deutschland und
den USA gelten sehr unter-
schiedliche Regeln, was man
sagen darf.
Joost: Maßstab müssen schon
die Werte unserer westeuro-
päischen Debattenkultur sein.
Wir dürfen erwarten, dass
nicht nach dem Prinzip der
sogenannten politischen Kor-
rektheit auch freche Sprüche
getilgt werden. Aber was der-
zeit gegen fremdenfeindliche
Kommentare getan wird,
reicht eindeutig nicht aus. ama
26 DER SPIEGEL 4/2016
Deutschland investigativ
Faktencheck der SPIEGEL-Dokumentation
Nachrichtensperre?
DAS PROBLEM Die einen sind stolz auf die Pressefrei-
heit im Lande, die anderen erkennen „Schweigekar-
telle“. Zu Letzteren gesellte sich kürzlich der ehemali-
ge Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU).
Anlass war die zögerliche Berichterstattung vor
allem der öffentlich-rechtlichen Medien über die
Ereignisse zu Silvester in Köln. Friedrich: Sobald es um
Vorwürfe gegen Ausländer gehe, greife offenbar eine
„Nachrichtensperre“.
FÜR UND WIDER In der Silvesternacht kam es am Kölner
Hauptbahnhof zu Hunderten von sexuellen Übergrif-
fen. Dennoch sprach die Polizei zunächst von fried-
lichen Feiern – dpa tickerte: „Feuerwerk wie immer“.
Grund für eine Schlagzeile?
Beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ meldete sich derweil
ein erstes Opfer, eine junge Frau. Die Redaktion berich-
tete online noch am Neujahrstag, tags darauf auch der
WDR. Am Samstag, dem 2. Januar, informierte die Köl-
ner Polizei über die Einrichtung einer Ermittlungsgrup-
pe. Mittlerweile waren rund 30 Strafanzeigen eingegan-
gen. Die Täter hätten ein „nordafrikanisches Aussehen“
gehabt, hieß es. Sonntag griff der dpa-Landesdienst den
Fall kurz auf, wusste von fünf festgenommenen Perso-
nen, die Frauen bedrängt und Reisende bestohlen ha-
ben sollen, verschwieg aber den möglichen Migrations-
hintergrund der Beschuldigten. Auch das war noch
nicht wirklich überregional interessant.
Dann gab Kölns Polizeichef eine Pressekonferenz.
Die Rede war von „Straftaten einer völlig neuen Di-
mension“. Oberbürgermeisterin Henriette Reker nann-
te die Vorfälle „ungeheuerlich“. Das war am Montag,
dem 4. Januar. Hatten überregionale Medien bisher
kaum über die Kölner Geschehnisse informiert, änderte
sich das nun schlagartig.
Als Friedrich dann am Mittwoch, dem 6. Januar, laut-
hals ein „Schweigekartell“ beklagte, hatte sich bereits
ein wahrer Meldungs-Tsunami aufgebaut. Bis zum
15. Januar registrierte das SPIEGEL-Archiv den Eingang
von über 2400 Artikeln mit Bezug auf die Vorfälle in
Köln. Die Münchner Terrorwarnung zu Silvester brach-
te es bis dahin auf gerade mal 160 Artikel.
FAZIT Die großen Medien hätten trotz der Feiertage
vielleicht ein bis zwei Tage schneller sein können.
Aber deshalb von einer Nachrichtensperre zu sprechen
ist Unsinn. Hauke Janssen
50
150
250
350
1. Jan. 2. 4. 6. 8. 10. 12. 14.
Artikel zu Silvestervorfällen
Quelle: SPIEGEL-Archiv
Übergriffe in Köln
Terrorwarnung
in MünchenMigration
Dialog über Werte
Angesichts anhaltender Zu-
wanderung wird im Bundes-
innenministerium Anfang
Februar ein neuer Stab „Ge-
sellschaftlicher Zusammen-
halt und Integration“ einge-
richtet. Ihm unterstehen sie-
ben Referate mit 45 Mitarbei-
tern. Dazu gehört auch ein
neues Referat, das sich insbe-
sondere mit der „Vernetzung
der politischen Zielsetzun-
gen der Bundesregierung“
und einem „Wertedialog“ be-
schäftigen soll. aul
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Performance vor dem Kölner Dom am 8. Januar: „Gegen dieses ganze Arschgekneife und Busengegrapsche“
28 DER SPIEGEL 4/2016
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Der spiegel januar 2016

  • 1.
  • 2.
  • 3. Ein Selfie ist zum Inbegriff deutscher Will- kommenskultur geworden und zugleich mitverantwortlich für Angela Merkels mo- mentane Lage, näher am Abgrund zu sein als jemals zuvor in ihrer Zeit als Bundes- kanzlerin: Das Foto, aufgenommen in Berlin, zeigt sie lächelnd, und direkt neben ihr steht Hassan Alasad, Flüchtling aus Syrien, unter- gebracht in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Markus Feldenkirchen hat Alasad getroffen, auch ein Selfie gemacht und mit ihm über Merkel gesprochen. Feldenkirchen und René Pfister ergründen in der Titelgeschichte dieses Hefts, welche Motive die Kanzlerin bei ihrer Flüchtlingspolitik antreiben und warum sie nicht einlenkt. Dabei spra- chen sie auch ausführlich mit ihren Kontrahenten in dieser Sache, Wolfgang Schäuble und Horst Seehofer. Ergänzt wird das Titelstück durch die Texte zweier Redakteure, die ihre Meinung zu Merkel geändert haben: Tobias Rapp, früher Merkel-Gegner, und Jan Fleischhauer, früher Merkel-Unterstützer, beschreiben, warum sie jetzt im jeweils anderen Lager stehen. Seite 12 Zweimal in den vergangenen beiden Jahren war der Kölner Schriftsteller Navid Kermani für den SPIEGEL unterwegs. Seine erste Rei- se führte ihn in den Irak; seine Re- portage, die als dreiteilige Serie veröffentlicht wurde, beschrieb ein zerrissenes Land im Bürgerkrieg. Vergangenen Herbst verfolgte er den Treck der Flüchtlinge durch Europa. Inzwischen gilt der Muslim Kermani als einer der führenden Intellektuel- len des Landes, dem im Herbst 2015 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Lothar Gorris besuchte Kermani in seiner Heimat, dem Eigelstein-Viertel in Köln. In der Nähe des Hauptbahnhofs sprachen und stritten die beiden über die Folgen der Silves- ternacht, über den IS und Pegida, über Merkel und Europa und auch darüber, dass ausgerechnet ein Friedenspreisträger glaubt, dass man den IS nicht mit Luftschlägen besiegen kann, sondern nur am Boden. „Es wird“, so Kermanis Fa- zit, „unbequem werden.“ Seite 116 Fast 500 Jahre lang haben europäische Mächte versucht, über fremde Menschen, fremde Län- der zu herrschen. Seefahrer aus Portugal, Spanien, den Niederlanden fanden es selbstverständlich los- zusegeln, in der Überzeugung, im Auftrag Gottes zu handeln. Welche Folgen das für die Menschen in den besetzten Ländern hatte, welche Rolle Deutschland spielte, beschreibt die neue Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE. Neben politischen Ana- lysen bietet das Heft ein Gespräch mit dem Histo- riker Jürgen Zimmerer über die Mythen der Kolo- nialzeit. SPIEGEL GESCHICHTE „Die Kolonialzeit“ erscheint am kommenden Dienstag. 3DER SPIEGEL 4/2016 Betr.: Titel, Kermani, SPIEGEL GESCHICHTE Das deutsche Nachrichten-Magazin Hausmitteilung Das deutsche Nachrichten-Magazin Alasad, Feldenkirchen MAJIDMOUSSAVI/DERSPIEGEL Kermani, Gorris Entdecken Sie die feinen Unterschiede: www.feine-unterschiede.de Vorreiter Bei der Entwicklung einer Armatur denken unsere Designer dem Zeitgeschmack um Jahre voraus. Mit dem Mut zur Innovation geben sie jeder Armatur eine neue, eigen- ständige Persönlichkeit. So schaffen wir stilbildende Ikonen, die oft kopiert, aber nie erreicht wurden. Vorreiter made in Germany
  • 4. 4 Titelbild: Illustration Torsten Wolber für den SPIEGEL unter Verwendung eines Fotos von Laurence Chaperon/Roba Images CHRISTIANTHIEL/DERSPIEGEL THOMASRUSCH Menschen helfen Menschen Nächstenliebe Ein marokkanischer Augenarzt fährt über Land, um Menschen vom grauen Star zu heilen. Ein Rentner aus Montpellier ist der Fahrer, ein Fotograf aus Hamburg dokumentiert alles und hilft beim Finanzieren. Es gibt, in Nordafrika, Geschichten vom Gelingen. Seite 52 Das Bargeld verschwindet Digitalisierung Start-ups und Internetkonzerne arbeiten an einer Revolution der Finanz- welt. Ihre Vision: Bezahlt wird mit dem Handy, Banken und Bargeld werden überflüssig – manche wollen sogar die klassi- schen Währungen durch digita- le Bitcoins ersetzen. Seite 64 Prinzip Hoffnung Titel Die ganze Welt fragt sich inzwischen, was mit Angela Merkel los ist. Für ihre offenherzige Flüchtlingspolitik scheint sie bereit zu sein, notfalls ihr Amt aufs Spiel zu setzen. Woher kommt die plötzliche Entschiedenheit und Überzeugung der Kanzlerin? Seiten 12 bis 22 THOMASGRABKA/DERSPIEGEL Berlin ganz klein Mode Seit Jahren wird Berlin, Heimat der Fashion Week, vermarktet als Modemekka und Modemetropole, als fest etabliert neben den vier Mode- hauptstädten Mailand, London, Paris und New York. Aber ist Berlin wirklich schon so groß? Ein Besuch. Seite 58 DAVIDGRAY/REUTERS Kanzlerin Merkel, CSU-Politiker Thomas Kreuzer in Wildbad Kreuth
  • 5. In diesem Heft 5DER SPIEGEL 4/2016 Titel Wie aus Angela Merkel die Flüchtlingskanzlerin wurde 12 Die Illusion von den EU-Hotspots als Lösung der Flüchtlingskrise 19 Die SPIEGEL-Redakteure Jan Fleischhauer und Tobias Rapp über ihre unter- schiedlichen Sichtweisen auf die Kanzlerin 20 Berlin und Brüssel suchen nach einem Plan B in der Flüchtlingspolitik 22 Deutschland Leitartikel Die Industriestaaten tun zu wenig im Kampf gegen die Ungleichheit 6 Meinung Kolumne: Der gesunde Menschen- verstand / So gesehen: Armee als Happening 8 Tornados bleiben länger am Boden / Verfassungsklage gegen Merkel / Große Gnade für Uli Hoeneß 24 Migration Deutschland diskutiert über das Frauenbild von Muslimen 28 TV-Debatten Der Chefredakteur des SWR, Fritz Frey, über die Entscheidung, die AfD aus den Gesprächsrunden vor den Landtagswahlen auszuladen 32 Steuern Der 145-Millionen-Euro- Deal – wie Milliardärstöchter mögliche Freiheitsstrafen vermieden 34 Umwelt Brüssel propagiert die Kreislaufwirtschaft 38 Bildung Wolfgang Herrmann, Präsident der TU München, über die Neuauflage der Exzellenzinitiative 40 Schleswig-Holstein Die neue Lebensgefährtin des Ministerpräsidenten und ihre merk- würdigen Geschäfte mit der Landesregierung 43 Senioren Ehemalige RAF-Terroristen haben Probleme mit ihrer Altersvorsorge 44 Kommunen Großstädte tun zu wenig gegen die Luftverschmutzung 46 Polizei Ein Streifenbeamter hortete Waffen und Nazidevotionalien in seiner Wohnung 47 Gesellschaft Früher war alles schlechter: Die Menschen werden immer größer / Badeverbot für deutsche Opas! 50 Eine Meldung und ihre Geschichte Don Camillo und Peppone ringen mit dem Feinstaub 51 Nächstenliebe Der Kampf eines marokkanischen Arztes gegen die Volkskrankheit grauer Star 52 Mode Die Fashion Week ist nur noch in Berlin und Umgebung weltberühmt 58 Ortstermin Die „Caravan“ in Stuttgart sucht Urlaubsideen in Zeiten des globalen Terrors 60 Wirtschaft Kontrolleure wollen Rundfunkbeitrag senken / Lufthansa-Beschäftigte misstrauen ihrer Führung / Brüssel kommt der Autoindustrie entgegen 62 Digitalisierung Das Bezahlen per Smartphone ersetzt das Bargeld – die Finanzbranche steht vor einer Revolution 64 Analyse Warum sich die Krisen der Weltwirtschaft häufen – und gegenseitig verstärken 71 Dieselskandal Ein Hacker knackte die Schummelsoftware von Volkswagen 72 Immobilien SPIEGEL-Gespräch mit der chinesischen Milliardärin Zhang Xin über die Krise in ihrem Land 74 Wachstum Die Grünen wollen Wohlstand anders messen als die Regierung 78 Ausland Die thailändische Militärregierung geht gegen Kritiker vor / Ist Präsident Putin für den Litwinenko-Mord verantwortlich? 80 Polen Eine breite gesellschaftliche Opposition tritt gegen die nationalkonservative Regierung an 82 USA Hillary Clinton gerät im Vorwahl- kampf in Bedrängnis gegen den Sozialisten Bernie Sanders 85 Essay Der Arabische Frühling war nicht erfolgreich, und trotzdem sollten wir ihn noch nicht aufgeben 86 Italien Neapels Kampf gegen die Camorra 88 Griechenland Alexis Tsipras’ Jahr an der Macht – und wie er sein Land verändert hat 92 Türkei Tourismusminister Mahir Ünal über die Folgen des Anschlags von Istanbul 94 Global Village Psychiater, Pfleger und ihre Patienten tanzen und singen in der verrücktesten Sambatruppe Brasiliens 96 Sport Skistar Aksel Lund Svindal kritisiert IOC / Neue Disziplin im Bobsport 97 Tennis Die Wettmafia verdient mit verschobenen Spielen Millionen 98 Fußball Der deutsche Nationalspieler Emre Can hat sich beim FC Liverpool zur Führungsfigur entwickelt 100 Wissenschaft Ausgerechnet der „Pluto-Killer“ will einen bis- lang unbekannten Planeten gefunden haben / Warane sollen keine Giftkröten mehr fressen / Warum wir mehr Palliativärzte brauchen 102 Verkehr Darf ein selbstfahrendes Auto seine Insassen töten? 104 Medizin Pharmaforscher unter Schock – Hirnschäden bei Medikamententest 107 Utopien Die letzte Ehefrau des legendären Science-Fiction-Autors Philip K. Dick spricht über dessen bizarre Gedankenwelt 108 Tiere Warum sich viele Spinnen- männchen darauf einlassen, nach dem Sex verspeist zu werden 110 Kultur Quentin Tarantinos „The Hateful Eight“ / Gurlitts Anwalt vor Gericht / Kolumne: Besser weiß ich es nicht 114 Debatte Die Angst vor dem Fremden, die Angst vor der Krise – ein SPIEGEL-Gespräch mit Navid Kermani 116 Theater Matthias Hartmann inszeniert „Der Idiot“ in Dresden 123 Literatur Ein Besuch bei Orhan Pamuk in Istanbul 126 Karrieren Der eigentliche Star im Til-Schweiger-„Tatort“ ist Fahri Yardım 129 Fernsehkritik „Letzte Ausfahrt Gera“, ein dokumentarisches Drama über Beate Zschäpe 130 Bestseller 128 Impressum, Leserservice 132 Nachrufe 133 Personalien 134 Briefe 136 Hohlspiegel/Rückspiegel 138 MAJIDMOUSSAVI/DERSPIEGELJONATHANBROWNING/DERSPIEGELDEFODI/DDPIMAGES Navid Kermani Er repräsentiert genau das multikulturelle Deutschland, das seit der Kölner Silvester- nacht infrage gestellt wird. Im SPIEGEL-Gespräch sagt der Schriftsteller: „Die Viel- falt ist immer gefährdet und, ja, auch gefährlich.“ Seite 116 Zhang Xin Sie arbeitete am Fließband, und heute ist sie eine mächtige Bauunternehmerin. Im Gespräch über die Krise ihres Landes sagt die chinesische Milliardärin: „Wir sind nicht anders, auch wir wollen Freiheit.“ Seite 74 Emre Can Er zählt für Joachim Löw zum Kandidatenkreis für die Fußball-Europameister- schaft, bei Jürgen Klopp, dem Trainer des FC Liverpool, spielt er fast immer. Der gebürtige Frankfurter will ein Anführer sein. Seite 100Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
  • 6. E s gibt ein neues Ritual auf der Welt, bei dem man nicht weiß, wie man es nennen soll: scheinheilig? Dreist? Zynisch? Jedes Jahr im Januar meldet die Entwicklungsagentur Oxfam, dass eine kleiner werdende Zahl Superreicher über einen größeren Teil des weltweiten Vermögens verfügt. Ak- tuell sollen es 62 Milliardäre und Multimilliardäre sein, die rund die Hälfte des weltweiten Kapitals besitzen. Anschließend treffen sich die Reichen und Mächtigen re- gelmäßig zu ihrem glamourösen Gipfel im schweizerischen Davos und beklagen, dass sie wieder ein Stück reicher und mächtiger geworden sind. Um dann, wenn sie ein paar Tage später in ihre Chefbüros und Regierungszentralen zurückkeh- ren, bedauernd festzustellen, dass sich dagegen nichts ma- chen lässt. Weil sich die Staaten nicht auf gemeinsame Maßnah- men einigen können, schon gar nicht auf eine globale Reichen- steuer. Ende der Debatte. Wie- dervorlage im nächsten Jahr. Der bigotte Schönsprech von Davos ist mehr als ein Ärgernis. Er ist eine Gefahr für den sozia- len Zusammenhalt und die De- mokratie. Die Mischung aus Em- pörungsrhetorik und Tatenlosig- keit lässt das Misstrauen gegen- über der Politik wachsen. Sie trägt auch dazu bei, dass das Problem noch immer unter- schätzt wird. Dabei droht die Kluft zwischen Arm und Reich in der industrialisierten Welt längst wieder jenes obszöne Ausmaß zu erreichen wie in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als der US-Romancier F. Scott Fitzgerald seinen „Großen Gatsby“ schrieb. Der Befund der Statistiker ist eindeutig: Seit einem Vier- teljahrhundert kommt der Wohlstandszuwachs in den Indus- trienationen vor allem den reichsten zehn Prozent zugute. Die Verdienste der Mittelschicht stagnieren seit Jahren. Und wer das Pech hat, sich als ungelernter Leih-, Teilzeit- oder Hilfsarbeiter verdingen zu müssen, erlebt in vielen Ländern, wie sein Einkommen schrumpft. „Wenn es einen Klassen- kampf gibt“, spottet der US-amerikanische Großinvestor War- ren Buffett, „dann ist meine Klasse der Gewinner.“ Die Aussicht auf sozialen Aufstieg ist geschwunden. In den Nachkriegsjahrzehnten war es in vielen Ländern des Westens Programm, Arbeiterkindern den Weg an die Universitäten und in Managerpositionen zu ebnen. Heute hängt die Bildung wieder stärker denn je vom Elternhaus ab. Zugleich gelingt es den Regierungen immer weniger, die ungleiche Verteilung durch Steuern und Sozialtransfers zu korrigieren. Der Einfluss des großen Geldes auf die Politik nimmt dagegen zu. In den USA stimmen sich die Lobbyisten der Rüstungs-, Pharma- oder Ölindustrie die großen Parteien mit millionenschweren Wahlkampfspenden gewogen. In der Schweiz versucht der Rechtspopulist und Milliardär Christoph Blocher mit teuren Kampagnen den Ausgang von Volksabstimmungen zu beein- flussen. Man muss kein Marxist sein, um die Konzentration von Kapital und Macht auf beiden Seiten des Atlantiks als „neofeudal“ zu bezeichnen. Viele westliche Politiker sehen sich außerstande, etwas gegen die wachsende Ungleichheit in ihren Gesellschaften zu unternehmen. Sie fühlen sich getrieben von anonymen Kräften wie der digitalen Re- volution oder der Globalisie- rung, gegen die nationalstaat- liche Politik angeblich nichts ausrichten kann. Doch das ist falsch, wie zahl- reiche Studien von Organisatio- nen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der OECD ausweisen. Man muss ja nicht gleich eine weltweite Vermögen- steuer einführen. Vielfach wür- de es schon genügen, wenn die Regierungen die Abgaben ein- trieben, die ihnen zustehen. Manche Finanzbehörden je- doch behandeln selbst noto- rische Steuerhinterzieher mit Nachsicht (siehe Seite 34). Und viele Politiker treten bei diesem Thema als gespaltene Persön- lichkeiten auf. EU-Kommis- sionspräsident Jean-Claude Jun- cker beispielsweise: In Brüssel gibt er gern den wortgewaltigen Kämpfer für soziale Gerech- tigkeit. Daheim in Luxemburg dagegen ließen seine Beamten kein Schlupfloch ungenutzt, um gemeinsam mit der Industrie Europas Steuerregeln zu umgehen und die Lasten der Kon- zerne zu drücken. Wer im Kampf gegen Ungleichheit erfolgreich sein will, muss auch die Rahmenbedingungen für untere Lohngruppen verbessern und ihnen Aufstiegschancen bieten. Er muss mehr Geld für Kitas und Ganztagsschulen bereitstellen und Leih- arbeit und Teilzeitjobs besser regulieren. Nötig ist zudem eine Steuer- und Sozialpolitik, die vor allem Niedrigverdie- nern hilft. Die derzeitige Bundesregierung verfolgt vielfach das genau entgegengesetzte Programm, etwa bei der Rente mit 63, die vor allem gut ausgebildeten männlichen Besser- verdienern nutzt. Es ist Zeit, dass die Industrieländer die Gerechtigkeitsfrage wieder ins Zentrum ihrer Politik rücken. Was wir dagegen nicht brauchen, ist die Wir-kümmern-uns-Heuchelei von Davos. Michael Sauga 6 DER SPIEGEL 4/2016 Die Scheinheiligen Die politische Elite des Westens redet viel über Ungleichheit, tut aber kaum etwas dagegen. SWISS-IMAGE.CH/ACTIONPRESS Leitartikel Das deutsche Nachrichten-Magazin
  • 7.
  • 8. 8 DER SPIEGEL 4/2016 Meinung Armee zur Dekoration So gesehen Einsatz der Bundeswehr im Inneren? Bitte nur als Happening. Bislang war ich eigentlich gegen einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren, wie ihn Wolfgang Schäuble jetzt wegen der Flüchtlingskrise wieder gefordert hat. Das galt, bis ich nach Brüssel zog. In der belgischen Hauptstadt gehören Soldaten inzwischen zum Straßenbild wie in Ka- bul oder Islamabad. Natür- lich, vor den Toren der mäch- tigen EU-Zentrale schoben schwer bewaffnete Militärs schon seit Längerem Wache. Aber erst seit den Terror- anschlägen von Paris im No- vember patrouillieren Solda- ten in der gesamten Stadt, sogar vor dem Eingang von Ikea. Zu übersehen sind sie nicht, dank ihrer senffarben- dunkelgrün-gefleckten Tarn- anzüge, die noch aus dem letzten Einsatz im Kongo zu stammen scheinen. Zu tun gibt es nichts, meist flanieren die Soldaten in Zweiergrüpp- chen durch die Stadt. Einer soll in der Fußgängerzone beim Weihnachtsshopping gesichtet worden sein, das Präsenttütchen baumelte ne- ben dem Sturmgewehr. Ein senfgrünes Pärchen bewacht besonders gern die berühm- teste Friterie Brüssels an der Place Jourdan. Der Wirt der benachbarten Brasserie spen- diert Kaffee. Und der Sinn des Ganzen? Terrorbekämp- fung? „Die Armee hat keine präventive und keine repres- sive Funktion“, sagt der Soziologe Eric Corijn, „sie ist nichts als Dekoration, die uns aufgezwungen wird.“ Der Militäreinsatz im Inne- ren, ein Happening? Ich finde: wenn schon Militär auf deutschen Straßen, dann bitte so unaufregt, senfgrün und dekorativ wie in Belgien. Peter Müller Kittihawk Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand Historisches Laienspiel Die spinnen, die Amis, dachte ich, als ich im Frühjahr die US- Stadt Gettysburg be- suchte. Hier hatte 1863 die Schlüssel- schlacht im Bürger- krieg stattgefunden. Südstaaten gegen Nord- staaten. Recht auf Sklaverei gegen Ab- schaffung der Sklaverei. Der Norden und die Zivilisation siegten. Beim Spaziergang im Wald entdeckte ich in einem abgelege- nen Winkel eine Familie, die auf offenem Feuer kochte. Die Männer waren in Uni- form mit Gewehr, die Frauen trugen Röcke und lustige Häubchen. „Wir sind die Südstaatler“, grüßten sie. Ich erfuhr, dass sie viele Wochenenden im Wald verbrachten, um Südstaatler zu sein, als Hobby, ehrenamtlich. Montags kehrten sie in ihre Büros zurück. Ihr Ding hieß „Reenactment“, das Nachspielen histo- rischer Ereignisse und Epochen. Ob sie als „Südstaatler“ denn auch die Sklaverei wie- der einführen wollten, fragte ich sie. Das kam nicht gut an, und ich machte mich lus- tig über so viel historische Ignoranz. Inzwischen ist mir für deutsche Überheb- lichkeit die Grundlage abhandengekommen. Auch bei uns gibt es nun immer mehr Laienschauspieler, die ein dunkles Kapitel unserer Geschichte wieder aufführen: die Zwanzigerjahre, jenes rüde deutsche Jahr- zehnt, dem das brutalste folgen sollte. Die Aufführungen finden nicht im Wald, son- dern auf deutschen Straßen und im Internet statt. Großer Beliebtheit erfreut sich etwa der Fackelumzug, jene abendländische Tra- dition, die unter den Nazis zu voller Blüte reifte. In München trifft sich die Pegida- Truppe inzwischen bevorzugt vor jener Feldherrnhalle, zu der die historischen Vor- bilder 1923 ihren berühmten Marsch unter- nahmen. Die Wirtshausschlägerei, ein in der Spätphase der Weimarer Republik be- liebtes Genre, wird nicht mehr in der Gast- stube, sondern in Internetforen nachgestellt. Was man den Laiendarstellern hoch an- rechnen muss, ist ihre Textsicherheit. Sie kennen alle Gassenhauer, die im Kampf gegen die Demokratie erfolgreich waren, vom „Volksverräter“ bis zur „Schwatz- bude“. Zu den Stars des deutschen Re- enactments gehört Björn Höcke, der sich im Laternenschein auf dunkle Plätze stellt und mit authentischem Tremolo ein- schlägige Begrüßungen nachahmt: „Ich sehe Männer und Frauen. Ich sehe eine Ge- meinschaft. Ich sehe ein Volk, das eine Zukunft haben will.“ Seit den Übergriffen von Köln ist das Nachspielen von Freikorps der letzte Schrei. Sie nennen sich „Frei- korps Bürgerwehr Selbstschutz der Patrio- ten und unserer Familien“ oder ganz ein- fach „Kassel passt auf“. Die Darsteller sind oft mit Schäferhunden unterwegs und schei- nen ausgezeichneten Zugang zu Nahrung zu haben. Beim Haarwuchs hingegen muss es ein Problem geben. So sehr ich mich über die Geschichtsver- gessenheit der „Südstaaten-Familie“ in Gettysburg gewundert habe, so vernünftig erscheint sie mir jetzt. Alles, was die Leute wollten, war, still im Wald herumzusitzen. An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Markus Felden- kirchen und Jan Fleischhauer im Wechsel.
  • 9. www.ing-diba.de Banking kann so einfach sein. Folgen Sie unserem Wertpapier-Wegweiser.
  • 10. Internet made in Germany In Ruhe ausprobieren: MONAT TESTEN 1 Expertenrat? Jederzeit: ANRUF GENÜGT 1 Defekt? Morgen neu! TAG AUSTAUSCH VOR ORT1 1&1 DSLINTERNET & TELEFON 9,99Sparpreis für 12 Monate, danach 24,99 €/Monat. €/Monat* Auf Wunsch mit 1&1 HomeServer: WLAN-Router, Telefonanlage und Heimnetzwerk in einem.
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  • 12. 12 DER SPIEGEL 4/2016 Regierungschefin Merkel mit Mitarbeitern im Kanzleramt Egalwiees ausgeht… Regierung Noch nie war Merkels Kanzlerschaft so in Gefahr wie derzeit. Ihre Flüchtlingspolitik irritiert nicht nur viele Bürger, sondern lässt die CSU um ihre Existenz fürchten. Was treibt Merkel an? Von Markus Feldenkirchen und René Pfister
  • 13. Titel A n einem Sonntagabend Anfang Ja- nuar besucht Angela Merkel mit ih- rem Ehemann ein Klavierkonzert des Pianisten Antonio Acunto im Kleinen Saal des Konzerthauses am Berliner Gen- darmenmarkt. Auf dem Programm stehen Werke von Chopin, Rachmaninow und Schumann. Aber die Kanzlerin ist nicht nur wegen der Musik gekommen, es geht auch um die gute Sache, um Haltung. Das Konzert ist eine Benefizveranstaltung für Flüchtlinge. Ihre Flüchtlinge. Kurz vor Beginn des Konzerts sieht Mer- kel einen alten Bekannten. An der Seite von Pfarrer Rainer Eppelmann, dem ehe- maligen Chef des Demokratischen Auf- bruchs, hatte vor 26 Jahren ihre politische Karriere begonnen. Eppelmann erzählt ihr, wie menschlich, wie mutig, ja großartig er ihre Flüchtlingspolitik findet. Er habe angesichts ihrer Lage zuletzt oft an sein Lieblingszitat des ehemaligen tschechischen Präsidenten und Schriftstel- lers Václav Havel gedacht. Das müsse er jetzt unbedingt loswerden, als Ermutigung. „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass eine Sache gut ausgeht. Hoffnung ist die Gewissheit, dass eine Sache Sinn macht, egal wie sie ausgeht.“ Das Konzert beginnt, Merkel hört Cho- pin, eine melancholische Ballade in g-Moll. In der Pause springt sie von ihrem Stuhl auf und läuft zielstrebig auf Eppelmann zu. Sie fragt: „Wie war das noch genau mit der Hoffnung?“ Es ist dieser Tage völlig ungewiss, wie jenes Experiment ausgehen wird, das die deutsche Kanzlerin dem europäischen Kontinent, ihrem Volk und nicht zuletzt ihrer Partei aufgenötigt hat. Ihre Entschei- dung im vergangenen Spätsommer, die deutsche Grenze für Flüchtlinge zu öffnen, hat Merkel zu einer historischen Figur ge- macht. Es war der folgenreichste Ent- schluss ihrer Kanzlerschaft. Das US-Maga- zin „Time“ kürte sie dafür zur Person des Jahres, im Herbst galt sie als aussichtsrei- che Kandidatin für den Friedensnobelpreis. Inzwischen hat sich nicht nur in Deutsch- land die Stimmung gedreht. Um politische Gewalt wie in den Dreißigerjahren zu ver- hindern, müsse Deutschland umgehend umsteuern, schrieb kürzlich ein Kolumnist der „New York Times“: „Das bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss.“ In Merkels Union wird über eine Regie- rung ohne die amtierende Chefin nachge- dacht. Anfang der Woche erlaubte CSU- Chef Horst Seehofer seinem Verkehrsminis- ter Alexander Dobrindt, Merkel öffentlich zu kritisieren. Das ist eigentlich ein Tabu. Meuternde Minister waren schon häufiger das Wetterleuchten für einen Kanzlersturz. Das Drehbuch für den Putsch ist noch nicht geschrieben, aber erste Skizzen exis- tieren schon. Seehofer will Merkel so lange unter Druck setzen, bis sie ihre Politik re- vidiert. Er will sie nicht aus dem Amt drän- gen, aber wenn sie nicht spurt, können sich manche in der Union vorstellen, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble die Re- gierungsgeschäfte übernimmt. Noch ist es nicht so weit, aber die kriti- sche Masse findet sich langsam. In einem Brief an die Kanzlerin wandten sich 44 Unionsabgeordnete gegen Merkels Kurs. Am Mittwoch hat Österreich eine Ober- grenze für Flüchtlinge beschlossen. Das macht die Kanzlerin noch einsamer. Was viele Kritiker mindestens ebenso verwundert wie die Entscheidung zur Grenzöffnung selbst, ist die Sturheit, mit der Merkel an ihrem Kurs festhält. Weder die Terrorangriffe von Paris noch die se- xuellen Übergriffe aus der Kölner Silves- ternacht, weder die Empörung wütender Bürger noch die Warnungen ihrer Partei- freunde hatten bislang zur Folge, dass sie ihre Politik der offenen Grenzen infrage stellte. Es wirkt, als sei Angela Merkel – ganz im Sinne Václav Havels – von der Gewissheit geleitet, dass ihr Kurs Sinn er- gibt. Ganz egal wie die Sache ausgeht. „Die Deutschen werden auf die Barrika- den gehen, sie werden diese Frau stürzen“, prognostizierte der republikanische Präsi- dentschaftsbewerber Donald Trump in der vergangenen Woche. „Ich weiß nicht, was zum Teufel in ihr vorgeht.“ Nicht nur Trump beschäftigt diese Frage. Die halbe Welt rätselt mittlerweile über die Motive der Kanzlerin aus Deutschland. Was also treibt Angela Merkel an, die ihre Macht mithilfe eines unerbittlichen Prag- matismus errang und nun mit einer sol- chen Unbedingtheit regiert? Warum zeigt sie in ihrer Flüchtlingspolitik bislang keine ernsthaften Anzeichen des Einlenkens – obwohl ihre Beliebtheitswerte dramatisch sinken und das Fundament ihrer Macht zerbröselt? P eter Altmaier hat ein herrliches Büro im Kanzleramt mit Blick auf Haupt- bahnhof und Regierungsviertel. Doch die dicken Scheiben halten den Lärm der Stadt ab, das Auffälligste an der Regie- rungszentrale ist die Stille darin. Altmaier ist die Stimme von Merkels Flüchtlings- politik, auch wenn ihn im Moment eine üble Erkältung erwischt hat. Die Weltlage stellt sich aus Merkels Sicht so dar: Um eine menschliche Katastrophe zu vermeiden, mussten im Spätsommer vergangenen Jah- res die Grenzen aufgemacht werden. Nun geht es darum, ein Zerbrechen Europas zu verhindern. Wenn Deutschland die Schlag- bäume nach unten sausen ließe, wäre nicht nur das Europa der offenen Grenzen ge- scheitert; die Flüchtlinge würden sich auch auf der Balkanroute stauen und dort die jungen Demokratien destabilisieren. Griechenland würde überlaufen mit den Verzweifelten aus Syrien und dem Irak. 13DER SPIEGEL 4/2016 CHRISTIANTHIEL
  • 14. Schwindendes Zutrauen Befragte, die sich für Angela Merkel eine wichtige politische Rolle wünschen 2005 80% 70% 60% 50% 2006 2007 2008 2009 2010 MärzJan. MaiJan. Mai Juli Okt.Jan. Mai Juli Okt.Jan. Mai Juli Okt.Okt. Sept. Dez. Juni Sept. Bundestagswahl 27. September Beginn der Eurokrise AKW-Laufzeit- verlängerung Erstes Euro- Rettungspaket Beginn der Finanzkrise Beschluss der Mehrwertsteuer- erhöhung von 16% auf 19% Deutschland übernimmt EU-Ratspräsidentschaft. 85% 55% 76% 52% Schwarz-gelbe KoalitionGroße Koalition Titel Jordanien und der Libanon, die jetzt schon fast zwei Millionen Flüchtlinge beherber- gen, könnten an den Rand des Staatskol- lapses geraten. Die Alternative dazu sei ein Abkommen mit der Türkei, jenem Land, durch das fast alle Flüchtlinge reisen müssen. So weit die amtliche Version. Wenn man mit Merkels Leuten spricht, erscheint ihre Flüchtlingspolitik wie eine völlig rationale Entscheidung. Wie eine Kette politischer Notwendigkeiten. Merkel konnte sich auch deshalb so lan- ge im Amt halten, weil sie zumindest als Regierungschefin nie für ein größeres Pro- jekt gekämpft hat. Sie war anliegenlos. Sie gefiel sich als Krisenkanzlerin, ähnlich wie Helmut Schmidt. Nun, in der Spätphase ihrer Kanzlerschaft, ähnelt sie dem frühen Willy Brandt. Dem Visionär. Es ist nicht so, dass Merkel 2005 frei von Überzeugungen ins Kanzleramt einzog. Die Ostdeutsche Merkel glaubte an die Kraft der Freiheit und des Marktes. Aber weil die Wähler ihr Reformprogramm im Jahr 2005 nicht goutierten, ließ sie es schnell wieder fallen. Und über ihre ost- deutsche Herkunft und ihren Glauben sprach sie anfangs fast gar nicht. Das Versteckspiel war Teil ihres Erfolges, weil so all die Wessis, Atheisten und streng- gläubigen Katholiken nicht verschreckt wurden. So stieg sie zur beliebtesten Poli- tikerin der Republik auf. Im Frühsommer 2015, kurz vor Beginn des großen Flücht- lingsstroms, lag sie in allen Umfragen weit oben. Sie hatte ein gewaltiges Vertrauens- kapital unter den Deutschen angesammelt. Die Frage war nur, ob sie es jemals einset- zen würde. Am 15. Juli 2015 begegnet Merkel bei einem „Bürgerdialog“ in Rostock der 13- jährigen Reem Sahwil. Das Mädchen ist vor vier Jahren mit seinen Eltern aus dem Libanon geflüchtet, nun droht die Ab- schiebung. „Es ist wirklich sehr unange- nehm zuzusehen, wie andere wirklich das Leben genießen können und man es sel- ber halt nicht mitgenießen kann“, sagt das Mädchen. In Rostock antwortet noch die alte Mer- kel. Sie will nicht herzlos wirken, aber sie will auch keine Versprechungen machen, nur weil sie in eine unangenehme Situa- tion geraten ist. „Ihr könnt alle aus Afrika kommen, und ihr könnt alle kommen, das können wir auch nicht schaffen“, stammelt Merkel. Nicht schaffen. Kurz darauf bricht Reem in Tränen aus. In den Tagen darauf wird Merkel Kaltherzigkeit vorgeworfen, im Internet wird sie unter dem Hashtag #merkelstreichelt verhöhnt. Ende August fährt sie mit ihrem Regie- rungssprecher Steffen Seibert nach Heide- nau. In der sächsischen Kleinstadt steht ein ehemaliger Baumarkt, in dem Flücht- linge untergebracht sind, davor hatten Rechte randaliert. Als Merkels Wagenko- lonne vorfährt, empfängt sie ein wütendes Pfeifkonzert. Als sie nach einer Stunde wieder ins Auto steigt, brüllt eine Frau: „Fotze! Steig in deine hässliche Kiste!“ Sei- bert wird noch viel später fassungslos von dieser Lynchstimmung berichten. In den Tagen danach verändert sich et- was im Kanzleramt. Als Merkel am 31. Au- gust ihre Sommer-Pressekonferenz gibt, ist keine Rede mehr davon, dass Deutschland nicht jeden aufnehmen könne. Es ist auch keine Rede mehr von Überforderung wie beim Bürgerdialog in Rostock. „Deutsch- land ist ein starkes Land“, sagt Merkel. „Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vie- les geschafft – wir schaffen das!“ Merkel hat sich entschieden, für ein Thema zu kämpfen. Sie hat so lange ge- spart und krämerisch ihre Macht gehütet, jetzt will sie ausgeben. Erst jetzt lernen die Deutschen die echte Angela Merkel kennen. Am 4. September öffnet sie die Grenze für die Flüchtlinge aus Ungarn. Später wird sie erzählen, dass sie im Fernsehen ver- folgte, wie sich die Menschen aus Syrien am Bahnhof in Budapest sammelten und dann am Weiterreisen gehindert wurden. Sie fand das empörend. Merkel entschei- det, die Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen. Sie sei „ein Stück weit stolz auf un- ser Land“, sagt sie drei Tage später. Von nun an steigen die Flüchtlingszah- len rasant. Bald sind es bis zu 10000 pro Tag, und mit dem Zustrom steigt auch die Kritik. Seehofer sagt, Merkel habe einen Fehler gemacht, an dem die Republik noch lange tragen werde. Der Satz trägt dazu bei, dass die Flüchtlingskrise zur Macht- frage wird. Merkel war bislang immer fle- xibel. Sie war für die Wehrpflicht und hat sie dann abgeschafft. Sie war gegen den schnellen Atomausstieg und dann dafür. „Aber sie ist nicht flexibel unter Druck“, sagt einer ihrer Leute. „Vielleicht ist das ihr größter Fehler.“ Am 6. Oktober sitzt sie in einem Flieger, der sie von einer Indienreise zurück nach Berlin bringt. Eigentlich könnte sie ein biss- chen Ruhe gebrauchen. Aber Merkel will sich erklären, sie spürt, dass die Fragen immer drängender werden und ihre Ant- worten immer weniger überzeugen. Sie lässt sich einen Zettel aus dem Cock- pit bringen, er zeigt die Route des Bun- deswehr-Airbus von Bangalore nach Ber- lin. Ihr Finger wandert über die Karte, sie sieht Saudi-Arabien, Syrien, die Türkei, Deutschland. Für sie ist es nicht nur ein Stück Papier, sondern die Bestätigung ih- rer Politik. Es zeigt, dass sich Deutschland nicht mehr abschotten kann, dass alles mit- einander zusammenhängt. Die Deutschen würden sich zwar die Zeit vor der Flüchtlingskrise zurückwün- schen, aber damit könne sie leider nicht dienen, sagt Merkel. Natürlich könne sie die Grenzen schließen, aber dann würden sich Menschen vor Stacheldraht stauen. Hässliche Bilder. Die Deutschen hielten es ja nicht mal aus, wenn jemand draußen übernachte. Sie hingegen wolle die Fluchtursachen bekämpfen und mit der Türkei kooperie- ren. Unter ihr werde Deutschland kein 14 DER SPIEGEL 4/2016
  • 15. 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Jan. März Juni Sept.März Juni Okt. Dez. Jan.März Juni Sept. Dez.März Juni Sept. Dez.März Juni Sept. Dez.Dez. Bundestagswahl 22. September Atomausstieg bis 2022 Zweites Euro- Rettungspaket Drittes Euro- Rettungspaket Übergriffe in Köln Aussetzung der Wehrpflicht Die Migration von Flücht- lingen nach Deutschland nimmt dramatisch zu. 11. März: Reaktorkatastrophe in Fukushima 78% 64% 58%* Umfrage von TNS Forschung für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte ab 18 Jahren; *letzter Umfragewert Infratest dimap Große Koalition Land werden, das Menschen in Not mit Absicht verscheucht. „Ich werde nicht in einen Wettbewerb eintreten um die schlech- teste Behandlung der Flüchtlinge“, sagt Merkel. Es ist ein stolzer Satz, in dem auch eine Prise Trotz gegen die CSU steckt. Als sie einen Tag später in der Talkshow von Anne Will sitzt, wiederholt sie die Ausführungen aus dem Flugzeug fast wort- gleich. Merkel, der sonst kaum etwas un- angenehmer ist, als im Fernsehen sprechen zu müssen, lächelt oft an diesem Abend. Bei vielen anderen Themen kann man ihr beim Reden ansehen, dass ihr egal ist, was sie gerade erzählt. Bei diesem Thema ist es anders. „Sie war leidenschaftlicher als sonst“, sagt Will, die Merkel schon öfter interviewt hat, rückblickend. Während des Interviews habe sie immer wieder ge- dacht: „Sie wirkt frei. Frei auch in der Wortwahl. Eins mit sich, geradezu fröhlich. Das ist neu.“ Natürlich hat Merkel die Flüchtlings- krise auch unter machtpolitischen Aspek- ten gesehen. Sie verfolgt schon lange das Ziel, der SPD die Wähler der Mitte streitig zu machen. Das Drama der Sozialdemo- kraten resultiert auch aus dem Bemühen der CDU-Chefin, fast jedes linke Thema mitzubesetzen. „Merkel ist die erste CDU- Vorsitzende, die das Motto verfolgt, dass sich links von der CDU keine richtige Partei etablieren darf“, sagt ein enger Weggefährte der Kanzlerin nur halb im Spott. Aber wenn es nur um Taktik gegangen wäre, hätte Merkel spätestens dann ge- bremst, als die Werte für die AfD immer besser wurden und ihre eigenen fielen. Es muss noch andere, persönliche Motive ge- ben, die sie an ihrem Kurs festhalten lassen. Ende Oktober besucht sie in Brüssel ei- nen Gipfel mit den Ländern, die auf der Balkanroute liegen, auf der die Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Der ungari- sche Ministerpräsident Viktor Orbán, der sein Land mit einem Stacheldrahtzaun si- chern ließ, ist auch da. Er sieht und genießt Merkels Nöte. Er meldet sich zu Wort und sagt: „Es ist nur eine Frage der Zeit, wann Deutschland einen Zaun baut, dann habe ich das Europa, das ich für richtig halte.“ Merkel schweigt erst einmal, so erinnert sich ein Teilnehmer der Runde. Erst später, nachdem sich ein paar andere Regierungs- chefs zu Wort gemeldet haben, sagt sie zu Orbán: „Ich habe zu lange hinter einem Zaun gelebt, als dass ich mir das noch ein- mal zurückwünsche.“ Merkel, das wird in der Flüchtlingskrise klar, hat den Mut ge- funden, ihre Politik mit ihrer Biografie zu begründen. Sie will nicht mehr die Frau ohne Eigenschaften sein. „Eine erstaunliche Freundschaft im spä- ten Leben“, nennt Klaus von Dohnanyi das, was ihn, den Sozialdemokraten und einstigen Ersten Bürgermeister von Ham- burg, und Angela Merkel verbindet. Sie treffen sich regelmäßig, meist mit ihren Ehepartnern, dabei reden sie nur selten über Politik. Es geht um Konzertbesuche, Theaterstücke, Naturwissenschaft. Dohnanyi kannte Merkels Eltern, er glaubt, dass in der Flüchtlingskrise stark 15DER SPIEGEL 4/2016 BERNDVONJUTRCZENKA/DPA Kanzlerin Merkel mit Flüchtling Alasad 2015: Ein Selfie geht um die Welt BUNDESREGIERUNG.DE CDU-Politikerin Merkel mit Flüchtlingsmädchen Reem 2015: „Es ist wirklich sehr unangenehm“
  • 16. Titel ihre christliche Erziehung durchschim- mert. „Sie ist die Tochter eines sozialisti- schen Pastors. Und die Mutter ist eine ganz fromme Frau. So was steckt in einem drin, das geht nicht mehr raus.“ Im Hause Kasner habe man eine sehr praktische Theologie verfolgt, die darin bestand, Ar- men, Kranken und Benachteiligten zu helfen. Merkel sei mit dem Grundsatz aufge- wachsen: Wenn Fremde in der Nässe vor deiner Haustür stehen, lässt du sie rein und hilfst. „Und wenn man sie reinlässt, macht man auch kein böses Gesicht“, sagt Dohnanyi. „Das tun Christen nicht.“ Mer- kel selbst drückte es vor Kurzem ähnlich aus: „Wir halten Sonntagsreden, wir spre- chen von Werten. Ich bin Vorsitzende ei- ner christlichen Partei. Und dann kommen Menschen aus 2000 Kilometern zu uns, und dann muss man sagen: Hier darf man kein freundliches Gesicht mehr zeigen?“ Auch Pfarrer Eppelmann ist überzeugt, dass Merkels Haltung in der Flüchtlings- krise tief in ihrer Biografie wurzelt. „Sie steht auf einem festen Fundament, das in der Kindheit und Jugend gelegt wurde.“ Er weist darauf hin, dass es sich bei ihrem Elternhaus nicht um ein gewöhnliches evangelisches Pfarrhaus handelte, sondern um eine Behinderteneinrichtung der Dia- konie. Dort im „Waldhof“ wuchs Angela Kasner in der Dienstwohnung ihres Vaters unter Behinderten auf, um die es sich zu kümmern galt. „Sie hat dort Empathie in- haliert wie die Luft und den Sauerstoff“, sagt Eppelmann. Merkel habe später auch die Erfahrung gemacht, wie brutal es sei, von einem Re- gime gegängelt zu werden. Dass sie zu- nächst keinen Studienplatz bekommen hat- te, obwohl sie Klassenbeste war. „Eine sol- che Erfahrung kann einen Menschen bre- chen“, sagt Eppelmann. Insofern könne Merkel gut nachempfinden, was in Men- schen vorgehe, die vor Willkür-Regimen wie dem „Islamischen Staat“ oder Assads Syrien fliehen. Das Wichtigste aber sei das evangelische Pfarrhaus, betont Eppelmann, der selbst in der DDR als Pastor gearbeitet hat. Man bekomme einfach einen „gewissen ethi- schen Anspruch mit, wie das Leben zu sein hat“. Dazu gehöre, dass man sich selbst nicht für wichtiger oder wertvoller halte als andere Menschen, egal aus welchem Land sie kämen. Jeden Tag sei im Hause Kasner von Je- sus und Gott die Rede gewesen. Die täg- liche Botschaft habe geheißen: „Liebe dei- nen Nächsten wie dich selbst. Nicht nur deutsche Menschen. Gott hat alle lieb.“ Man solle doch mal die Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Flüchtlingskrise mit Merkels Worten ver- gleichen, rät Eppelmann. „Das ist nahezu identisch.“ Als Merkel Mitte Dezember vor dem CDU-Parteitag spricht, erinnert ihre Rede fast an eine Predigt. Sie erinnert an die Leistungen der CDU, die Westbindung und die Wiedervereinigung, die Adenauer und Kohl gegen alle Ungläubigen und Zauderer durchgesetzt hätten. Sie stellt ihre Politik in eine Linie mit diesen Wundern der Christdemokratie. „Die Idee der Gründung der CDU war eigentlich eine ungeheuerliche Idee“, sagt sie. „Eine Partei, die im C ihre Grundlage findet, also in der von Gott gegebenen Würde jedes einzelnen Menschen. Das heißt, dass heutzutage keine Menschen- massen kommen, sondern dass einzelne Menschen zu uns kommen.“ Als sie nach einer Stunde endet, applaudieren auch die Ungläubigen und Zauderer im Saal – neun Minuten lang. Nur einer sitzt mit verstei- nerter Miene an seinem Platz: Wolfgang Schäuble. D er Finanzminister fröstelt, er trägt einen Pullover über dem Hemd. Es ist Ende November, am Morgen saß Schäuble vier Stunden auf der Regie- rungsbank im Bundestag, es ist immer ein bisschen zugig da, aber er wollte nicht vor- zeitig aufbrechen. Kollegin Merkel musste ihre Rede zum Etat des Kanzleramts hal- ten, es sollte nicht schon wieder so aus- sehen, als wolle er nichts mit ihrer Politik zu tun haben. Erst ein paar Tage zuvor hatte Schäuble die Kanzlerin mit einer ungeschickten Skifahrerin verglichen, die im Hang eine Lawine auslöste, es war ein Bild, das jene bestätigte, die Merkel für die Ankunft all der Flüchtlinge verantwortlich machen. In Zeitungen stand, dass Schäuble sich be- reithalte, die unglückliche Selfie-Kanzlerin Merkel abzulösen. Stimmt das? Schäuble, so viel ist sicher, ist der Einzi- ge, dem man in der Union Merkels Nach- folge zutraut. Er war schon Kanzleramts- chef, als Merkel noch als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wis- senschaften der DDR tätig war. Er war auch schon Innenminister, Partei- und Fraktionschef, und jetzt, mit 73 Jahren, ist er die Hoffnung derer, die Merkel gern vom Hof jagen würden. Schäuble hielt es für richtig, dass Merkel in der berühmten Nacht des 4. September die Grenze für die gestrandeten Flücht- linge in Ungarn öffnete. Aber er hätte sich gleichzeitig ein Signal von ihr gewünscht, dass Deutschland nicht unbegrenzt Flücht- linge aufnehmen kann. Mitte September ermuntert er Innen- minister Thomas de Maizière, ein europäi- sches Kontingent für die Aufnahme von Flüchtlingen zu fordern und damit das Si- gnal zu setzen, dass es eine Art Obergren- ze für den Zuzug gibt. De Maizière folgt ihm, am 19. September erscheint ein ent- sprechendes Interview im SPIEGEL. Zu Schäubles Ärger distanziert sich nicht nur SPD-Chef Sigmar Gabriel von dem Vor- schlag, sondern auch Merkels Sprecher Stef- fen Seibert. Kurz darauf sitzt Schäuble zusammen mit Merkel im Kanzleramt. Es könne nicht sein, dass man de Maizière im Regen stehen lasse, klagt er. Merkel erwi- dert, Seibert sei nichts anderes übrig ge- blieben, weil die SPD den Vorschlag de Maizières nicht mitgetragen habe. Die SPD- Wähler wollten doch auch, dass die Flücht- lingszahlen sinken, entgegnet Schäuble. Deswegen werde Gabriel am Ende einlen- ken. „Die halten das keine drei Tage durch.“ Schäuble hat sich in den vergangenen Jahren das Image des weisen Elder States- man zugelegt, aber in der Innenpolitik war er lange ein Verfechter einer scharfen Li- 16 DER SPIEGEL 4/2016 ADAMBERRY/GETTYIMAGES Kanzleramtschef Altmaier: Das Zerbrechen Europas verhindern
  • 17. nie. Er findet, dass Merkel zu wenig Rück- sicht auf die Befindlichkeiten des rechten Randes nimmt. Wäre es nach ihm gegan- gen, dann hätte die Bundesregierung die Leistungen für Asylbewerber drastisch ge- kürzt und zugleich von ihnen verlangt, dass sie teilweise selbst für ihre Deutsch- kurse aufkommen. Dass das Bundes- verfassungsgericht vor ein paar Jahren entschieden hat, die Zuwendungen für Asylbewerber dürften nicht unbegrenzt ge- stutzt werden, ist für Schäuble kein Argu- ment. „Ich schmeiß jeden Verfassungs- referenten raus, der so was sagt“, raunte er seinen Leuten zu. Schäuble hat die Kunst verfeinert, sich zum Dissidenten zu stilisieren, ohne Mer- kel öffentlich zu widersprechen. Er ist Loyalist und Rebell zugleich, das macht seine Popularität aus, in den Umfragen hat er Merkel inzwischen weit überholt. Als er vor ein paar Tagen in der „Süddeut- schen Zeitung“ gefragt wurde, ob er Mer- kel in der Flüchtlingskrise aus Überzeu- gung oder aus Loyalität folge, sagte er: „So eine Frage dürfen Sie einem intelligenten Menschen nicht stellen.“ Hinter jedem Schäuble-Satz kann sich ein Abgrund auf- tun. Er ist der Mann mit dem größten Bru- tus-Potenzial in Berlin. Nach der Spitze mit der Skifahrerin und der Lawine meldet sich Schäuble bei Mer- kel, um sich zu entschuldigen. Aber wie so oft tat er dies mit einer kleinen Bosheit. „Das mit dem Skifahrer war falsch, das fällt einem bei Ihnen ja gar nicht ein“, sag- te er. Man muss dazu wissen, dass Merkel sich vor zwei Jahren beim sehr langsamen Langlauf das Becken gebrochen hatte. Als Alpinistin im Tiefschnee kann man sie sich tatsächlich nicht vorstellen. Wie weit wird er es noch treiben? Schäuble, damit beruhigen sich Merkels Leute selbst, habe noch nie den offenen Putsch gewagt. Er traute sich nicht, Helmut Kohl zu stürzen, als dieser sich in den Neunzigern weigerte, für einen Jüngeren Platz zu machen. Und als Merkel die Grie- chen gegen seinen Willen im Euro hielt, gab es auch keinen Aufstand. Allerdings kann Schäuble es bis heute nur schwer akzeptieren, dass er die Num- mer zwei hinter Merkel sein soll. Hinter je- ner Frau, die er einst zur Generalsekretärin machte und die ihn nach seinem Sturz über die Spendenaffäre als CDU-Vorsitzende ab- löste. In seinen klaren Momenten erkennt er, dass er eigentlich zu alt für das Kanz- leramt ist. Andererseits: War Adenauer nicht ebenfalls 73, als er Kanzler wurde? A m Ende wird alles von Horst See- hofer abhängen, und bei ihm mi- schen sich wie bei Schäuble ratio- nale Erwägungen mit den Verletzungen ei- ner langen Politikerkarriere. Inzwischen spricht Seehofer im Wochentakt neue Dro- hungen und Ultimaten aus. Er hat den Ruf des ewigen Wendehalses, aber in der Flüchtlingskrise hatte er von Anfang an eine Strategie, und die beruhte auf der Macht der Zahlen: Deutschland kann Flüchtlinge aufnehmen, aber eine Million pro Jahr sind zu viel. Kein Kanzler kann das auf Dauer durchhalten. „Wenn die Lage total aus den Fugen ge- rät, lässt sich die Stimmung nicht mehr drehen.“ Es ist der 3. November 2015, als Seehofer das sagt, ein Dienstag, er sitzt in der bayerischen Landesvertretung in Ber- lin. Er hat das Wochenende davor in der Hauptstadt verbracht, um das weitere Vor- gehen in der Flüchtlingskrise zu beraten. Zehn Stunden saß er mit Merkel im Kanzleramt, auch Altmaier, Fraktionschef Volker Kauder und Gerda Hasselfeldt, die Chefin der CSU-Landesgruppe, waren dabei. Die Bayern versuchten ihre Gegen- über zu der Zusage zu bewegen, dass man eine Obergrenze für die Flüchtlinge brau- che, aber Merkel und Altmaier wehrten sich mit Zähnen und Klauen. Am Ende ei- nigte man sich darauf, dass der Zuzug der Flüchtlinge reduziert werden müsse. Mer- kel schrieb den Satz persönlich nieder. „Die Kanzlerin hat selbst die Blätter ge- holt, es war eine Formulierungsolympia- de“, erzählt Seehofer. „Wir sind im Mo- ment sehr zufrieden mit dem Papier“, sagt er und setzt ein listiges Lachen auf. Für ihn ist es der erste kleine Sieg in der Schlacht mit Merkel. Es geht dabei nicht nur um die Flüchtlingszahlen, für Seehofer steht der Fortbestand der CSU als Partei auf dem Spiel, die all ihre Kraft aus der absoluten Mehrheit in Bayern zieht. „Die CDU kann es sich leisten, wenn sie auch mal in den 30-Prozent-Turm rutscht. Für uns ist das existenziell.“ Aus Seehofers Sicht begann Merkel ih- ren Urfehler am 4. September 2015, als sie die Türen für die Flüchtlinge in Ungarn öffnete. In jener Nacht versuchte sie, See- hofer auf dem Handy zu erreichen. Aber er schlief und ging deshalb nicht ran, so stellt er es zumindest dar. Als sie ihn am folgenden Morgen erreicht, weiß sie noch die genaue Uhrzeit ihres Anrufs. Es klingt, als habe sie ein schlechtes Gewissen. „Das werden wir nicht beherrschen kön- nen“, sagt Seehofer. „Da bin ich betrübt“, erwidert Merkel. Die Kanzlerin habe in jener Nacht mit den besten Absichten einen großen Fehler gemacht, sagt Seehofer rückblickend. Aus seiner Sicht wäre es auch später noch mög- lich gewesen, die Dinge in geordnete Bah- nen zu lenken. Man hätte die Grenzöff- nung zu einer humanitären Ausnahme- situation erklären können. Als Merkel bei einer Pressekonferenz am 7. September mit Vizekanzler Gabriel ihre Entscheidung erläutert, sagt sie etwas anderes: „Deutsch- land ist ein aufnahmebereites Land.“ Seehofer hat eine Theorie über den Um- gang mit politischen Fehlern. Probleme 17DER SPIEGEL 4/2016 OLIVIERHOSLET/DPA Umfrage Sept. 60% 50% 40% 30% 2015 2016 Okt. Nov. Dez. Jan. „In der Flüchtlings- und Asylpolitik macht die Bundeskanzlerin ihre Sache eher …“ „gut“ „schlecht“ Quelle: Forschungsgruppe Wahlen Finanzminister Schäuble: „Das mit dem Skifahrer fällt einem bei Ihnen gar nicht ein“
  • 18. Titel entstünden nicht durch falsche Entschei- dungen, sondern durch die Unfähigkeit, sie rasch zu korrigieren. „Oft scheitern Politiker an den Beta-Fehlern.“ Verhäng- nisvoll sei es, wenn der Primärfehler mit einer Philosophie überhöht werde. Mer- kels verhängnisvolle Philosophie ist für Seehofer die Willkommenskultur. Er glaube nicht, sagt er, dass Merkel ihr Amt bewusst aufs Spiel setzen wolle. „Sie ist in einem Alter, wo man die Macht nicht mehr aus der Hand gibt. Vielleicht kocht sie ab und zu für ihren Mann. Aber Politik ist ihr Leben.“ Der Keim jeder scheitern- den Kanzlerschaft, warnt Seehofer, liege in der wachsenden Distanz zur Parteibasis. Helmut Schmidt sei über den Nato-Dop- pelbeschluss gestürzt, Gerhard Schröder über die Agenda-Politik. Merkel, fügt er noch an, sei durchaus fähig, sich zu korrigieren. Er lehnt sich zu- rück und erinnert an das Jahr 2004, als in der Union der Kampf um die Kopfpauscha- le geführt wurde, um all die Reformpläne, die Seehofer für neoliberale Verirrungen hielt. Als Merkel im Jahr 2005 um ein Haar die Wahl verlor, habe sie all ihre Pläne ein- fach vergessen. „Es gab keine öffentliche Beerdigung.“ Sollte Merkel sich nun in der Flüchtlingspolitik wieder korrigieren müs- se, werde sie das nicht zugeben. „Sie wird nie sagen, dass das falsch war.“ K ann sein, dass Merkel nie Fehler eingesteht. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich einfach im Recht fühlt, und das liegt auch an Menschen wie Has- san Alasad. Er trägt einen dunkelblauen Pullunder über dem hellblauen Hemd und sitzt in einer Unterkunft der Arbeiterwohl- fahrt im Nordwesten Berlins. Vor ihm lie- gen zwei Handys. Er nimmt eines davon und flippt über den Bildschirm. Natürlich habe er das Foto noch. Er werde es immer bei sich haben, sein Leben lang. Auf dem Foto, das den syrischen Flücht- ling zu einer Symbolfigur machte, sieht man ihn neben der deutschen Bundes- kanzlerin in eine Handykamera lächeln. Das vielleicht berühmteste Selfie des Jah- res 2015 ging um die Welt. Es wurde zum Inbegriff jener Willkommenskultur, die nun mit Merkels Namen verbunden ist und sie an den Abgrund ihrer Karriere ge- führt hat. Es ist der 10. September, als Merkel die Unterkunft besucht, in der Hassan Alasad noch heute seine Tage verbringt. Sie habe so freundlich, so nahbar gewirkt, erzählt er nun, da die Kälte nach Deutschland ge- kommen ist. Da habe er sie spontan um ein Selfie gebeten. In seiner Heimat sei es unmöglich ge- wesen, die Mächtigen persönlich zu Ge- sicht zu bekommen. In zwölf Jahren habe er nicht mal seinem Bürgermeister die Hand geben können. „Dann bin ich gerade mal ein paar Tage in Deutschland, und die Bundeskanzlerin kommt persönlich vor- bei, um uns zu begrüßen.“ Alasad schüttelt den Kopf und lacht dabei. „Das war ein großartiges Gefühl.“ Freunde aus aller Welt riefen ihn danach an, aus Dubai, aus Belgrad, aus Afgha- nistan. Das Foto sei in unzähligen Zeitun- gen und auf noch mehr Internetseiten zu sehen gewesen. Er hat fast alle gespeichert in seinem Handy. „Ich dachte, Deutschland sei das Para- dies“, sagt Alasad. „Das ordentlichste Land der Welt. Ein Land mit Struktur.“ Seine Vision von Deutschland beinhaltete alles, was seine Heimat nicht hatte. Bevor Bomben sein Büro und seine Lagerhalle zerstörten, war Hassan Alasad Unterneh- mer gewesen. Er wollte seine Heimat nicht verlassen, aber er fühlte sich nutzlos dort, seit Jahren schon. Als er mit seinem Bru- der einen Ausflug an einen See machte und Flugzeuge Bomben abwarfen, die Freunde und Bekannte in Fetzen rissen, entscheiden sie sich, Syrien zu verlassen. A m 5. Januar steht Merkel in der Lobby des Kanzleramts, die Stern- singer sind da, sie singt mit den Mädchen und Jungen, die als Könige aus dem Morgenland verkleidet sind, das Lied heißt: „Wir haben seinen Stern gesehen.“ Einmal sieht es so aus, als müsste sich Merkel eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Dann hält sie eine kurze Ansprache. Sie sagt, dass man die Sternsinger, die von Haus zu Haus ziehen, inzwischen als „Kul- turerbe“ bezeichne, aber eigentlich sei das doch eine christliche Tradition. Das Motto der Sternsinger sei Respekt, sagt sie, und Respekt verspreche auch das Grundgesetz, in dem stehe, dass die Würde des Men- schen unantastbar sei. Das gelte aber nicht nur für Deutsche oder Europäer, „sondern es gilt für alle Menschen – für jeden Men- schen als Gottes Geschöpf“. Ihre Haltung gegenüber Flüchtlingen ist auch im neuen Jahr dieselbe geblieben. Dabei hat sich die Situation, seit sie im November mit Seehofer im Kanzleramt saß, beinahe täglich verschärft. Die Flücht- lingszahlen sinken zwar leicht, aber das kann sich bald wieder ändern, wenn der Winter verblasst. Seehofer treibt seine Par- tei immer schärfer in den Konflikt mit Mer- kel, und seit den Übergriffen der Kölner Silvesternacht kennt der Hass auf Merkels Politik in weiten Teilen der Bevölkerung keine Grenzen mehr. „Wir müssen uns immer wieder gegen- seitig anspornen, dass man auch etwas zum Guten wenden kann“, sagt Merkel den Sternsingern. Es ist ein rührender Satz. Sie stemmt sich gegen die Geilheit des Scheiterns, die sich seit Köln breitmacht, gegen die immer höhnischer vorgetragene Meinung, ihre Politik sei der naive Versuch gewesen, die Welt ein Stück humaner zu machen. Spricht man in diesen Tagen mit ihren Vertrauten, gestehen diese allenfalls Fehler im Detail zu. Den Tweet des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zum Bei- spiel, der am 25. August um die Welt ging und den Eindruck erweckte, Deutschland 18 DER SPIEGEL 4/2016 MICHAELTINNEFELD/AGENCYPEOPLEIMAGE CSU-Chef Seehofer: Kein Kanzler kann das auf Dauer durchhalten
  • 19. öffne seine Türen für alle syrischen Flücht- linge. Dabei ist es offensichtlich, dass Mer- kel die Kontrolle über die Flüchtlings- politik verloren hat. Es gibt eine Diskre- panz zwischen dem, was sie für richtig hält, und den Nebenwirkungen, die diese Poli- tik für ihr Land hat. Es scheint, als spiele sie nur noch auf Zeit, aber dieses Spiel hält keine guten Karten für sie bereit. Angela Merkel wollte Deutschland ein soziales, ein freundliches Gesicht geben. Das ging ein paar Wochen gut, aber inzwi- schen ist das deutsche Gesicht ein verknif- fenes. Es ist nicht mehr das befreite, fröh- liche Merkel-Gesicht, sondern das der grimmigen Pegida-Marschierer und AfD- Krakeeler. Deren Partei liegt bundesweit inzwischen bei zehn Prozent und mehr. Merkel ist enttäuscht darüber, dass ihr das Volk und die Partei letztlich nicht ge- folgt sind. Sie selbst hat es allerdings ver- säumt, ihre Willkommensbotschaft mit einem Plan zu verbinden, wie der Zuzug der Flüchtlinge in halbwegs geordnete Bah- nen gelenkt werden kann. Das hat die Stimmung in Deutschland kippen lassen, Europa gegen Deutschland aufgebracht und die Rechtspopulisten gestärkt. Das ist auch eine Bilanz. Selbst Hassan Alasad, Merkels Selfie- Mann, hat nach vier Monaten ein anderes Bild von Deutschland. Obwohl alles dafür spricht, ihn als Flüchtling anzuerkennen – was ihm die Gelegenheit geben würde zu arbeiten –, habe er bis heute nicht die entsprechenden Papiere erhalten. Jede Wo- che stehe er vor dem Amt, vergebens. Er hat jetzt mit Behörden zu tun, die keine Zeit für ihn haben, die überfordert sind. Wenn Merkel noch einmal zu Besuch käme, sagt er, würde er sie fragen, was in ihrem Land eigentlich los sei. Es kann sein, dass Merkel doch noch zu ihrem alten Pragmatismus zurückfindet und dabei hilft, Flüchtlinge an der slowe- nischen Grenze abzuweisen (siehe Seite 22). Das freie Reisen im Schengen-Raum wäre so weitgehend gesichert, aber die Menschen würden auf dem Balkan stran- den, in Mazedonien oder Griechenland – und Deutschland würde dabei mithelfen, dass Europa ein hässliches Gesicht zeigt. „Sie täte mir menschlich unendlich leid, wenn sie in eine Situation kommen sollte, in der sie ihre Überzeugungen und Prä- gungen verraten müsste“, sagt Eppelmann. „Aber wenn es so weit käme, würde sie eher den Hut nehmen.“ Das wäre, bei allen Überraschungen, die Angela Merkel in den vergangenen Mona- ten für die Deutschen bereithielt, dann doch die größte Überraschung. will mir gar nicht ausmalen, was in den nächsten Monaten passiert.“ Eigentlich sollten bis Ende November elf Hotspots eingerichtet sein. Bisher gibt es nur drei: auf Sizilien, auf Lampedusa – und eben in Moria. Obwohl Athen fürch- ten muss, dass der anhaltende Menschen- strom Grenzschließungen im Norden pro- voziert und damit Zehntausende im Land stranden könnten, geht es kaum voran, weil Bürger und Behörden Widerstand leis- ten. Der Bürgermeister von Kos schrieb diese Woche einen Brandbrief an Premier Alexis Tsipras, in dem er forderte, den Hot- spot-Bau zu stoppen, der „Griechenlands viertbeliebtestes Urlaubsziel opfern“ wür- de. Auf ähnliche Widerstände trifft ein ge- plantes Zentrum im Norden des Landes, das bis zu 10000 Menschen aufnehmen soll. Daher gibt es bisher nur diesen einen Hotspot auf Lesbos, und auch er arbeitet nicht mit voller Kapazität. Vor allem fehlt das wichtigste Element: die geordnete Ver- teilung der Flüchtlinge innerhalb der EU. Verteilt wurde über die Hotspots bisher kaum jemand. So gut wie alle machen sich noch immer auf eigene Faust auf den Weg. 220 griechische Polizisten und 170 Fron- tex-Beamte sind in Moria im Einsatz, aber sie haben nur 18 Fingerabdruckleser. Nie- mand kann garantieren, dass alle Flücht- linge registriert werden – und dass sie auch die sind, für die sie sich ausgeben. Denn zum einen ist keine Zeit, um alle Abdrücke mit den Datenbanken abzugleichen. Zum anderen verkaufen kriminelle Banden ge- fälschte Registrierungsdokumente. Knapp 130 Menschen hat Griechenland seit Jahresbeginn zurück in die Türkei ge- bracht – während sich zur selben Zeit 30000 Menschen in umgekehrter Richtung auf den Weg machten. Und so befürchtet der Polizist Amountzias das Schlimmste: „Ich habe diesen wiederkehrenden Alb- traum, in dem Tausende verzweifelte Flüchtlinge auf mich zustürmen und mich um Hilfe anflehen.“ Giorgos Christides 19DER SPIEGEL 4/2016 Video: René Pfister über seine Merkel-Momente spiegel.de/sp042016merkel oder in der App DER SPIEGEL D ie Behörden von Lesbos hatten auf den Winter gehofft, darauf, dass er ihnen eine kurze Erholung bringen würde. Aber nun schneit es, Straßen und Schulen sind geschlossen – und trotzdem kommen jeden Tag Hunderte, manchmal Tausende Flüchtlinge an. An diesem eisi- gen Mittwoch sind es mehr als 1500 Men- schen. Das sind die, die Glück hatten. Wer weniger Glück hatte, erreicht gar nicht erst die Küste. Mindestens zwei Menschen ster- ben an diesem Tag, eine Frau und ein Kind. Am Donnerstag ist das Wetter wieder bes- ser, und so landen schon am frühen Morgen über 300 Flüchtlinge am Strand. Busse brin- gen sie nach Moria, einem winzigen Dorf, auf das sich alle Hoffnungen von Brüssel und Berlin richten. Denn nahe Moria steht ein früheres Gefängnis, das nun als erstes EU-Registrierungszentrum in Griechenland dient. Hotspots, so heißen diese Zentren, und wenn der Plan aufgeht, sollen sie die erste Front im Kampf gegen den Flüchtlings- strom sein. Im Schnellverfahren soll hier entschieden werden, wer gute Chancen auf Asyl hat, wer nach Europa weitertransferiert oder wer abgeschoben wird. Es ist allerdings ein Plan, der bisher nur in der Theorie funktioniert. Im Hotspot Moria stehen die Flüchtlinge an, sie sind nass und erschöpft, Frauen tra- gen in Decken gewickelte Babys. Freiwil- lige teilen Tee und Kekse aus, aber gegen die Kälte können sie wenig machen, auch nicht gegen die Tatsache, dass sich die Schlange kaum bewegt. Abhängig von ih- rer Nationalität erhalten die Flüchtlinge in Moria eine vorübergehende Aufenthalts- genehmigung, sechs Monate für Syrer, ein Monat für alle anderen. Danach nehmen sie die Fähre nach Piräus und reisen nach Norden, also: alles wie immer. Es sei eine hoffnungslose Schlacht, die sie hier führten, sagt Dimitris Amountzias, der Chef der Polizei in Moria. „Trotz der Kälte haben wir im Dezember mehr Flüchtlinge registriert als im August. Ich HeißeLuft Griechenland Die Hotspots sollen den Flüchtlingsstrom stoppen, doch geändert hat sich dadurch auf der Insel Lesbos bisher nichts. GIORGOSCHRISTIDES/DERSPIEGEL Wartende in Moria
  • 20. 20 DER SPIEGEL 4/2016 M eine überraschende Liebe zu Angela Merkel begann mit zwei Bildern. Das eine ist eine Aufnahme von den Verhandlungen zum Minsker Friedensabkommen. Die Kanzlerin und der ukrainische Präsi- dent Poroschenko laufen mit Grabes- miene einen Korridor entlang, da- hinter der feixende Putin und sein weißrussischer Kollege Lukaschenko. Putin glaubt, dass er gewonnen hat, das ist offensichtlich. Für ihn sieht es aus, als ob der Westen seiner Militär- macht in der Ukraine nichts entgegen- zusetzen hätte. Aber er liegt falsch. Im Schatten von Merkels Waf- fenstillstand setzen sich die Stär- ken des Westens durch, Soft Power, Wirtschaft, Kultur, Recht. Es ist ein fragiler Prozess, der immer wieder bedroht ist. Er wird sich über eine Genera- tion hinziehen. Aber die Menschen, die auf dem Maidan demonstrierten, werden in dem Land leben, für das sie un- ter der EU-Flagge gekämpft haben. Zurück in die russische Einflusssphäre werden sie nicht gehen. Auch auf dem anderen Bild ist eine EU-Flagge zu sehen. Sie wird von Flüchtlingen ge- schwenkt, die sich auf einer un- garischen Autobahn zu Fuß auf den Weg nach Westen gemacht haben. Es ist vom vergangenen Sommer. Diese Leute können wir nicht abweisen, dachte ich mir, als ich es sah. Das taten wir dann auch nicht. Es war der Be- ginn von dem, was einen Au- genblick lang aussah wie ein Sommermärchen und nun vor allem Flüchtlingskrise genannt wird. Ich habe noch nie in meinem Leben CDU gewählt. Ich bin ein ehemaliger Hausbesetzer, ich war „taz“-Redakteur, ich bin im- mer noch Mitherausgeber der linken Wochenzeitung „Jungle World“. Der deutsche Konservatismus und ich könnten nicht weiter voneinander ent- fernt sein. Trotzdem vertraue ich An- gela Merkel wie keinem Politiker, an den ich mich erinnern kann. Sie hat Fehler gemacht, wie sollte es auch an- ders sein. Aber sie hat sich in zwei ent- scheidenden Situationen menschlich verhalten, pragmatisch und prinzipien- fest. Das ist es, was ich von einem Poli- tiker erwarte. Die Welt ist unruhig geworden. Rie- sige Mengen Geld umkreisen den Globus, bilden Blasen, untergraben In- stitutionen. Die arabische Welt wird von einer tiefen Modernisierungskrise geschüttelt, es gibt Krieg, er wird so schnell nicht aufhören, Flüchtlinge kommen. Es ist unser Krieg, die Ameri- kaner interpretieren ihre globale Rolle neu. Europa und der Nahe Osten sind für sie weniger wichtig geworden. Was tun? Der Wunsch nach einer Welt, in der das Unwägbare draußen bleibt, ist verständlich. Aber dann muss man Grenzen errichten und Mauern bau- en und im Zweifelsfall auch bereit sein, Gewalt anzuwenden. Das ist das Modell Orbán. Oder man hält sich an das, was Europa in den vergangenen Jahrzehnten groß gemacht hat. Offenheit, Mensch- lichkeit, Kompromissfähigkeit. Angela Merkel hat sich diese Krisen nicht ausgesucht. Aber sie hat sie an- genommen. Sie hat nicht nur die Men- schen auf dem Maidan oder auf der Autobahn gesehen – sie hat auch ver- standen, was sie in uns sehen. In Europa, diesem glücklichen Kontinent. Dem versucht sie, gerecht zu werden. Wie all die Menschen, die Kleidung in Flüchtlingsunterkünften verteilen oder bei Behördengängen helfen. Es ist das Wesen solcher Krisen, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Dass ihre Bewältigung Zeit braucht, die man nicht hat. Dass Dinge schief- gehen, dass es Rückschläge gibt. Fast 900000 Menschen in einem halben Jahr aufzunehmen ist eine ungeheure Aufgabe. Aber es ist machbar. Wie angenehm ist es, eine Kanzlerin zu haben, die das auch weiß. Und es den Deut- schen erklärt, ihrer Partei, den kritischen Bürgern, sogar den Sternsingern, die neulich im Kanzleramt waren. Dass die Menschen kommen, so oder so. Dass Deutschland davon lebt, seine Waren in alle Welt zu ver- kaufen, dass wir die Grenzen auch deshalb nicht einfach schließen können. Vielleicht hat sie verstanden, dass diese Krise, und wie wir mit ihr um- gehen, der Anfang einer neuen Erzählung für dieses Land sein könnte. „Wir schaffen das“ ist einer der großen Politikersätze des 21. Jahrhunderts, ein deutsches „Yes we can“. Angela Merkel hat ihn gesagt, diese Frau, der immer wieder vorgeworfen wurde, ihr fehle die Gabe der öffentlichen Rede. 44 Brief- unterzeichner aus ihrer eigenen Fraktion verweigern ihr jetzt die Gefolgschaft? Ich nicht. Ich kann mich an Freunde meiner Eltern erinnern, die, es muss Anfang der Achtziger ge- wesen sein, über Helmut Schmidt sagten: guter Mann, lei- der in der falschen Partei. So ist es nun wieder. Angela Merkel: große Kanzle- rin, leider in der falschen Partei. Nützt es ihr was? Für jeden wie mich, den Merkel gewinnt, verliert sie wahr- scheinlich fünf Stammwähler. Und ob sie mich wirklich gewonnen hat, ist auch keine ausgemachte Sache: Wäh- len müsste ich ja ihre Partei. Aber Liebe ist ein egoistisches Gefühl. Viele Jahre lang war sie mir gleich, jetzt ist Angela Merkel meine Kanzlerin. Esistmachbar Wie ich die neue Angela Merkel schätzen lernte. Von Tobias Rapp MICHAELGOTTSCHALK/PHOTOTHEK.NET Über Helmut Schmidt hieß es: guter Mann, falsche Partei. So ist es wieder: große Kanzlerin, falsche Partei. Titel
  • 21. 21DER SPIEGEL 4/2016 E in Kollege berichtete von den Grünen, dass sie dort jeden Tag eine Kerze aufstellen, damit der Herrgott seine Hand über die Kanzle- rin halte. Wer nicht an Gott glaubt, wendet sich an Buddha oder einen der Schutzheiligen aus dem Reich der Veganer. In jedem Fall ist man wegen der Angriffe aus der Union in großer Sorge um Angela Merkel. Wenn die Grünen für die Kanzlerin beten, ist das für mich ein sicheres Zeichen, dass etwas schiefläuft. Ich kenne viele nette Leute bei den Grü- nen, aber sobald sie politisch aktiv werden, ist Vorsicht geboten. Das mag etwas vereinfacht klingen, aber als Faustregel hat es sich bewährt. Was Leute, die fest im rot- grünen Lager stehen, heute an der Kanzlerin bewundern, ist genau das, was mich an ihr zweifeln lässt. Bislang sah ich Angela Merkel immer als je- manden, der die Dinge kühl betrachtet und sich nicht von Sentimentalitäten leiten lässt. Man kennt den Typus aus amerikanischen TV-Serien: sozial eher zurückhaltend, kein großer Smalltalker, aber ein Ass, wenn es darum geht, die Dinge in Sekundenschnel- le zu durchdringen. So wie Carrie, die unbestechliche „Homeland“-Heldin. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass aus Carrie mal eine Idea- listin werden würde. In Journalistenkreisen kam Merkel mit ihrem No-Non- sense-Stil nie gut an. Journa- listen lieben die große Idee und den flammenden Auftritt. Ihr großes Vorbild ist Willy Brandt und sein Kampf für die Ostverträge. Über Merkel hieß es, sie führe das Land in ein neues Biedermeier. Ich habe nichts gegen Biedermeier. Wenn die Kolle- gen schrieben, die Politik der Kanzle- rin sei blutleer und kraftlos, musste ich innerlich lächeln. Die Flüchtlingskrise ist für viele Sympathisanten von Rot-Grün so et- was wie ihre Ostpolitik. Endlich gibt es wieder ein Projekt, für das es sich zu streiten lohnt. Dabei wird überse- hen, dass schon der damalige Einsatz nicht so glanzvoll verlief, wie es die Teilnehmer in Erinnerung haben. Was als Wandel durch Annäherung begann, um den Ostblock zu destabilisieren, endete als milliardenschweres Stüt- zungsprogramm. Dass der Kommunis- mus dann doch in die Knie ging, hat wenig mit Willy Brandt zu tun und ganz viel mit Ronald Reagan, der nie viel von Wandel durch Annäherung hielt. No-Nonsense eben. In einer Konferenz wurde neulich die Frage diskutiert, wie Integration gelingen könnte. Meine Antwort wäre: Die Grundvoraussetzung dafür ist, dass das Wort Grenze wieder an Be- deutung gewinnt. Wenn man nicht ein- mal dafür sorgen kann, dass die Leute, die bereits hier sind, anständig ver- sorgt werden, macht es wenig Sinn, ständig neue Leute ins Land zu lassen. Nur ein Beispiel: Der Hamburger Bür- gerschaftsabgeordnete Dennis Gladia- tor hat vor Kurzem vom Senat seiner Stadt Auskunft über Polizeieinsätze in Erstaufnahmeeinrichtungen verlangt. Der Senat listete darauf für das ver- gangene Jahr 2000 Polizeieinsätze auf. Mal mussten die Beamten mit 2 oder 3 Wagen anrücken, mal mit 27. Was im- mer die Gründe dafür sein mögen, dass es in den Unterkünften hoch her- geht: Mir zeigt die Zahl, dass wir uns schon jetzt übernommen haben. Ich fand von Anfang an die bayeri- sche Haltung überzeugend. Politisch kämpft man dort aus mir einsichtigen Gründen für eine Begrenzung der Zahl der Asylsuchenden. Aber den Leuten, die bereits im Land sind, wird mit Herz und Verstand geholfen. Tatsächlich ist Bayern, was die Flüchtlingshilfe an- geht, ein Vorbild in Deutschland. Selbst die traditionell CSU- feindlich eingestellte „Süd- deutsche Zeitung“ musste neu- lich anerkennen, dass man dankbar sein kann, dass die deutsche Außengrenze zu Österreich nicht in Berlin oder Nordrhein-Westfalen verläuft. Meine Chefredakteurin hat mich gefragt, ob ich nicht von Angela Merkel ent- täuscht sei. Enttäuschung ist nicht das richtige Wort. Um enttäuscht zu sein, muss man vorher jemandem innerlich verbunden gewesen sein. Ich habe nie an Merkel geglaubt, ich schätze einfach ordent- liches Handwerk. Wenn Mer- kel gefragt wurde, was sie an Deutschland liebe, war ihre Antwort: dass die Fens- ter so schön schließen. So hat sie auch regiert: vernünftig, mit einem wachen Gespür für Zugluft. Merkel verfolgt jetzt eben- falls eine große Idee. Diese Idee ist die Einheit in Europa. Sie ist der Meinung, dass alles verloren ist, wenn sie die Grenzen schließt. Dafür ist sie sogar bereit, die Kanzler- schaft zu riskieren. Das ist eh- renwert, aber es ist falsch, wie ich überzeugt bin. Das Europa, das sie be- wahren will, gibt es nicht mehr. Der Norden hat bereits dichtgemacht. Soll- ten die Flüchtlinge beschließen, dass es ihnen in Frankreich besser gefällt, wäre das die nächste Grenze, die sich schließt. Ich wünschte, Carrie würde zurück- kehren. Die Carrie aus der ersten Staf- fel, der man kein X für ein U vorma- chen konnte, nicht die aus der dritten. Carrie,kommzurück Warum ich die alte Angela Merkel vermisse. Von Jan Fleischhauer MICHAELGOTTSCHALK/PHOTOTHEK.NET Wenn die Kollegen schrieben, die Politik der Kanzlerin sei blutleer und kraftlos, musste ich innerlich lächeln.
  • 22. D ie großen Veränderungen kündigen sich manchmal ganz leise an. Jeden Donnerstag reden Vertreter der Länder, die an der Flüchtlingsroute über den Balkan liegen, in einer Videoschalte miteinander, um die aktuelle Lage zu be- sprechen. Gibt es genügend Unterkünfte in Griechenland? Reicht die Zahl der be- heizten Zelte in Kroatien? Viele organisa- torische Fragen, Verwaltungsvorgänge, fast schon Routine. Für Deutschland nimmt der europapoli- tische Berater der Bundeskanzlerin, Uwe Corsepius, an der Runde teil. Vergangenen Donnerstag teilten er und seine Kollegen aus Österreich und Slowenien mit, dass man erste Gespräche führe und unter an- derem nach Wegen suche, um die Grenze in Slowenien besser zu kontrollieren. Was so nichtssagend klang, war in Wirk- lichkeit die Ankündigung eines Strategie- wechsels in der deutschen Flüchtlingspoli- tik. Angela Merkel hält daran fest, dass die Krise europäisch gelöst werden soll. Nur die Frage, was eine „europäische Lösung“ ist, wird mittlerweile in Berlin an- ders als früher beantwortet. Bislang war die offizielle deutsche Linie, dass die Flüchtlinge an der Außengrenze der Europäischen Union in Griechenland und Italien aufgehalten werden sollten. Vorgesehen war, sie in großen Aufnahme- zentren, den sogenannten Hotspots, zu re- gistrieren und über eine mögliche Vertei- lung zu entscheiden. An diesem Plan hält Merkel nach eigenen Worten fest. Das Problem ist nur, dass die Einrich- tung dieser Hotspots nur zäh vorankommt. Vor allem Griechenland, über das derzeit die meisten Flüchtlinge in die EU ein- reisen, hält seine Verpflichtungen nicht ein. Deshalb ist auch die Zahl der Flücht- linge in Deutschland nicht so gesunken, dass der politische Druck auf Merkel nach- ließe. Im Gegenteil: Mit ihrer Ankündigung, eine Obergrenze für Flüchtlinge einzufüh- ren, hat die österreichische Regierung die Kanzlerin weiter in die Defensive gebracht. Die Sache sei „nicht hilfreich“, räumte Merkel am Mittwoch vor CSU-Landtags- abgeordneten in Wildbad Kreuth ein. Weil die Zahl der europäischen Ver- bündeten sinkt, arbeiten die Experten im Kanzleramt nun an einem Plan B, den vor allem die CSU lautstark fordert. Offiziell dementiert Merkel, dass es einen solchen Plan gibt. Es soll nicht so aussehen, als sei sie vor CSU-Chef Horst Seehofer einge- knickt. Vorangetrieben wird er trotzdem, und er sieht anders aus, als ihn sich die CSU vorstellt. Eine Obergrenze und strikte Kontrollen an der deutschen Grenze, wie Seehofer sie fordert, lehnt die Kanzlerin nach wie vor ab, auch weil sie ein Ende der Reise- freiheit im Schengenraum fürchtet, jenem Verbund von Ländern also, die sich vor Jahren in der luxemburgischen Gemeinde Schengen auf gemeinsame Außengrenzen verständigt hatten. Aber es gibt möglicher- weise eine elegantere Lösung, die zuerst von der Regierung in Österreich ins Spiel gebracht wurde. Slowenien spielt dabei eine Schlüsselrol- le, weil es nach Griechenland das erste Land auf der Westbalkanroute ist, das eine Schen- gen-Außengrenze besitzt. Dort sollen Mi- granten aus Afghanistan, Pakistan und Nord- afrika aufgehalten werden, die sich ver- stärkt über den Westbalkan nach Deutsch- land aufmachen, aber kaum Chancen auf Schutz haben. Schengen würde ein Stück weiter nach Norden verlegt. Die Binnen- grenzen in Europa könnten offen bleiben. Von den 1,83 Millionen Flüchtlingen, die laut EU-Grenzschutzagentur Frontex 2015 nach Europa kamen, stammen 227000 aus Afghanistan. Die Zahl der Nordafrikaner liegt weit darunter, allerdings stellten 22 DER SPIEGEL 4/2016 OperationBugwelle Flüchtlingskrise Offiziell sucht die Bundesregierung weiter nach einer europäischen Lösung. Intern aber wird längst überlegt, die Zahl der Schutzsuchenden auf andere Weise zu verringern. DANIELBISKUP/LAIF Flüchtlinge und Polizisten an der kroatisch-slowenischen Grenze: „Leidensdruck erhöhen“
  • 23. Titel deutsche Behörden in den vergangenen Wochen einen deutlichen Anstieg der Zahl von Flüchtlingen aus den Maghreb-Staaten Algerien oder Marokko fest. Die meisten von ihnen haben keine Aus- sicht auf Asyl. Mit der Rückverlagerung der Schengen-Außengrenze nach Slowe- nien könnte verhindert werden, dass sie bis nach Deutschland gelangen. Um die heiklen rechtlichen Fragen, so die unaus- gesprochene Hoffnung in Berlin, werde in Slowenien möglicherweise weniger Auf- hebens gemacht als in Deutschland. Ob die Beamten an der slowenischen Grenze Asylsuchende einfach zurückwei- sen könnten, sei offen, sagt der Konstanzer Europarechtler Daniel Thym. Dies sei ein „rechtlicher Graubereich“. Es entspreche sicher „nicht der ursprünglichen Idee des Dublin-Systems“, man könne sich aber „rechtliche Konstruktionen überlegen, mit denen das gehen könnte“. Der Plan klingt auf den ersten Blick gut, hat aber zahlreiche Fehler, wie man in Berlin weiß. Slowenien wird die Aufgabe, viele Flüchtlinge zu kontrollieren, kaum allein bewältigen können. Bislang sind un- gefähr zehn Polizisten der Bundespolizei an der slowenischen Grenze im Einsatz, sie beraten ihre Kollegen, an Grenzkon- trollen sind sie nicht beteiligt. Noch liegt keine weitere Anfrage vor. Es ist unklar, ob die Regierung in Lju- bljana überhaupt dazu bereit ist, sich helfen zu lassen. Wie eine Grenzkooperation aus- sehen würde, ist offen. Österreich, das mit dieser Idee vor einigen Wochen an die Bun- desregierung herangetreten war, habe bis- lang keine konkreten Vorschläge gemacht, heißt es im Bundesinnenministerium. Das liegt möglicherweise daran, dass die Auffassungen darüber, wie die Grenze kon- trolliert werden soll, in Berlin und Wien auseinandergehen. Bundesregierung und EU-Kommission wollen Griechenland und die Nachbarländer Sloweniens nicht desta- bilisieren. „Länder wie Serbien dürfen nicht zum Parkplatz für Zehntausende Flüchtlinge werden, wenn sie nicht mehr weiterkommen“, sagt EU-Erweiterungs- kommissar Johannes Hahn. „Es geht da- rum, die Bugwelle umzudrehen, ohne dass Chaos auf dem Balkan ausbricht“, heißt es an anderer Stelle in der Kommission. Zumindest Teile der österreichischen Regierung sehen das anders. Ein Rückstau werde den „Leidensdruck“ für eine ge- samteuropäische Lösung erhöhen, sagt Außenminister Sebastian Kurz nach der Entscheidung über die Obergrenze. In der CSU hat dieses Vorgehen Anhänger. „Wenn Griechenland seine Außengrenze nicht besser sichern kann, besteht die Ge- fahr, dass eine vorübergehende Auszeit aus dem Schengenraum für das Land leider näherrückt“, sagt der Chef der EVP-Frak- tion im Europaparlament, Manfred Weber. Die Bundesregierung will behutsamer vorgehen. „Wir können kein Interesse da- ran haben, dass sich durch einen Rückstau der Flüchtlinge die Lage im Westbalkan und in Griechenland zunehmend ver- schlechtert“, sagt der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth. Ohne ein koordiniertes Vorgehen zwi- schen Wien und Berlin wird der Plan B kaum Erfolg haben. Die Ankündigung Österreichs, eine Obergrenze für Flüchtlinge einzuführen, hat die Chance dafür nicht erhöht. In der Umgebung Merkels nennt man die Pläne „grotesk“. Obwohl die Österreicher betonen, Berlin über Details ihrer Obergrenze infor- miert zu haben, weiß in Berlin niemand, was mit den Migranten geschieht, die darüber hinaus kommen. Im österreichischen Außen- ministerium schließt man nicht aus, dass sie dann einfach ins Nachbarland durchgewinkt werden. Slowenien macht dies bereits vor. Am Donnerstag kündigte die Regierung an, künftig nur noch solche Flüchtlinge ins Land zu lassen, die in Deutschland oder Österreich um Asyl bitten wollen. Einig ist man sich immerhin darüber, dass die Maghreb-Staaten abgelehnte Asylbe- werber schneller wieder zurücknehmen sol- len. Zu diesem Zweck will Deutschland künftig den Botschaften dieser Länder in Berlin helfen, die Herkunft der Flüchtlinge festzustellen. Da sie oft keine Papiere ha- ben, sollen sie mit sogenannten EU-Lais- sez-passer-Dokumenten ausgestattet wer- den, damit sie leichter ausgeflogen werden können. „Das bisherige mehrphasige Rück- kehr-Verfahren ist zu schwerfällig“, schrei- ben Außenminister Frank-Walter Steinmei- er (SPD) und Innenminister Thomas de Mai- zière (CDU) an ihre Amtskollegen in Nord- afrika. Für Wohlverhalten stellen die Deut- schen in ihrem Brief Belohnung in Aussicht. Und falls all das nicht hilft? Dann wird es am Ende möglicherweise doch zu massenhaften Zurückweisungen von Asyl- suchenden an der deutschen Grenze kommen. Bei ihrem Besuch vor den CSU- Landtagsabgeordneten in Wildbad Kreuth bezeichnete Merkel eine solche Lösung als Ultima Ratio, als letztes Mittel. Ob die deutsche Polizei einen entspre- chenden Befehl umsetzen darf, ist rechtlich umstritten. In einer internen Analyse halten Bundesinnenministerium und Bun- desjustizministerium zunächst fest, dass jeder EU-Mitgliedstaat nach der Dublin- III-Verordnung das Recht habe, einen Schutzsuchenden in einen sogenannten sicheren Drittstaat zurückzuweisen. Un- klar sei aber, ob formal auch ein EU- Mitgliedstaat als „sicherer Drittstaat“ gel- ten könne. Dies sei „mit rechtlichen Ri- siken behaftet“, heißt es. Es erscheine aber vertretbar. Außerdem ergebe sich aus dem „derzei- tigen Systemversagen des europäischen (Außen-)Grenzschutz- und Asylsystems“ mit der „Durchleitung von Tausenden Schutzsuchenden an die deutsche Grenze“ eine „fundamental neue Situation“, die ein Vorgehen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eröffne, so das Papier. Entschei- den müsste am Ende aber die Politik. „Man kann versuchen, eine solche Zu- rückweisung von Flüchtlingen an einer EU-Binnengrenze zu rechtfertigen“, sagt Rechtsprofessor Thym. Ob das vor den Gerichten Bestand hätte, stehe nicht fest. Allerdings, so Thym, befinde sich Deutsch- land „gegenwärtig in einer politischen Situation, wo man sich um das Recht nur noch am Rande kümmert“. Dietmar Hipp, Peter Müller, Ralf Neukirch, Christoph Schult 23DER SPIEGEL 4/2016 EU-Staaten, die Schengen vollständig anwenden EU-Staaten, die nicht dem Schengenraum angehören Nicht-EU-Staaten, die Schengen anwenden Von Deutschland zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt*Wiedereinführung von Grenzkontrollen an Binnengrenzen Hauptfluchtroute Grenzkontrollen im Schengenraum *2014: Bosnien-Herzegowina, Serbien, Mazedonien, seit Okt. 2015: Albanien, Kosovo, Montenegro FRANKREICH TSCHECHIEN SLOWAKEI UNGARN ÖSTERREICH ITALIEN RUMÄNIEN BULGARIEN KROATIEN SLOWENIEN GRIECHENLAND TÜRKEI MAZEDONIEN SERBIEN DEUTSCHLAND POLEN verstärkte Grenzkontrollen teilweise Grenzzäune
  • 24. Flüchtlinge Klage gegen Merkel Eine Gruppe von Rechtsan- wälten hat in Karlsruhe Ver- fassungsbeschwerde gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung eingereicht. In dem Schriftsatz rügen die sechs Kläger eine Verletzung ihres Wahlrechts und ihres Anspruchs auf Teilhabe an der demokratischen Willens- bildung. Das Gericht solle Angela Merkels Entscheidung vom 4. September 2015 über die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge für verfassungs- widrig erklären. Grundgesetz- widrig sei zudem, dass Mer- kel es unterlassen habe, das Dublin-III-Abkommen sowie die deutschen Asyl- und Auf- enthaltsregeln umzusetzen. „Die Bundeskanzlerin darf mit ihrer Politik nicht den Rahmen der Gesetze verlas- sen, den die Wähler ihr durch das Parlament vorgegeben haben“, sagt der Verfasser der Beschwerde, der Düssel- dorfer Anwalt Clemens Ant- weiler. Merkel sei insofern eine „Wiederholungstäterin“: Schon bei der Energiewende oder der Eurorettung habe sie sich nicht an die eindeuti- gen Vorgaben europäischer und deutscher Gesetze gehalten. ama Parlament Folgenlose Sünden Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) schont die Bundestagsfraktionen trotz er- drückender Beweise, dass sie in großem Stil Steuergelder missbraucht haben. Der Bun- desrechnungshof hatte in 67 Fällen PR-Maßnahmen der Fraktionen beanstandet (SPIEGEL 18/2015). Diese hat- ten Steuermittel für Werbe- broschüren, Reisen oder Zei- tungsanzeigen eingesetzt, was mit ihrer Parlaments- arbeit häufig nichts zu tun hatte. Trotzdem konnte sich Lammerts Behörde nur in kleineren Fällen zu einer Stra- fe durchringen: Die Bundes- tagsverwaltung wertete zwei Sommerreisen der SPD-Frak- tion als unzulässige Partei- spende und stellte einen Sank- tionsbescheid in Höhe von 3496,80 Euro aus. Weitere Verstöße seien nicht geahndet worden, sagte ein Sprecher des Bundestags. Mehrere Ak- tionen seien durch die Zehn- Jahres-Frist verjährt. Auffällig ist, wie viel Zeit sich die Rechnungsprüfer ließen. Sie brauchten fast zehn Jahre. Anschließend dauerte es noch einmal rund zwei Jahre, bis Lammerts Beamte den Vor- gang abschlossen. srö, sve 24 DER SPIEGEL 4/2016 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel Verteidigung „Tornados“weiter nachtblind Nachrüstung der Cockpitbeleuchtung dauert länger als angekündigt. Die über Syrien eingesetzten Luftwaffen-„Tornados“ werden wohl noch längere Zeit nachts nicht fliegen können. Derzeit müssen die Maschinen bei Dunkelheit am Boden bleiben, weil die mit Nachtsichtbrillen ausgestatteten Piloten durch die rote Diodenbeleuchtung des Cockpits geblendet würden. Moderne, für Nachteinsätze geeignete Leuchtmittel hat die Luftwaffe von einem eigenen Instandhaltungsbetrieb zwar entwickeln lassen, aber keine Zulassung erwirkt. Intern rech- net man deshalb nicht damit, dass ein Austausch der Be- leuchtung so schnell zu bewerkstelligen ist, dass im Februar das Problem behoben ist, wie das Verteidigungsministerium angekündigt hatte. Dabei hätte die Bundeswehr durchaus Zeit gehabt, auf das technische Problem der „Tornados“ zu reagieren – es ist seit dem Kosovokrieg 1999 bekannt. Im Afghanistaneinsatz ab April 2007 halfen sich die Piloten mit Pappe, was allerdings den Vorschriften widersprach. gt FALKBÄRWALD/DPA „Tornado“ in Incirlik
  • 25. Finanzausgleich Länderlösung auf Bundeskosten Die von den Ministerpräsi- denten angestrebte Reform des Finanzausgleichs zwi- schen Bund und Ländern stößt auf erbitterten Wider- stand der Regierungsfrak- tionen von Union und SPD. „Das von den Ländern vor- gelegte Konzept löst kein einziges Problem“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestags- fraktion Ralph Brinkhaus. „Wenn die Große Koalition den Finanzausgleich refor- miert, muss auch etwas Gro- ßes dabei rauskommen, das System muss also transparen- ter und einfacher werden.“ Das sieht SPD-Fraktionsvize Carsten Schneider genauso: „Es kann nicht sein, dass die Länder untereinander die Solidarität aufkündigen und der Bund dafür dauerhaft einspringen soll.“ Brinkhaus und Schneider wollen, dass der Bund im Gegenzug für eine Zustimmung zur Reform mehr Macht erhält. „Wir müssen etwa in der Steuer- verwaltung zusätzliche Kom- petenzen beim Bund zen- tralisieren, auch um einen gerechteren Steuervollzug zu erreichen“, so Schneider. Im Dezember hatten sich die Ministerpräsidenten ein- stimmig auf ein Konzept für eine Finanzreform ver- ständigt, bei der alle 16 Länder gegenüber dem heu- tigen System bessergestellt wären, der Bund aber pro Jahr rund zehn Milliarden Euro draufzahlen müsste. In der kommenden Woche treffen sich die Regierungs- chefs der Länder mit Bun- deskanzlerin Angela Merkel (CDU). Dabei soll es auch um den Finanzausgleich gehen. böl Strafvollzug „Sehr gnädig“ Die Zahl der Strafgefange- nen, die nur die Hälfte ihrer Freiheitsstrafe absitzen muss- ten, ist äußerst gering. Das zeigen Stichtagserhebungen des Statistischen Bundesamts aus den beiden vergangenen Jahren: Nur etwa zwei Pro- zent aller nach Erwachsenen- strafrecht verurteilten und per Gerichtsbeschluss vorzei- tig aus der Haft entlassenen Gefangenen kommen in den Genuss derselben Vorschrift wie Fußballmanager Uli Hoeneß. Das Strafgesetzbuch lässt eine solche Strafausset- zung nur bei günstiger Rück- fallprognose und bei Vorlie- gen „besonderer Umstände“ zu. Was das Landgericht Augsburg zur Begründung im Fall Hoeneß ausgeführt habe, seien aber „im Grunde alles ganz normale Dinge“, die in anderen Fällen nur eine Entlassung nach Verbü- ßung von zwei Dritteln der Haftstrafe rechtfertigen wür- den, so der Tübinger Straf- rechtsprofessor Jörg Kinzig. Aspekte, die zulasten Hoe- neß gingen, hätte das Gericht zumindest „nicht offenge- legt“. Die angekündigte Ent- lassung von Hoeneß, so Kinzig, sei deshalb „sehr gnädig“. Die Staatsanwalt- schaft München II könnte gegen den Entlassungs- beschluss allerdings noch bis Montag Beschwerde ein- legen. hip Justiz Union gegen Maas Die geplante Konferenz von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) zum Thema rechtsextreme Gewalt stößt auf Widerstand bei den Lan- desministern von CDU und CSU. Sie fordern, Inhalt und Termin zu ändern. Zwar sei rechte Gewalt „unerträglich“, schreibt Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) in einem Brief an Maas. Man müsse aber auch die „rassisti- sche Gewalt im Migranten- milieu“ behandeln, vor allem gegen jüdische Bürger. Ähn- lich sieht es Hessens Justizmi- nisterin Eva Kühne-Hörmann (CDU): „Während die Bundes- republik sich über die Folgen der Silvesternacht in Köln Gedanken macht, nutzt Herr Maas den Justizgipfel leider nicht, um diese Thematik zu besprechen.“ Die Minister aus Bayern, Mecklenburg-Vor- pommern und Sachsen fordern ebenfalls, nicht bloß rechts- extreme Gewalt zu diskutieren. Die Unionspolitiker halten zudem den Konferenztermin drei Tage vor Landtagswahlen in drei Bundesländern für un- glücklich: Im „Wahlkampfgetö- se“ sei ein „überparteilicher Konsens“ kaum erreichbar, so Heilmann. ama 25DER SPIEGEL 4/2016 Deutschlandinvestigativ Lobbyismus Zigarettenindustrie sperrt sich Die deutsche Tabakindustrie versucht, den ab Mai geplan- ten Abdruck von Schockbil- dern auf Zigarettenpackungen zu verzögern. Eine Reihe gro- ßer Hersteller argumentiert, dass die Zeit nicht ausreiche, um die technischen Vorausset- zungen für die Umstellung zu schaffen. Das Gesetz soll am kommenden Freitag im Bun- desrat diskutiert werden. Die Lobbyisten werfen dem zu- ständigen Ernährungsminister Christian Schmidt (CSU) vor, den Entwurf zu spät vorgelegt zu haben. Vor allem Hamburg drängt nun auf eine Verschie- bung, dort haben nicht nur die Konzerne Imperial (Davidoff, Gauloises) und Bri- tish American Tobacco (Lucky Strike) wichtige Stand- orte, dort sitzt auch der Ziga- rettenmaschinenhersteller Hauni. Weltmarktführer Phi- lip Morris (Marlboro) hatte zunächst ebenfalls gegen die Umsetzung der vor zwei Jah- ren verabschiedeten Tabak- richtlinie argumentiert, die ab dem 20. Mai EU-weit Abbil- dungen von beispielsweise Krebsgeschwülsten vor- schreibt. Später lenkte der US-Konzern ein. csc, pau LACKOVIC/IMAGO Hoeneß NSU-Prozess „Vollkommen verrückt“ Der ehemalige sächsische Neonazi-Aktivist Jan W. hat den jüngsten Aussagen der Hauptangeklagten im Münch- ner NSU-Prozess, Beate Zschäpe, widersprochen. Die mutmaßliche Rechtsterroris- tin hatte am Donnerstag vor Gericht erklären lassen, W. habe ihren Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos einst eine Pistole in den Un- tergrund geliefert; auch von einem Schalldämpfer sei da- mals die Rede gewesen. Das habe ihr Böhnhardt erzählt. W. wies diese Behauptung nun zurück. Er sagte dem SPIEGEL, er habe „nie eine Waffe besessen, geschweige denn an die drei weitergege- ben“. Er kenne Zschäpe über- haupt nicht. Ihre Aussage sei „vollkommen verrückt“. Jan W. ist einer von insgesamt 14 Beschuldigten im NSU-Er- mittlungskomplex; 5 von ih- nen stehen derzeit in Mün- chen vor Gericht – W. gehört nicht dazu. mba, srö SEBASTIANWIDMANN/IMAGO Zschäpe
  • 26. Hass im Netz „Facebook darf kein Zensor werden“ Gesche Joost, 41, Digitale Botschaf- terin der Bundes- regierung, über die „Initiative für Zivilcourage On- line“ von Face- book gegen Hassbotschaften im Netz. Facebook setzt auf die Hilfe von NGOs und auf De- batten seiner Nutzer. SPIEGEL: Frau Joost, was hal- ten Sie von den Facebook- Plänen? Joost: Die Details sind sehr vage, und die Investition von nur einer Million Euro für ei- nen Milliardenkonzern wie Facebook eine überschauba- re Summe. Da das Geld noch dazu vor allem in die Ver- marktung der Initiative zu fließen scheint, riecht das Vorhaben für mich sehr nach einer PR-Aktion. SPIEGEL: Facebook will Hass- posts lieber nicht löschen, sondern mit sogenannter counter speech bekämpfen; die Nutzer sollen dagegen- halten. Kann das klappen? Joost: Facebook hat recht mit der These, dass der Hass nicht aus der Welt ist, bloß weil Hassbotschaften ge- löscht werden. Ich selbst habe lange an die Selbstrei- nigungskräfte des Internets geglaubt. Aber inzwischen bezweifle ich, dass das ge- nügt. Im Internet radikalisie- ren sich Menschen leichter, und die sozialen Netzwerke wirken wie Verstärker ihres Hasses. Man darf das nicht laufen lassen oder das Pro- blem nur den Nutzern auf- bürden. SPIEGEL: Wer soll der Entwick- lung dann Einhalt gebieten? Joost: Ich sehe den Staat und Facebook gleichermaßen in der Pflicht. Staatsanwälte ha- ben die Aufgabe, rechtswidri- ge Inhalte zu verfolgen. Aber bei einer millionenfach genutzten Plattform schaffen sie das nicht allein. Die Machtverhältnisse haben sich so stark zugunsten von Unternehmen wie Facebook verschoben, dass der Kon- zern auch in der Verantwor- tung steht, diese Inhalte zu sanktionieren. Facebook muss seinen Laden eben auch selbst sauber halten. SPIEGEL: Noch bedeutet Face- books Idee von Sauberkeit, vor allem nackte Brüste zu tilgen. Aber zurzeit werden neue Kontrolleure einge- stellt. Werden sie auch poli- tisch missliebige Kommen- tare löschen? Joost: Facebook darf keine Zensurbehörde werden. Im Zweifel sollte man sich im- mer gegen eine Löschung von Meinungen entscheiden. Aber ich erwarte, dass Face- book effektiv die Inhalte in seinem Netzwerk beobachtet. Der Konzern sollte mithilfe von Vertretern seiner Com- munity, zum Beispiel in Nut- zerpanels, Standards für den Umgang mit rechtmäßigen, aber problematischen Inhal- ten entwickeln. SPIEGEL: In Deutschland und den USA gelten sehr unter- schiedliche Regeln, was man sagen darf. Joost: Maßstab müssen schon die Werte unserer westeuro- päischen Debattenkultur sein. Wir dürfen erwarten, dass nicht nach dem Prinzip der sogenannten politischen Kor- rektheit auch freche Sprüche getilgt werden. Aber was der- zeit gegen fremdenfeindliche Kommentare getan wird, reicht eindeutig nicht aus. ama 26 DER SPIEGEL 4/2016 Deutschland investigativ Faktencheck der SPIEGEL-Dokumentation Nachrichtensperre? DAS PROBLEM Die einen sind stolz auf die Pressefrei- heit im Lande, die anderen erkennen „Schweigekar- telle“. Zu Letzteren gesellte sich kürzlich der ehemali- ge Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Anlass war die zögerliche Berichterstattung vor allem der öffentlich-rechtlichen Medien über die Ereignisse zu Silvester in Köln. Friedrich: Sobald es um Vorwürfe gegen Ausländer gehe, greife offenbar eine „Nachrichtensperre“. FÜR UND WIDER In der Silvesternacht kam es am Kölner Hauptbahnhof zu Hunderten von sexuellen Übergrif- fen. Dennoch sprach die Polizei zunächst von fried- lichen Feiern – dpa tickerte: „Feuerwerk wie immer“. Grund für eine Schlagzeile? Beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ meldete sich derweil ein erstes Opfer, eine junge Frau. Die Redaktion berich- tete online noch am Neujahrstag, tags darauf auch der WDR. Am Samstag, dem 2. Januar, informierte die Köl- ner Polizei über die Einrichtung einer Ermittlungsgrup- pe. Mittlerweile waren rund 30 Strafanzeigen eingegan- gen. Die Täter hätten ein „nordafrikanisches Aussehen“ gehabt, hieß es. Sonntag griff der dpa-Landesdienst den Fall kurz auf, wusste von fünf festgenommenen Perso- nen, die Frauen bedrängt und Reisende bestohlen ha- ben sollen, verschwieg aber den möglichen Migrations- hintergrund der Beschuldigten. Auch das war noch nicht wirklich überregional interessant. Dann gab Kölns Polizeichef eine Pressekonferenz. Die Rede war von „Straftaten einer völlig neuen Di- mension“. Oberbürgermeisterin Henriette Reker nann- te die Vorfälle „ungeheuerlich“. Das war am Montag, dem 4. Januar. Hatten überregionale Medien bisher kaum über die Kölner Geschehnisse informiert, änderte sich das nun schlagartig. Als Friedrich dann am Mittwoch, dem 6. Januar, laut- hals ein „Schweigekartell“ beklagte, hatte sich bereits ein wahrer Meldungs-Tsunami aufgebaut. Bis zum 15. Januar registrierte das SPIEGEL-Archiv den Eingang von über 2400 Artikeln mit Bezug auf die Vorfälle in Köln. Die Münchner Terrorwarnung zu Silvester brach- te es bis dahin auf gerade mal 160 Artikel. FAZIT Die großen Medien hätten trotz der Feiertage vielleicht ein bis zwei Tage schneller sein können. Aber deshalb von einer Nachrichtensperre zu sprechen ist Unsinn. Hauke Janssen 50 150 250 350 1. Jan. 2. 4. 6. 8. 10. 12. 14. Artikel zu Silvestervorfällen Quelle: SPIEGEL-Archiv Übergriffe in Köln Terrorwarnung in MünchenMigration Dialog über Werte Angesichts anhaltender Zu- wanderung wird im Bundes- innenministerium Anfang Februar ein neuer Stab „Ge- sellschaftlicher Zusammen- halt und Integration“ einge- richtet. Ihm unterstehen sie- ben Referate mit 45 Mitarbei- tern. Dazu gehört auch ein neues Referat, das sich insbe- sondere mit der „Vernetzung der politischen Zielsetzun- gen der Bundesregierung“ und einem „Wertedialog“ be- schäftigen soll. aul UTEGRABOWSKY
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