2. Inhalt
Zu Land, zur Luft und auf der See 3
Ideologie und Terror 8
Der Krieg kehrt heim 12
Der Blick zurück 14
Sowas kommt von sowas! 16
V.i.S.d.P.: Maren Fleischer, Ulmenstr. 12, 18057 Rostock
3. 3
Zu Land, zur Luft und auf der See
Die „Seestadt Rostock“ im Zeichen der nationalsozialistischen Kriegsproduktion
Wer heute so gerne und mit der eigenen Stadtgeschichte zu
leidenschaftlicher Inbrunst die begegnen, bedarf es der Verge-
Geschichte des Luftkrieges und genwärtigung, dass Rostock, wie
der Bombardierung deutscher viele andere Großstädte, ein Zen-
Städte erzählt, redet nur ungern trum der deutschen Rüstungs-
über die Ursachen und Gründe. industrie war. Hier wurden die
Stattdessen kommt die Bombar- Mordwerkzeuge hergestellt, mit
dierung in ihrer bevorzugten denen sich die Deutschen Europa
Erzählung zumeist als inferna- zum Untertan machen wollten.
lische Katastrophe buchstäblich Dies trifft insbesondere auf Ros-
aus dem heiteren Himmel. Aus tock zu, dessen neuere Geschich-
dem Nichts. Der Charakter der te untrennbar mit dem Namen
getroffenen Stadt wird in über- „Heinkel“ verbunden ist. Noch
schwänglichen Zügen wahl- heute gibt man unverwunden
weise als „historisch“, „archi- zu:
tektonisch wertvoll“, „kulturell „Die Firma brachte Rostock
bedeutend“, „mittelalterlich“,
und Warnemünde in der ersten
„schön“, „bezaubernd“ oder gar
Hälfte des 20. Jahrhunderts
als „friedlich“ beschrieben. Um
dieser selektiven Wahrnehmung den endgültigen Durchbruch in
4. 4
Sachen Industrialisierung. Rostock Doch bei architektonischen
wurde moderne Großstadt und Unverschämtheiten im Einheits-
look des roten Backsteins blieb es
Hochtechnologie-Standort.“ 1
leider nicht. Die gesamtgesell-
Und nur hierzulande verstehen
schaftliche Gleichschaltung war
es die Protagonist_innen dieser
bei den Nazis systemimmanent,
neuen deutschen Geschichts-
so dass über kurz oder lang das
schreibung als keinen Wider-
ganze Stadtleben, gemäß der
spruch, sich mit dem Charme
staatstragenden Ideologie, auf
stotternder Heimatkundeleh-
den einen Zweck ausgerichtet
rer_innen der vielen Vorzüge
wurde, der für die Nationalsozia-
und modernen Lebensaspekte zu
list_innen der Sinn allen Daseins
rühmen, die durch den „Wehr-
war: der Kampf.
wirtschaftsführer Heinkel“ ins
Selbst sämtliche Freizeitak-
Stadtleben gebracht wurden,
tivitäten sollten, mal indirekt,
aber gleichzeitig nicht wahrha-
aber manchmal auch ganz offen-
ben zu wollen, dass der Aufbau
sichtlich, auf diese eine Bestim-
einer durchmilitarisierten Mord-
mung ausgerichtet werden. So
industrie auch genau das hervor-
gab es im neugebauten Hansa-
bringt: Mord, Elend und Krieg. Kino vorrangig Kriegsfilme und
„Zur Hebung der Gesundheit „Lehrmaterial“ über den ver-
und der Wehrkraft“ meintlichen „Erbfeind“ und im
So rühmt man sich bis heute eigens von den Heinkel-Werken
der vermeintlichen Wohltaten, gebauten „Heinkel-Stadion“ ir-
die die Ansiedlung der Großbe- gendwann nur noch Duelle zwi-
triebe nach sich zogen. Bis heu- schen Militärsportvereinen und
te zeugen ganze Stadtviertel in Betriebsmannschaften der Flug-
Warnemünde und im Rostocker zeugwerke. Der damalige Rosto-
Westen von den nationalsozi- cker Polizeipräsident und Sport-
alistischen Mustersiedlungen, kreisführer Hans-Eugen Sommer
die für die Arbeiter_innen der beschrieb für den Sport das, was
Kriegsbetriebe aus dem Boden in ähnlicher Form auch für alle
gestampft wurden. anderen Lebensbereiche galt:
1 Zitiert nach der „Ernst-Heinkel-Gedenk-
website“ - siehe: http://www.gedenkseiten.de/ernst-
heinkel/
5. 5
„[...] denn die Leibesübung ist im
nationalsozialistischen Staate Sache Diese Entwicklung geriet durch
den einsetzenden Krieg nicht
des ganzen Volkes, zur Hebung der
etwa ins Stocken, sondern im
Gesundheit und der Wehrkraft.“2 Gegenteil, sie wurde noch wei-
Selbst in der Universität Rostock ter intensiviert. Mit Beginn des
wurden nicht nur Bücher ver- Krieges wurden in steigender
brannt und jüdische Mitbürger_ Anzahl Zwangsarbeiter_innen,
innen rausgeworfen, sondern es Gefangene und KZ-Häftlinge zur
wurde auch fleißig im Sinne der Arbeit in den Rüstungsbetrieben
NS-Ideologie rationalisiert und gezwungen. Die verschiedenen
reformiert. Nonkonforme Fach- Großbetriebe Rostocks beschaff-
bereiche wie die Religionswis- ten sich so bis zum Ende des Krie-
senschaften wurden geschlos- ges mehrere tausend Arbeitskräf-
sen, und andere, wie etwa das te.
Institut zur „Erb- und Rassenfor-
Aus der Luft - In die Luft
schung“ oder (abermals auf Bit-
Ironischerweise kam das gro-
ten von Heinkel) das „Institut für
ße Unheil aus der gleichen Rich-
angewandte Mathematik und
tung, in der die Stadt jahre-
Mechanik“ extra eröffnet. Die
lang den Tod in die Welt hinaus
Bombenkonstrukteure von Mor-
schickte. Aus der Luft kamen die
gen mussten schließlich auch ir-
Bomben, die die nahende Befrei-
gendwo ausgebildet werden.
ung einläuteten und in die Luft
schickten die Rostocker_innen
ihre Bomber und Jagdflugzeuge.
Der größte der Rostocker Kriegs-
betriebe waren die Heinkel-Flug-
zeugwerke. Ihre Geschichte be-
gann 1922 mit der Gründung der
„Ernst Heinkel Flugzeugwerke
A.G.“ in Rostock-Warnemünde
und bereits damals enthielt die
2 Siehe: „Zur Hebung der Gesundheit und vermeintlich zivile Flugzeug-
der Wehrkraft. - Fußball in Rostock während des Na- produktion eine militärische
tionalsozialismus“ auf: http://ruh.soziale-bildung.org/
node/20 Dimension. Durch den Frie-
6. 6
densvertrag von Versailles, der hungen zu den Raketenstartplät-
die Wiederholung einer Katast- zen der Heeresversuchsanstalt
rophe wie den Ersten Weltkrieg in Peenemünde, für die Heinkel
unmöglich machen sollte und Versuchsflugzeuge beschaffte,
dem deutschen Militarismus die wurden ausgebaut. Die Anzahl
Grundlage entziehen wollte, war der Beschäftigten (ohne Zwangs-
den Deutschen das Unterhalten arbeiter_innen) wuchs von ca.
einer Luftwaffe verboten. Der 1.000 im Jahre 1932 bis zum
deutsche Revanchismus – zu dem Kriegsende auf über 10.000. Die-
maßgeblich auch Industrielle ser Prozess führte dazu, dass die
wie Heinkel gehörten – suchte Einwohner_innenzahl der Stadt
bereits in den 20er Jahren nach im Jahre 1935 die hunderttausend
Möglichkeiten, den Friedensver- überschritt, was auf offizieller
trag zu brechen. Im In- und Aus- Ebene den Großstadtstatus mit
land wurden unter Geheimhal- sich brachte. Als eine der ersten
tung Kampfpiloten ausgebildet. Auswirkungen der Luftangriffe
Und so fand auch Heinkel seinen musste im Übrigen das Heinkel-
Weg ins Ausland, bei der kaiser- Werk einen Teil seiner Produk-
lich-japanischen Marine entwi- tion in das nahe gelegene Barth
ckelte er von Deutschland aus verlagern. Unter Rückgriff auf
Militärflugzeuge, die er dann in das dort befindliche Konzent-
Skandinavien in Lizenz produzie- rationslager plünderte man bis
ren ließ. zuletzt über 6.000 weitere Häft-
Mit Errichtung der national- linge als Zwangsarbeiter_innen
sozialistischen Diktatur trat aus.
Heinkel der NSDAP bei; von dort Ein weiterer Akteur in diesem
an konnte er sein Kriegsgerät in Zusammenhang waren die Fab-
aller Öffentlichkeit erforschen. riken der Arado Flugzeugwerke
Von der Universität Rostock be- GmbH, die sich bereits 1921 in
kam er dafür die Ehrendoktor- Rostock niederließen und zu de-
würde. Rostock wurde zum Zen- ren Spezialitäten Kampfflugzeu-
trum der Luftkriegsproduktion. ge für die Marine zählten. Die
Es entstand ein Flugplatz zur Reichswehr bildete schließlich
Erprobung neuer Flugzeugtypen ab 1925 auf dem Flugplatz „Hohe
und die kontinuierlichen Bezie- Düne“ im eigens dafür gegründe-
7. 7
ten Tarnunternehmen „Seeflug Mit fortschreitender Militarisie-
GmbH“ Kampfpiloten aus. rung und der unersättlichen Gier
U-Boote für den Führer des Kriegsapparats nach neuen
Als Hafenstadt mit einer jahr- Soldat_innen ging auch der Nep-
hundertelangen Bootsbautra- tunwerft mit der Zeit das Perso-
dition ließen es sich die Rosto- nal aus. Auch hier versuchten
cker_innen selbstverständlich die Faschist_innen den Arbeits-
nicht nehmen, auch Kriegs- kräftemangel durch Zwangsar-
schiffe für das Militär zu bauen. beit zu kompensieren. Als die
Während des Ersten Weltkrieges Rote Armee am 1. Mai 1945 Ros-
unternahm man die ersten Geh- tock erreichte, wurden allein in
versuche und übte sich im Bau der Neptunwerft über 1.400 KZ-
von Minensuchbooten und dem Häftlinge und Kriegsgefangene
Umrüsten von Zivilschiffen. befreit.
Dies sollte sich im Nationalsozi- Wer angesichts dieses Ausma-
alismus grundlegend ändern. In ßes der Kriegsanstrengungen, ob
Rostock gab es zu der Zeit zwei direkt im Flugzeughangar oder
Werften. Einerseits die Neptun- indirekt bei der Sicherstellung
werft, welche 1850 gegründet des geordneten Ablaufs des Ar-
wurde, und auf der anderen Seite beitsalltages, behauptet, es hät-
die Kröger-Werft, welche 1928 die te keinen Sinn ergeben, diesen
Gehlsdorfer Gebrüder Kröger er- vielfältig verzweigten Motor der
öffneten. Rüstungsproduktion zu zerschla-
Neben Flugsicherungsbooten gen, der muss sich fragen lassen,
und Begleitschiffen gehörten mit welchem Recht er die Nieder-
auch wieder Minensuch- und schlagung des Nationalsozialis-
Sprengboote zum Repertoire der mus gegen kaputte Hausfassa-
Rostocker Schiffbauer_innen. den aufwiegen will und warum
In der Neptunwerft spezialisier- das traditionelle Ambiente einer
te man sich auf das tödlichste mittelalterlichen Hansestadt als
Mordgerät, das die deutsche See- historisches Argument gegen die
fahrt zu bieten hatte, den Bau Beendigung des Zweiten Welt-
von U-Booten für die Kriegsflot- kriegs standhalten soll.
te. Hier wurden bis 1945 zehn Ex-
emplare des Typs VII-C gefertigt.
8. 8
Ideologie und Terror
Antisemitismus in Rostock
Bereits in den 20er Jahren häuf-
ten sich in Rostock antisemiti- Nach der Ernennung Adolf Hit-
sche Kampagnen deutschnatio- lers zum Reichskanzler wurde die
naler Strukturen, wie bspw. die öffentliche Verwaltung nach und
gegen den jüdischen Medizinpro- nach im Sinne der Nationalsozi-
fessor Fritz Weinberg. 1930 hielt alist_innen „gleichgeschaltet“.
dann die NSDAP mit über 20 % der Gleichzeitig beteiligte sich eine
Stimmen Einzug in die Stadtver- Reihe Rostocker Dozent_innen
waltung. Diese starke Position aktiv an den Bücherverbrennun-
nutzte sie im darauf folgenden gen im Mai 1933. So sehr sich die
Jahr, um die wenigen jüdischen Nazis und ihre Sympathisant_in-
Künstler_innen im Rostocker nen für die rasche Umsetzung
Stadttheater zu verjagen. der „Machtergreifung“ engagier-
ten, so wenig Widerstand stellte
sich ihnen entgegen. So konnte
9. 9
im April 1933 nahezu ungestört
der erste große, organisierte Boy- Gleichzeitig war es für die ver-
kott gegen Geschäfte und Firmen einzelten „Volksdeutschen“ mit
mit jüdischen Besitzer_innen anti-faschistischer Gesinnung
durchgeführt werden. In der Krö- mit der Zeit immer weniger mög-
peliner Straße und anderswo for- lich, der nationalsozialistischen
mierten sich SA-Posten vor Arzt- Ideologie zu widersprechen oder
praxen, Anwaltskanzleien und aus dem Weg zu gehen, da die
Kaufhäusern. In den darauf fol- „Gleichschaltung“ nach und
genden Jahren wurde nicht nur nach auch die letzten Vereine
gewerkschaftliche und generell und Einrichtungen ergriffen
politische Arbeit unterbunden, hatte. Mit viel Unterstützung
sondern auch die Teilhabe der von den übrigen Rostocker_in-
Rostocker Jüdinnen und Juden nen konnte niemand rechnen,
am öffentlichen Leben systema- denn diese hatten 1932 mit über
tisch beschnitten. Dies betraf 40 % und 1933 mit über 35 % für
sowohl Wohnsituation, als auch die Nazis gestimmt. Vor allem
Ausbildung und Erwerbstätig- diejenigen Rostocker_innen, die
keit; mit den Nürnberger Ge- vermeintlich oder tatsächlich
setzen von 1935 dann auch das jüdischer Herkunft waren, hat-
Privatleben und die Sexualpart- ten vermehrt unter der Naziherr-
ner_innen. schaft zu leiden. Nicht wenige
nahmen sich schon in den Mona-
ten nach der „Machtergreifung“
das Leben. Spätestens 1938 war
klar, dass es den Nazis um mehr
ging als Diskriminierung, näm-
lich auch um die Vernichtung der
bürgerlichen Existenz auch der
Rostocker Jüdinnen und Juden,
ebenso wie um die tatsächliche
körperliche Vernichtung des eu-
ropäischen Judentums. Die Ros-
tocker_innen unter ihnen waren
zwangsweise vollständig regist-
10. 10
riert worden und die ersten wur- Volk auch im amtlichen Namen
den deportiert. Es traf zunächst festzuschreiben. Angesichts der
37 „Ostjuden“, die auf einen Lkw überwältigenden Mehrheit, die
geladen und hinter der polni- den Terror auch in Rostock un-
schen Grenze ausgesetzt wurden. terstützt und befürwortet hatte,
Noch im gleichen Jahr entlud war es für die wenigen Anstän-
sich wie im restlichen Deutsch- digen eine immense Gefahr, sich
land der Hass auf alles „Jüdische“ solidarisch zu zeigen. Nichtsdes-
auch in Rostock, während der totrotz sind einige Beispiele die-
Reichspogromnacht im Novem- ser Aufrichtigkeit belegt, sei es
ber 1938. Vorwand hierfür war der illegale Schulunterricht für
das Attentat Herschel Grynsz- jüdische Kinder, oder auch heim-
pans auf einen SA-Mann. Gryn- lich abgelegte Essenspakete.
szpan war Jude und wollte die De- Während die „Volksdeutschen“
portation seiner Familie rächen. immer dichter zusammenrück-
In Rostock wurden nicht nur Ge- ten und sich bspw. im heutigen
schäfte geplündert und zerstört, Peter-Weiss-Haus zu Spendenak-
die Synagoge niedergebrannt, tionen für ihre Frontsoldaten ver-
sondern auch Privatwohnungen sammelten, bekamen die Jüdin-
durch SS und SA demoliert. Nicht nen und Juden, die unter ihnen
nur landete das Inventar samt lebten, immer mehr ihren Hass
Wertsachen auf der Straße, es zu spüren. Ausdruck dessen war
wurde auch von den Rostocker_ nicht zuletzt der „Judenstern“,
innen unter dem Schutz der SS der auch in Rostock 1941 polizei-
samt und sonders gestohlen. lich vorgeschrieben wurde. Am
Im Januar 1939 wurde in Ros- 10. Juli 1942 fand sich dann der
tock der letzte Betrieb mit jüdi- Höhepunkt des Hasses der Deut-
schen Besitzern „arisiert“, sprich schen auf die Juden in Rostock:
das Eigentum an diesem unter um 7.01 Uhr verließ der erste De-
Zwang auf einen Nazigetreuen portationszug Rostock über Lud-
übertragen. Gleichzeitig erhiel- wigslust mit dem Endziel Ausch-
ten die Rostocker Jüdinnen und witz. Von den 24 Verschleppten
Juden die Zwangsvornamen „Is- kehrte niemand zurück, alle
rael“ und „Sara“, um ihre Nicht- wurden ermordet.
Zugehörigkeit zum Deutschen
11. 11
Im November desselben Jahres
traf es dann noch einmal 14 Men-
schen aus Rostock. Sie wurden
am 11. November 1942 um 6.59
Uhr nach Theresienstadt depor-
tiert. Auch aus diesem Transport Der letzte Akt des Rostocker Na-
überlebte niemand. ziterrors ereignete sich, als die
An der Organisation der Ver- Stadt von der Roten Armee befreit
nichtung waren in Rostock nicht werden sollte. Noch in der Nacht
nur die Parteistrukturen der Na- vor der Niederlage wurde eine
zis beteiligt. Eine aktive Rolle Liste mit 157 Sozialdemokrat_in-
bei der Abwicklung der Deporta- nen und Kommunist_innen er-
tionen, die allwissentlich in den stellt, die es zu ermorden galt.
Tod führten, spielten Mitarbei- Nur durch die Hilfe anderer Ros-
ter_innen der Reichsbahn, der tocker_innen konnten sie sich
Polizeireviere, des Finanzamtes dem Zugriff der Nazis entzie-
und der Arbeiterwohlfahrt. Ers- hen. Das letzte Armutszeugnis
tere waren für die Organisation war die Sprengung der Mühlen-
des Abtransportes verantwort- dammbrücke, die fünf Rotarmis-
lich, letztere für den Einzug jü- ten noch am Tag der Befreiung
discher Besitztümer. Von Nicht- das Leben kostete. Als dann am
wissen oder Unschuld kann für 1. Mai 1945 endlich sowjetische
die Mehrheit der Rostocker_in- Truppen die Terrorherrschaft be-
nen also keine Rede gewesen endeten, lebten gerade noch 14
sein. Während des Krieges setzte Jüdinnen und Juden in Rostock.
sich der Terror gegen die verblie- Ursprünglich waren es etwa 300.
benen Jüdinnen und Juden fort.
Diese wurden meist nur durch
ihre Ehe mit nichtjüdischen Ros-
tocker_innen vor der Deportation
gerettet. Doch auch die Kinder
aus diesen „Mischehen“ blieben
von den Nazis nicht verschont.
Sie wurden in und um Rostock
zur Zwangsarbeit eingesetzt.
12. 12
Der Krieg kehrt heim
Die Bombardierung Rostocks im April 1942
Nachdem Deutschland briti-
sche Städte wie Coventry 1940
bombardiert hatte, konnte das Schwerpunkt der britischen
United Kingdom im selben Jahr Angriffspläne war es, die deut-
den „Battle of Britain“ für sich sche Rüstungsindustrie zu zer-
entscheiden. Da außerdem durch schlagen und die Moral der Zi-
den Angriff auf die Sowjetunion vilbevölkerung zu brechen. Im
am 22. Juni 1941 der Großteil der Sommer 1941 entschied sich das
Wehrmacht gen Osten mobili- Bomber Command für Flächen-
siert wurde, war eine Landung bombardements als Mittel der
deutscher Truppen auf briti- bevorstehenden Großoffensive,
schem Boden vorerst auszuschlie- die die Landung der Briten auf
ßen. Es konnten also Pläne für ei- dem europäischen Festland vor-
nen britischen Gegenangriff auf bereiten sollten. Begründet wur-
Deutschland entworfen werden. den sie dadurch, dass für Präzi-
In der britischen Angriffsstra- sionsabwürfe nicht die nötigen
tegie kam ab 1941 der Royal Air Navigationsmittel vorhanden
Force die entscheidende Rolle zu. seien. Außerdem führten 1941
So äußerte Winston Churchill: der Verlust von erfahrenen Be-
„Die Marine kann uns den Krieg satzungen und die bessere Luft-
abwehr Deutschlands dazu, dass
verlieren lassen, aber nur die
die Bomber in größerer Höhe flie-
Luftwaffe kann ihn gewinnen... gen mussten. Die Entscheidung
Die Jäger sind unsere Rettung, für Flächenbombardements war
aber die Bomber allein stellen auch politisch geprägt.
die Mittel zum Sieg.“3 Dass Rostock eine der ersten
Städte war, die Ziel der Luftof-
fensive wurden, hatte verschie-
dene Ursachen. Als Standort der
Heinkel- und Arado-Flugzeug-
werke war die Stadt ein wichtiger
3 Winston Churchill: Der Zweite Weltkrieg Rüstungsstützpunkt. Die Luft-
13. 13
abwehr wurde als schwach ein- mand vorgelegt. Der Bericht hob
geschätzt und auch die geogra- noch einmal die rüstungspoliti-
phische Lage begünstigte eine sche Bedeutung der Flugzeugwer-
Bombardierung. So lag Rostock ke, die mangelhafte Flugabwehr
nicht nur in guter Flugreichwei- und die hohe Brandanfälligkeit
te, sondern bot durch die War- hervor.
nowmündung auch einen guten Technische Neuerungen wie
Orientierungspunkt für die Pi- die Einführung eines besseren
lot_innen. Ein weiterer Faktor funkelektronischen Navigati-
war, dass die Brandanfälligkeit onsverfahrens ermöglichten ab
für Rostock als sehr hoch einge- 1942 auch präzisere Angriffe bei
schätzt wurde, was den Plänen Nacht, und so wurde in einer mo-
des Bomber Command zu Gute difizierten Bomberdirektive vom
kam. 14. Februar 1942 der Doppelcha-
Am 11. Juni 1940 waren zum rakter der Bombardierungen als
ersten Mal Bomben auf Rostock Mischung aus Flächenbombar-
gefallen. Im Verlauf des Jahres dements einerseits und geziel-
1940 gab es dann noch mehrere ten Angriffen anderseits festge-
kleine Angriffe, die u.a. auch die schrieben. Den Auftakt der groß
Kröger-Werft und die Arado-Wer- angelegten Luftoffensive bilde-
ke trafen. Nachdem Rostock ver- te die Bombardierung Lübecks
stärkt in den Fokus der britischen vom 28. zum 29. März 1942. Vom
Planungsstäbe gerückt war, wur- 23. bis 27. April folgte dann die
de in der Nacht vom 11. auf den Bombardierung Rostocks. In den
12. September 1941 ein größerer sternenklaren Nächten mit star-
Angriff geflogen, bei dem auch kem Wind konzentrierte sich die
erstmals Brandbomben einge- Hauptgruppe der Flieger auf die
setzt wurden. Dabei wurden ne- Innenstadt, während ein kleine-
ben Zielen in Warnemünde, wie rer Verband die Heinkelwerke im
dem Hafen und der Krögerwerft, Tiefflug angriff. Bei den Angrif-
auch Gebäude in der Innenstadt fen, an denen ca. 460 Bomber be-
bombardiert. Die Erkenntnisse teiligt waren, konnten große Tei-
dieses Manövers sowie weiterer le der Innenstadt zerstört, sowie
Erkundungsflüge wurden am 14. den Heinkelwerken erheblicher
Dezember 1941 dem Bomber Com- Schaden zugefügt werden. Insge-
14. 14
samt wurden mehr als die Hälfte
der Häuser beschädigt und etwa
17 % der Wohnhäuser zerstört, In Folge der gelungenen Luft-
was dazu führte, dass vorüber- schläge wurde am 28. April der
gehend 30.000 bis 40.000 Men- Ausnahmezustand ausgerufen.
schen obdachlos waren. Neben Die NS-Behörden versuchten
der Zerstörung historischer Bau- durch Propaganda und rasche
ten wie der Petrikirche, der Jako- Normalisierung des Alltags der
bikirche, der Nikolaikirche und Demoralisierung der Bevölke-
des Stadttheaters wurden die rung entgegenzuwirken. Bis zum
Wasser-, Strom-, Gas- und Ener- Ende des Krieges wurde Rostock
gieversorgung sowie zahlreiche noch einige Male bombardiert.
Verkaufs- und Versorgungsein- Diese Angriffe, die später auch
richtungen lahm gelegt. Es gab von der US-Air Force geflogen
insgesamt 221 Tote. wurden, waren aber vom Umfang
her nicht mit den Bombardierun-
gen im April 1942 vergleichbar.
Der Blick zurück
Opferphantasien in der Neonaziszene
Der Jahrestag der Bombardie- „Aktionsgruppe Festungsstadt
rung der Hansestadt im Zweiten Rostock“ (AGR) um Lars Jacobs
Weltkrieg ist schon seit längerem auf. Im Jahr darauf, am Tag der
ein fester Termin in der lokalen Befreiung, veranstaltete derselbe
Neonaziszene. Am 26. April 2003 Personenzusammenhang eine
marschierten etwa 150 Neona- Kundgebung unter dem Motto
zis unter dem Motto: „Alliierter „8. Mai - Wir kapitulieren nie!“
Bombenterror am 24. April 1942 vor der Kunsthalle am Rostocker
– Unsere Mauern brachen, aber Schwanenteich.
unsere Herzen nicht!“ durch die
Rostocker Innenstadt. Als Orga-
nisator der Demonstration trat
die damalige Kameradschaft
15. 15
Im Laufe der Jahre zeichnete
sich eine Tendenz weg von öf-
fentlichen Aufmärschen hin zu
klandestinen internen Veran-
staltungen und Aktionen ab. So Derartige Umkehrungen der
griff die relativ junge Kamerad- Täterrolle der deutschen Bevölke-
schaft „Nationale Sozialisten rung während des Zweiten Welt-
Rostock“ (NSR) 2008 die The- kriegs wie im Falle der Angriffe
matik wieder auf. Am Jahrestag auf Rostock sind kein singulä-
der Luftangriffe am 26. April res Ereignis in der lokalen Neo-
2008 versuchte sich ein Dutzend naziszene. Auch anlässlich der
Jungnazis an einer nächtlichen Kampfhandlungen in Stralsund
Spontandemonstration durch die veranstalteten die Neonazis über
Rostocker Innenstadt, scheiterte mehrere Jahre hinweg Demons-
aber kläglich. In den Jahren 2010 trationen. Eine jährliche Veran-
und 2011 beschränkten sie sich staltung zum 8. Mai in Demmin
infolgedessen auf kleine Kranz- schlägt ebenfalls in die Kerbe
niederlegungen an dem Gedenk- des deutschen Opferkults. Über-
stein der Bombenopfer auf dem regionale Demonstrationen, die
Rostocker Neuen Friedhof fernab der Thematik entsprechen, wie
der Öffentlichkeit. die Trauermärsche bezüglich
Auch auf kommunalpolitischer der Bombardierungen von Mag-
Ebene versuchten Neonazis wie deburg oder Dresden, besuchen
der Stadtabgeordnete der NPD, Neonazis aus Mecklenburg-Vor-
David Norbert Petereit, die Bom- pommern gewöhnlich in großer
bardierung im Sinne ihrer Ideolo- Zahl.
gie zu instrumentalisieren. Auf
der Bürgerschaftssitzung am 7.
Dezember 2011 forderten die NPD-
Vertreter Petereit und Birger Lüs-
sow die Stadt beispielsweise dazu
auf, anlässlich des kommenden
70. Jahrestages der Bombardie-
rung den Opfern „würdig“ zu ge-
denken.
16. 16
Sowas kommt von sowas!
Die Luftangriffe im historischen Kontext
Die Entwicklung Rostocks in
der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts lässt sich vereinfacht Wer nicht direkt an den tod-
von der industriell aufstrebenden bringenden Kampfflugzeugen
Stadt hin zur Täter_innenstadt herumschraubte, betätigte sich
im Dritten Reich nachzeichnen. als Wärter_in für die Zwangsar-
Mit der Ansiedlung der Arado- beiter_innen, als Polizist_in an
Flugzeugwerke und der Heinkel- der Suche nach Jüdinnen, Juden
Werke etablierte sich die Hanse- und Dissident_innen, als Stra-
stadt als ein wichtiges Zahnrad ßenbahnfahrer_in am Transport
in der nazistischen Kriegsindus- der Arbeiter_innen in die Pro-
trie. Ein nicht unerheblicher Teil duktionsstätten, als Akademiker
der Bevölkerung arbeitete Tag für an der Ausbildung neuer Kriegs-
Tag in den ansässigen Produkti- ingenieure. Irgendwer muss es
onsstätten, um die „Todesvögel“ gewesen sein, der die Pokale der
und U-Boote der Wehrmacht zu Sportvereine eingeschmolzen
fertigen. Die Lohnarbeit für den hat, um Edelmetalle für den Füh-
Krieg und voller Einsatz für ein rer zu spenden. Irgendwer muss
mörderisches System gehörten die Schiffe im Hafen, mit ihren
für die Einwohner_innen zum Rohstoffen zum U-Bootbau, ent-
Alltag. laden haben. Irgendwer hat die
Soldat_innen gesund gepflegt,
die wieder an die Front gefahren
sind, um andere Länder zu über-
fallen. Irgendwer hat ihnen das
Bier gebraut, die anspornenden
Briefe geschrieben und die jüdi-
schen Mitbürger_innen denun-
ziert. Irgendwer hat die Kommu-
nist_innen verraten, die trotz
Verbot ausländische Radiosender
hörten.
17. 17
tocks einen knapp drei Jahre an-
dauernden Vernichtungskrieg
bis dahin unbekannten Ausma-
ßes. Raub, Unterdrückung und
der industrielle Massenmord
von Millionen Menschen kenn-
zeichneten diese Zeit. Im Jahre
Tatsächlich bildeten die Ros- 1942 hatte Deutschland bereits
tocker_innen keine Ausnahme, eine Vielzahl europäischer Staa-
wenn es darum ging, die Ideo- ten, wie Polen, Frankreich und
logie des Dritten Reiches zu ver- Norwegen, okkupiert und führ-
innerlichen und mitzutragen. te sogar Feldzüge in Nordafrika.
Erinnert sei hier an das Wahler- Ein Ende des fanatischen Mor-
gebnis der NSDAP, das bereits vor dens war jedoch nicht absehbar.
der Machtübernahme Hitlers na- So starteten die Nationalsozia-
hezu eine absolute Mehrheit ver- list_innen im Jahre 1941 erst den
sprach. Ob es im Weiteren um die Balkanraubzug und überfielen
Plünderung jüdischer Privatwoh- schließlich im Juni desselben
nungen und Geschäftsräume Jahres die Sowjetunion. In alle
oder die enthusiastische Beteili- Himmelsrichtungen brachte die
gung an dem Novemberpogrom Wehrmacht Verwüstung, Elend
von 1938 ging – die Rostocker Be- und Tod. Die „rassische“ Säube-
völkerung stimmte zu und half rung, die in Deutschland und
bei „Arisierung“ der Stadt aus den besetzten Gebieten begann,
eigenem Antrieb. Aber nicht nur kulminierte schließlich im Bau
vor Ort tat man, was man konn- unzähliger Konzentrations- und
te, um die „Volksgemeinschaft“ Vernichtungslager, die bis zum
herzustellen. So sollten kriegs- Ende des Krieges Millionen Men-
verlängernde Spendenaktionen schen das Leben kosteten.
für die Soldat_innen an der Front
dazu beitragen, den totalen Krieg
um Lebensraum und Vorherr-
schaft in Europa zu gewinnen.
Deutschland führte zum Zeit-
punkt der Bombardierung Ros-
18. 18
Überzeugung der Bevölkerung
ein geeignetes Zwischenziel auf
dem Weg zur Befreiung Europas
vom Naziterror. Auch wenn das
Klar war, dass die Todesma- militärische Mittel der Flächen-
schinerie Deutschland schnellst- bombardements entsetzlich sein
möglich gestoppt werden musste. mag, waren sie in diesem Fal-
Diplomatische Verhandlungen le und beim Angriff auf weitere
waren kategorisch auszuschlie- deutsche Städte nötig und ange-
ßen, womit allein eine militäri- messen. Das Schicksal Rostocks
sche Zerschlagung des Reiches kann nicht losgelöst vom Krieg
in Frage kam. Dazu war es zum betrachtet werden, denn es war
einen nötig, die Rüstungsindus- wie all die anderen deutschen
trie zu zerstören, aber aufgrund Großstädte ein Motor des Krieges.
der frenetischen Überzeugung
eines Großteils der deutschen
Bevölkerung für den Nationalso-
zialismus mit all seinen Facet-
ten musste des Weiteren auch
die Moral der Menschen gebro-
chen werden, was nur dadurch
möglich war, ihnen die Folgen
ihres Krieges an Ort und Stelle
vor Augen zu führen. Nicht zu-
letzt führte ein Erschüttern des
gesellschaftlichen Alltags un-
weigerlich auch zur Einschrän-
kung des geregelten Rüstungsbe-
triebes. Somit bot Rostock durch
die immense Kriegsproduktion
und die nationalsozialistische
19. 19
Auf dem Neuen Friedhof in
Rostock offenbart sich jedoch ein
äußerst merkwürdiges Bild des
Gedenkens an die Opfer des Na- zahl an Todesofern dargestellt.
tionalsozialismus. So erscheint Schließlich seien auch die Deut-
die Gedenktafel für die Opfer des schen Opfer des Krieges gewor-
KZ-Außenlagers Barth gerade- den. So berichtete beispielsweise
zu spärlich im Gegensatz zum Der Spiegel im Jahre 2003 über
Mahnmal aus massiven Granit- die „Kinder- und Frauenverbren-
platten anlässlich der Bombar- nung [sic!] von Hamburg und
dierung vom April 1942. Auch Dresden“4 durch die Alliierten. So
wenn die Hansestadt Rostock auf weckt bereits der Titel „Rostock
offizielle Trauerveranstaltungen im Feuersturm“ eines Buches an-
bisher verzichtet hat, ist in der lässlich des 70. Jahrestages des
bundesdeutschen Gedenkpolitik Bombardierung Assoziationen
häufig eine augenscheinliche zu den Propagandamythen der
Verzerrung der Geschichte wahr- Nazis vom „Bombenholocaust“.
zunehmen. So werden die Bom- Solche geschichtsrevisionisti-
bardierungen deutscher Städte schen Darstellungen relativieren
oftmals aus ihrem historischen jedoch die deutsche Kriegsschuld
Kontext gelöst und als alleinste- oder führen gar zu einer Täter-
hende Ereignisse mit einer Viel- Opfer-Umkehr. Die Bombardie-
rungen sind vielmehr die direkte
Folge der nationalsozialistischen
Allmachtsphantasien, die Milli-
onen von Menschen auf bestia-
lischste Weise das Leben gekostet
haben, und noch unzähligen wei-
teren Menschen dasselbe Schick-
sal bereitet hätten.
Die entsprechende Losung
kann also nur lauten: Sowas
kommt von sowas!
4 „So muss die Hölle aussehen“, Ausgabe
3/2003