Eine Präsentation von Prof. Dr. Philipp Gonon (Lehrstuhl für Berufsbildung, Universität Zürich) an der Tagung "Kick your brain! Entrepreneurship-Education für Jugendliche in der Berufsausbildung", die am 15.11.2011 in Zürich stattfand. Diese Veranstaltung war eine Veranstaltung im Rahmen der Global Entrepreneurship Week.
XING Zürich, impulZ vom 6. April 2011. Vortrag Rebekka Thommen, Aiducation In...
Vom ehrbaren Handwerker zum innovativen Selfentrepreneur. Überlegungen im Lichte historischer Perspektiven.
1. Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Vom ehrbaren Handwerker zum
innovativen Self-Entrepreneur
Überlegungen im Lichte historischer Perspektiven
Prof. Dr. Philipp Gonon 15. November 2011
2. Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Inhalt
• Entwicklung des Schweizerischen Berufsbildungssystems
• Vom ehrbaren Handwerk ...
• zum bürokratisch-industriell geregelten ...
• zum netzwerkgesteuerten System der Berufsbildung
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3. Entstehungszeit
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Modernes Berufsbildungssystem
• Durch die Berufsbildung kam es zur Etablierung eines Systems im
20. Jahrhundert, welches in Fortsetzung des Volksschulunterrichts
weitere schulische Bildung und fachspezifisches Können breiten
Schichten zugänglich machte.
• Von 1870 bis zum Ersten Weltkrieg in England, Frankreich,
Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und in der Schweiz sowie
in den USA bildeten sich Berufsbildungssysteme heraus.
• Ursprung in der Lehre bei den Zünften, kleingewerblich-
handwerkliche Tradition
• Auszeichnung der modernen Berufsbildung durch ein gewisses
Ausmass an Beschulung, Verschriftlichung des Lehrvertrags, und
Kontrolle durch die öffentliche Hand
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4. Moderne berufliche Bildung
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Berufe als öffentlich anerkannte
Ausbildungsberufe
• Durch die Etablierung des modernen oft dual geprägten Systems
kam der Rolle des Berufes eine zentrale Bedeutung als
anschlussfähiges und bildendes Moment zu.
• Verkopplung der zwei Systeme Erziehung und Wirtschaft:
Voraussetzungen dafür:
– Berufe sind konstituierbar, d.h. wandlungsfähig; Anpassung an
aktuelle Erfordernisse, Ansprüche möglich.
– Berufe sind Ausbildungsberufe, d.h. sie beruhen auf
berufsbezogener Unterweisung (Betrieb) und Unterricht (Schule).
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5. Systementwicklung
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Quelle: Dokumentation Berufsbildung Online (www.doku.dbk.ch)
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6. Systementwicklung
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Legitimierung und Ausbau der dualen
Berufsbildung
• Gesetz über die berufliche Ausbildung 1930 ff. (1933 in Kraft)
Obligatorischer Tagesunterricht Berufsschule
Schriftlicher Lehrvertrag
Höhere Fachprüfungen
Balance der Befugnisse: Bund, Kanton, Verbände
• Bis Ende 1961 erliess das Eidgenössische
Volkswirtschaftsdepartement 162 Ausbildungsreglemente für
insgesamt 238 Berufe.
• Nachfolge-Gesetzgebungen: Rahmengesetze 1963, 1978, 2002
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7. Duale berufliche Bildung
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Herausforderungen für die Berufsbildung
• Dienstleistungsgesellschaft vs. gewerbliche, kleinbetriebliche
Verwurzelung
• Effizienz und Effektivität (Allokation)
• Kosten-Nutzen-Kalkül der Betriebe
• Anschluss an das Hochschulwesen
• Globalisierung (Währung und Wert der Berufsbildung)
• Europäischer Qualifikationsrahmen (Vergleichbarkeit,
Modularisierung)
• Gymnasien, Fachmittelschulen als attraktive Optionen
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8. «Erfolgsgeschichte»
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Dominanz der dualen Berufsbildung
Seit den 90er Jahren:
• Reputation des «Apprenticeship-Model»
• «Education for work» durch «education at work»
• Geeignete Passung von Theorie, Praxis und betrieblicher Einbindung
• Einstiegschancen für schulleistungsschwächere Jugendliche
• Durchlässigkeit mit dem übrigen Bildungssystem
• Weniger im Blick: Veränderte Arbeitssituation und Technologie,
Kultur der reflexiven Moderne, Industrie und Dienstleistung im
Zeitalter der Globalisierung
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9. Leitfiguren
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Berufsbildung und Leitfiguren
• Rekonstruktion der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Modernisierung
anhand des Wandels von Leitfiguren
• Individuelle Figuration zur Repräsentation gesellschaftlicher
Phänomene, Erwartungen und Normen
• Verkörperung von Gedanken, gesellschaftlichen Wirklichkeiten
«Jede Epoche hat ihre Vorbilder und Leitfiguren.»
• Keine Abbildung realer Personen, eher «Popstars»
• Eduard Spranger: Leitbild des «Urberufs»
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10. «Unternehmer seiner Selbst»
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Begriff des «Self-Entrepreneurs»
«Der Self-Entrepreneur muss also einerseits offen sein für den Wandel
in der Arbeitswelt, sich individuell auf dem Markt bewegen und ein breit
gefächertes Kompetenzrepertoire besitzen, dies jedoch gleichzeitig mit
den gesellschaftlichen Strukturbedingungen der Erwerbstätigkeit
arrangieren.»
• Agiert nicht losgelöst von Anforderungsprofilen und zertifizierten
Abschlüssen.
• Handelt selbstkontrolliert, selbstökonomisch und selbstrationalisiert.
• Ist auf Erneuerung, Innovation ausgerichtet.
• Merkmale: Mobilität, Flexibilität, Employabilität
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11. «Unternehmer seiner Selbst»
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Gesellschaftliche Ebene: Entrepreneur
Unternehmens-
Betriebliche Ebene: Entrepreneur gründer
Metaphorische Ebene:
Self-Entrepreneur Unternehmeri-
sche
Lebensführung
Kreativität, Selbstverantwortung,
selbstgesteuertes Lernen
Unternehmer
der eigenen
Selbstmanagement, Portfoliowork Arbeitskraft
Marktkenntnis, Risikobereitschaft,
Innovation, Umsetzungsfähigkeit
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 10
12. Modernisierung und Leitfiguren
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Modernisierung anhand des Wandels der
Leitfiguren
Bis 19. Jh. Beginn 20. Jh. Beginn 21. Jh.
ehrbarer „Unternehmer
Handwerker/ Berufsmensch
Händler seiner Selbst“
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13. Der ehrbare Handwerker
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Ehrbarer Handwerker/Händler
• Bestritt Lebensunterhalt mit dem «Geschick seiner Hände»
• Zünftische Ausbildung und ständische Lebensführung (solidarische
Selbstverwaltung und Geschlossenheit, strenge Regeln)
• Im meisterlichen Haushalt: informelles Lernen durch Nachahmung
• Ausrichtung der Tätigkeit auf Stand und Ehre
• Herstellender Beruf war Berufung
• Tugenden: Ehrbarkeit, Tüchtigkeit und Geschicklichkeit
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 12
14. Der Berufsmensch
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Berufsmensch
• Ausrichtung der beruflichen Bildung weniger transzendent, primärer
Bezug auf Staat und Nation
• Unterwerfung unter ein bürokratisches Regime und eine getaktete
Zeit im Betrieb
• Bedeutung kapitalisierbarer Bescheinigungen (Zeugnisse)
• Angestellte als praktische Durchführer; «im Dienst sein»
• Berufsstolz, basierend auf Fachlichkeit, sachlicher Prüfung und
Qualitätsarbeit
• Loyalität gegenüber Verband und Betrieb
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 13
15. Der Unternehmer seiner Selbst
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
«Unternehmer seiner Selbst»
• Übertragung handwerklicher und berufsfachlicher Fähigkeiten und
Tugenden in einen neuen globalen Kontext
• Erhöhte Bedeutung technischer, kommunikativer und wirtschaftlicher
Netzwerke und Projektarbeit
• Auflösung zeitlicher und räumlicher Schranken
• Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit zunehmend schwieriger
• Zentrale Rolle des Auftritts und der Präsentation
• Zusammenspiel von herkömmlichen Arbeitstugenden und
Selbstverwirklichungsbestrebungen; «Employability»
• Organisation als «Kreativitäts-, Innovations- und
Erlebnisgemeinschaft»
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 14
16. Übersicht Berufsentwicklung
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Idealtyp Ehrbarer Berufs- und Self-Entrepreneur
Handwerker Fachmensch Künstler
Ort Stadt Nation Globale Welt
Region
Ökonomie – Haus Betrieb Projekt
Zeitstruktur Tagewerk Getaktete Zeit Entgrenzte Zeit
Organisation Verband Staat Bürokratie Netzwerk
Arbeitsform Poiesis Praxis Performanz
Leitkonzept Standesehre Fachbasierter Kompetenz
Berufsstolz Employability
Lernkultur Vor-/Nachahmen Formale Selbstgesteuertes
Informelles Lernen Unterweisung Lernen
Ethos Solidarität Loyalität Kreativität
Tüchtigkeit Sachlichkeit Innovation
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 15
17. Grundlegende Imitation Instruktion Exploration
Lehr-Lernformen
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Zentrale Lehre beim Meister sachbezogene Lehr-Lernarrangement
Merkmale bei enger personaler Kommunikation in der basierend auf
(Lerntypus) Bezugnahme Schule beruhend auf selbstorganisiertem
kodifzierten Lernen nach Plan
Wissensbeständen
Rolle des Lerners aktiv, beobachtend eher passiv, zuhörend aktiv, erkundend
Rolle der vormachend, vortragend, eher abwesend, im
Lehrperson begleitend, überprüfend Hintergrund als
überprüfend Organisator von
Lernmöglichkeiten
Lehrtypus/Lehrziel personales Vorbild sachbezogen- Selbsttätigkeit,
Habitualisierung kommunikative entdeckendes
Übertragung, Erforschen
Reproduktion des
Erlernten
Lernform informell formal informell-formal
Lehrplancharakter tätigkeitszentriert fachsystematisch fallspezifisch
Lernumgebung Arbeitsplatz Bildungsinstitution spezifische Umgebung
Alltag in Schule oder Betrieb
18. Selbst-Entrepreneur
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Reformbedarf für die Berufsbildung
Selbstbestimmung als zentrale Ressource:
• Enge Verknüpfung von wirtschaftlicher Effizienz und individuellem
«Glücks»-management
• Ergänzung von Arbeit und Freizeit
• Selbstbestimmung und «Persönlichkeit» als entscheidender
Produktionsfaktor
• Selbst-Vermarktungsfähigkeit:
– Bedeutsamkeit beruflicher und fachlicher Grundlagen, guter
Arbeitsbedingungen, Vernetzung, Durchsetzungs- und
Kommunikationsfähigkeit, Selbstbewusstsein
– Bereitschaft zur guter Leistung ist Vermarktungszwängen
unterworfen.
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 17
19. Self-Entrepreneur
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Reformbedarf für die Berufsbildung
Lernkonto-Management, Portfolio, Professionelle Intelligenz:
• Selbstmanagement des eigenen Lernens; Lernkontrolle
• Akkumulation von Kompetenzen zur Steigerung und Erhaltung der
Employabilität
• Loslösung der tätigkeitsbezogenen Berufsförmigkeit hin zu einem
gestaltungsoffenen Projekt
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 18
20. Self-Entrepreneurship
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Innovationsgeist
• Der Einzelne als Unternehmer, der sich selbst nach Kriterien der
Spezialisierung und Wirtschaftlichkeit steuert.
• Unternehmergeist als Anforderung an alle Gesellschaftsmitglieder
• Verwurzelung in globaler Kultur und Gesellschaft
• Organisation der Lebensführung durch Selbstinitiative,
Selbstkontrolle und freie Zirkulation als «entrepreneurial subject and
citizen»
• Leitfigur: Künstler, der sich in Gesellschaft/auf dem Markt mit
eigenem Risiko präsentiert – Leben wird zur Kunst
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 19
21. Internationale Perspektive
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Globale Rekrutierung
• Interviews mit Rekrutierungsverantwortlichen aus insgesamt 18
internationalen Betrieben aus Deutschland, England und der
Schweiz
• Banken-, Informatik-, Maschinen- und Chemiebranche: gleiche Firma
in allen drei Ländern, um unter anderem auch neben berufs- und
branchen- auch nationenspezifische Unterschiede explorativ zu
erforschen.
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 20
22. Internationale Perspektive
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Soft skills
• Hervorhebung von Soft skills und – auf den ersten Blick irritierender
– als gemeinsamer Trend in den befragten Betrieben: Befürwortung
einer stärkeren Akademisierung durch Bachelors
• Differenz bezüglich Fähigkeiten und Fertigkeiten, sowie auch
beruflicher Habitus besteht weniger zwischen Lehrabgängern und
Fachhochschulkandidaten, sondern zwischen denjenigen, die das
berufliche Bildungswesen durchlaufen haben und denjenigen die
über das Gymnasium an die Universitäten und die ETH.
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 21
23. Internationale Perspektive
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Situative Fachlichkeit
• Fachliches als selbstverständliche Grundlage
• Spezialisierte, verallgemeinerbare Fachlichkeit
• Relativ betrachtet: das fachliche hat zugunsten von kommunikativen
und sozialen Fähigkeiten an Bedeutung verloren
• Orientierung an Kompetenzmodellen
• Rekrutierungsverantwortliche zeigten sich insgesamt zufrieden mit
den Leistungen oder Vorleistungen des heimischen
Bildungssystems .
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 22
24. Internationale Perspektive
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Kompetenzentwicklung
• Modularisierung der Berufsbildung
• Berufliche Bildung als Kompetenzentwicklung und
Kompetenzakkumulation
• Stärkere Rolle der Beratung (z. B. Etablierung von Coaches an
Schulen)
• Europäische Bildungspolitik als Lebenslanges Lernen
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 23
25. Fazit
Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
«Berufsbildung 2.0»
Flexibilisierungsdruck:
• Berufbildung ist zeitgemäss, bedarf aber der dauernden Erneuerung
in einer globalisierten Ökonomie.
• Einstiegschancen für Berufslehren ausbauen, Chancen ermöglichen
• Durchlässigkeiten und Anschlüsse an das Hochschulwesen
ausbauen
• Stärkere Ausrichtung auf wissenschaftsorientierte und technische
Fachbildung und Hervorhebung einer Allgemeinbildung mit
künstlerischen und sprachlich-kulturellen Dimensionen
• Gelegenheitsstruktur für selbstverantwortete Projekte innerhalb der
Berufsbildung ausbauen
15.11.2011 Prof. Dr. Philipp Gonon Seite 24
26. Institut für Gymnasial- und Berufspädagogik
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
gonon@igb.uzh.ch
Literaturhinweis(e):
• Gonon, P. (2008): Vom ehrbaren Handwerker zum innovativen Self-Entrepreneur –
Modernisierung der Berufsbildung anhand idealtypischer Leitfiguren. Gütersloh:
Bertelsmann-Stiftung.