1. Eine schwere Kopfverletzung
raubte der Amerikanerin Su Meck das
Gedächtnis. Lange Zeit bemerkte es
keiner – weil sie sich selbst nur spielte
Von Norbert Höfler und Alexandra Kraft
Fotos: Tony Luong
WER
WAR ICH,
BIN ICH,
WERDE ICH
SEIN?
Doppelt und
gespalten: Su Meck
ist 50 Jahre alt,
doch Erinnerungen
hat sie nur an ein
halbes Leben
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GESELLSCHAFT
2. Mecks Lieblings-
platz: der Schaukel-
stuhl. Er beruhigt,
er schwingt, so wie
das Leben zwischen
guten Tagen und
schlechten Tagen
GutenTag,FrauMeck ...
IchhättegernemeinenSohnBenja-
min bei dem Gespräch dabei. Er
hilft,wennmiretwasnichteinfällt.
Passiertdasnochoft?
Es hängt von der Tagesform ab.
Manchmal erinnere ich mich an
wichtige Dinge nicht.
In Ihrer Krankenakte steht, dass
Ihnenam22.Mai1988einDecken-
ventilatoraufdenKopffiel.
IchkennedieGeschichte,weilmein
MannJimsiemirerzählthat.Esge-
schahaneinemSonntag.Wirwaren
morgens vermutlich in der Kirche.
Aber so sicher ist Jim sich da auch
nicht mehr.Wir saßen am Küchen-
tisch, Benjamin, der fast zwei war,
saßimKinderstuhl.DerachtMona-
te alte Patrick krabbelte herum.Ich
nahm ihn hoch,hielt ihn über mei-
nem Kopf.Dabei stieß er gegen den
Deckenventilator. Durch diesen
Schubs rutschte das Ding vom Ha-
ken und fiel mir auf den Kopf.
UnddannkipptenSieum?
Nichtgleich.IchsetzteBenjaminauf
denBoden.SoerzähltesJim.Erstda-
nach verlor ich das Gleichgewicht,
schlug mit dem Hinterkopf gegen
dieTischkante,dannaufdenBoden,
bumm,bumm,bumm.Überall war
Blut.JimriefdenNotarzt.Andiesem
TagverlorichallemeineErinnerun-
gen.An diesem Tag starb Su.
Siemeinensichselbst?
Für mich ist die Su von damals eine
Fremde. Ich rede von ihr als „sie“
oderals„Susie“.Soriefenmichmei-
ne Eltern, als ich Kind war. „Susie“
bin nicht ich, sie ist eine andere
Person.Wie eine Verwandte,der ich
nie begegnet bin.
SiehabenkeinerleiErinnerungen
anIhrfrüheresLeben?
Nein.
Erkannten Sie Ihren Mann und
IhreSöhneimKrankenhaus?
Nein.
IhreEltern?
Nichts.Ichwusstenichteinmal,was
eine Zahnbürste ist, wie man aus
einem Glas trinkt oder zur Toilette
geht.Ich war wie ein neugeborenes
Baby.
EinAlbtraum?
Nein. Ich hatte noch nicht einmal
Angst.
WenigeTagenachdemUnfallsind
SieFahrradgefahren.
Das steht in meiner Akte.Ich kann
michnichterinnern.ZweiKranken-
pfleger haben mich auf ein Rad ge-
setzt, sie wollten testen, wie mein
Zustand ist.
Sie sollen sogar auf dem Klavier
„TheEntertainer“gespielthaben?
Ein einziges Mal, dann war diese
Fähigkeit auch weg.
WiehabendieÄrztereagiert?
Siedachten,schuldseiendiestarken
Medikamente. Sie glaubten, das
geht schon wieder weg.
InIhrerAktesteht,Siehatteneine
geschlosseneGehirnverletzung.
Ja. Mein Schädel war nicht gebro-
chen. Mein Gehirn schwoll an und
wurde im Kopf gequetscht.
Auf dem MRT war aber nichts zu
erkennen.
Vor 27 Jahren war MRT eine neue
Sache.Ichglaube,heutewürdeman
mehr auf meinem Gehirnscan se-
hen. Mein Mann sagt, die Ärzte
hättenihnaufdasSchlimmstevor-
bereitet. Die Kinder wurden ins
Krankenhaus geholt, um Abschied
von Susie zu nehmen.
Sieüberlebtenundwarennurdrei
Wochen lang im Krankenhaus.
DannwurdenSieentlassen.
Auchdaranerinnereichmichnicht.
WarumhabenSiedenÄrztennicht
gesagt,dass Sie nicht wissen,wer
Siesind?
Ich habe das nicht gemerkt.
WarumließIhrManndaszu?
Vielleicht,weildieÄrzteihmgesagt
hatten,ichseiokay.Unddassichgut
zurechtkomme.Jim war damals 24.
Er wollte ein normales Leben mit
mirführen.Ichsolltefunktionieren.
WielangelebtenSie,ohneneueEr-
innerungaufbauenzukönnen?
Etwa drei Jahre.Wir sind nach mei-
nem Unfall mehrmals umgezogen.
UndwiefunktionierteIhrAlltag?
Nicht gut. Die Kinder übernahmen
die Verantwortung für mich.
BENJAMIN:Ichwardafürzuständig,
dasswirvomEinkaufenwiedernach
Hause fanden. Dad hatte mir den
Wegbeigebracht.AmAnfang,dawar
ich etwa drei Jahre, wusste ich nur
grob die Richtung.Aber mit der Zeit
habeichmirStraßeneckengemerkt,
an denen wir abbiegen mussten.
Später konnte ich dann die Karte le-
sen.Dasselbe im Supermarkt.Mum
war da verloren. Also sagte ich, was
wir brauchen und wo wir es finden.
Mum fragte immer: „Was machen
wir eigentlich hier?“
Unglaublich!
BENJAMIN: Wir waren immer zu-
sammen, fast immer im selben
Raum.Wirspielten,aßen,schliefen.
So haben wir funktioniert.Das war
unser Leben.
SU: Ich wuchs mit meinen Kindern
auf.WennsieausderSchulekamen
und Hausaufgaben machten, habe
ich mit ihnen rechnen, lesen und
schreiben gelernt.
Sie waren bei Ihrem Unfall 22 Jah-
realt!
IchhattedenKörpereinererwach-
senen Frau, aber nicht den Geist.
Wir hatten diesen alten, umge-
stürzten Baum im Garten, da 4
„ICHKANNTE
MEINENMANN
NICHTMEHR“
G
Auf den Fami-
lienbildern aus
dem alten Leben
erkennt Meck
weder sich noch
ihre Verwandten
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3. sind wir immer drauf rumgeklet-
tert. Wir spielten, dass darunter
Treibsand sei.Da durfte man nicht
reinfallen. Das war verrückt. Ich
war das vierte Kind.
Bemerkte niemand,wie es Ihnen
wirklichging?DassSiekeineErin-
nerunghattenundauchkeinneu-
esGedächtnisbildeten?
Ich realisierte das ja auch nicht. Ich
machte einfach nach,was die ande-
rentaten.WennwirbeidenNachbarn
waren mit den Kindern und eine
Muttersagte:„LasstunsdieSpielsa-
chen einsammeln“,imitierte ich das.
UndJim,IhrEhemann,wowarer?
Er arbeitete als Computerspezia-
list im Außendienst und war wo-
chenlang auf Reisen.Man darf ihm
keinen Vorwurf machen. Er hatte
nichts Böses im Sinn. Er wollte es
vielleicht nicht wahrhaben, sonst
wäre ja alles zusammengebrochen.
Wielangedauertees,bisSiewuss-
ten,dassJimIhrEhemannist?
Lange.Ich habe das ganze Konzept
nicht verstanden. Was ist ein Ehe-
mann? Und was eine Frau?
WaserzählteIhnenJimüberSex?
Dass er mit Su tollen Sex hatte. Ich
bin aber nicht sie.Ich habe nie eine
solcheVerbindungmitihmgespürt
wie sie.
Dann wurden Sie von Ihrem Ehe-
mannaufgeklärt?
WirhattenamKüchentischeinBie-
nen-und-Blümchen-Gespräch.Wie
ein Vater mit seiner Tochter. Wir
fühlten uns beide nicht sonderlich
wohl.Ich war intellektuell auf dem
Stand eines Kindes.
LiebenSieIhrenMann?
Schwer zu sagen.Er war einfach da,
als ich zu mir kam. Es ist mehr ein
Abhängigkeitsgefühl. Jim kennt
mich besser als jeder andere. Er
weiß, wie ich mich fühle, wenn ich
einen schlechten Tag habe.Erst als
unsere Tochter Kassidy geboren
wurde, spürte ich wieder eine tiefe
Emotion. Sie kam vier Jahre nach
dem Unfall zur Welt, und für sie
empfand ich sofort Liebe.
InIhremHaushängenvieleFami-
lienfotos. Erkennen Sie sich auf
Kinderbildernwieder?
Nur weil es mir jemand erzählt hat,
dass ich das bin.Ich war nie klein.
WieverkraftendasIhreEltern?
Für meine Mutter ist es besonders
schwierig.Icherinneremich,dassich
mitihrirgendwannnachdemUnfall
auf dem Sofa saß und wir in Fotoal-
benblätterten.SiezeigteaufeinBild
und sagt: „Su, das bist du.“ Und ich
antwortete:„Nein,dasbinichnicht.“
Abersiebestanddarauf.Siewollteso
sehr,dass ich mich erinnere.
Wer war Ihre beste Quelle für In-
formationenüberSusie?
MeinersterFreund.Jahrenachdem
Unfall fand mich Neal über Face-
book. Ich habe erst Jim gefragt, ob
ich Neal wirklich kenne.Heute bin
ichsehrfroh,Kontaktzuihmaufge-
nommen zu haben.
Warum?
Er gehörte nicht zur Familie. Des-
halb sind seine Erinnerungen für
mich besonders glaubwürdig. Wir
waren drei Jahre zusammen. Ich
habemeineJungfräulichkeitanihn
verlorenineinemPark.Erwarwich-
tig für Susie.Er hat mir ihre Liebes-
geschichteerzählt.Siesollteeigent-
lich nur eine Freundin ins Kino
begleiten,weilsiesichnichtalleine
mit Jungs treffen durfte. Sie alber-
tenherumundhabensichmitPop-
corn beworfen.Als Susie am nächs-
tenTagwelchesinihrerTaschefand,
rief sie Neal an, und sie haben sich
wiedergetroffen.
WasistdasBesonderefürSiedaran?
Weil es die alte Su ist. Sie hat sich
nicht darum gekümmert, dass ein
Mädchen damals einen Jungen
„DERALTENSU
WARENKONVENTIONEN
EGAL“
Schlagzeug
spielte sie auch
vor dem Unfall –
danach musste
sie es von Neuem
lernen. Ein wenig
ist sie dabei
„die alte Su“
46 30.12.2015
Alexandra Kraft und
Norbert Höfler trafen
Su Meck in ihrem
Haus in Northampton,
Massachusetts. Die Redewendung
„Weißt du noch …?“ bekam für die
stern-Reporter eine neue Bedeutung
nichteinfachanrief.IhrwarenKon-
ventionen egal.Ich bin viel ängstli-
cher. Mir ist wichtiger, wie Dinge
wirken. Vielleicht, weil ich normal
sein will.
Verbindet Sie noch etwas mit der
altenSusie?
Susie spielte gern Schlagzeug. Su
heute auch. Ich musste es neu ler-
nen, ich hatte nur noch ein paar
kleine Erinnerungen daran.
Sie sagten vorhin, dass Sie Ihren
Mannnichtlieben.LebenSienoch
zusammen?
Ja.Jim hat ein verrücktes Tempera-
ment.Es ist hart,mit ihm zu leben.
Ich glaube, er fühlt sich gefangen
mit mir.So wie ich mit ihm.Er war
mir nicht treu. Wenn ich noch im-
mer Susie wäre, wäre all das viel-
leicht nicht passiert.
Woher wissen Sie, dass er Sie be-
trogenhat?
Weil er es mir erzählte.Jim hat un-
glaublich viel Geld in Strip- und
Sex-Clubs ausgegeben. Er hatte
mehrere Affären. Er stürzte uns in
sehr hohe Schulden.Erst als er sich
nicht mehr zu helfen wusste, ge-
stander.Ersagtemir,derGrundfür
seinen Betrug sei mein Unfall und
wieichmichdanachveränderthät-
te.Wir haben über Scheidung gere-
det, aber ich kann ohne ihn nicht,
und ich hätte auch Angst davor.
EristderMann,derIhnenwichtige
Teile Ihrer Erinnerungen zurück-
gab.KönnenSieihmvertrauen?
Ich muss ihm einfach glauben. Ich
habe keine Wahl.Er ist der Einzige,
der so viel über mich weiß.Ich darf
darannichtzweifeln.Traueichihm
alsEhemann,derniewiederfremd-
geht? Nein.
Haben Sie sich jemals gefragt,ob
derVentilatorwirklichderAuslö-
serfürIhreAmnesiewar?Oderob
vielleichteinpsychischesProblem
dahintersteckt?
Das ist eine spannende Frage.Mei-
neMuttererzähltemir,dassichmir
alsKinddenKopfamSchrankange-
schlagen habe. Später fiel ich bei
einemSkiunfallnocheinmalschwer
auf den Kopf. Im College hatte ich
einen Autounfall mit einer starken
Gehirnerschütterung. Vielleicht
war der Ventilator der letzte große
Schlag.Sowiemanjaheuteauchbei
Football-Spielernvermutet,dassdie
vielen Zusammenstöße für Hirn-
schäden verantwortlich sind.
Warum haben Sie jahrelang mit
niemandem über Ihre Krankheit
geredet?
Ich fürchtete mich vor diesem
Schritt.Ichwolltenicht,dasssiemir
meine Kinder wegnehmen. Dass
ich in eine Klinik komme.Ich habe
gelernt zu imitieren. Ich ging zu
Partys und benahm mich einfach
wiealleanderen.IchwareinBetrug.
Wie können wir sicher sein, dass
Sieunsnichtanlügen?
Leutefragendasmanchmal,nichtso
direkt, aber sie zweifeln. Die kom-
pletteretrogradeAmnesiesolljasehr
selten sein.Aber seitdem mein Buch
indenUSAerschienenist,bekomme
ichvieleMails,undichbinmirsicher,
dass es mehr Menschen damit gibt,
als wir glauben. Aber viele sagen es
nicht,weil Mediziner einfach erklä-
ren: Ihr denkt euch das nur aus.
Wir haben mit dem Neurologen
und Traumaexperten Professor
Geoffrey Manley über Ihren Fall
gesprochen.Ersagt,erhabekeine
ZweifelanIhrerAmnesie.IhrVer-
laufseieinseltener,aberinseinen
Studien habe er festgestellt, dass
schon leichte Hirnverletzungen
großenSchadenanrichtenkönnen.
Ich bin natürlich froh, wenn ein
Wissenschaftler das sagt. Ich kann
janichtzeigen,wasinmeinemKopf
vorgeht. Ich lebe damit jeden Tag.
Die Zweifler möchte ich gerne ein-
malfragen,warumichsotunsollte,
als hätte ich keine Erinnerung
mehr? Warum sollte irgendjemand
Tage haben,an denen er nicht weiß,
woseinZuhauseist?Oderstunden-
lang durch den Park irrt?
Würden Sie heute Ihre alten Erin-
nerungengernzurückhaben?
Nein, denn dann müsste ich noch
einmal von vorne beginnen. Das
wäre zu viel Ballast.
Was ist Ihre erste Erinnerung in
IhremzweitenLeben?
Es ist der Moment,als ich schwan-
ger war und beim Arzt zum ersten
MaldenHerzschlagmeinerTochter
Kassidy hörte. Das war vier Jahre
nach dem Unfall.
Als derVentilator auf Sie fiel,war
daswiesterben?
Fürvieleummichherumsicher.Ich
respektiere das.Aber es ist auch ir-
gendwie kurios.Es war kein heroi-
scherUnfall.EinFeueroderirgend-
was Aufregendes. Es war einfach
dieser dusselige Deckenventilator.
Ich hatte einen kleinen Schnitt am
Kopf,das war es.Aber es krempelte
mein Leben komplett um.
SiehtmannocheineNarbedavon?
Ja,schauen Sie hier oben am Haar-
ansatz.Ich mag es überhaupt nicht,
wenn man mich da anfasst.Da sind
dieNervenextremempfindlich.Ich
kann deswegen keinen Fahrrad-
helm tragen.Meine Friseurin weiß,
dasssiemichdanichtberührendarf.
SindSienachdemUnfallnochein-
malzurSchulegegangen?
ImJuni2007betratichdasersteMal
in meinem Leben ein Klassenzim-
mer. Vor Kurzem habe ich meinen
AbschlusshierinNorthamptonam
Smith College gemacht.Mit fast 50.
UndwiealtfühlenSiesich?
Natürlich wie Anfang 20. 2
Su Meck wünschte
sich, dass ihr Sohn
Benjamin beim
stern-Gespräch
dabei sein konnte.
Zur Zeit des
Unfalls war er
zwei Jahre alt
Schläge und Er
schütterungen sind
der Hauptauslöser
für Schädel-Hirn-
Traumen (SHT),so
der Neurologe
Geoffrey Manley,
einer der führenden
Experten.Derzeit
untersucht der US-
Wissenschaftler in
einer großen Studie
die Folgen der
Verletzung.Bislang
weiß man,dass je
nach Stärke des
Traumas das Gehirn
anschwillt oder es zu
Blutungen kommt.
Nach Manleys
Erfahrung leidet die
Mehrheit der SHT-
Patienten ihr Leben
lang an schweren
Folgen.Neben
Lähmungen sind
emotionale Probleme,
Gedächtnisschwäche
und Veränderungen
der Persönlichkeit
häufig
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