1. Die Patientin
im Herzen
von Paris
Vier Monate nach dem Brand
ist die Pariser Kathedrale
Notre-Dame noch immer
vom Einsturz bedroht.
Von Christine Longin (Paris)
Wer das ganze Ausmaß der Zer-
störung sehen will, muss sich an
den Pariser Quai de l’Archevêché
stellen. Während Notre-Dame mit
ihren beiden Türmen von vorne
noch weitgehend intakt wirkt, ist
die Kathedrale hinten nur noch ei-
ne Baustelle. Metallgerüste und
riesige Holzbügel stützen den
mehr als 800 Jahre alten gotischen
Kirchenbau, dessen Brand am 15.
April die ganze Welt erschütterte.
Vier Monate nach der Katastro-
phe räumen Arbeiter mit Hilfe von
Robotern immer noch die Trüm-
mer im Innern des Denkmals weg,
das zum Weltkulturerbe gehört.
„Das Risiko, dass das Gewölbe ein-
stürzt, besteht weiter“, warnt Jean-
Michel Loyer-Hascoët vom Kul-
turministerium im Radio. Haupt-
schiff und Querschiff sind deshalb
ebenso für Menschen gesperrt wie
der Chor. Nur kleine gelbe Ma-
schinen auf vier Rädern kreuzen
dort zwischen den Trümmern hin
und her.
„Notre-Dame wird aus der
Asche wieder geboren werden“,
hatte der Rektor Patrick Chauvet
nach dem Brand überschwänglich
angekündigt. Doch die Zuversicht
der ersten Tage ist inzwischen
verflogen. Sogar Kulturminister
Franck Riester, der im Namen des
Staates für den Wiederaufbau ver-
antwortlich ist, äußert sich skep-
tisch. „Das Härteste liegt noch vor
uns. Wir müssen die Kathedrale
weiter abstützen und sie dann res-
taurieren“, sagte Riester im Juli.
Damals verabschiedete die Na-
tionalversammlung ein Gesetz, das
mit Sonderregelungen den Wie-
deraufbau des meistbesuchten
Denkmals Frankreichs beschleu-
nigen soll. In fünf Jahren solle die
Kathedrale wieder hergestellt sein,
hatte Emmanuel Macron nach dem
Feuer versprochen. „Noch schö-
ner als früher“, kündigte der
Staatschef großspurig an. Ganz
ohne Hintergedanken ist sein Plan
nicht: 2024 sind in Paris Olympi-
sche Spiele und die Touristen, die
dazu in die Hauptstadt kommen,
sollen Notre-Dame in neuem
Glanz wiederfinden.
Experten warnen vor zu schnellem
Wiederaufbau
Wer die Bilder vom Innern der Ka-
thedrale voller Trümmerhaufen
und verkohlter Balken sieht, kann
sich allerdings nicht vorstellen,
dass die ehrgeizige Zeitvorgabe
eingehalten werden kann. Zu den
sichtbaren kommen die unsicht-
baren Schäden. Zum Beispiel das
viele Löschwasser, das vor allem
im Deckengewölbe seine Spuren
hinterlassen hat. Notre-Dame
wirkt wie eine Patientin auf der In-
tensivstation, über die kaum ein
Arzt eine Prognose abgeben will.
Mehr als tausend Experten warn-
ten im April davor, beim Wieder-
aufbau zu schnell vorzugehen. Ihr
in der Zeitung „Le Figaro“ veröf-
fentlichter offener Brief liest sich
wie eine kollektive Mahnung an
den Präsidenten.
Der hat seit einigen Wochen ei-
nen weiteren, unsichtbaren Geg-
ner, der seine Pläne stoppt: Als die
Kathedrale brannte, waren rund 450
Tonnen Blei in Flammen aufge-
gangen, die nun als gefährlicher
Feinstaub über dem Zentrum von
Paris liegen. Ende Juli stoppte
der Präfekt von Paris die Siche-
rungsarbeiten für drei Wochen,
Der französische Kulturminister
Franck Riester (Foto rechts)
und der für Notre-Dame
zuständige Chefarchitekt
Philippe Villeneuve (links)
machen sich ein Bild
von der Lage.
:Notre-Dame wird
aus der Asche
wieder geboren
werden.
Rektor Patrick Chauvet
Mit Spezialmaschinen wie diesen Robotor-Baggern werden noch immer
die Trümmer des Brandes geborgen. Sie kommen auch in den einsturz-
gefährdeten Bereichen zum Einsatz, wo es für die Arbeiter zu gefährlich
ist, sich aufzuhalten. Fotos: AFP
s
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